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Kohlhammer Standards Psychologie

 

Begründet von

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Theo W. Herrmann (†)

Marcus Hasselhorn

Marcus Hasselhorn

Werner H. Tack

Herbert Heuer

Wilfried Kunde

Franz E. Weinert (†)

Frank Rösler

Silvia Schneider

 

Erschienene Bände

•  Gold, Lernschwierigkeiten, 978-3-17-032277-6

•  Hasselhorn/Gold, Pädagogische Psychologie, 978-3-17-031976-9

•  Jäncke, Methoden der Bildgebung in der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften, 978-3-17-018469-5

•  Krohne/Hock, Psychologische Diagnostik, 978-3-17-025255-4

•  Prinz (Hrsg.), Experimentelle Handlungsforschung, 978-3-17-022270-0

•  Rief/Exner/Martin, Psychotherapie, 978-3-17-017660-7

•  Rinck, Lernen, 978-3-17-026040-5

•  Rüsseler, Neuropsychologische Therapie, 978-3-17-020111-8

•  Schmalt/Langens, Motivation, 978-3-17-020109-5

•  Schmidt-Atzert/Peper/Stemmler, Emotionspsychologie, 978-3-17-020595-6

•  Schwarzer/Jovanovic, Entwicklungspsychologie der Kindheit, 978-3-17-021693-8

•  Sonntag/Stegmaier, Arbeitsorientiertes Lernen, 978-3-17-029543-8 (E-Book)

•  Stemmler/Hagemann/Amalang/Spinath, Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung, 978-3-17-025721-4

•  Vollrath/Krems, Verkehrspsychologie, 978-3-17-020846-9

•  Westermann, Methoden psychologischer Forschung und Evaluation, 978-3-17-024182-4

•  Zumbach, Lernen mit neuen Medien, 978-3-17-016833-6

In Vorbereitung

•  Munzert/Raab/Strauß (Hrsg.), Sportpsychologie, 978-3-17-021436-1

Andreas Gold

Lernschwierigkeiten

Ursachen, Diagnostik, Intervention

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032277-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-032278-3

epub:    ISBN 978-3-17-032279-0

mobi:    ISBN 978-3-17-032280-6

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Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Vorwort zur 2. Auflage
  2. Einleitung: Lernschwierigkeiten als Bildungsrisiken
  3. Wenn Lernen und Lehren scheitern
  4. Ausmaß und Auswirkungen des Problems
  5. Ursachen, Diagnose, Prävention und Intervention
  6. Mangelnde Passung
  7. Zum Aufbau dieses Buches
  8. 20 wichtige Fragen
  9. 1 Wie Kinder lernen
  10. 1.1 Lernen als Aufbau von Wissen und Können
  11. 1.2 Kumulative Lernprozesse
  12. 1.3 Individuelle Voraussetzungen erfolgreichen Lernens
  13. 1.4 Entwicklungsvoraussetzungen erfolgreichen Lernens
  14. 1.5 Lernkontext Familie
  15. 1.6 Lernumwelt Schule
  16. 2 Bildungserfolg – wie ungleich Lernergebnisse sind
  17. 2.1 Indikatoren des Bildungserfolgs
  18. 2.2 Ungleiche Bildungsergebnisse
  19. 2.3 Bildungsgerechtigkeit
  20. 3 Ursachen – wieso Lernschwierigkeiten entstehen
  21. 3.1 Ursachen von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten
  22. 3.2 Ursachen von Rechenschwierigkeiten
  23. 3.3 Domänenübergreifende Ursachen
  24. 3.4 Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung
  25. 3.5 Ungünstige familiäre Lernkontexte
  26. 3.6 Ungünstige schulische Lernumwelten
  27. 4 Diagnose – wie schwer das Lernen fällt
  28. 4.1 Schulpsychologische Diagnostik
  29. 4.2 Lesen und Rechtschreiben
  30. 4.3 Rechnen
  31. 4.4 Diagnostik kognitiver Funktionen
  32. 4.5 Lernverlaufsdiagnostik
  33. 5 Prävention – wie sich Lernschwierigkeiten vermeiden lassen
  34. 5.1 Gefährdete Kinder – schwierige Lernsituationen
  35. 5.2 Vorschulische Lernförderung
  36. 5.3 Sprachförderung
  37. 5.4 Gestaltung von Übergängen
  38. 5.5 Familie und Schule
  39. 6 Intervention – wie sich Lernschwierigkeiten behandeln lassen
  40. 6.1 Förderung des Lesens und des Rechtschreibens
  41. 6.2 Förderung des Rechnens
  42. 6.3 Förderung individueller Lernvoraussetzungen
  43. 6.4 Adaptiver Unterricht
  44. 7 Inklusiv oder nicht – wo Kinder am besten lernen
  45. 7.1 Kein Kind zurücklassen
  46. 7.2 Vor- und Nachteile der Inklusion
  47. Lernschwierigkeiten in der Lehrerbildung
  48. Standards und Kompetenzen
  49. Lehre und Forschung
  50. Fort- und Weiterbildung
  51. Literatur
  52. Der Autor
  53. Stichwortverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

 

 

Lernschwierigkeiten sind Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler, der Schule, der Eltern und der Gesellschaft. Lernschwierigkeiten und das mit ihnen verbundene individuelle Schulleistungsversagen gehen uns deshalb alle an.

In diesem Lehrbuch geht es um Ursachen von Lernschwierigkeiten und um pädagogische Handlungsmöglichkeiten bei einer beeinträchtigten Lernentwicklung. Lernschwierigkeiten sind Bildungsrisiken. Lernschwierigkeiten manifestieren sich in einem gravierenden schulischen Leistungsversagen. Dass dieses Leistungsversagen nach Merkmalen des Geschlechts, der Ethnie und der sozialen Herkunft ungleich verteilt ist, macht das individuelle zu einem gesellschaftlichen Problem – und damit zu einem Problem der Bildungsgerechtigkeit.

Die Bezeichnung »Lernschwierigkeiten« ist weit gefasst. Ich ziehe sie aus einer Reihe von Gründen anderen Begrifflichkeiten vor, insbesondere, weil sie die umfassendere und voraussetzungsfreiere ist. In den vergangenen Jahren sind vielversprechende Konzeptionen zur Prävention von und Intervention bei Lernschwierigkeiten entwickelt worden. Sie in ihren Grundzügen und Möglichkeiten vorzustellen ist – neben der Ursachenanalyse – ein Hauptanliegen dieses Lehrbuchs.

Dieses Buch ist für (angehende) Lehrerinnen und Lehrer geschrieben, für Studierende der Psychologie und der Erziehungswissenschaft und für alle, die (beruflich) mit Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten zu tun haben. Anders als in den handbuchartigen Sammelbänden wird hier eine einheitliche Darstellung von Ursachenanalyse, Diagnostik und Interventionsplanung entlang eines inhaltlichen Leitmotivs angestrebt, dem Leitmotiv einer notwendigen unterrichtlichen Adaptivität an die individuellen Lernvoraussetzungen. Zwischen Wie Kinder lernen (Images Kap. 1) auf der einen Seite und der Inklusion (Images Kap. 7) auf der anderen liegt der Spannungsbogen der Ursachenforschung, Diagnostik und Prävention bei Kindern und Jugendlichen, denen das Lernen schwerer fällt.

Wer sich über das hier Präsentierte hinaus sachkundig machen will, wird in der Sonderpädagogik des Lernens (Walter & Wember, 2007), der Didaktik des Unterrichts im Förderschwerpunkt Lernen (Heimlich & Wember, 2015), dem Handlexikon Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen (Wember, Stein & Heimlich, 2014) und in den Interventionen bei Lernstörungen (Lauth, Grünke & Brunstein, 2014) gut informiert. Unter den englischsprachigen Lehrbüchern sind das Handbook of Learning Disabilities (Swanson, Harris & Graham, 2013) sowie Learning About Learning Disabilities (Wong & Butler, 2012) empfehlenswert.

Auf die folgenden Besonderheiten möchte ich noch hinweisen:

•  Dem ersten Kapitel (Wie Kinder lernen) vorangestellt ist eine Einleitung (Lernschwierigkeiten als Bildungsrisiken). Lesen Sie bitte zunächst diese Einleitung! Sie beschreibt, was Lernschwierigkeiten sind, das Ausmaß der Problematik sowie die Folgeprobleme, die mit Lernschwierigkeiten oft einhergehen.

•  Auf die Darstellung einzelner empirischer Studien wird im Text weitgehend verzichtet, um das große Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren. In separaten Kästen werden aber ausgewählte Untersuchungen im Detail beschrieben. In ähnlicher Weise werden in separaten Kästen wichtige Begrifflichkeiten und theoretische Konzepte erklärt oder wirksame Förderprogramme vorgestellt.

•  Absichtlich wird von Kindern »mit Lernschwierigkeiten« bzw. »mit Lernstörungen oder -schwächen« sowie von Kindern »mit besonderem Förderbedarf im Bereich Lernen« gesprochen und nicht von »lernschwierigen«, »lerngestörten« oder »lernbehinderten« Kindern. Wenn gelegentlich gegen diese Regel verstoßen wird, haben stilistische Überlegungen den Ausschlag gegeben.

•  Ob geschlechtergerechte sprachliche Formulierungen zu angemesseneren mentalen Repräsentationen des Gelesenen führen und inwieweit ein solcher Vorzug mit Beeinträchtigungen bei der Textverständlichkeit erkauft wird, ist eine interessante Forschungsfrage. Sie wird in diesem Lehrbuch nicht beantwortet. Stattdessen wird eine pragmatische Linie verfolgt: Neben dem generischen Maskulinum werden Beidnennungen (Lehrerinnen und Lehrer) als Alternativen verwendet.

•  Für die 2. Auflage sind notwendige Korrekturen und Aktualisierungen vorgenommen worden sowie Umstrukturierungen, um die Lesbarkeit zu verbessern. Neu hinzugekommen ist ein eigenes Kapitel zum Thema »Inklusion«.

Ich danke Frank Borsch, Minja Dubowy und Dorothea Krampen aus meiner Arbeitsgruppe für wertvolle Hilfen und Korrekturen bei der Fertigstellung dieser Neuauflage sowie Mareike Kunter und Marcus Hasselhorn für kritische Anmerkungen zum Manuskript der 1. Auflage.

Dietzenbach, im Mai 2017
Andreas Gold

Einleitung: Lernschwierigkeiten als Bildungsrisiken

 

 

Schulische Lern- und Bildungsergebnisse von Kindern und Jugendlichen bemessen sich an den Kompetenzen und Leistungen, die sie erwerben bzw. erzielen und an den Zertifikaten, die sie erreichen. Grundlegende, im Schulalter erworbene Kompetenzen sind vor allem die schriftsprachlichen und die mathematischen Kompetenzen. Auf der Performanzebene sichtbar werden solche Kompetenzen durch schriftliche oder mündliche Leistungsprüfungen mit individuellen Bewertungen, für die es einen verbindlichen Bezugsrahmen im Sinne von Leistungserwartungen gibt. In schulischen Zusammenhängen erfolgen solche Bewertungen normalerweise durch die Vergabe von Noten oder Notenpunkten. Die institutionellen Leistungserwartungen sind meist als Bildungsstandards definiert. Werden verbindliche Leistungsnormen oder -standards verfehlt, können Bildungszertifikate – also Versetzungen und Abschlüsse – nicht erreicht werden.

Die Lern- und Bildungsergebnisse von Kindern und Jugendlichen unterscheiden sich. Aus den Resultaten der Kompetenz- und Leistungsmessungen, aber auch anhand von Indikatoren des Bildungsverlaufs, wie etwa den Anteilen der Klassenwiederholungen, der Schulabgänge ohne Abschluss sowie an den Absolventenquoten, ist dies leicht ersichtlich. Ursachen für die unterschiedlichen Bildungserfolge können Merkmale und Besonderheiten der Kinder und Jugendlichen selbst sein und/oder Merkmale und Besonderheiten, die mit ihren Lern- und Lebenskontexten zusammenhängen. Auf der personalen Ebene sind die allgemeine Lernfähigkeit und die individuellen Lernvoraussetzungen bedeutsame Einflussfaktoren. Zu den Lern- und Lebenskontexten der Kinder und Jugendlichen zählen insbesondere ihre familiäre Situation und die schulische Umgebung. Ein wesentlicher Teil der schulischen Lernumgebung ist die Qualität des schulischen Unterrichts.

In der pädagogisch-psychologischen Tradition hat man sich in erster Linie mit den individuellen Merkmalen und Besonderheiten – also den individuellen Lernvoraussetzungen – befasst, um die unterschiedlichen Lern- und Bildungserfolge der Kinder und Jugendlichen zu erklären. Die Grundannahme ist einfach: Ungünstige individuelle Lernvoraussetzungen gelten als individuelle Risikofaktoren, die schulische Lernschwierigkeiten und damit einen geringeren Lern- und Bildungserfolg wahrscheinlicher machen.

Es gibt auch Bildungsrisiken, die mit den individuellen Lernvoraussetzungen nichts zu tun haben. In der bildungssoziologischen Tradition spricht man von Bildungsungleichheiten oder von Disparitäten, wenn z. B. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien vergleichsweise schlechtere Bildungsergebnisse erzielen. Ungünstige Einflüsse der familiären Lernumgebung werden dafür verantwortlich gemacht. In ähnlicher Weise gilt, dass mit einer ungünstigen schulischen Lernumgebung ein höheres Risiko in Bezug auf eine (nicht) gelingende Lern- und Bildungsentwicklung verbunden ist. Natürlich können Risikofaktoren auf der kontextualen Ebene und solche auf der personalen Ebene auch in Kombination auftreten.

Im Lehrbuch Lernschwierigkeiten wird vornehmlich die personale Ebene der individuellen Lernvoraussetzungen betrachtet, um etwas über die Ursachen von Lernschwierigkeiten – und die aus ihnen resultierenden Bildungsnachteile – zu erfahren. Auch die Ausführungen zur Diagnostik, zur Prävention und zur Intervention zielen auf die Individualebene der Schülerinnen und Schüler, denen das Lernen schwerer fällt. Dass kontextuelle Rahmenbedingungen beim Lernen ebenfalls eine Rolle spielen und sich bei ungünstiger Ausprägung als Risikofaktoren des Bildungserfolgs erweisen können, wird dabei beachtet. Denn ungünstige Rahmenbedingungen können das Entstehen und Aufrechterhalten von Lernschwierigkeiten mit beeinflussen.

Orientierungsfrage

 

•  Was sind Lernschwierigkeiten?

Wenn Lernen und Lehren scheitern

Die wissenschaftliche Betrachtung fordert sprachliche Präzision. Was sind Lernschwierigkeiten? Was ist genau damit gemeint? Viele unterschiedliche Wortbezeichnungen werden verwendet, wenn über Lernschwierigkeiten gesprochen wird. Am häufigsten: Lernstörung, Lernschwäche oder Lernbehinderung – seltener wird auch von Lernbeeinträchtigungen oder von Lernbenachteiligungen gesprochen. Manchmal ist mit den unterschiedlichen Worten Gleiches gemeint, manchmal Unterschiedliches. Und nicht selten wird unter jeder einzelnen dieser Wortbezeichnungen auch noch Unterschiedliches verstanden. Das ist bei den besonderen Bezeichnungen für die inhaltlich begrenzten Störungen der einzelnen Lernbereiche des Lesens, Schreibens und/oder Rechnens, wie z. B. Legasthenie, Dyslexie oder Dyskalkulie, nicht anders. In diesem Buch wird der Begriff Lernschwierigkeiten als Oberbegriff für alle Formen einer beeinträchtigten schulischen Leistungsentwicklung verwendet. Es geht um Kinder und Jugendliche mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen und im schriftlichen Ausdruck sowie beim Rechnen. Und zwar um alle Kinder und Jugendlichen mit solchen Schwierigkeiten. Das schließt ausdrücklich die vergleichsweise kleinere Gruppe der Kinder und Jugendlichen ein, bei denen die besonderen Schwierigkeiten mit einer intellektuellen Beeinträchtigung einhergehen.

Definition: Lernbehinderung, Lernstörung, Lernschwäche

Lernbehinderung. Der Begriff ist schulrechtlich definiert. Als »lernbehindert« bezeichnet man Kinder und Jugendliche, die sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt Lernen erhalten. Mittlerweile meiden viele diesen Begriff und sprechen statt von einer Lernbehinderung von den Kindern und Jugendlichen mit »sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen«. In den Verfahren zur Feststellung dieses Förderbedarfs sind die maßgeblichen Kriterien benannt: Zum einen ein erhebliches Schulleistungsversagen – meist wird von einem Leistungsrückstand von mehr als zwei Schuljahren gesprochen – und zum anderen Defizite in der allgemeinen Intelligenz. Schuladministrativ werden oft schon IQ-Werte unter 85 als Ausweis solcher intellektuellen Defizite betrachtet. In den klinisch-diagnostischen Leitlinien der psychologischen Fachgesellschaften gelten erst IQ-Werte unter 70 als Anzeichen einer Intelligenzminderung.

Lernstörung. Der Begriff ist klinisch-diagnostisch definiert. Der entscheidende Unterschied zur Lernbehinderung ist, dass Lernstörungen nicht mit Defiziten in der allgemeinen Intelligenz einhergehen. Im Gegenteil: Lernstörungen – als erhebliche Minderleistungen beim Lesen, in der Rechtschreibung und/oder beim Rechnen – treten auf, obgleich man es aufgrund der »normalen« Intelligenz (IQ-Werte ≥ 70) der Kinder und Jugendlichen eigentlich nicht erwarten würde. Mehr noch: Folgt man dem international gebräuchlichen Klassifikationssystem psychischer Störungen ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 2014), so wird eine Lernstörung erst dann diagnostiziert, wenn die schulischen Minderleistungen der betroffenen Kinder oder Jugendlichen und ihre »normalen« Intelligenztestleistungen besonders weit auseinanderklaffen.

Lernschwäche. Von einer Lernschwäche sprechen wir – wie bei der Lernstörung –, wenn die Minderleistungen beim Lesen, in der Rechtschreibung und/oder beim Rechnen nicht mit einer Intelligenzminderung verbunden sind, also aufgrund der »normalen« Intelligenz der Betreffenden eigentlich nicht zu erwarten wären. Anders als bei der Lernstörung klaffen die schulischen Minderleistungen der Kinder und Jugendlichen und ihre Intelligenztestleistungen jedoch nicht so weit auseinander (genauer dazu: Images Kap. 4.2). Von vielen Psychologinnen und Psychologen wird in Frage gestellt, ob eine solche Differenzierung überhaupt sinnvoll ist.

Es hat in der Geschichte der Lernbehindertenpädagogik immer wieder Versuche gegeben, größere begriffliche Klarheit zu schaffen. Nicht selten waren solche Bemühungen überlagert von sprachreformerischen Absichten, die vermeintlich diskriminierenden Namensgebungen wie »Hilfsschule«, »Lernbehindertenschule« oder »Sonderschule« durch weniger problematische Umschreibungen wie »Schule zur individuellen Lernförderung« zu ersetzen. Man wollte auf diese Weise den Förderaspekt anstelle des Aspekts der Minderbegabung hervorheben.

Definition: Lernschwierigkeiten

Wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, wird in diesem Buch verallgemeinernd der Begriff Lernschwierigkeiten verwendet, wenn es um Kinder und Jugendliche mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen geht. Auf eine Differenzierung zwischen Lernbehinderungen, -störungen und -schwächen wird bewusst verzichtet. Mehr noch: Es wird darauf verzichtet, das Ausmaß des Schulleistungsversagens der Kinder und Jugendlichen zu ihrem Intelligenzniveau in Beziehung zu setzen. Für eine vergleichsweise kleine Gruppe der Kinder und Jugendlichen ist das Ausmaß ihres Leistungsversagens kongruent zu ihrer ebenfalls beeinträchtigten intellektuellen Befähigung, für die meisten Betroffenen hingegen diskrepant zu ihrer Intelligenz. Traditionell bezeichnet man den erstgenannten Fall als Lernbehinderung, den zweiten als Lernstörung oder -schwäche. Natürlich ist die Bezugnahme auf die Intelligenz wegen der besonderen Bedeutung des intellektuellen Leistungsvermögens für das schulische Lernen nicht gänzlich unplausibel. Sie engt aber durch ihren impliziten Erklärungsanspruch die Sichtweise auf Lernschwierigkeiten unnötig ein. Lernschwierigkeiten sind besondere Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit Lernanforderungen aller Art, die sich in minderen Schulleistungen beim Lesen, in der Rechtschreibung und/oder beim Rechnen niederschlagen.

Ausmaß und Auswirkungen des Problems

Menschen unterscheiden sich. Deshalb ist es auch normal, dass nicht alle alles gleich gut lernen können. Allerdings ziehen Lernschwierigkeiten schlechte Schulleistungen nach sich und können so zu einem dringlichen Problem werden. Zunächst einmal für die Lerner selbst, aber auch für ihre Eltern und für die Lehrer und Erzieher, denen sie anvertraut sind. Lernschwierigkeiten liegen vor, wenn – aus welchen Gründen auch immer – die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen verbindliche Mindeststandards erheblich und dauerhaft unterschreiten, wenn also die bisherige Lernförderung nicht hinreichend wirksam gewesen ist. Schwierig wird das Lernen, wenn die Bildungsziele einer Institution den Bereich des für den Lerner Möglichen weit übersteigen oder wenn die zum Erreichen dieser Ziele zugestandenen Lernzeiten und Lernangebote nicht ausreichend sind. Aber auch wenn sich Lernerfolge nur unter Inkaufnahme ungünstiger Begleiterscheinungen sozialer, emotionaler oder gesundheitlicher Art erzielen lassen, also etwa mit der Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten einhergehen, mit Ängsten oder mit Medikamentenmissbrauch, wird man von Lernschwierigkeiten sprechen.

Wenn aufgrund von Lernschwierigkeiten Lernerfolge ausbleiben, wird nicht nur die schulische Leistung der Betroffenen schlechter bewertet. Vielmehr können die schulischen Misserfolge Begleit- und Folgeerscheinungen auslösen, die die Problematik zusätzlich verstärken. Dieter Betz und Helga Breuninger (1982) haben dafür vor mehr als 30 Jahren die treffende Bezeichnung vom »Teufelskreis Lernstörungen« geprägt: Zu einem solchen Teufelskreis kommt es, wenn das Schulversagen zu Konflikten mit den Eltern oder im sozialen Umfeld führt, wenn überforderte Lehrerinnen und Lehrer zunächst ihre Leistungserwartungen und dann das Ausmaß der individuellen Förderung reduzieren, wenn das Selbstwertgefühl der Betroffenen und ihr Selbstkonzept eigener Fähigkeiten leidet, wenn Schul- und Versagensängste mit einem darauf folgenden Vermeidungsverhalten ausgebildet werden, wenn die Lernmotivation und die Lernfreude schwinden.

Wenn Lernschwierigkeiten dazu führen, dass das Bildungssystem ohne Abschluss verlassen wird, gehen damit ökonomische Nachteile für den Einzelnen einher. Das zeigen die Statistiken bildungsökonomischer Studien. Frauen ohne Hauptschul- und ohne Berufsabschluss haben im Schnitt ein um etwa 600 Euro niedrigeres Monatseinkommen als jene mit einem Hauptschul- und einem beruflichen Abschluss. Männer ohne Hauptschul- und ohne Berufsabschluss verdienen im Mittel etwa halb so viel wie Männer mit einem Hochschulabschluss. Der Bildungsökonom Ludger Wößmann schätzt die Bildungsertragsrate – das ist die Einkommensrendite für jedes zusätzliche Bildungsjahr – in Deutschland auf knapp zehn Prozent. Mehr Bildung ist also mit einem höheren Einkommen verbunden und mit einer besseren Aussicht auf eine berufliche Karriere. Fast jeder Vierte ohne Schulabschluss muss derzeit damit rechnen, keine Beschäftigung zu finden. Und die Arbeitslosenstatistik zeigt, dass etwa 20 Prozent der Arbeitslosen nicht über eine abgeschlossene Ausbildung verfügen. Bei einer beruflichen oder akademischen Ausbildung liegt das Risiko, arbeitslos zu werden, nur bei fünf bzw. drei Prozent. Bildungsökonomen rechnen im Übrigen vor, dass mit den individuellen Nachteilen auch erhebliche volkswirtschaftliche Verluste verbunden sind. Die schlechter ausgebildeten, häufiger erwerbslosen und weniger gut entlohnten Arbeitskräfte tragen in geringerem Maße zur Wirtschaftsleistung eines Staates bei. Überdies sind sie häufiger auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Daraus resultieren erhebliche Folgekosten unzureichender Bildung (Piopiunik & Wößmann, 2014; Wößmann & Piopiunik, 2012).1

Noch plakativer als Ludger Wößmann haben die Frankfurter Wirtschaftswissenschaftler Entorf und Siegler (2010) auf gesellschaftliche Folgekosten der Bildungsarmut hingewiesen. Folgt man ihrer Modellrechnung, die auf einer statistischen Analyse der Bildungsabschlüsse von Haftinsassen gründet, so hätten sich durch eine Halbierung des Anteils der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss allein im Jahr 2009 insgesamt 416 Morde, mehr als 13 000 räuberische Erpressungen und mehr als 300 000 Diebstähle (mit mehr als 1.4 Milliarden Euro Folgekosten) vermeiden lassen. Das Argument dahinter: Unzureichende Bildung begünstigt Kriminalität. Denn die Statistik verrät, dass die inhaftierten Straftäter mehrheitlich ohne einen Schulabschluss sind. Bei ihrer Fokussierung auf die Deliktgruppen Mord, Raub und Diebstahl erwähnen die Autoren leider nicht, dass es auch ohne Bildungsarmut zu gravierenden verbrecherischen Aktivitäten kommen kann (Stichwort: Wirtschaftskriminalität).

Wenn aus Kindern mit Lernschwierigkeiten Erwachsene ohne Bildungsabschluss werden, bleiben die Folgen nicht auf den ökonomischen Bereich begrenzt. Esser, Wyschkon und Schmitt (2002) haben 17 Jahre nach einer (schulischen) Lernstörungsdiagnose bei den mittlerweile jungen Erwachsenen häufiger als bei den Erwachsenen einer Kontrollgruppe Symptome psychischer Störungen festgestellt, wie z. B. ein höheres Suchtverhalten.

Lernschwierigkeiten und die damit einhergehenden Schulleistungsprobleme sind keine neuartigen Phänomene – auch das wissenschaftliche Interesse an der Thematik ist nicht neu. In der Sonder- und Heilpädagogik, in der Medizin und auch in der Pädagogischen Psychologie hat man sich seit den 1960er-Jahren mit Lern- und Verhaltensstörungen im Kindesalter beschäftigt. Der deutsche Sonderweg eines differenzierten Förderschulwesens entstammt einer pädagogischen Tradition, die sogar noch weiter zurückreicht. Die (Sonder-)Schule für Lernbehinderte löste erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Hilfsschule des 19. Jahrhunderts ab. Die aktuelle Entwicklung – weg von der Sonderbeschulung und hin zur Inklusion – führt wiederum zu ganz neuen Fragestellungen und Diskussionen.

Zum Ausmaß von Lernschwierigkeiten im Kindes- und Jugendalter kann es nur Schätzungen geben. Eine »Meldepflicht« oder verbindlich definierte Kriterien gibt es nämlich nicht. Je nach Betrachtungsweise haben etwa 20 bis 25 Prozent aller Kinder und Jugendlichen Schwierigkeiten im Bereich des Lesens, Schreibens oder Rechnens. Die Prävalenzen, d. h. die geschätzten Häufigkeiten für das Auftreten einer Störung, liegen für die Rechtschreibstörung bei etwa fünf Prozent eines Jahrgangs und für die Lesestörung sowie für die Rechenstörung bei jeweils etwa vier Prozent. Für die Lese-Rechtschreibstörung schätzt man den Anteil der Betroffenen ebenfalls auf etwa vier Prozent. Für eine kombinierte Störung des Lesens, des Rechtschreibens und des Rechnens liegt die Prävalenzrate bei etwa drei Prozent. Auf eine Prävalenzrate zwischen zwei und drei Prozent wird darüber hinaus der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung (Lernbehinderung) veranschlagt. Oft – aber nicht immer – manifestieren sich Lernschwierigkeiten in Klassenwiederholungen sowie in Schulabgängen ohne Abschluss. Auch aus kompetenzorientierten Erhebungen lassen sich Hinweise auf Lernschwierigkeiten gewinnen: Gut 16 Prozent der 15-Jährigen können so schlecht lesen, dass sie in der PISA-Studie 2015 als Risikogruppe, mithin als Jugendliche mit gravierenden Leseschwierigkeiten bezeichnet werden (Reiss, Sälzer, Schiepe-Tiska, Klieme & Köller, 2016). Mit 17 Prozent geringfügig höher ist der Anteil der Jugendlichen mit sehr schwachen mathematischen Fertigkeiten. Und jedes vierte bis fünfte Kind verfügt ausweislich der TIMS-Studie 2015 in der 4. Jahrgangsstufe nicht über ein zufriedenstellendes Kompetenzniveau in Mathematik (Wendt, Bos, Selter, Köller, Schwippert & Kasper, 2016).

Basis solcher Zahlen sind amtliche Statistiken (z. B. im Falle der Lernbehinderung), nationale oder internationale Vergleichsstudien (z. B. im Falle der PISA-Daten) sowie epidemiologische Studien (z. B. im Falle der Prävalenzschätzungen von Lernstörungen). In epidemiologischen Studien werden standardisierte Testverfahren eingesetzt, um die Lese-, Rechtschreib- oder Rechenleistungen in größeren Stichproben von Kindern und Jugendlichen zu erfassen. Höhere Prävalenzraten für Lernstörungen resultieren, wenn das Kriterium der schulischen Minderleistung dabei »liberaler«, also nicht so streng, gefasst wird, geringere bei einem strenger definierten Kriterium des Leistungsversagens.

Zunehmend differenzierter und einer breiteren Öffentlichkeit leichter zugänglich wurden in den vergangenen Jahren die amtlichen Statistiken zu Merkmalen des Bildungsverlaufs und des Bildungserfolgs. Dem 2006 erstmals vorgelegten Nationalen Bildungsbericht Bildung in Deutschland und den Folgebänden sowie den Jahrbüchern der OECD Bildung auf einen Blick sind Zahlen zum Ausmaß sonderpädagogischer Förderung, zu den Schulabgängen ohne Abschluss und zu den Klassenwiederholungen zu entnehmen. In diesen Zahlen werden die Auswirkungen von Lernschwierigkeiten deutlich. Die OECD-Berichte erscheinen seit 1992 jährlich, die nationalen Bildungsberichte alle zwei Jahre. Langfristig verspricht auch das Nationale Bildungspanel NEPS, das seit 2013 vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe verantwortet wird, wichtige Erkenntnisse zu Bildungsprozessen und zur Kompetenzentwicklung.

Im Schuljahr 2015/2016 erhielten gut 190 000 Schülerinnen und Schüler sonderpädagogische Förderung (SPF) im Förderschwerpunkt Lernen (Lernbehinderung). Das entspricht einer Quote von 2,6 Prozent (Images Tab. 1). Zählt man Schülerinnen und Schüler hinzu, die in anderen Förderschwerpunkten eine sonderpädagogische Förderung erfahren haben (z. B. in den Förderschwerpunkten Sehen, Hören, Sprache, körperliche und motorische Entwicklung, geistige Entwicklung, emotionale und soziale Entwicklung), so kommt man für das Schuljahr 2015/2016 auf eine Gesamtförderquote von insgesamt 7,1 Prozent. Das sind gut 517 000 Schülerinnen und Schüler. Die Förderquoten variieren zwischen den Bundesländern. In Mecklenburg-Vorpommern ist die Quote mit 9,6 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Rheinland-Pfalz (4,7%). Fast die Hälfte (45%) der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischer Förderung im Förderschwerpunkt Lernen werden mittlerweile inklusiv, d. h. an sonstigen allgemeinbildenden Schulen unterrichtet, die übrigen an Förderschulen. In der Gesamtgruppe der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf liegt die Inklusionsquote bei 38 Prozent. Auch hier gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den deutschen Ländern.

Eins unter vierzehn Kindern wird mithin sonderpädagogisch gefördert, eins unter achtunddreißig im Förderschwerpunkt Lernen. In ihrer schulischen Leistungsentwicklung beeinträchtigt sind aber auch viele Kinder und Jugendliche, deren sonderpädagogischer Förderbedarf primär in einem der anderen Förderschwerpunkte gesehen wird – beispielsweise im Bereich der geistigen Entwicklung (1,2% aller Schülerinnen und Schüler) oder der Sprache (0,8%) sowie im Bereich der der emotionalen und sozialen Entwicklung (1,2%), um die neben dem Förderschwerpunkt Lernen zahlenmäßig umfangreichsten Förderschwerpunkte zu nennen. Im Förderschwerpunkt der emotionalen und sozialen Entwicklung ist es in den letzten Jahren zu einem erheblichen Anstieg der Förderquote gekommen.

Andere Indikatoren für Lernschwierigkeiten sind Klassenwiederholungen und der Schulabgang ohne Abschluss. Die Wiederholerquote in den allgemeinen Schulen lag im Schuljahr 2014/2015 in den Jahrgangsstufen 1–12 insgesamt bei 2,3 Prozent, knapp 150 000 Kinder und Jugendliche waren davon betroffen. Die Wiederholerquote ist geringer als vor zehn Jahren. Am häufigsten kommt es in den Haupt- und Realschulen sowie in den additiven Gesamtschulen zu Klassenwiederholungen, dort vor allem in den Klassen der Mittelstufe. Im Schnitt trifft es in der 7. bis 9. Klasse einen Schüler pro Schuljahr und Klasse. Der Gefahr des »Sitzenbleibens« sind die Schülerinnen und Schüler in jedem Schuljahr aufs Neue ausgesetzt. Jeder Vierte, so wird geschätzt, wiederholt im Laufe seiner Schulkarriere mindestens einmal eine Klasse.

Ohne Hauptschulabschluss haben im Jahr 2015 gut 47 000 Jugendliche die Schule verlassen, auf die Gleichaltrigen bezogen entspricht das einer Quote von 5,6 Prozent. Vor zehn Jahren lag die Quote noch bei 8,2 Prozent. Das ist ein erfreulicher Rückgang. Bereits bekannte Disparitäten blieben allerdings erhalten. Beispielsweise variieren weiterhin die Abgangsquoten zwischen den Ländern. In Bayern haben 4,5 Prozent der Jugendlichen, in Sachsen-Anhalt anteilig mehr als doppelt so viele (9,7%) die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Jungen verlassen die Schule häufiger ohne einen Abschluss und sie müssen häufiger eine Klasse wiederholen als Mädchen. Jungen werden auch häufiger als Mädchen an eine Förderschule überwiesen. Für die meisten Indikatoren des Schulversagens liegt das Jungen-Mädchen-Verhältnis bei etwa 3:2. Für Jungen aus zugewanderten Familien ist das Risiko für einen Schulabgang ohne Abschluss besonders groß.

Indikatoren des BildungsverlaufsBetroffene in Prozent eines Altersjahrgangs20052015

Tab. 1: Auswirkungen von Lernschwierigkeiten im Spiegel der Schulstatistik

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Rückläufige Problemzahlen – bei den Schulabgängen ohne Abschluss wie bei den Klassenwiederholungen – sind erfreulich und sprechen für die Wirksamkeit der zwischenzeitlich eingeleiteten Maßnahmen auf der unterrichtlichen oder schulorganisatorischen Ebene. Man muss sie aber in Relation setzen zu epochalen Trends, die gegenläufig oder verstärkend wirken können, und zur Veränderungen von Rahmenbedingungen. Als verlässliche Indikatoren der Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen können sie jedenfalls nur dann gelten, wenn die günstigeren Zahlen nicht aufgrund von Niveauabsenkungen zustandegekommen sind, oder weil es zu schulrechtlichen Neuerungen kam. Ein Beispiel dafür: In einigen Bundesländern ist das »Sitzenbleiben« abgeschafft worden. Leicht einsichtig, dass dann eine rückläufige Sitzenbleiberquote nicht ohne weiteres auf eine bessere Qualität von Schule und Unterricht zurückzuführen ist.

Vorsichtig geschätzt: Bei gut zweieinhalb Prozent Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen, bei knapp sechs Prozent eines Jahrgangs, die keinen Hauptschulabschluss erreichen, bei jährlichen Klassenwiederholungen von mehr als zwei Prozent, sind es – auch wenn sich die genannten Kategorien nicht wechselseitig ausschließen – wohl um die zehn Prozent eines Altersjahrgangs, die sich mit dem Lernen so schwer tun, dass ein schwerwiegendes und anhaltendes schulisches Leistungsversagen die Folge ist. Das sind bei einer Klassengröße von 20 Kindern zwei Kinder pro Klasse. Dies sind aber nur die aus der Schulstatistik ersichtlichen Zahlen der im Bildungsverlauf manifest gewordenen Lernschwierigkeiten. Hinzu kommen Kinder mit Lernstörungen, die zwar nicht unbedingt durch Klassenwiederholungen und vorzeitige Schulabgänge auffallen, aber in ihren schulischen Leistungen im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen weit hinter dem zurückbleiben, was man aufgrund ihrer Intelligenz von ihnen erwarten würde. Je nach Berechnungsmodus wird es sich bei dieser Gruppe um weitere zehn bis 15 Prozent eines Altersjahrgangs handeln.

Auffällig ist, dass die schulischen Minderleistungen in Teilgruppen der Schülerpopulation überzufällig gehäuft auftreten, wie es die Bildungsstatistiken für die Schülerinnen und Schüler aus zugewanderten Familien und aus sozial schlechter gestellten Elternhäusern seit vielen Jahren schon indizieren. Dies macht ein individuelles zusätzlich zu einem gesellschaftlichen und zu einem bildungspolitischen Problem. Denn aus dem Blickwinkel der Bildungsgerechtigkeit sind solche Ungleichheiten zu hinterfragen (Images Kap. 2.3).

Hinweise auf das Ausmaß von Lernschwierigkeiten lassen sich auch aus der gestiegenen Nachfrage entsprechender Beratungs- und Unterstützungsangebote ablesen. Nicht alle, aber ein großer Teil der Beratungsanlässe in schulpsychologischen Beratungsstellen hat direkt oder indirekt mit Schulleistungsproblemen, also mit Lernschwierigkeiten, zu tun. Die Bildungspolitik nimmt das Problem inzwischen ernster als früher und reagiert mit einem personellen Ausbau von Einrichtungen der Schul- und Bildungsberatung, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie im schulpsychologischen Dienst. So ist die Anzahl der Planstellen für Psychologinnen und Psychologen an den Schulpsychologischen Beratungsstellen Baden-Württembergs auf gut 200 Vollzeitstellen in kurzer Zeit nahezu verdoppelt worden. Aber auch daraus resultiert erst ein Verhältnis von 1 : 8 000 in Bezug auf die Anzahl der von einem Schulpsychologen zu betreuenden Schülerinnen und Schüler.

Die kommerziellen Nachhilfeinstitute prosperieren. Unter den Großanbietern professioneller Nachhilfe liegen die jährlichen Wachstumsraten im zweistelligen Bereich – knapp 900 Millionen Euro im Jahr geben Eltern laut einer Schätzung des Bildungsforschers Klaus Klemm für Nachhilfestunden aus (Klemm & Hollenbach-Biele, 2016). Etwa jeder vierte Jugendliche in Deutschland bekommt Nachhilfe, meist in Mathematik oder in einer Fremdsprache. Von den Schülerinnen und Schülern aus Gymnasien und aus Gesamtschulen wird vermehrt individuelle Nachhilfe zur zusätzlichen Lernförderung in Anspruch genommen – teilweise geschieht dies präventiv, ohne dass es bereits zu Lernschwierigkeiten gekommen wäre. Sicherlich ist das auch ein Indiz für die gestiegenen Bildungsansprüche vieler Eltern.

Ursachen, Diagnose, Prävention und Intervention

Alle Voraussetzungen und Begleitumstände erfolgreichen Lernens können zugleich mögliche Ursachen für individuelle Lernschwierigkeiten sein, wenn hier Defizite vorliegen. Das sind neben den besonders wichtigen individuellen Lernvoraussetzungen auf der personalen Ebene auch die Angemessenheit der schulischen Lernangebote sowie das Ausmaß an häuslicher (familiärer) Unterstützung auf der Lernkontext- bzw. Lernumweltebene. Mit anderen Worten: Es hat zwar vor allem mit den Kindern und Jugendlichen selbst zu tun, wenn es zu Lernschwierigkeiten kommt, aber ungünstige häusliche Lernumwelten und familiäre Risikolagen sowie ein nicht angemessener Unterricht können durchaus Mitursachen von Lernschwierigkeiten sein. Strikt auseinanderhalten lassen sich die Ursachenfaktoren auf der personalen und auf der kontextualen Ebene allerdings nicht, weil sie miteinander verwoben sind. So können soziale Herkunftseffekte bereits die Entwicklung der individuellen Lernvoraussetzungen beeinflussen, die ihrerseits für die schulische Leistungsentwicklung der Kinder bedeutsam sind. Von der Ausprägung der individuellen Lernvoraussetzungen kann es abhängen, ob die eine oder die andere Schulform besucht wird, wo der Unterricht den Kompetenzerwerb der Schülerinnen und Schüler mehr oder weniger gut fördert.

Genauere Kenntnisse über die Ursachen von Lernschwierigkeiten verdanken wir einer Vielzahl empirischer Studien der vergangenen drei Dekaden. In diesem Buch liegt der Schwerpunkt auf den Studien aus der Psychologie, die sich vornehmlich mit der Prozessebene des Lernens und mit den individuellen Lernvoraussetzungen sowie mit den pädagogischen Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern beschäftigen. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei den festgestellten Zusammenhängen jeweils nur um statistische Zusammenhänge handelt, die natürlich nicht für jeden Einzelfall zutreffen: Ungünstige individuelle Lernvoraussetzungen sind deshalb zunächst einmal nur Risikofaktoren für das Entstehen von Lernschwierigkeiten und damit für ein mögliches Schulversagen. Gewichtige Risikofaktoren zwar, sie müssen aber nicht zwangsläufig Lernschwierigkeiten zur Folge haben. Die Fokussierung der Risiken darf nicht den Blick auf die individuellen und institutionellen Ressourcen verstellen, die den Risiken gegenüberstehen.

Bei der Betrachtung der Ursachen ist zu fragen, inwieweit eine verallgemeinernde Sichtweise, also das Abstrahieren von den spezifischen Lerninhalten, aus Gründen der Vereinfachung zulässig ist. In den oben aufgeführten Statistiken zum Ausmaß der Problematik wurde eine solche verallgemeinernde Perspektive gewählt, denn dort ging es um das Verfehlen von Schulabschlüssen, um Klassenwiederholungen und um das Ausmaß des sonderpädagogischen Förderbedarfs, ganz gleich, ob die individuellen Schulleistungsprobleme im Deutsch- oder im Mathematikunterricht ihren Anfang nahmen oder ihren Schwerpunkt haben. Erfolgversprechende pädagogische Interventionen verlangen jedoch eine differenzierte Diagnostik der individuellen Lernschwierigkeiten sowie eine lerninhaltsbezogene Betrachtung. Im Aufbau dieses Buches wird dem Rechnung getragen, wenn sowohl bei den Ursachen (Images Kap. 3), als auch bei der Diagnostik (Images Kap. 4) und erst recht bei der Prävention (Images Kap. 5) und bei der Intervention (Images Kap. 6) jeweils zwischen Lese-Rechtschreib- und Rechenschwierigkeiten unterschieden wird.

Werner Zielinski (1980) unterscheidet in seinem wegweisenden Buch Lernschwierigkeiten zwischen internen (im Lernenden selbst liegenden), externen (der Quantität und Qualität von Schule und Unterricht geschuldeten) und moderierenden (häusliche und soziale Belange betreffenden) Bedingungen des Lern- und Leistungsversagens. Zielinski verwendet im Übrigen eine Definition von Lernschwierigkeiten, der ich mich anschließe: Lernschwierigkeiten liegen vor, wenn wichtige individuelle, soziale oder institutionelle Normanforderungen dauerhaft verfehlt werden, wenn also ein eklatantes Missverhältnis zwischen den tatsächlichen Lernleistungen und den Leistungserwartungen von Individuum und/oder Institution besteht. Unter den drei in der Definition genannten Normanforderungen ist die soziale Bezugsnormorientierung die gebräuchlichste: Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher in Relation zu den Gleichaltrigen besonders schwache Leistungen erzielt, sprechen wir von Lernschwierigkeiten. Ihr Nachteil liegt in eben dieser Relativität, weil als Bezugsmaßstab der Leistungsbeurteilung eines Einzelnen stets die Leistungen der anderen dienen. Eine sachbezogen begründete institutionelle Bezugsnorm kommt ohne soziale Vergleiche aus: Lernschwierigkeiten hat, wer eine gesetzte Leistungsanforderung nicht erfüllt – ganz gleich, wie gut oder schlecht die anderen abschneiden.

Es ist ja nicht so, als ob nichts geschehe! Seit man sich mit Lernschwierigkeiten befasst, gibt es auch Maßnahmen, ihnen zu begegnen. Das deutsche Bildungswesen kennt einen bunten Strauß schulorganisatorischer Maßnahmen: Sie reichen von der verspäteten Einschulung über das ein- oder mehrmalige Wiederholen einer Jahrgangsstufe (»Sitzenbleiben« oder »Zurückstufen«) bis zum Versuch einer möglichst leistungshomogenisierenden Schulformzuweisung in der Sekundarstufe. Hinzu kommen die schuladministrativ verankerten Feststellungsverfahren sonderpädagogischen Förderbedarfs einschließlich der auf sie folgenden Fördermaßnahmen. Alle diese Maßnahmen lassen sich als schulorganisatorische Antworten auf tatsächliche oder sich abzeichnende Lernschwierigkeiten auffassen. Für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben (teilweise auch im Rechnen) sind aufgrund schulrechtlicher Bestimmungen nachteilsausgleichende Maßnahmen und Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung möglich (Images Kap. 6). Zunehmend wichtiger wird darüber hinaus der schulorganisatorische Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, also die Frage der Inklusion (Images Kap. 7). So viel bereits vorweg: Entscheidend ist nicht wo, sondern wie Kinder mit Lernschwierigkeiten unterrichtet werden.

Teilweise urwüchsig entstanden, teilweise wissenschaftlich fundiert und evidenzbasiert, gibt es jenseits der schulorganisatorischen Maßnahmen vielfältige inner- und außerschulisch angewandte pädagogische Maßnahmen unterschiedlicher Intensität und Professionalität. Dazu gehören der Einsatz unterrichtlicher und unterrichtsadditiver Förder- und Trainingsprogramme. Dazu gehören auch besondere Maßnahmen im Regelunterricht – meist verbunden mit einer unterrichtlichen Differenzierung und individuellen Förderung.

Die Effektivität aufwendiger Interventionsmaßnahmen wird danach bemessen, ob sie halten, was sie versprechen. Daher muss der Erfolgskontrolle der Lernförderung ein großer Stellenwert eingeräumt werden. Nur so lässt sich verlässlich beurteilen, ob die intendierten Wirkungen tatsächlich erzielt werden. Nur so lassen sich unseriöse Versprechungen von evidenzbasierten Empfehlungen unterscheiden. Viel zu selten wird im Übrigen im Umgang mit Lernschwierigkeiten auf präventive Maßnahmen gesetzt. Dabei verspricht eine frühe Förderung eine vergleichsweise »hohe Rendite«. In diesem Sinne argumentiert jedenfalls der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger James Heckman, der in seinen Modellrechnungen den anfänglichen Kosten von Bildungsinvestitionen ihren kumulierten Nutzen gegenüberstellt. Heckman zufolge versprechen öffentliche Investitionen in die frühkindliche Bildung einen besonders hohen gesamtwirtschaftlichen Ertrag (Caspi et al., 2016; Cunha & Heckman, 2007; Heckman, 2000, 2013). Der Münchner Bildungsökonom Ludger Wößmann fordert deshalb seit langem, Krippen und Kindergärten stärker als bisher zur gezielten Bildungsförderung zu nutzen und ihren Besuch für jene verpflichtend zu machen, die der Zusatzförderung besonders bedürfen (Hanushek & Wößmann, 2008).

Mangelnde Passung

Wenn die an eine Person gestellten Anforderungen und Kompetenzerwartungen in einem deutlichen Missverhältnis zu ihren Lernvoraussetzungen und -möglichkeiten stehen, sind Lernschwierigkeiten und ein schulisches Leistungsversagen die wahrscheinliche Folge. Lernschwierigkeiten sind deshalb Bildungsrisiken. Sie werden als schulische Minderleistungen manifest, weil ein Vergleich oder ein Vergleichsmaßstab ins Spiel kommen – und weil dieser Vergleich für den Lerner besonders ungünstig ausfällt. Naheliegend sind nun die folgenden Fragen:

1.  Liegt es nicht in der Natur der Sache, dass einige, wie im sportlichen Wettkampf auch, beim schulischen Lernen scheitern müssen?

2.  Was sind die wichtigsten Ursachen für Lernschwierigkeiten?

3.  Was kann man dagegen tun?

Die erste Frage ist leicht mit einem »Nein« zu beantworten. Schulisches Lernen ist keine Konkurrenzveranstaltung. Wenn die Lernangebote und die instruktionalen Hilfen auf die individuellen Lernvoraussetzungen abgestimmt sind, und wenn bei der Festlegung der Lernziele der Rahmen des individuell Möglichen beachtet wird, kann (fast) jeder zu seinem individuellen Lernziel gelangen. Das bedeutet, dass bei einer geeigneten Förderung jede und jeder das für sie oder ihn Mögliche erreichen kann. Erfolgreiches Lernen ist also in erster Linie ein Passungsproblem. Auf die beiden anderen Fragen wird im Verlauf dieses Buches eine Antwort aus pädagogisch-psychologischer Sicht auf der Grundlage der empirischen Studien der vergangenen 30 Jahre gegeben. Im Übrigen gilt, wie bereits erwähnt, die folgende Sequenz: Zunächst müssen wir die Ursachen für Lernschwierigkeiten genauer kennen. Erst danach können fundierte präventive oder abhelfende Maßnahmen der Intervention nachhaltig greifen. Die Maßnahmen müssen möglichst passgenau gewählt werden.

Zum Aufbau dieses Buches

Lernen, unabhängig davon, ob es gelingt oder nicht, ist das beherrschende Thema der Pädagogischen Psychologie. Die Annahme, dass Lernen normalerweise gut funktioniert und dass Lernschwierigkeiten auf ein nicht triviales, aber prinzipiell durchaus lösbares Passungsproblem zwischen Lernvoraussetzungen und Lernangeboten bzw. -gelegenheiten zurückzuführen sind, ist die verbindende Klammer und zugleich das Leitmotiv dieses Buches. Wichtige individuelle Voraussetzungen erfolgreichen Lernens sind beispielsweise ein funktionstüchtiges Arbeitsgedächtnis sowie Kompetenzen der kognitiven, motivationalen und volitionalen Selbstregulation (Images Kap. 1). Sie sind bei unterschiedlichen Personen unterschiedlich ausgeprägt. Sie unterliegen im Kindes- und Jugendalter teilweise dramatischen Entwicklungsveränderungen. Alle individuellen Lernvoraussetzungen markieren zugleich mögliche Stolpersteine des Lernens. Nicht nur in ihren individuellen Lernvoraussetzungen unterscheiden sich Kinder und Jugendliche voneinander, sondern auch im Hinblick auf ihre soziale und ethnische Herkunft sowie ihre familiäre Situation. Es gibt familiäre Risikolagen, die in höherem Maße mit Schulleistungsproblemen einhergehen. Unterschiedlich sind auch die schulischen Lernumwelten, denen Kinder ausgesetzt sind. Das wichtigste Prinzip erfolgreichen Lehrens ist die notwendige Anpassung des Unterrichts an den individuellen Entwicklungsstand und an die Vorkenntnisse der Lerner. Für Kinder mit Lernschwierigkeiten ist diese Form der unterrichtlichen Adaptivität von besonderer Bedeutung.

Bildung wird durch Lernen erworben. Weil die Lerner höchst unterschiedlich sind, ist es auch kein Wunder, dass es ungleiche Lernergebnisse gibt. Wichtige Kriterien des Bildungserfolgs sind die erworbenen Kompetenzen und die erzielten Leistungen, vor allem im Lesen, Schreiben und Rechnen, sowie die in der Schule erreichten Zertifikate (Images Kap. 2). Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten sind in ihrer Kompetenz- und Leistungsentwicklung benachteiligt und erwerben weniger oft qualifizierende Zertifikate. Die soziale Herkunft und der Migrationsstatus der Kinder und Jugendlichen kovariieren mit den Kriterien des Bildungserfolgs. Familiäre Risikolagen können die Kompetenz- und Leistungsentwicklung beeinträchtigen, ohne dass die oben thematisierten ungünstigen individuellen Lernvoraussetzungen im Spiel sind. Wo aber Bildungsungleichheiten nichts mit den unterschiedlichen individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder und Jugendlichen zu tun haben, werfen sie die Frage der Bildungsgerechtigkeit auf.

ImagesKap. 3