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Martin Barkawitz

Ferienkrimis Juli 2018

Raubhure, Höllentunnel, Brückenteufel, Der Schauermann + Bonus-Story Messermädchen





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Raubhure

 

Dies ist ein Roman. Alle Ereignisse und Personen in „Raubhure“ sind frei erfunden und beruhen nicht auf Tatsachen. Eventuelle Namensähnlichkeiten wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

 

Inhalt:

 

Sex und Geld waren gestern.

Heute zählt das Überleben.

 

Kea verdient auf St. Pauli Geld mit ihrem Körper, als ein lukrativer Auftrag sie an ihre Grenzen bringt - und darüber hinaus. Im Handumdrehen muss sie um ihr Leben kämpfen und diejenigen beschützen, die sie liebt. Ihr sadistischer Gegner scheint ihr immer einen Schritt voraus zu sein. Er scheut auch vor brutalen Morden nicht zurück, um skrupellos seine Ziele zu verfolgen.

Doch Kea ist nicht nur clever und hübsch, sondern kann auch mit einer Pistole umgehen. Und sie hütet ein großes Geheimnis, das niemals aufgedeckt werden darf. Aber am Ende steht sie allein gegen einen unbarmherzigen Feind.

Wird sie diese St.-Pauli-Nacht überleben?

 

 

 

 

1


Der Jute-Strick wurde immer fester um Keas Hals gezogen.

Das Atmen fiel ihr jetzt schon qualvoll schwer, und sie war gerade erst vor zwanzig Minuten in dem Hotelzimmer des Freiers eingetroffen. Als Edel-Callgirl hatte Kea schon viele brenzlige Situationen erlebt. Das Wichtigste war, die Nerven zu behalten. Und auf ihren Überlebensinstinkt hatte sie sich bisher immer noch verlassen können.

Kea lag auf dem Kingsize-Bett. Ihr Blick war auf die unzähligen Lichter des nächtlichen Hamburg gerichtet, das sich unter ihr ausbreitete. Irgendwo in dieser Stadt befand sich René. Nur wegen ihm hatte sie sich auf diese Würgespiele im zwölften Stockwerk des Nordic Flair Hotels eingelassen.

„Gefällt dir das, du Miststück?“

Diese Worte wurden von dem Freier hervorgestoßen, der sich Manfred Müller nannte. Wahrscheinlich ein erfundener Name, aber das war Kea egal. Erwartete er etwa eine Antwort von ihr?

Sie bekam ja kaum noch Luft. Ihre Lungen fühlten sich an, als ob sie mit flüssigem Feuer gefüllt wären. Es kribbelte in ihren Fingern und Zehen, die Blutzirkulation funktionierte nicht mehr richtig. Kea hatte nicht vor, bewusstlos zu werden. Sie konnte sie lebhaft vorstellen, was dieser Feigling dann mit ihr tun würde.

Frauen wie Kea waren für ihn nur ein Stück Fleisch. Er kaufte eine Ware, um über sie verfügen zu können. Nur war er diesmal an die Falsche geraten. Das konnte er natürlich nicht ahnen.

Manfred Müller kniete neben der auf dem Bett liegenden Kea und ergötzte sich an der jämmerlichen Macht, die ihm der Strick verlieh. Kea war noch mit ihren halterlosen Strümpfen, schwarzen Dessous und Lackpumps bekleidet. Der Freier würde sie vermutlich erst ausziehen, wenn sie bewusstlos war. Wenn überhaupt. Es machte ihn offenbar mehr an, eine Frau zu quälen als sie zu berühren.

Darüber konnte Kea auch später noch philosophieren. Jetzt kam es darauf an, die nächste Minute zu überstehen. Denn mehr Zeit würde ihr kaum bleiben, bis sie die Kontrolle über die Situation verlor.

Kea versuchte verzweifelt, durch die Nase Luft zu holen. Der saure Schweißgestank des Freiers überdeckte bereits den Duft ihres Chanel No. 5. Zum Glück hatte der Kerl sich nicht komplett entkleidet. Der Freier trug noch seine Feinripp-Unterhose.

Kea verfügte über einen sehr gelenkigen Körper. Obwohl sie bereits durch den Sauerstoffmangel geschwächt war, zog sie blitzschnell ihr linkes Bein an den Körper. Und sie bekam ihren Schuh zu fassen.

In Keas Hand wurde er zur gefährlichen Waffe.

Das bekam Manfred Müller im nächsten Moment zu spüren.

Er war so auf seine Sadistennummer konzentriert, dass er Keas Attacke nichts entgegensetzen konnte. Vielleicht hielt er es auch für unfassbar, dass eine Hure sich wehrte.

Der Freier kreischte im hohen Falsett, als der Schuhabsatz seine Schläfe traf.

Nun war er es, der in den schwarzen Abgrund der Bewusstlosigkeit stürzte.

Kea ließ ihren Schuh fallen und packte mit beiden Händen die Schlinge, lockerte den Strick um ihren Hals. Ihre Augen wurden feucht.

Es waren Tränen der Wut.

Sie beförderte Manfred Müller mit einem Stoß vom Bett hinunter. Sein feister Körper rollte auf den Teppichboden. Kea fuhr sich mit beiden Händen über ihr schweißnasses Gesicht und strich ihr schulterlanges Haar nach hinten.

Sie gönnte sich eine kleine Pause, bis ihre Atemzüge wieder gleichmäßig kamen und das Luftholen nicht mehr mit Schmerzen verbunden war. Dann zog sie ihren Hackenschuh wieder an, taumelte auf ihren ohnmächtigen Widersacher zu und trat ihm schwungvoll in die Rippen.

„Wie fühlt sich das an, du Jammerlappen?“

Natürlich erwartete Kea keine Antwort. Sie konnte nicht einschätzen, wie lange der Freier außer Gefecht sein würde. Sie schlüpfte in ihr dunkles Kleid und begann damit, das Hotelzimmer zu durchsuchen. Nubik hatte ihr eingeschärft, wonach sie Ausschau halten sollte. Der Henker mochte wissen, was dieser Psychopath mit René anstellen würde, falls sie nicht lieferte.

Versagen war für Kea keine Option.

Zum Glück benötigte sie keine fünf Minuten, um das Blackberry zu finden. Ihr Herz hüpfte vor Erleichterung. Aber vielleicht hatte der Freier ja zwei Geräte dieser Art? Kea schaute in seine Reisetasche, seinen Aktenkoffer, sogar in den Hotelsafe. Sie kannte einen Trick, um die Kombinationen dieser standardisierten Tresore im Handumdrehen zu knacken.

Vielleicht hätte ich Hoteldiebin werden sollen, anstatt für solche Idioten die Beine breitzumachen, dachte Kea.

Immerhin war es ihr erspart geblieben, von Manfred Müller bestiegen zu werden. Außerdem hatte sie das Blackberry klauen können. Im Gesamtergebnis also eine erfolgreiche Nacht. Natürlich nahm Kea dem Bewusstlosen auch noch sein Bargeld, seine Kreditkarten und seiner Protzer-Armbanduhr ab.

Erstens wäre es Verschwendung gewesen, so viel Beute einfach zurückzulassen. Und zweitens sollte der Eindruck vermieden werden, dass es ihr nur auf das Blackberry angekommen wäre.

Kea nahm ihren Lippenstift zur Hand und schrieb damit die Worte ICH BIN EIN VERSAGER auf Manfred Müllers Hühnerbrust.

Dann zog sie die Tür hinter sich zu.

Im Lift warf sie einen Blick in den Spiegel. Abgesehen von leichten Abschürfungen an ihrem Hals deutete nichts darauf hin, dass sie noch vor wenigen Minuten verzweifelt um ihr Leben gekämpft hatte.

Und sie wirkte nicht nuttig, jedenfalls nicht auf Außenstehende. Nachtportiers hingegen schienen einen sechsten Sinn für Frauen ihres Gewerbes zu haben. Aber da Kea sich zu benehmen wusste und unauffällig blieb, hatte sie nie Ärger mit dem Rezeptionspersonal. Nach einigen Jahren im Job kannte sie die meisten Hamburger Portiers zumindest vom Sehen.

Kea verließ das Hotel. Es war inzwischen drei Uhr morgens. Schon kam ein Taxi herangerauscht. Sie wollte einsteigen, als plötzlich ein Kerl neben ihr auftauchte. Er musste ihr aufgelauert haben, jedenfalls erschien er wie aus dem Nichts.

„Setz dich hinten ins Auto“, kommandierte er. Und verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er seine Revolvermündung gegen Keas Flanke presste.



2


René wollte gewinnend grinsen, aber es blieb bei dem Versuch. Wahrscheinlich hatte sich sein Gesicht soeben in eine verzweifelt wirkende Grimasse verwandelt. Checken konnte er es nicht, denn in dem fensterlosen Lagerraum gab es keinen Spiegel.

Und er war hier allein mit einem der gefürchtesten Männer St. Paulis.

„Echt, Nubik, auf Kea ist Verlass. Die Kleine ist gut wie Gold und außerdem eine treue Seele. Wenn du sie angeheuert hast, dann ist die Sache so gut wie geritzt“, sagte er mit zitternder Stimme. René konnte deutlich seinen eigenen Angstschweiß riechen. Ansonsten hing in dem zum Gefängnisraum umfunktionierten Lager Whisky- und Biergeruch in der Luft. Nubik hatte hier offenbar Vorräte für seinen Nachtklub gebunkert gehabt, bevor seine Leute eine Luftmatratze und eine Decke sowie einen Eimer für René in das Kellerverließ geschafft hatten.

René war kein Schwächling. Dennoch wäre es für ihn unvorstellbar gewesen, es mit Nubik aufzunehmen. Momentan fühlten sich seine Knie so weich an, dass er sich noch nicht einmal von seiner Luftmatratze erheben konnte. Also blieb er dort sitzen und blickte zu dem Nachtklubbesitzer auf, der sich gegen die Betonwand gelehnt hatte.

„Kea ist spät dran“, stellte Nubik fest. „Es wäre besser für dich, wenn sie vor dem Morgengrauen mit dem Blackberry hier aufkreuzt. Ich habe einen Ruf zu verlieren, René. Diese Tatsache müsste sogar ein Hohlkopf wie du verstehen. Wenn ich dich kidnappen lasse und meine Forderung nicht erfüllt wird, dann wird jeder auf St. Pauli den Respekt vor mir verlieren. Und Respekt ist alles.“

„Kein Grund zur Aufregung.“ René lachte nervös. „Echt, Kea hat es drauf.“

Nubik würdigte seinen Gefangenen keines Blickes. Als er den Mund öffnete, war es, als ob er zu sich selbst spräche.

„Ich weiß, dass ich nicht so dämlich bin wie du. Mein Intelligenzquotient beträgt 128, falls dir das etwas sagt. Und dennoch gibt es Dinge, die ich nie begreifen werde. Kea ist nicht wie diese anderen Nutten, sie ist etwas Besonderes. Kea hat ein Geheimnis, das sagt mir mein Instinkt. Und ich verstehe nicht, was sie an einem Loser wie dir findet.“

René zuckte mit den Schultern. Seine Kiefernmuskeln schmerzten aufgrund seines Dauergrinsens.

„Tja, muss wohl an meinen schönen blauen Augen liegen ...“

Kaum hatte René diese Worte ausgesprochen, als auch schon Nubiks Arm nach vorn schoss. Der Nachtclubbesitzer packte seinen Gefangenen an der Kehle. Mit der anderen Hand holte er sein Springmesser aus der Tasche und ließ es aufschnappen.

„Du kommst dir wohl unglaublich cool vor, du Komiker? Soll ich dir deine schönen blauen Augen rausschneiden und sie Kea per Expresslieferung zukommen lassen? Ich hätte nicht übel Lust, genau das zu tun.“

René erstarrte, fühlte sich innerlich wie gelähmt. Was sollte er nur tun? War er nicht unterwürfig genug gewesen? Hatte er es an Respekt mangeln lassen? Obwohl René schon seit Jahren auf St. Pauli wohnte, gehörten Kiezgrößen wie Claude Nubik nicht zu seinem Bekanntenkreis.

René wusste selbst, dass er für den Nachtclubbesitzer nur eine Made war. Und was für einen Auftrag Kea für Nubik ausführen sollte, hatte er auch nicht mitgekriegt. René wusste nur, dass er sein Augenlicht behalten wollte. Doch momentan gab es niemanden, der ihm beistehen konnte.

Nubik ließ René genauso abrupt los wie er ihn sich gekrallt hatte. Er versenkte die Messerklinge wieder im Griff.

„Vielleicht fehlt es mir einfach an Verständnis für Gefühle, obwohl sie meine Geschäftsgrundlage sind, René. Tatsache ist, dass sich Kea in diesem Moment auf einen perversen Freier einlässt, nur um mir einen Gefallen zu tun. Wer weiß, was dieser Dreckskerl mit ihr anstellt. Und warum macht sie das? Weil ich ihr ein Foto von dir geschickt habe, wie du auf deiner blöden Luftmatratze hockst und flennst.“

René war nicht sicher, ob er früher am Abend wirklich geheult hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er noch ziemlich stark unter Drogen gestanden. Inzwischen war er dank seiner Todesangst wieder stocknüchtern. Immerhin konnte er sich noch dunkel daran erinnern, dass einer von Nubiks Handlangern mit dem Smartphone ein Bild von ihm gemacht hatte.

René sagte jetzt lieber nichts, die Furcht hatte ihn fest im Griff. Nubik schien ohnehin laut nachzudenken, als er fortfuhr: „Ich kriege ziemlich viel von dem mit, was auf St. Pauli läuft. Wissen ist Macht, diesen Ausspruch wird vielleicht sogar ein Halbaffe wie du schon gehört haben. Du verdankst deinen unfreiwilligen Aufenthalt in meinen Gemächern der Tatsache, dass Kea dich mag. Vielleicht lässt sie dich sogar gratis auf sie drauf rutschen, das will ich gar nicht so genau wissen. Also bist du aus meiner Sicht ein hervorragendes Druckmittel. Ich hätte natürlich auch einfach Theo einschalten können. Aber je weniger Leute von der Sache wissen, desto besser ist es.“

René kannte Keas Zuhälter und verabscheute ihn, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Und es stimmte, dass Kea René gelegentlich ranließ, ohne ihr übliches Honorar zu berechnen. Als René von Nubiks Männern verschleppt worden war, hatte er zunächst befürchtet, Theo in die Hände gefallen zu sein.

Doch nun wäre er lieber in der Gewalt des Zuhälters gewesen als dem Unterweltkönig Nubik ausgeliefert zu sein. Er hätte über seinen Sinneswandel lachen können, wenn seine Todesangst nicht so groß gewesen wäre.

René zuckte zusammen, als Nubiks Handy klingelte. Das Geräusch kam ihm in dem engen Lagerraum so laut vor, dass seine Trommelfelle schmerzten. Der Nachtclubbesitzer nahm das Gespräch entgegen. Seine Augenbrauen zogen sich währenddessen stärker zusammen. Nubiks Blick schien René zu durchbohren.

„Okay, dann meldest du dich wieder, wenn es Neuigkeiten gibt.“

Mit diesen Worten beendete Nubik das Telefonat und steckte sein Smartphone wieder ein. Dann wandte er sich an seinen Gefangenen.

„Es sieht jetzt nicht so aus, als ob du diese Nacht überleben würdest.“



3


Kea presste die Lippen aufeinander. Krampfhaft versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen.

Wer waren die Kerle, von denen sie soeben verschleppt wurde? Zu Nubiks Leuten gehörten sie nicht, obwohl man nie ganz sicher sein konnte, wer alles auf der Lohnliste des Nachtklubbesitzers stand.

Und zu Theos Freunden konnte man sie auch nicht zählen. Kea kannte die meisten Zuhälter auf St. Pauli zumindest vom Sehen. Natürlich gab es auch noch in anderen Ecken Hamburgs Prostitution, aber die Reviere waren abgesteckt und wurden von allen Beteiligten penibel respektiert.

Der Taxifahrer machte jedenfalls gemeinsame Sache mit dem Revolvermann. Falls Kea es überhaupt mit einem echten Taxler zu tun hatte. Vermutlich war die Karre geklaut, aber das fand sie jetzt nebensächlich.

„Wohin bringt ihr mich?“

„Dorthin, wo niemand deine Schreie hören kann.“

Diese Antwort auf Keas Frage bewies ihr, dass es ernst war. Aber sie hatte das Kidnapping ohnehin nicht für einen schlechten Scherz gehalten. Aus den Augenwinkeln musterte sie die pockennarbige Visage des Mannes neben ihr. Das Angenehmste an ihm war der Duft eines teuren After Shaves, den er verströmte. Ansonsten hielt sie ihn für einen Widerling. Und das nicht nur, weil er immer noch seinen Revolver auf sie gerichtet hatte.

Keas Kehle fühlte sich staubtrocken an. Der Freier war kein ernstzunehmender Gegner gewesen. Bei diesem Duo lagen die Dinge anders. Die beiden Männer wussten genau, was sie taten. Der Taxifahrer hielt sich genau an die Straßenverkehrsordnung. Auf der Rothenbaumchaussee fuhr eine Zeitlang ein Streifenwagen hinter dem Taxi.

Ob Kea an einer roten Ampel aus dem Wagen springen und um Hilfe rufen sollte?

Sie entschied sich dagegen. Erstens benötigte der Kerl neben ihr nur einen winzigen Moment, um ihr eine Kugel zu verpassen. Und zweitens kamen Kea die Männer wie ausgekochte Profis vor. Sie würden keine Hemmungen haben, auf Polizisten zu schießen.

Es war, als ob der Revolvertyp ihre Gedanken gelesen hätte.

„Braves Mädchen“, sagte er grinsend, als die Ampel auf Grün umsprang und das Taxi wieder anfuhr. Er tätschelte ihr Knie.

„Wer schickt euch?“, brachte Kea hervor.

„Das willst du nicht wissen“, lautete die Antwort.

Kea versuchte, ihre Chancen einzuschätzen. Wenn sie nichts unternahm, würde sie diese Nacht nicht überleben. Für sie war es sonnenklar, dass es den Männern ebenfalls um das Blackberry ging. Aber nicht nur darum.

Die Dreckskerle hätten ihr schon längst ihre Handtasche abnehmen können, in der sich das Smartphone befand. Dafür wäre es noch nicht einmal nötig gewesen, sie in dem Taxi zu verschleppen. Doch das reichte ihnen nicht.

Das Duo würde vermutlich über Kea herfallen und sie anschließend als lästige Augenzeugin umbringen.

Kea wusste, dass sie mit dieser Vermutung richtig lag. Nun musste sie nur noch den Spieß umdrehen. Sie wandte sich dem Revolvertyp zu und quälte sich ein Lächeln ab.

„Hör mal, ich mag es auf die harte Tour. Du musst nicht ständig deine Bleispritze auf mich gerichtet halten.“

Der Widerling stieß ein heiseres Lachen aus.

„Ach, ist das so? Du wirst noch um Gnade winseln, bevor wir mit dir fertig sind“, antwortete er. Und drückte weiterhin seine Revolvermündung gegen Keas Leib.

Maulhelden gibt es im Dutzend billiger, dachte sie.

Der Taxifahrer lenkte seine Mietkutsche Richtung Nordwesten. Von diesem Mann hatte Kea bisher nur den Hinterkopf sowie die mit Schuppen bedeckten Schultern zu sehen bekommen. Außerdem erblickte sie dann und wann seine Mörderaugen im Rückspiegel. Instinktiv spürte sie, dass er gefährlicher war als der Revolverschwinger, mit dem sie Körperkontakt hatte. Die Schweigsamen erwiesen sich meist als die wirklich üblen Gegner. Sie verschwendeten keine Energie mit sinnlosem Gefasel, sondern hoben sich ihre Kraft für die absolute Vernichtung auf. Solche Männer musste man wirklich fürchten.

Der Taxifunk war abgeschaltet.

Als der Mercedes-Benz die Stadtgrenze erreichte, verlor Kea endgültig die Orientierung. Sie kannte sich in Hamburg gut aus, als Callgirl hatte sie praktisch alle Stadtteile der Metropole schon aufgesucht.

Natürlich, das Duo würde sich Kea irgendwo in der ländlichen Einsamkeit vorknöpfen. Da das Licht im Auto ausgeschaltet war und die Finsternis draußen nicht mehr durch Straßenlaternen erhellt wurde, schien das Taxi mitten in einen finsteren Schlund zu fahren. Nur dann und wann kam ihnen ein anderes Fahrzeug entgegen, dessen Scheinwerfer für Momente das Wageninnere erhellten. Ansonsten bestand die einzige Beleuchtung aus den Leuchten am Armaturenbrett.

Und dann blieb das Taxi plötzlich stehen.

Der Fahrer stellte den Motor aus. Nun war das Zirpen von Grillen als das einzige Geräusch zu hören. Es war, als ob die Natur Kea verhöhnen wollte. Sie selbst vernahm ansonsten nur noch den rasend schnellen Rhythmus von Hammerschlägen. Aber sie erkannte, dass dies ihre eigenen Herztöne waren.

„Jetzt kommen wir zum gemütlichen Teil.“

Mit diesen Worten rückte der Revolvermann etwas von Kea ab, während er gleichzeitig seine Hand ausstreckte.

„Du gibst mir jetzt das Blackberry!“

Kea öffnete ihre Handtasche und überreichte dem Kerl ohne Zögern ihre Beute.

„So, und jetzt zieh dich aus!“

„Sorry, aber ich bin schüchtern“, erwiderte Kea. Dann zog sie ihre Glock hervor und verpasste dem Ekel ein Stück heißes Blei.

Das Schussgeräusch im Taxi war ohrenbetäubend. Kea konnte nicht genau sehen, wo sie ihren Widersacher getroffen hatte. Auf jeden Fall lebte er noch, denn er schrie wie am Spieß. Kea feuerte noch einmal in seine Richtung. Angesichts der geringen Distanz war es fast unmöglich, ihn zu verfehlen. Sie hoffte nur, dass sie nicht versehentlich das Blackberry getroffen hatte. Stillschweigend war sie davon ausgegangen, dass sie Nubik das Smartphone unbeschädigt übergeben musste, damit René kein Haar gekrümmt wurde.

Ihre beiden Gegner hatten offensichtlich nicht damit gerechnet, dass eine Hure außer Kondomen und Papiertaschentüchern auch noch eine Pistole in ihrer Handtasche hatte.


Der Revolvermann schoss nun zurück. Die Kugel sirrte knapp an Kea vorbei und zerstörte das Seitenfenster hinter ihr. Keas Ohren klingelten. Sie schwenkte ihre Pistolenmündung in Richtung des Taxifahrers. Aber der reagierte mit beachtlicher Kaltblütigkeit. Ob er keine Schusswaffe hatte? Auf jeden Fall drehte er sich um. Und bevor Kea noch einmal abdrücken konnte, sprühte er ihr eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht.

Kea fühlte sich, als ob ihre Augäpfel in Fritierfett geworfen würden.

Sie bekam keine Luft mehr.

Und das fühlte sich diesmal noch gemeiner als bei den Würgespielen im Hotel. Wütend schoss sie in die Richtung, wo sie den Taxler vermutete. Gleichzeitig tastete sie mit der anderen Hand nach dem Türgriff hinter ihr. Eigentlich hatte sie sich das Blackberry zurückholen wollen, aber das konnte sie nun vergessen. Wie sollte das funktionieren, wenn sie nichts mehr sah und keine Luft kriegte?

Kea fiel aus dem Auto, landete mit dem Gesicht im Dreck. Sie schmeckte feuchte Erde auf ihrer Zunge.

Der Motor wurde gestartet. Gleich darauf entfernte sich das Geräusch ziemlich schnell. Bei der Schießerei war den beiden Widerlingen offenbar die Lust auf eine Vergewaltigung vergangen. Immerhin hatten sie es geschafft, das Blackberry in ihre Finger zu kriegen.


Kea blieb auf dem Bauch liegen und wartete, bis sich ihre Atemzüge beruhigt hatten und der Schmerz in ihren Augen allmählich nachließ. Sie musste sehr oft blinzeln, aber nach einer Weile konnte sie wieder einigermaßen sehen.

Sie lag neben einem Feldweg. Irgendwo weit entfernt erblickte Kea die Lichter eines Dorfes. Sie checkte den Inhalt ihrer Tasche und stellte beruhigt fest, dass sie ihre Glock und ihr Handy nicht verloren hatte.

Alles andere war nebensächlich.

Kea musste jetzt dringend etwas unternehmen, sonst hatte sie René auf dem Gewissen.

Also rief sie Nubik an.



4


„Kea hat versagt.“

Diese Worte warf Nubik René an den Kopf. Die Todesangst in den Augen seines Gefangenen verbesserte seine Laune nur ein wenig. Wen kümmerte es, ob eine Wanze wie René Kemper lebte oder starb? Nubik verschwendete daran keinen weiteren Gedanken. Ihn beschäftigte jetzt nur die Frage, wie er an das Blackberry kommen sollte. Solange das Gerät sich im Besitz des Freiers befand, hatte Nubik wenigstens noch gewusst, wo er es zu suchen hatte. Und nun war das Blackberry mitsamt der Nutte verschwunden.

Kea war Nubik egal.

Wahrscheinlich hatten diese Bastarde ihr längst die Kehle durchgeschnitten.

„Weißt du, wer mich gerade angerufen hat?“, fragte Nubik René. Der Versager schüttelte den Kopf.

„Nein, das weißt du natürlich nicht, du weißt ja sowieso kaum etwas“, fuhr Nubik fort. „Das war Ed, einer meiner Männer. Er sollte Kea im Auge behalten, ihm hätte sie das Blackberry übergeben sollen.“

„Und sie hat es nicht getan?“, fragte René dümmlich. Nubik verpasste ihm eine Ohrfeige.

„Natürlich nicht, du Flachzange! Ich hätte eindeutig bessere Laune, wenn das Blackberry schon auf dem Weg hierher wäre. Aber Kea ist von zwei Typen gekidnappt worden, bevor Ed dazwischengehen konnte.“

Nubik fragte sich, ob er selbst einen Fehler gemacht hatte. Ed war allein. Wenn Nubik zwei Männer zu dem Hotel geschickt hätte, dann wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Andererseits wollte Nubik Aufsehen um jeden Preis vermeiden. Das war schlecht fürs Geschäft.

„Ed hat das Taxi verfolgt, in dem deine Nuttenfreundin verschleppt wurde“, sagte der Nachtklubbesitzer. „Irgendwann gelang es den Typen, Ed abzuschütteln. Er ist noch eine halbe Stunde durch die Gegend gekurvt, um sie wiederzufinden. Allerdings ohne Ergebnis. Erst dann hat er sich getraut, bei mir anzurufen. Er weiß, dass ich Versager hasse.“

Renés Unterlippe zitterte, seine Augen waren feucht. Ob er sich schon auf sein unausweichliches Ende vorbereitete? Zum Glück hielt er momentan die Klappe. Nubik konnte auf die wenig geistreichen Bemerkungen seines Gefangenen getrost verzichten.

Da klingelte sein Smartphone erneut.

Nubik glaubte schon, dass es Ed mit einer weiteren Hiobsbotschaft wäre. Stattdessen hörte er Keas helle Stimme.

„Hallo, Nubik.“

„Du wagst es, hier anzurufen? Wo ist mein Blackberry?“

„Momentan habe ich es nicht, aber ...“

„Momentan? Was soll das heißen? Ich weiß, dass du in einem Taxi gekidnappt wurdest. Willst du behaupten, du hättest das Gerät dem Fahrer geliehen und er würde es dir gleich wiedergeben?“

„Ich habe es mir abnehmen lassen, aber ...“

„Das ist schlecht, vor allem für deinen Busenfreund René. Ich werde mir eine möglichst qualvolle Todesart für ihn ausdenken.“

„Das lässt du schön bleiben!“, rief Kea mit gellender Stimme.

Nubik war verblüfft. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass eine Hure es jemals gewagt hatte, ihn anzuschreien. Das machte ihn für einen Moment sprachlos, und Kea redete weiter: „Renés Tod nützt dir überhaupt nichts. Du willst das Blackberry, und du sollst es bekommen. Ich kümmere mich persönlich darum.“

„Und wie willst du das anstellen?“, höhnte Nubik. „Du kannst doch nur die Beine breitmachen, damit verdienst du schließlich dein Geld.“

„Glaubst du das wirklich? Und wie habe ich es deiner Meinung nach geschafft, dem Taxifahrer und seinem Freund zu entkommen?“

Darauf fiel Nubik keine Antwort ein. Er begriff, dass er Kea unterschätzt hatte. Oder machte sie gemeinsame Sache mit ihren Kidnappern? Aber wenn das so war, wieso sollte sie ihm dann versprechen, das Blackberry zurückzuholen?

Um Zeit zu gewinnen.

Das hätte zumindest Nubik an ihrer Stelle getan.

„Du willst mich doch verladen, du Miststück“, knurrte er. „Glaubst du vielleicht, du kannst mir ein anderes Blackberry unterschieben? Ich will genau das Gerät, das du dem Schwabbel geklaut hast. Und glaube bloß nicht, dass ich es nicht erkennen würde.“

„Ich will dich nicht verschaukeln, ich brauche nur etwas Zeit.“

„Wieviel?“

„Keine Ahnung, ich rufe dich wieder an. Und bis dahin lässt du René in Ruhe.“

„Glaubst du, ich lasse mir von einer Nutte Vorschriften machen?“

„Ja, das glaube ich. Du würdest alles tun, um dieses Gerät in die Finger zu bekommen. Sonst hätte du nicht schon so lange mit mir telefoniert.“

„Fahr zur Hölle!“

„Tschüs, Nubik. Und schöne Grüße an René.“

Das Gespräch war beendet.

René blickte unterwürfig zu dem Nachtklubbesitzer auf.

„Ich soll dich von deiner Freundin Kea grüßen.“

Mit diesen Worten schlug Nubik seinen Gefangenen mit dem Handrücken ins Gesicht. René jaulte, Blut floss aus seiner Nase. Trotzdem begann er im nächsten Augenblick zu reden.

„Bitte töte mich nicht, Nubik. Ich verrate dir auch Keas Geheimnis, das kann dir bestimmt nützlich sein.“

Nubik schnaubte ironisch.

„Was für ein Geheimnis meinst du? Dass Kea eine Drogenfresserin ist? Diese Tatsache dürfte halb St. Pauli bekannt sein.“

René schüttelte den Kopf.

„Das war früher. Kea ist clean, und das schon seit einem halben Jahr.“

Nubik zuckte mit den Schultern.

„Na und? Schön für sie.“

„Wenn ich dir sage, was ich über Kea weiß, lässt du mich dann am Leben?“

„Spuck es aus, dann sehen wir weiter“, sagte Nubik. René sprach nun zögernd und stockend. Der Nachtklubbesitzer spürte, dass sein Gefangener die Wahrheit sagte.

Vielleicht konnte dieser Trottel René ihm doch noch nützlich sein.




5


Kea hätte jetzt gut eine Line Koks vertragen können.

Aber hier mitten in in der Natur gab es das weiße Pulver nicht, und außerdem war sie sehr stolz auf die Klarheit in ihrem Kopf. Das wollte sie nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen, obwohl die Verlockung ständig vorhanden war.

Ihre Augen brannten immer noch ein wenig, aber der Schmerz war auf Keas persönlicher Skala von unerträglich auf leicht unangenehm abgerutscht. Mit leicht unangenehm konnte sie leben. Vieles in ihrem Alltag war leicht ungenehm: Die ekligen Freier, das versiffte St. Pauli, die öden Tage und die Schlafmangel-Nächte. Daran hatte sie sich gewöhnt.

Kea stand neben dem Feldweg und dachte über das Telefonat mit Nubik nach.

Er war ein Mistkerl, aber im Gegensatz zu einigen anderen Unterweltgrößen war er intelligent. Ihm konnte sie so leicht nichts vormachen, und unterschätzen durfte sie ihn auf gar keinen Fall.

Kea seufzte. Dann rief sie einen Mann an, der die Weisheit garantiert nicht mit Löffeln gefressen hatte: Ihren Zuhälter.

Sie musste es dreimal klingeln lassen, bevor er sich meldete.

„Ja?“

„Warum klingst du so schlecht gelaunt, Theo? Verlierst du schon wieder beim Pokern?“

„Was willst du, Kea?“

„Also verlierst du, alles klar. Du musst mich sofort abholen. Wozu habe ich einen Beschützer, wenn er im entscheidenden Moment nicht für mich da ist?“

„Du machst doch sowieso nur das, was dir gefällt.“

„Richtig, aber diesmal ist es wirklich ernst. Also, schwing deinen Hintern ins Auto und sammle mich ein.“

„Hat dich ein Freier rausgeschmissen? Der Kanaille breche ich jeden Knochen einzeln. Wo bist du denn?“

„Woher soll ich das wissen? Ehrlich, ich habe keinen Plan. Aber du hast doch mal so ein Ortungs-Dingsbums in meinem Handy installiert, oder? Damit wirst du mich wohl finden können. Und bring mir Klamotten zum Wechseln mit, ich bin total dreckig.“

„Dreckig auch noch?“, regte Theo sich auf. „Der Freier kann sein Testament machen.“

„Es war kein Freier, aber das erzähle ich dir später. Und nun beeile dich, mir ist kalt.“

Mit diesen Worten beendete Kea das Telefonat.

Sie war das einzige Pferdchen in Theos Stall, das so mit ihm reden durfte. Der Zuhälter war ganz gewiss kein Chorknabe, und die anderen Frauen hätten sich für solche Unverschämtheiten schon längst einen Satz heiße Ohren eingefangen. Aber Theo war wie Wachs in Keas Händen.

Sie konnte sich vorstellen, dass er sie auf eine verquere und merkwürdige Art sogar liebte. Normalerweise lief es auf dem Kiez umgekehrt. Die meisten Frauen gerieten ins Prostitutionsgeschäft, indem sie sich in ihren Luden verknallten und dann buchstäblich alles für ihn taten.

Bei Kea und Theo war das anders.

Es machte ihr nichts aus, mit ihm zu schlafen, aber es war für sie auch keine grandiose Offenbarung. Kea hatte das Gefühl, dass er viel mehr für sie empfand als sie für ihn. Sie musste grinsen, als sie sich den bulligen glatzköpfigen Theo als einen Romeo vorstellte, der unter dem Balkon seiner Julia Kea ein paar Liebeslieder zum besten gab. Theo sang höchstens, wenn er besoffen war. Und dann auch nur Stücke von Meat Loaf oder Metallica.


Kea zündetes sich eine Zigarette an. Wenn sie schon auf Kokain verzichtete, dann wollte sie wenigstens eine Fluppe durchziehen. Theo war schwer in Ordnung, wenn sie es sich richtig überlegte. Es gab auf dem Kiez Zuhälter, die ihre Mädchen richtig übel zurichteten. Theo hingegen hatte noch niemals seine Hand gegen Kea erhoben. Das war mehr, als so mancher nach außen hin treusorgende Ehemann von sich behaupten konnte.

Sie verzog das Gesicht, als sie an diese Typen dachte.

Das waren dann die selbsternannten Frauenhelden, die bei einer Hure Dampf ablassen wollten. Wenn solche Kerle auf eine schüchterne achtzehnjährige Bulgarin trafen, dann konnte das sogar funktionieren.

Aber nicht bei Kea, die sich nichts gefallen ließ.

Manchmal hatte sie sich selbst schon gefragt, ob sie nicht lieber etwas devoter sein sollte. Wäre das nicht besser fürs Geschäft?

Wohl kaum, denn Kea machte mehr Umsatz als Theos andere Ladys. Irgend etwas an ihrer Art musste den Männern also zusagen.

Kea sog an ihrer Zigarette und schaute nachdenklich auf die Glut, die wie ein Glühwürmchen die Dunkelheit um sie herum durchbrach. Es gab weit und breit keine weitere Lichtquelle. Einen Steinwurf weit entfernt verlief eine Landstraße, auf der dann und wann ein Auto vorbeifuhr.

Kea fragte sich, wann Theo sie endlich abholen würde. Ihre Füße waren kalt und ihre Augen brannten immer noch ein wenig. Ganz zu schweigen von ihrer Sorge um René. Kea hoffte wirklich, dass sich Nubik einstweilen zurückhalten würde. Aber sicher sein konnte sie natürlich nicht. Er war ein Typ, der seine eigenen Regeln machte.

Nach einer gefühlten halben Ewigkeit vernahm Kea das satte Motorengeräusch von Theos SUV, der den Feldweg hoch gerumpelt kam. Kea hielt sich die Hand vor die Augen, als sie in das Scheinwerferlicht des schweren Wagens geriet. Dann trat sie zur Seite, öffnete die Beifahrertür und ließ sich auf den Sitz neben Theo fallen.

„Endlich! Ich dachte schon, dass mir gleich die Füße abfallen würden.“

Danke gehört wohl nicht zu deinem Wortschatz?“

„Danke dafür, dass ich am Leben bleiben und dir weiterhin einen Haufen Kohle einbringen darf.“

Theo verzog sein feistes Gesicht zu einem Grinsen.

„Nun sag schon, was geschehen ist, Kea.“

Sie erzählte ihrem Zuhälter von dem Hotelauftrag und davon, dass Nubik sie auf den Freier angesetzt hatte. Theo pfiff durch die Zähne.

„Als Nubik zu mir kam, um dich zu buchen, sprach er nur von einem leichten Job für dich. Und weil die Kohle gestimmt hat, habe ich nicht nachgebohrt.“

„Zumindest theoretisch war die Aufgabe wirklich leicht. Ich musste den Kerl noch nicht mal ranlassen. Aber den Job konnte ich trotzdem nicht erledigen, weil diese elenden Maden mir das Blackberry wieder abgenommen haben.“

Kea schaltete das Licht im Auto ein.

„Wo sind denn meine Klamotten zum Wechseln? Oder hast du sie vergessen?“

„Nee, die liegen in einer Tüte auf dem Rücksitz.“

Kea griff hinter sich und schaute in die Tragetasche.

„Ein Abendkleid? Echt jetzt?“

Theo zuckte mit den Schultern.

„Ich habe das Nächstbeste eingepackt. - Deine Augen sehen ja echt übel aus. So rot wie bei einem Albino.“

„Das kann ich mir vorstellen. Aber diesem Revolvertypen konnte ich ein Loch in seinen Wanst pusten. Der wird es sich das nächste Mal überlegen, ob er einfach eine Frau verschleppt.“

Mit diesen Worten schälte Kea sich aus ihrem schmutzigen und teilweise eingerissenen Fummel und schlüpfte in das Abendkleid. Ihre Strümpfe wiesen Laufmaschen auf, aber das war zu verschmerzen. Kea schaute in ihren Schminkspiegel und brachte notdürftig ihr Make-up in Ordnung.

„Du hast nicht zufällig etwas dabei, Theo?“

Der Zuhälter schaute sie von der Seite an.

„Hattest du dir nicht geschworen, die Finger von den Drogen lassen zu wollen?“

„Ja, stimmt schon. Vergiss einfach, was ich gerade gesagt habe, okay?“

Theo grinste. Dann griff er in die Innentasche seiner Lederjacke. Kea befürchtete (oder hoffte?), dass er ein Kokain-Briefchen hervorziehen würde.

Stattdessen drückte er ihr eine Schachtel Munition in die Hand.

„Hier, du solltest deine Glock nachladen. Es gibt nicht Blöderes, als mit einer leer geschossenen Waffe herumzurennen.“

Kea gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Theo war kein Geistesakrobat, aber manchmal dachte er eben doch mit.

„Wie geht es jetzt weiter?“, wollte Theo wissen, während Kea die verschossenen Patronen ersetzte.

„Ich muss das Blackberry zurückholen, sonst macht Nubik René einen Kopf kürzer.“

„Wäre nicht schade um den Penner.“

Für diese Bemerkung bekam Theo von Kea eine Kopfnuss verpasst.

„Ich weiß, dass du kein Mitglied im René-Fanclub bist. Aber trotzdem sollte es dir nicht egal sein, dass das Blackberry futsch ist.“

„Wieso?“

„Weil Nubik dich fürstlich bezahlt hat, damit ich das Teil klaue! Willst du wirklich bei ihm in Ungnade fallen?“

Theo öffnete und schloss seine mächtigen Pranken, die auf dem Lenkrad ruhten.

„Stimmt schon, Nubik könnte unsere Existenz mit einem Fingerschnipsen beenden. - Und du hast echt keine Ahnung, wer diese beiden Typen sein könnten?“

„Nein, aber das macht nichts. Wir wissen, dass sie in einem Taxi unterwegs waren. Außerdem habe ich mindestens einen von ihnen angeschossen. Mit so einer Wunde kann er nicht in einem Krankenhaus aufkreuzen, weil solche Verletzungen gleich den Bullen gemeldet werden. Also wird er zu einem der Quacksalber gehen, die auf St. Pauli Leute zusammenflicken und keine Fragen stellen.“

„Und das Taxi? Meinst du, sie haben es geklaut?“, fragte Theo.

„Vielleicht, glaube ich aber nicht. Die Wagen haben doch heutzutage alle GPS. Das wäre zu riskant. Der Typ wird ein echter Taxifahrer sein.“

„Dann könnte Lars ihn vielleicht finden.“

„Dieser Hackerfreak? Ja, das ist möglich. Lars könnte irgendwie in die Datenbank der Taxizentrale eindringen. Fragt sich nur, ob er uns diesen Gefallen tut. Ich könnte ja meine weiblichen Reize einsetzen.“

Kea schlug die Beine übereinander.

„Oder ich verpasse ihm eine gewaltige Abreibung“, schlug Theo vor. Dann schaltete er das Licht aus und lenkte seinen SUV wieder Richtung Hamburg.

Und er steuerte auf St. Pauli zu.



6


„Wie geht es dir, Joe?“

Pete stellte diese Frage, während er das Taxi so schnell wie möglich vorwärts knüppelte. Zwischendurch warf er immer wieder einen Blick in den Rückspiegel. Aber viel war im Inneren des Wagens nicht zu erkennen. Pete wusste nur, dass sein Bruder auf dem Rücksitz lag und vor sich hin blutete.

„Das wolltest du das letzte Mal vor drei Minuten wissen“, stieß Joe zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich fühle mich blendend. Stelle mir gerade vor, was wir mit dem Miststück machen, wenn wir es wieder in die Finger bekommen.“

„Die Kleine wird noch um ihren Tod betteln, das schwöre ich dir“, sagte Pete.

„Wir müssen dringend das Blackberry loswerden.“

Der Taxifahrer schüttelte den Kopf.

„Das hat Zeit. Erst bringe ich dich zu Dr. Skull. Ich werde jedenfalls nicht dieses dämliche Smartphone übergeben, während mein kleiner Bruder verblutet.“

Joe rang röchelnd nach Atem. Dieses Geräusch schnitt wie eine Rasierklinge in Petes Seele. Sein Bruder durfte einfach nicht sterben!

„Ich frage mich, was an diesem Blackberry so wertvoll sein soll. Vielleicht ... könnten wir es besser behalten“, sagte Joe. Seine Stimme war so leise, dass Pete ihn kaum verstehen konnte. Ob es bereits mit ihm zu Ende ging?

„Also übergeben wir es gar nicht an die Typen, die uns beauftragt haben?“, vergewisserte sich der Taxifahrer.

„Ja, das habe ich mir gerade vorgestellt. Okay, die 10.000 Euro Honorar sind nicht übel. Aber vielleicht ist das nur ein Trinkgeld im Vergleich zum echten Wert dieses Blackberrys.“

„Den kennen wir aber nicht“, gab Pete zu bedenken. Er wollte sich eigentlich nicht mit seinem schwerverletzten Bruder streiten. Andererseits war es in seinen Augen ein gutes Zeichen, dass Joe überhaupt noch redete. Daher versuchte er, das Gespräch in Gang zu halten. Sein Bruder durfte nicht das Bewusstsein verlieren. Instinktiv spürte Pete, dass es dann mit ihm zu Ende gehen würde.

„Okay, aber das muss doch rauszukriegen sein. Vielleicht ist das Gerät eine Million oder mehr wert, wer weiß? Dann können wir uns in die Karibik absetzen und dieses elende St. Pauli für immer hinter uns lassen.“

„Ja, das wäre schön“, murmelte Pete. Mit 10.000 Euro kam man in dem Hamburger Amüsierviertel nicht weit - vor allem dann nicht, wenn man Spielschulden hatte. Pete stellte sich vor, in die Sonne zu jetten und niemals zurückkehren zu müssen. Diese Vision überlagerte kurzzeitig die Sorge um das Leben seines Bruders.

Doch dann begann Joe zu fluchen.

„Ich halte es kaum noch aus ... hätte nie gedacht, dass ich so eine Memme bin.“

Pete hatte einen dicken Kloß in der Kehle, als er diese Worte vernahm. Joes Stimme hörte sich so schwach an.

„Wir sind bald da, Bruderherz. Und du bist kein Jammerlappen, sondern ein harter Knochen. Wir machen sie alle fertig, okay?“

Joe antwortete nicht mehr. Pete wäre am liebsten an den Straßenrand gefahren, aber er konnte allein nichts für seinen Bruder tun. Nachdem sie die Hure losgeworden waren, hatte Pete ein paar Kilometer weiter angehalten und die Wunden des Verletzten notdürftig versorgt. Aber nun war alles Verbandsmaterial aus dem Erste-Hilfe-Kasten aufgebraucht.

Der Taxifahrer hatte Dr. Skull in seinem Smartphone auf Kurzwahl. Er setzte die Freisprecheinrichtung in Gang.

Petes Herz raste, während das Freizeichen ertönte. Endlich meldete sich der Quacksalber mit seiner tiefen Reibeisenstimme.

„Ja, was gibt es denn?“

„Hier ist Pete. Du musst dich gleich um meinen Bruder kümmern, es hat ihn erwischt.“

„Was fehlt Joe?“

„Nicht am Telefon. Wir sind in ungefähr zehn Minuten bei dir.“

„Okay, ich mache alles bereit.“

Dr. Skull beendete die Verbindung. Pete schöpfte neue Hoffnung. Das Blut jagte heiß durch seine Adern, er spürte das Pochen in seinen Schläfen. Immer wieder musste er sich zurückhalten, als das Taxi endlich auf Hamburger Stadtgebiet rollte. Am liebsten hätte er das Gaspedal bis zum Bodenblech durchgetreten, aber davor scheute er zurück. Das Letzte, was Pete jetzt gebrauchen konnte, war eine Geschwindigkeitskontrolle durch die Polizei. Die Cops würden sich gewiss brennend für einen blutüberströmten Mann auf der Taxi-Rückbank interessieren, der außerdem auch noch einen nicht registrierten Revolver in der Hand hielt.


Pete wollte auf keinen Fall in den Knast, um nichts in der Welt. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder war es ihm bisher stets gelungen, bei seinen krummen Dingern nicht erwischt zu werden. Und dabei sollte es auch bleiben.

An jeder roten Ampel schien die Zeit so zäh wie Ahornsirup zu vergehen. Pete bildete sich ein, dass in jeder Seitenstraße ein Streifenwagen auf ihn lauerte.

„Ich drehe gleich ab“, sagte er laut zu sich selbst. Von Joe kam kein Laut mehr. Pete wurde es plötzlich eiskalt, obwohl es im Taxi warm und stickig war. Die Klimaanlage funktionierte wieder einmal nicht.

Nach einer gefühlten halben Ewigkeit bog der Mercedes-Benz endlich in die Silbersackstraße ein. Dr. Skull wartete bereits in seiner Toreinfahrt. Er betrieb eigentlich ein Tattoo-Studio, in dessen Schaufenster Fotos seiner besten Arbeiten ausgestellt waren.

Reeperbahn-Nachtschwärmer torkelten grölend und singend an dem Laden vorbei. Pete hätte ihnen allen den Hals umdrehen können. Sie amüsierten sich hier, während sein Bruder im Sterben lag! Andererseits war es gut, dass die Typen so hackedicht waren. Von ihnen würde sich später garantiert keiner mehr an das Taxi erinnern, von dessen Zulassungsnummer ganz zu schweigen.

Pete setzte rückwärts in die Einfahrt. Dr. Skull nickte ihm zu. Dann zogen sie gemeinsam den Verletzten aus dem Taxi.

„Vorsichtig!“

„Ich mache das nicht zum ersten Mal“, brummte der dicke Tätowierer. Pete schätzte, dass er zwischen fünfzig und sechzig Jahren alt war. Er trug einen grauen Bart, der bis auf seine Brust hinunter wallte. Seinen unförmigen Körper hatte Dr. Skull in ein schwarzes Iron-Maiden-T-Shirt und eine Blue Jeans gezwängt. Die farbigen Motive auf seinen Armen bewiesen, dass er selbst ein Fan von coolen Tattoos war.

Sie schafften es, den Schwerverletzten in das Tätowierstudio zu schaffen. Die bierselige Partymeute war inzwischen weitergezogen. Joe wurde auf eine Liege gehievt. Dr. Skull beugte sich über seinen Patienten und tastete nach der Halsschlagader.

„Dein Bruder lebt, aber er hat viel Blut verloren. Normalerweise müsste er in ein Krankenhaus.“

„Glaubst du, das wüsste ich nicht?“, fauchte Pete. „Schau ihn dir doch mal an, dieses Weibsstück hat ihn mit Blei vollgepumpt!“

„Genau genommen ist es nur eine Kugel, die in seiner Flanke steckt, das andere ist ein Streifschuss“, meinte der Tätowierer und zog sich Latex-Handschuhe über. Dann sagte er: „Die Kugel kann ich rausholen, aber ich garantiere für nichts.“

Als sie Joe aus dem Taxi zogen, hatte Pete sich dessen Revolver geschnappt und eingesteckt. Nun drückte er die Mündung gegen Dr. Skulls mächtigen Schädel.

„Du sorgst besser dafür, dass mein Bruder am Leben bleibt. Sonst blase ich dir dein Hirn aus dem Kopf!“