Der neue Landdoktor – 72 – Die feindlichen Brüder

Der neue Landdoktor
– 72–

Die feindlichen Brüder

Lilly gerät zwischen die Fronten

Tessa Hofreiter

Impressum:

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-117-9

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Sebastian Seefeld, der junge Landdoktor, konnte sich zwar an den munteren Anzeichen erwachenden Lebens freuen, aber sein Gesichtsausdruck blieb an diesem Morgen ernst. Seine Gedanken waren noch bei dem Besuch, zu dem er gegen Mitternacht gerufen worden war. Er hatte am Sterbebett eines älteren Mannes gesessen, und das Gespräch mit dessen Sohn beschäftigte ihn.

Als Sebastian zum Doktorhaus kam, traf er auf seinen Vater Benedikt, der im Garten taufrische Himbeeren für das Frühstück pflückte. Benedikts dichter, silbergrauer Haarschopf leuchtete im Sonnenschein, und das Lächeln in seinem markanten Gesicht drückte Zufriedenheit aus. Er wusste seine Praxis bei seinem Sohn in den besten Händen und genoss nun nach einem arbeitsreichen Leben seine freie Zeit.

»Guten Morgen, Vater. Hast du gut geschlafen?«, begrüßte Sebastian ihn. Er legte seinem Vater den Arm um die Schultern und drückte ihn kurz an sich.

»Nanu?« Benedikt schaute seinen Sohn leicht überrascht an. »Wofür war das denn?«, fragte er freundlich.

»Ach, nur so«, antwortete Sebastian. »Einfach weil du da bist.«

Die beiden Männer gingen in die Küche hinein, wo Traudel, die gute Seele des Doktorhauses, gerade die frischen Semmeln aus dem Ofen holte. »Ich komme gerade von Familie Berger, Franz ist in den frühen Morgenstunden gestorben«, sagte Sebastian.

»Das ist jetzt ziemlich schnell gegangen«, erwiderte Benedikt ernst.

Der alte Franz Berger war früher sein Patient gewesen, der sich von einem tragischen Unfall im Forst nie wieder ganz erholt hatte.

»Wie geht es Daniel? Der Tod seines Vaters ist ja nicht plötzlich und unvermutet eingetreten, aber es wird den Bub doch hart getroffen haben. Er und sein Vater haben sich immer gut verstanden«, sagte Traudel voller Mitgefühl.

»Daniel hält sich tapfer«, antwortete der junge Landdoktor, »aber seine Trauer ist groß. Ich wünsche ihm, dass sein Bruder Robert so bald wie möglich kommt und ihm zur Seite steht.«

Benedikt und Traudel warfen sich einen vielsagenden Blick zu. »Ich fürchte, das wird nicht einfach werden«, sagte Traudel mit einem leisen Seufzer. »Daniel und Robert sind sich nie so nahe gewesen, wie es unter Brüdern eigentlich üblich ist.«

»Ich habe schon so etwas vermutet«, erwiderte Sebastian mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln. »Seitdem ich die Praxis übernommen habe und Franz Berger mein Patient gewesen ist, habe ich den älteren Sohn kein einziges Mal am Krankenbett seines Vaters gesehen.«

»Von Rautende weiß ich, wie sehr Franz das belastet hat. Wenn es nach Robert gegangen wäre, hätte gar kein Kontakt mehr bestanden. Es ist immer Daniel gewesen, der versucht hat, die Verbindung aufrecht zu halten«, erzählte Traudel.

Sie hatte einiges von ihrer Freundin erfahren, die seit Jahrzehnten als Haushälterin bei Familie Berger lebte und arbeitete. Was Traudel fürs Doktorhaus bedeutete, war Rautende auf dem alten Gutshof ›Silberwald‹. Auch sie hatte immer wieder vergeblich versucht, den älteren Sohn Robert zu einem Besuch zu überreden.

»Man kann den Menschen nicht ins Herz schauen. Wer weiß, was Robert Berger aus Bergmoosbach fortgetrieben hat«, sagte Sebastian nachdenklich.

Ehe Traudel oder Benedikt darauf antworten konnten, kam Emilia, die Teenagertochter des jungen Landdoktors, in die Küche gestürmt. »Guten Morgen, Familie, meine Güte, ich bin spät dran, wir schreiben in der ersten Stunde Französisch, sind das frische Himbeeren, superklasse, danke an den Pflücker«, sprudelte sie ohne Punkt und Komma hervor und setzte sich an den schönen, alten Küchentisch.

»Guten Morgen, Spatzl«, antwortete Sebastian lächelnd. »Jetzt hol einmal tief Luft und iss in Ruhe dein Müsli, zum Frühstücken hast du noch genügend Zeit.«

»Du hast ja keine Ahnung, was ich noch vor der Schule erledigen muss«, erwiderte Emilia mit blitzenden Augen.

»Na, dann erkläre es uns doch bitte«, erwiderte ihr Vater geduldig.

Langsam verflüchtigte sich die schwere Stimmung, die durch das ernste Gespräch der Erwachsenen entstanden war, und die Küche des Doktorhauses war wieder von freundlichen Stimmen und Lachen erfüllt.

Ganz anders war die Atmosphäre in der großen Wohnküche vom Gutshof ›Silberwald‹. Der riesige Raum hatte eine dunkle Balkendecke, alte Fliesen auf dem Fußboden und an den Wänden, und neben modernen Küchengeräten gab es die massiven, teils bunt bemalten Möbel eines vergangenen Jahrhunderts. Am blank geschrubbten Küchentisch mit den vielen Kerben und Gebrauchsspuren eines langen Lebens saß Daniel Berger und starrte in den Kaffeebecher, den Rautende vor ihn gestellt hatte.

Daniel war ein gutaussehender Mann Mitte Dreißig mit blonden Haaren und dunkelblauen Augen. Er war groß, breitschultrig und wirkte nicht schwerfällig, obwohl er in der letzten Zeit deutlich an Gewicht zugelegt hatte. Daniel hatte eine angesehene Tischlerei aufgebaut, die sich auf Altbausanierung spezialisierte. Er war ein ruhiger, fleißiger und zuverlässiger Mann, der sich in seiner geringen Freizeit in der Gemeinde engagierte und dort hochangesehen war.

Rautende kannte ihn und seinen zehn Jahre älteren Bruder Robert seit deren Geburt. Genau wie ihre Freundin Traudel im Doktorhaus war sie hier die treue Stütze der Familie und eine zuverlässige Vertraute. Rautende Göpping ging auf die Siebzig zu, und es war unvorstellbar für sie, nicht mehr für die Bergers zu arbeiten.

Heute sah man ihr zum ersten Mal das Alter an. Ihr dichtes, silbergraues Haar, das sie zu einer klassischen Flechtkrone aufgesteckt hatte, wirkte stumpf, ihr sonst so lebhaftes Gesicht war wie leblos und vom Weinen gerötet. Ihre Hände, denen man die jahrzehntelange Hausarbeit ansah, hatte sie auf Daniels gelegt, und so trösteten sich die beiden Menschen wortlos in den ersten, stillen Stunden, die dem Tod folgen.

Endlich strich sich Daniel über die brennenden Augen und sagte mit einem tiefen Seufzer: »Ich werde jetzt Robert anrufen.«

»Tu das, Bub«, antwortete Rautende leise. »Er wird schon kommen, der Robert, und dir zur Seite stehen.«

Daniel nickte, aber es wirkte nicht sehr überzeugt. Dankbar trank er den heißen, frischen Kaffee und raffte sich dann zu dem Telefonat auf, von dem er wünschte, er müsste es nicht führen.

Robert Berger war ein erfolgreicher Architekt und lebte seit über zwanzig Jahren im Tessin. Lukrative Aufträge führten in oft ins Ausland, und auch jetzt war er in seinem Tessiner Büro nicht zu erreichen. Robert hielt sich in Neuseeland auf.

Daniel konnte auf die Zeitverschiebung keine Rücksicht nehmen. Als er seinen Bruder erreichte, war der gerade auf einer Cocktailparty mit wichtigen Geschäftspartnern.

»Du erwartest von mir, dass ich um die halbe Welt fliege, um mit dir Abläufe zu besprechen, die du sehr gut allein organisieren kannst?«, fragte Robert ungehalten.

Das verschlug Daniel die Sprache. »Es geht nicht darum, dass ich die Beerdigung nicht allein organisieren kann. Es geht darum, dass Papa gestorben ist und ich dich gern daheim haben würde«, brachte er schließlich heraus.

»Papa und du, ihr seid immer sehr gut ohne mich ausgekommen. Ich nehme an, dass du damit auch in Zukunft keine Probleme haben wirst«, erwiderte Robert scharf. »Ist dir überhaupt bewusst, wie lange ich unterwegs sein muss? Das geht nicht, ich kann hier jetzt nicht weg und komme dann, wenn ich es einrichten kann. Du wirst mit der Unterstützung der fabelhaften Bergmoosbacher Dorfgemeinschaft sehr gut ohne mich klarkommen. Entscheide selbst, was zu tun ist, das hast du in den vergangenen Jahren ja auch ohne mich hinbekommen.«

Daniel war zu erschöpft, um sich auf eine weitere sinnlose Auseinandersetzung mit seinem Bruder einzulassen. Er antwortete nur: »Wenn du bei deiner Meinung bleibst, dann machen wir es so. Du hörst dann von mir.«

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte der ältere Bruder und beendete rasch das Telefonat. Das leise »Servus, Robert« am anderen Ende bekam er schon nicht mehr mit. Mit langen, energischen Schritten ging er zu der Abendgesellschaft zurück und suchte seine Freundin, die mit ihm nach Neuseeland geflogen war.

Lilly von Glasbach war eine zarte, auffallend gut aussehende junge Frau, nach der sich viele Männer umdrehten. Ihre langen dunklen Haare trug sie an diesem Abend mit exotischen Blumen aufgesteckt, und ihre dunkelgrünen Augen funkelten mit den echten Smaragdohrringen um die Wette. Sie trug ein kurzes, schulterfreies Abendkleid aus champagnerfarbener Wildseide und sah umwerfend aus. Neben ihrer Schönheit besaß Lilly Humor, Klugheit und Mitgefühl, und sie war eine aufmerksame Zuhörerin.

Gerade ihr Mitgefühl war es, was sie zu dem deutlich älteren Robert hingezogen hatte. Nach außen mochte er oft den kalten Geschäftsmann zeigen, aber aus seinen Erzählungen wusste sie, dass darunter noch etwas anderes lag.

Nach allem, was sie von ihm wusste, musste Robert eine schwierige Kindheit gehabt haben, in der ihn der jüngere Bruder ständig zur Konkurrenz herausforderte. Vor allem vom Vater verwöhnt und verzogen, hatte Daniel es verstanden, sich selbst ins rechte Licht zu setzen und den Bruder zu verdrängen. Kein Wunder, dass Robert Bergmoosbach so früh verlassen hatte, um sich ein eigenes Leben aufzubauen.

Als Lilly ihn jetzt durch die Menge der Gäste auf sich zukommen sah, erkannte sie an seinem verschlossenen Gesichtsausdruck, dass sein Telefonat kein angenehmes gewesen war. Sie legte leicht ihre Hand auf den Arm und schaute ihn freundlich an. »War es etwas Wichtiges?«, fragte sie leise.

»Nein«, antwortete Robert kurz. »Nur mein nerviger Bruder. Er wollte Organisatorisches mit mir besprechen.«

»Hat er denn nicht an die Zeitverschiebung gedacht? Er muss doch damit rechnen, dass du jetzt mit anderem beschäftigt bist, es ist später Abend«, sagte Lilly verwundert.

»Das kümmert meinen Bruder nicht«, erwiderte Robert hart. »Wenn Daniel etwas will, dann fragt er nicht, ob es anderen recht ist. Aber lassen wir uns dadurch nicht den Abend verderben, mein Schatz. Komm mit hinüber an die Bar, dort habe ich jemanden gesehen, den ich dir gern vorstellen möchte.« Mit einem charmanten Lächeln legte er Lilly seine Hand um den Ellenbogen und führte sie an die festlich geschmückte Bar.

Im Laufe der Nacht tauchte ungebeten die Erinnerung an das Telefonat wieder auf, aber Robert schob diese Gedanken energisch zur Seite. Es war fast zehn Jahre her, dass er seinen Vater gesehen hatte. Franz Berger war ihm schon lange völlig fremd geworden und hatte in einer anderen Welt gelebt. Er konnte nicht um seinen Vater trauern und hatte nicht das Bedürfnis, zur Beerdigung zu reisen.

Viel mehr beschäftigte Robert der Gedanke, was Lilly von seiner Entscheidung halten würde. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern und würde sein Verhalten nicht verstehen können. Hätte sie eine solche Nachricht erhalten, sie säße im nächsten Flieger und wenn die Reise drei Tage dauerte. Robert musste sehr genau überlegen, was und wie viel er vom Telefonat mit seinem ungeliebten Bruder erzählen würde.

Gekonnt verdrängte er den Gedanken und konzentrierte sich auf seinen Auftraggeber, einen Schweizer Investor, der viel Geld für den Bau einer Luxusferienanlage in der Nähe von Christchurch ausgeben würde. Zufrieden stellte er wieder einmal fest, dass Lillys Klugheit und ihr Charme eine unwiderstehliche Mischung war, die ihm bei privaten und geschäftlichen Anlässen zugute kam. Das wollte er unter keinen Umständen gefährden.

*

Fast zwanzigtausend Kilometer entfernt in Roberts Heimatdorf hatte niemand den Kopf für lukrative Geschäftsabschlüsse bei edlem Champagner. Im Gutshaus ›Silberwald‹ kamen viele Menschen zusammen, die sich von Franz Berger verabschieden und seinem jüngsten Sohn ihr Beileid ausdrücken wollten. Rautende bekam liebevolle Unterstützung von Traudel und anderen Frauen, die ihr bei der Arbeit halfen. Im Haus herrschte leise Betriebsamkeit, und nach und nach organisierte Daniel alles für den letzten Weg seines Vaters so, wie der es sich gewünscht hatte. An einem schönen Sommertag, als die Sonne den Zenit überschritten hatte, wurde Franz Berger neben seiner geliebten Frau Sybille beigesetzt.

Das halbe Dorf war auf den Beinen, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Daniel erlebte den Tag bewegt und getröstet durch die aufrichtige Anteilnahme der Familie, Freunde und Nachbarn. Es war schön, das Leben des Vaters noch einmal so gewürdigt zu sehen. Franz Berger war ein beliebter Mann in der Gemeinde gewesen, selbst dann noch, als ihn ein Unfall bei der Forstwirtschaft ans Haus fesselte. Dieser Arbeitsunfall hatte das Leben des Gutsbesitzers und seines jüngsten Sohnes von Grund auf verändert, und jetzt stand Daniel wieder an einem Wendepunkt.

Rautende hatte die letzten Gäste zur Tür begleitet und trat nun neben Daniel, der erschöpft in der Eingangshalle stand und auf den alten Tisch starrte, auf dem sich eine Fülle an Blumen und Briefen drängte. Sie schob ihren Arm unter den des jungen Mannes und drückte ihn sachte.

»Es ist doch schön, dass alle gekommen sind. Das hilft, gell?«, sagte sie liebevoll.

»Es sind eben nicht alle gekommen«, antwortete Daniel ungewohnt heftig. »Robert ist nicht hier, sondern bei seinem ach, so wichtigen Auftrag am anderen Ende der Welt.«

Rautende lehnte müde den Kopf an seine Schulter und wischte sich mit der Hand über die brennenden Augen. »Du kennst ihn doch, den Robert«, sagte sie leise. »Da ist wohl nichts zu machen.«