Der Bergpfarrer – 450 – Wer heilt sein gebrochenes Herz?

Der Bergpfarrer
– 450–

Wer heilt sein gebrochenes Herz?

Doch Dr. Ullrich hat Angst vor zuviel Nähe …

Toni Waidacher

Impressum:

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Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-116-2

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Sicher war es eine Fügung des Schicksals, als Rudolf Ulrich an diesem regnerischen Tag im Juli seinen Land Rover auf dem Parkplatz vor dem Hotel ›Zum Löwen‹ in St. Johann abstellte, aus dem Auto stieg und sich umschaute.

Obwohl nicht ein einziger Sonnenstrahl die dicke Wolkendecke durchdrang und für etwas Helligkeit oder Freundlichkeit sorgte, gefiel dem Zweiunddreißigjährigen, was er sah. Zu beiden Seiten der Hauptstraße, die den Ort regelrecht in zwei Teile zerschnitt, erhoben sich die im alpenländischen Stil erbauten Häuser mit der bunten Blumenpracht auf den Balkonen und Fensterbänken und den kunstvollen Lüftlmalereien an den Fassaden. Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein, in St. Johann spürte er noch Ruhe und Beschaulichkeit.

Es bewegten sich kaum Menschen auf den Gehsteigen, denn es war regnerisch, und die Berge rings um das Wachnertal, die es wie versteinerte Wächter säumten, waren vom Nebel verhüllt. Die ganze Atmosphäre, dieses Grau in Grau, das der Landschaft etwas Mystisches verlieh, entsprach seiner Gemütsverfassung. Enttäuscht und verletzt hatte er sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen. Vor acht Tagen hatte er Aschaffenburg verlassen. Es war nahezu eine Flucht gewesen. Acht Tage lang war er plan- und ziellos durch Deutschland gefahren, hatte zwei Nächte sogar im Auto verbracht, und schließlich war er in Garmisch gelandet. Doch diese Touristenhochburg war ihm zu laut und zu hektisch. Er suchte Ruhe, denn er wollte mit sich, der Welt und vor allem mit der jüngsten Vergangenheit ins Reine kommen. Er stand vor den Trümmern seines Glücks und konnte weder mit dem Verstand noch mit dem Herzen akzeptieren, was vorgefallen war.

Also hatte er sich wieder ins Auto gesetzt und seine ziellose Reise fortgesetzt. Nun befand er sich in St. Johann und glaubte, den Hort der Ruhe gefunden zu haben, den er suchte.

Ein heller, metallischer Klang, der weit ins Tal hineingetragen wurde, ließ ihn den Blick heben. Es war die Kirchenglocke. Die Uhr dort oben zeigte an, dass es vierzehn Uhr war. Ein zweiter Schlag ertönte und verklang mit geheimnisvollem Summen. Rudolf atmete tief durch, dann gab er sich einen Ruck und ging in das Hotel, das auf einem großen Schild mit gutbürgerlicher Küche und einem schattigen Biergarten warb.

Hinter der Rezeption stand Susanne Reisinger, die älteste der drei Töchter Sepp Reisingers. Sie sah einen hochgewachsenen, schlanken Mann in ihrem Alter, dunkelhaarig und gut aussehend. Sicherlich ein beachtenswerter Typ, einer, der bei Frauen seine Wirkung nicht verfehlte.

Rudolf nickte ihr zu. »Ich bin zufällig auf diesen schönen Ort gestoßen«, sagte er mit leiser Stimme, »und wenn ich bei Ihnen ein Zimmer kriegen kann, würde ich gern ein paar Tage bleiben.«

»Ja, St. Johann ist ein sehr schöner Ort«, pflichtete Susi ihm bei. »Wenn’s seit zwei Tagen auch vom Wetter her gar net besonders angenehm ist. Aber wenn man dem Wetterbericht glauben darf, dann soll’s sich ab morgen schon wieder bessern. Sind S’ alleine, oder brauchen S’ ein Doppelzimmer?«

Rudolfs Brauen schoben sich leicht zusammen, als würde die Frage unerfreuliche Erinnerungen in ihm wachrufen. »Ich bin alleine. Es muss auch gar kein besonderes Zimmer sein. Hauptsache, ein Bett, ein Schrank und eine Dusche …«

»Das schaut schlecht aus«, murmelte Susi, bearbeitete die Tastatur ihres Laptops und schüttelte schließlich den Kopf. »Im Hotel sind sämtliche Zimmer belegt, und heut’ wird auch nix mehr frei. Aber ich kann gern für Sie ein wenig herumtelefonieren. In den Pensionen ergibt sich immer wieder mal was.«

»Das wäre nett von Ihnen«, murmelte Rudolf erleichtert. »Ich habe draußen eine Speisenkarte hängen sehen. Kann man auch um diese Zeit noch etwas zu essen bekommen?«

»Na freilich. Geh’n S’ nur in die Gaststube. Während Sie essen, versuch’ ich ein Zimmer für Sie aufzutreiben.«

»Sie sind sehr freundlich«, erklärte Rudolf und versuchte ein Lächeln in sein Gesicht zu bringen, doch es fiel sehr verkrampft aus. »Vielen Dank.«

Susi blickte dem Dunkelhaarigen hinterher, als er in die Gaststube ging. Ihr war nicht entgangen, dass er einen bedrückten, geradezu schwermütigen Eindruck vermittelte. Sie verfügte über eine gute Menschenkenntnis, denn sie arbeitete seit vielen Jahren im Hotel ihres Vaters und wusste die Menschen, mit denen sie zu tun bekam, einzuschätzen. Nur einmal hatte sie sich getäuscht, und das war noch gar nicht so lange her. Da wäre sie beinahe auf einen Betrüger hereingefallen und um zweihunderttausend Euro erleichtert worden. Dem Weitblick Paul Deiningers und Pfarrer Trenkers war es zu verdanken gewesen, dass die Betrugsabsicht rechtzeitig aufgedeckt wurde.

Für die Spanne einiger Herzschläge lösten diese Gedanken bei Susi Reisinger ein absolutes Stimmungstief aus, das sie aber sofort wieder überwand. Über die Sache war sie gut hinweggekommen, und wenn sie nun an Philipp von Hohenberg, alias Holger Kreuzer, dachte, dann nur noch im gesunden Zorn.

Der Mann, der eben gekommen war, besaß ein sympathisches Gesicht, sein Kinn verriet Zielstrebigkeit, Energie und Ehrgeiz. So sahen Erfolgsmenschen aus … Doch irgendetwas lastete schwer auf seiner Seele. Der müde, ernste Ausdruck in seinen Zügen entsprach nicht seinem Naturell.

Und während sich Susi Gedanken über ihn machte, steuerte Rudolf einen freien Platz in der Gaststube an. Sowohl die Gaststube als auch das Restaurant waren ziemlich voll besetzt. An einem trüben Tag wie diesem spielte sich der gesamte Betrieb im Innern des Hotels ab, denn es war unmöglich, sich im Biergarten aufzuhalten.

Rudolf sah einen Tisch, an dem ein Paar mit einem etwa zehnjährigen Jungen saß. Der vierte Stuhl war frei und Rudolf fragte, ob er den Platz in Anspruch nehmen könne. Der Mann bejahte freundlich und Rudolf ließ sich nieder. Sofort kam eine Bedienung und fragte ihn nach seinen Wünschen. Er bestellte ein großes Glas Mineralwasser und bat um die Speisekarte.

Die Haustochter reichte ihm die Karte ging zum Tresen und Rudolf vertiefte sich in die Speisenkarte.

Das Paar, an dessen Tisch er saß, unterhielt sich leise, der Junge saß schweigend da und beobachtete mit kindlicher Neugierde den fremden Mann.

Rudolf entschied sich schnell. Als ihm die Bedienung das Wasser brachte, bestellte er ein Schnitzel Wiener Art mit Pommes frites und gemischtem Salat.

Er musste keine Viertelstunde warten, dann erhielt er das Essen. Die beiden Erwachsenen am Tisch wünschten einen guten Appetit, das Kind schwieg weiterhin. Sieht auch nicht besonders glücklich aus, der Junge, dachte Rudolf.

Sich auf seinen Teller konzentrierend fing er an zu essen, wenn auch ohne rechten Appetit. Seit acht Tagen aß er, weil der Körper es verlangte, Genuss empfand er nicht. Und so legte er das Besteck auf den Teller und schob ihn von sich, ehe er die Hälfte verzehrt hatte. Er, der bis vor etwas über einer Woche ein Genussmensch gewesen war, konnte an nichts mehr Freude empfinden. Er spülte den letzten Bissen mit einem Schluck Wasser hinunter.

Die Bedienung kam. »Hat’s net geschmeckt?«, fragte sie und nahm den Teller.

»Doch«, versetzte Rudolf. »Aber eine Kinderportion hätte es auch getan.«

»Dann bin ich ja beruhigt«, sagte das Madel lächelnd und trug den Teller weg.

In dem Moment kam Susi Reisinger ins Gastzimmer, erspähte Rudolf und steuerte seinen Tisch an. »In der Pension Stubler können S’ noch ein Zimmer haben. Glück gehabt, dass gerade heut’ Morgen eins freigeworden ist.«

»Ich danke Ihnen vielmals«, murmelte Rudolf und zückte seine Geldbörse, um zu bezahlen …

*

Am Abend begab sich Rudolf wieder ins Hotel, um zu essen. Auch diesmal zog er es vor, sich in die Gaststube und nicht ins Restaurant zu setzen. Es war schon nach neunzehn Uhr und die meisten Gäste hatten ihr Abendessen beendet, und so fand er einen Tisch, an dem er allein sitzen konnte.

Wieder bestellte er ein Glas Mineralwasser und die Speisekarte. Die Haustochter brachte das Gewünschte und Rudolf vertiefte sich in die Speisenkarte. Er achtete nicht darauf, dass eine blonde Frau um die dreißig die Gaststube betrat, sich umschaute und schließlich lächelnd zu einem Tisch ging, an dem zwei Männer, beide um die vierzig, saßen.

»Guten Abend, die Herren«, grüßte die Blonde ziemlich aufgekratzt. »Darf ich mich auch heute wieder zu Ihnen setzen?«

Ohne die Spur von Begeisterung wies einer der Männer auf einen freien Stuhl. »Bitte.«

Die Frau ließ sich nieder. »Was für ein Tag!«, klagte sie mit erhobener Stimme.

Rudolf bemühte sich, sich auf die Speisekarte zu konzentrieren, doch er hörte die Frau klagen:

»Man konnte nichts unternehmen! Hoffentlich wird das Wetter bald wieder besser! Es ist ja zum Verrücktwerden, wenn man den ganzen Tag auf dem Zimmer oder im Wirtshaus hocken muss.«

»Wir waren auf der Wintermaid«, versetzte einer der beiden Männer. Er war schwarzhaarig und überhaupt ein ziemlich dunkler Typ. Er wäre glatt als Südländer durchgegangen, aber sein Name lautete schlicht Heinrich Wagner.

»Bei diesem Wetter!«, staunte die Frau.

»Ja. Man muss sich nur entsprechend kleiden«, gab Wagner zu verstehen. »Außerdem ist der Klettersteig nicht ohne, und es wird einem ganz schön warm, wenn man ihn geht.«

Die Frau kicherte. »Na ja, wem’s gefällt. Meins wär’s net. Eine schöne Wanderung auf eine der Almen in der Umgebung – ja, dagegen wär’ nix einzuwenden. Aber so eine beschwerliche Tour …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

»Morgen wollen wir zur Streusachhütte aufsteigen«, sagte der andere Mann am Tisch. Es handelte sich um den neununddreißigjährigen Gerd Reishofer. »Der Weg ist bei Weitem nicht so beschwerlich.« Er grinste, weil er einen warnenden und zugleich flehenden Blick seines Freundes einfing. »Wenn Sie wollen, dann können Sie gerne mit uns kommen.«

»Und Sie glauben, ich kann das schaffen?«, fragte die Blondhaarige, dabei schaute sie Heinrich Wagner an.

»Ich denke schon. Natürlich brauchen sie vernünftige Schuhe, die den Knöchel stabilisieren. Mit eleganten Pumps können Sie auf dem Weg, den wir gehen, nichts anfangen.«

»Ach ja, ich würd’ so gern’ mit Ihnen gehen«, erklärte die Frau. Sie war recht attraktiv, allerdings eine Idee zu stark geschminkt. Offensichtlich suchte sie Anschluss. Heinrich Wagner und Gerd Reishofer hatte sie schon zwei Tage zuvor im Biergarten kennengelernt. Besonders der fesche Wagner schien es ihr angetan zu haben. »Einerseits stelle ich mir eine solche Wanderung recht spannend vor, andererseits aber dürfte es eine ziemliche Strapaze sein.«

»Ja, strapaziös ist der Weg auf den Kogler«, ergriff nun wieder Wagner das Wort. »Ich glaube nicht, dass Sie den Weg bis zur Hütte schaffen. Darum sollten Sie es erst gar nicht versuchen.«

»Sie raten mir also ab«, konstatierte sie geradezu schmollend und musterte ihn mit schmachtendem Blick. »Meinen S’ net, dass ich’s vielleicht doch versuchen sollt’. Umkehren kann ich doch zu jeder Zeit, wenn die Kondition nimmer mitspielt.«

»Haben Sie denn die entsprechende Kleidung?«, fragte Wagner. Es war offensichtlich, dass er es ihr ausreden wollte, ihn und seinen Gefährten zu Streusachhütte zu begleiten. »Die Läden haben heute schon geschlossen, und wenn wir morgen Früh aufbrechen, haben sie noch nicht geöffnet. Ohne adäquate Kleidung können sie nicht aufsteigen.«

In dem Moment kam die Bedienung zu ihrem Tisch, um die Blonde nach ihren Wünschen zu fragen. Heidi Reisinger, sie war die zweitälteste Haustochter, hatte die Worte Wagners gehört. »Von was für einer Kleidung ist denn die Red’? Wollen S’ die Frau Vilser vielleicht mit auf einen Berg nehmen?«

»Wir wollen hinauf zur Streusachhütte«, antwortete Gerd. »Jeden Tag einen anderen Berg! Das haben wir uns vorgenommen! Frau Vilser würde gerne mit uns aufsteigen.«

»Der Weg ist beschwerlich«, warnte Heidi, den Blick auf Martina Vilser gerichtet. »Und vor allem vernünftiges Schuhwerk ist sehr wichtig. Aber das dürft’ kein Problem sein. Geh’n S’ nachher ins Pfarrhaus, sagen S’ dem Herrn Pfarrer Trenker, dass ich Sie schick’ und dass er so gut sein möcht’, Sie aus seinem Fundus für die Bergwanderung einzukleiden.«

»Zum Pfarrer?«, stieß Martina ungläubig hervor. »Betreibt er so etwas wie einen Second-Hand-Shop?«