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Andor Endre Gelléri

STROMERN

Aus dem Ungarischen von Timea Tankó

Mit einem Nachwort von
György Dalos

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INHALT

STROMERN

DER WEBERGESELLE

B

FILIPOVICS UND DER GIGANT

IM EISENBAHNERHAUS

BEI DEN LIEFERERN

HINRICHTUNG DER UKRAINER

PANDOLEON

ERZÄHLUNG, MIT DER ICH ARBEIT BESCHAFFTE

HAUS IM GELÄNDE

DER HANDEL

EINSAMKEIT

VERAS TAGEBUCH

LEBEN

ZAUBERER, HILF!

DER LASTARBEITER

JUGEND

STROMERN

ICH MÖCHTE TROMPETE SPIELEN

UMHERSTREIFEN DER TRÄUME

FASCHING

BUNTES GLAS

ZWEI ZENTNER

DIE FÜNF

DER SCHWEIGSAME SCHWAN

MUFICS

DER VERWANDTE

FÜNFZIG

AUF ALLEN VIEREN

BITTERES LICHT

DAS BLAUE TUCH

DAS HAUS NUMMER SECHS

ANHANG

LISTE DER ERSTVERÖFFENTLICHUNGEN

DER »FEENHAFTE REALIST« ANDOR ENDRE GELLÉRI – WERK UND SCHICKSAL NACHWORT VON GYÖRGY DALOS

BIOGRAFIEN

DER WEBERGESELLE

Es war ein großer dunkler Raum. Schon seit Monaten stand er leer, diente nur den Spinnen als Wohnung. Einst hatten hier mit kräftigen Flammen die Feuer eines Schmieds gelodert. Und auf dem Amboss hatten sich der kleine und der große Hammer Paroli geboten. Eines Tages kam ein gedrungener jüdischer Mann vorbei. Er trug eine Brille auf der Nase. Auf dem Kopf eine kleine Melone. Er muss viel Geld gehabt haben, da er sofort eine Anzahlung machte.

Dann kam ein Maurer in kunterbunter Hose; er brachte einen Eimer mit, darin Glättkelle, Glättholz und einen Maurerpinsel mit Ziegenbart. Er betrat den Raum, spuckte aus, drehte sich eine Zigarette und ging, wie ein Kundschafter in einer fremden Burg, an all den verstaubten Wänden entlang. Nachdem er seine Runde beendet hatte, klappte er die Leiter auseinander und stellte sich darauf. Wie ein Tänzer lief er, schaukelte mit der Leiter durch den Raum. Staubte die Wände ab. Dicken Regentropfen gleich fielen die Spinnen hinunter. Einige von ihnen erschlug der Maurer. Wenn er schon kein Glück haben würde, so sollte er zehnmal, zwanzigmal keines haben, seien sie doch verdammt, diese ganzen Webtierchen.

Da sagte der Herr, der zur Tür hereingekommen war:

»Sagen Sie nichts Schlechtes übers Weben.«

»Warum?«, fragte der staubumhüllte Maurer. »Warum zum Teufel soll ich nichts Schlechtes darüber sagen?« Und er erschlug zwei weitere Spinnen.

»Weil hier bald eine Weberei sein wird«, antwortete der Herr.

»Na, dann sage ich kein schlechtes Wort mehr.«

Als hätte er sich so bei dem Herrn entschuldigen wollen, verwandelte er den dreckigen Raum innerhalb von zwei Tagen, sodass man nun hätte denken können, die Wände seien aus gefrorener Milch. Er hatte die Wände in Weiß von jungfräulichem Schnee getüncht, und nun plagte sich eine Slowakin mit pockennarbigem Gesicht ächzend oben vor den Fenstern … Zeitungspapier, Lappen und ein Wassereimer waren ihre Waffen, außerdem noch eine kleine Spachtel, womit die Maler dies und das verkitten. Damit kratzte sie die Kalkspuren von den Fenstern.

Dann kam der Mann mit der Lederjacke: der Elektriker. Der brachte Porzellanfassungen, Klemmnippel, Lüsterklemmen, Sicherungen, Glühbirnen, die wie Seifenblasen schillerten, und schlängelnde Kabel. Er ging gleich ins Nachbarhaus, tüftelte, steckte die Nase in den Transformator, bat den Herrn um Münzen für drei Anrufe, der sie sogleich aus der Tasche zog und ihm gab, fröhlich, großmütig. Zum Abend sah der seit Jahren im Dunkeln schlummernde Raum aus, als wären Sterne bei ihm eingezogen: Die Leuchten erstrahlten. Die Slowakin eilte heim in die Ziegelfabrik, aber der Maurer und der Elektriker schlossen für ein gemeinsames Gläschen am Abend Freundschaft. Natürlich zogen sie inmitten lebhafter Erklärungen in die Kneipe ein: Der eine berichtete, wie er das Schwarze in Weiß verwandelt, der andere, wie er Licht ins Dunkel gebracht habe … Wenn Meister ihre eigene Arbeit loben, denken sie sich nämlich ganz bis zur Schöpfung der Welt zurück.

Am nächsten Tag öffnete sich wieder das Tor, und es kamen herein: zunächst zwei starke und prächtige braune Pferde. Der Wagen kippte nach links und nach rechts, als er den Gehweg erklomm, und auf dem Bock pendelte ein Kutscher mit Ganovenfratze hin und her.

»Hü«, brüllte er. »Wohin kommt die Ware?«

Daraufhin kam ein anderer, etwas älterer, doch genauso heiterer Herr heraus; er freute sich sehr, den Kutscher, den Wagen und die »Ware« zu sehen.

»Hierher, mein Sohn, hierher meine gute Seele«, sagte er so warmherzig, als sei er tatsächlich mit diesem Kutscher verwandt.

Da sprang der Kutscher vom Wagen und ergriff die Zügel der Pferde. »Zierdichnichso, Tóni«, herrschte er das eine an, »wirdsbald, Tercse, hü«, sagte er zum anderen und zerrte wie ein Dompteur an den Zügeln der Tiere, die langsam in Bewegung kamen. Was will man sagen? Hört man einen Kutscher reden, weiß man, was er als Kutscher taugt. Dieser fluchte so viel und bedachte dabei alle Heiligen, die je gelebt oder nicht einmal gelebt hatten, dass er wohl ein hervorragender Kutscher sein musste. Da gab der jüngere Herr ihm zum Schluss auch mehr Trinkgeld als üblich, denn so ein zorniger Kutscher brachte es fertig, einem das Geld wieder vor die Füße zu werfen, wenn es ihm nicht reichte, mit den Worten: Soll Sie doch der …

Nur schwer kamen die Pferde rückwärts durch den Toreingang: Das Brüllen des Kutschers donnerte über den Hof, aber drinnen, in dem großen Raum, stand bereits ein Tischler mit rotem Schnauzbart, in fleckiger grüner Schürze, seine Säge hing an der Wand, der Hobel lag sanftmütig auf der Bank, überall waren glänzende Nägel verstreut, und die Zange machte ein mürrisches Gesicht. Dieser Tischler begutachtete die »Ware« mit Sachverstand. Er trat gegen die Balken, aus denen Webstühle werden sollten, als wollte er auf diese Art erfahren, woher sie kamen, wessen Hände sie zurechtgesägt hatten, ob es vielleicht gerade die seines seligen Meisters Rikárd Tunyák gewesen waren. Dann sprach er es auch aus:

»Außer mir konnte so etwas nur mein seliger Meister machen.«

Die beiden Herren nickten und sagten nicht, was sie dachten:

Nun mach dich ans Werk, guter Tischler. Jeder Augenblick ist ein bisschen Geld, aber das hat schon seine Ordnung: Dünn fließt das Geld weg, um in goldenen Wellen zurückzuströmen. Sollte der Tischler ruhig erst einmal schnuppern … Doch dann klatschte er in die Hände und sagte:

»Also …« Er spuckte in die eine Hand und rieb die Spucke so sanft und voller Freude in der anderen Handfläche breit, als sei er eine Dame, die mit ihrer zarten Hand Samt betastete. Dann nahm er den Stift hinterm Ohr hervor und kritzelte etwas auf einen Zettel. Er legte die Stirn in so viele Falten wie er nur konnte: Als hätten diese die Multiplikationen, Divisionen und Kalkulationen durchgeführt. Schließlich gab er ihnen den Zettel, auf dem stand, was er vom Holzhändler benötigte. Er wolle es nicht selbst besorgen, sagte er, nicht, dass die Herren am Ende noch dachten, er bekomme vom Händler eine Beteiligung. Gehen Sie lieber selbst, aber eines sage ich Ihnen: Bringen Sie trockenes Holz, denn bei Váci ist zwar alles billig, dafür haut er aber jeden übers Ohr … er sagt von jedem Brett: Dieses ist erstklassig und das dort auch, und mischt eine Menge Zweitklassiges dazwischen.

Schließlich ging der Tischler selbst zum Holzhändler, in der Gegend hatte er noch nie etwas getrunken, aber auf dem Rückweg hatte er bereits genug Bares, um in der Kneipe der alten Mári vorbeizuschauen.

Dann kamen noch Glaser, Schlosser und Monteur: Letzterer kümmerte sich um den netten Sägemehlofen, der ebenfalls hier einzog; ein kleiner Mann kam vorbei, der stets viel im Sack auf dem Rücken trug, dessen Trinkgeld trotzdem immer knapp ausfiel; es kam der Kohlenmann, und schon wurde es in dem kalten Raum warm, als versteckte sich trotz des beginnenden Winters die Sonne unter dem Betonboden und heizte die Wände, wärmte die Menschen von dort aus.

Tage vergingen: Es kam der Postbote, er fragte neugierig, ob die Weberei Japán hier zu finden sei. Ein neuer Kunde bedeutet zwei Münzen mehr fürs neue Jahr, dachte er sich. Und als Antwort erhielt er, dass die Weberei Japán sehr wohl hier zu finden sei und er ihnen viele Aufträge, erfreuliche Briefe und Geld bringen solle.

Das versprach der Postbote gern, er salutierte und ging.

In dem Brief, den er gebracht hatte, schrieb ein Webergeselle: »Werter Herr Fischer, wenn ich in der Woche sechzig auf die Hand bekomme und das Fahrtgeld dazu, bis ich eine Unterkunft in der Gegend finde, dann komme ich morgen.«

Der jüngere Herr fragte:

»Sechzig Pengő, ist das nicht ein bisschen viel?«

»Es ist nicht gerade wenig«, erwiderte der Ältere, »aber es lohnt sich.«

Der Webergeselle kam tatsächlich am nächsten Tag. Er nahm den Hut vom Kopf, sah sich um und sagte:

»Herr Fischer, hier ist es aber schön warm.«

Da sagte der Ältere:

»Warm ist es.«

Der Jüngere sagte:

»Sie sind also gekommen.«

»Bin ich … Wie ich sehe, gibt es hier ganz anständige Jacquards … Soll ich mit dem Einzug beginnen, ist es in Ordnung mit den sechzig?«

»Beginnen Sie ruhig«, sagte der Jüngere.

»Und kann ich auch mit dem Fahrtgeld rechnen?«

Die beiden Herren sahen ihn an. ›Na‹, dachte sich der Webergeselle, ›der Blick der Herren ist so gut wie eine Unterschrift.‹ Und er steckte den gemeinsamen Blick der beiden in die Tasche, als wäre es ein Wechsel.

Den Tischler entdeckte er erst jetzt. Zunächst sah er nur zu, wie dessen Hand mit dem kleinen Hobel über das Holz flog, wie die Späne sich lockten, wie der Hobel das Holzmehl zur Seite spuckte und wie geruhsam der Tischler vor jedem nächsten Schritt nachdachte. Da sprach er ihn an:

»Grüß Gott, bauen Sie schon den Webstuhl?«

»Hm«, antwortete der Tischler.

»Dann sehen Sie mal her«, sagte der Webergeselle zu ihm, »ich habe nicht so riesige Pranken, machen Sie mir keinen so großen Griff für die Schnellschützen wie dieser hier.«

»Wie Sie meinen«, sagte der Tischler.

Beim Mittagsläuten saß der Webergeselle schon am Webstuhl: Zwischen scheinbar unentwirrbaren Schnüren musterte er den Jacquard, die unzähligen kleinen Löcher, aus denen die Fäden kamen. Er zog einen aus einem der Löcher und fädelte ihn in ein anderes.

»Ach, wie viele Löcher es auf der Welt doch gibt«, sagte er zum Tischler, der nur nickte. Dem Webergesellen gefiel sein eigener Scherz jedoch so sehr, dass er darüber grunzend lachte.

»Haben Sie denn eine Zigarette für mich?«, fragte ihn der Tischler.

Hatte er, aber Zündhölzer hatte wiederum nur der Tischler.

»Nun sind wir quitt«, sagte der Webergeselle.

Und er arbeitete, fädelte, hakte ein, zog und fingerte an den fast fünftausend Fäden, dass ein anderer schon vom Zusehen verrückt geworden wäre. Die beiden Herren gingen dann zu Mittag essen. Der Tischler und der Webergeselle blieben.

Als die Tür hinter ihnen zufällt, fragt der Tischler: »Seit wann haben Sie keine Anstellung?«

»Wen interessiert das schon.«

»Aber jetzt sind Sie froh, eine zu haben, nicht wahr?«

»So ist es«, erwidert der Webergeselle. »Ich webe denen in einer Stunde anderthalb Meter Seidenstoff. Das sage ich nur, damit Sie ja nicht denken, dass ich nicht arbeiten könnte und deshalb ein halbes Jahr lang keine Beschäftigung gehabt habe. Was ist das nur für eine verfluchte Welt, in der wir leben!«

Der Tischler schweigt einen Moment, dann erzählt er zögernd, wie viele Monate auch er zu Hause gesessen habe, Schlitten habe er gebaut, einen Schlitten nach dem anderen, der ganze Holzschuppen sei voll, im Winter wolle er sie verkaufen.

»In meinem Beruf habe auch ich nicht viel geschwitzt.«

»Was denken Sie«, fragt nun der Webergeselle, »haben die beiden Geld?«

»Der Kleine?«, erwidert der Tischler. »Kleine Leute wie er haben immer viel Geld und einen großen …«, sagt er und scheucht die Schweinerei von seinen Lippen wie eine lästige Fliege.

Tage später, an einem Abend, repariert ein junger Bursche mit ölverschmierten Händen eine Spulmaschine, man muss nur noch den Schalter drücken, im selben Augenblick setzen sich die kleinen Metallwinden geräuschlos in Bewegung, und der dünne Seidenfaden geht rasch auf und ab.

Weiter hinten drehen sich die Haspelmaschinen. Da kriecht eine Stange hin und her, auf dieser glänzt eine Drahtgabel, durch die der unsichtbar dünne Faden hindurchraschelt, an einer anderen Stelle der Stange gibt es einen Nocken, und wenn der Nocken und der Haken sich küssen, bewegt sich die gesamte Konstruktion auf einmal in die andere Richtung. All das ist jedoch nur Zauberei und Täuschung, denn der Mechaniker erklärt lachend, dass gar nicht der Nocken und der Haken hier vorne, sondern die exzentrische Scheibe hinten für den ganzen Schlamassel verantwortlich sei …

»Die da?«, fragt der jüngere Herr erstaunt. Der Ältere ist ein Fachmann auf dem Gebiet und freut sich, dass er mit vierzig Jahren nun ein so schönes großes Spielzeug besitzt.

Die wichtigste Person hier ist aber doch der Webergeselle. Zunächst ist er noch der einzige Weber, der wie eine Menschenspinne die Fäden zieht und wirft, und was macht er jetzt? Nimmt einige gewöhnliche Ziegel, wickelt sie in braunes Packpapier und hängt sie so an ein langes Seil, das zu einer Holzwinde in die Höhe eilt. Solche verpackten Ziegel bindet er an die verschiedenen Zylinder als Gewicht … Am Donnerstagvormittag um zehn Uhr versammeln sich alle um den Weber, der Tischler, der Elektriker, der Mechaniker, der Kutscher, der auch gerade da ist, und der Kassierer. Da steht er starr, der Webkamm mit den unzähligen Zinken, an beiden Enden sind zwei Bögen aus Rohr, und darunter lauert der Schützen in seinem Versteck auf den Moment, in dem er mit der bunten Last wie eine Maus wird hinausschießen müssen. Schon so, senkrecht, ziehen Tausende von eingezogenen schwarzen Fäden durch die Maschine, durch diese muss die Maus nun von der einen Seite mit einem silbernen, von der anderen mit einem roten Faden rennen, den Schussfaden stets zwischen den Zähnen.

Der Webergeselle öffnet den Mund: »Rote Stiefel trägt mein Schatz«, trällert er und zieht kräftig an dem Griff, und im nächsten Augenblick eilt der silberweiße Faden bereits durch die vielen schwarzen, dann tritt der Webergeselle, als tanzte er einen lustigen Csárdás, auf das Holzpedal, und schon düst der Schützen mit dem roten Faden zwischen den Zähnen zurück. Wie der Webergeselle aus Freude an der Arbeit so tanzt, rennen die roten und die silbernen Fäden zwischen den schwarzen, von den Zinken des Webkamms geführten Kettfäden hin und her. Kurz zuvor gab es hier noch gar nichts, und nun quillt die Seele über und das Wasser läuft im Mund zusammen, die Krawattenseide, die auf dem Webstuhl entsteht, ist so schön, dass der Tischler, der Elektriker und die anderen nur noch von Krawatten sprechen, und der Elektriker erzählt, dass er ein Weib gehabt habe, das nichts gebraucht habe, keine schönen Worte, keinen Wein, keinen Schnaps, nur eine neue Krawatte habe sie erblicken müssen … atemlos habe diese Frau die Krawatte angestarrt, als wäre diese ein Spiegel, ein Wunder, dass sie nicht angefangen habe, sich davor zu kämmen – dieser Frau sei von seiner Krawatte so schwindelig geworden, dass sie ihm sofort in die Arme gefallen sei.

Der Webergeselle tanzt und tanzt, wirft seine himmlisch gute Laune, den Seidenfaden, hin und her, singt einige Strophen und hält inne:

»Na, Herr Elektriker, erzählen Sie ruhig weiter.«

»Sagen Sie«, fragte auch der Tischler, ein Junggeselle, »ist es ganz sicher, dass die Krawatte die Frauen so dings macht?«

Die beiden Herren sehen ihnen zu und lassen sie plaudern. »Mein Gott, sollen sie doch«, sagt ihr Blick. Der zauberhafte Klang des rasenden Schützens, des knarrenden Pedals, das Rascheln der auf- und abgehenden Gewichte an den Kettfäden bohrt sich ihnen süß ins Ohr …

Sie zerstreuen sich wieder. Der Tischler lockt mit dem Hobel die Späne; der Elektriker kümmert sich in Gummihandschuhen um die Leitungen; der Kassierer steckt das eingezogene Geld in die Gesäßtasche und freut sich über seine Provision; und der Kutscher begreift den heiligen Augenblick der Betriebseröffnung von der praktischen Seite:

»Meine Herren, spendieren Sie mir doch eine kleine Weinschorle, jetzt, wo das Geschäft zum Leben erwacht.«

Und die Herren spendieren gerne, denn nach einer Stunde spannen sich über den stoffbeschürzten Brustbaum beinah anderthalb Meter Krawattenseide. Bunt schillert sie, im Schein der Lampe, diese erste Seide. Und du, Webergeselle, musst nur noch ein bisschen tanzen, und schon kannst du, etwas außer Atem, stolz pausieren und zum Tischler sagen:

»Hier sind die anderthalb Meter in einer Stunde.«

Der Tischler streicht sich über den Schnurrbart und erwidert:

»Das habe ich Ihnen doch gleich angesehen … und mir können Sie glauben: In zwei Wochen sind alle Webstühle fertig.«

Die beiden Herren geben ihnen jeweils einen Pengő, damit die Männer das Geld aus Freude über die ersten anderthalb Meter Seide, die begonnene Arbeit, zechend, singend, mit Frauen tanzend durchbringen.

B

Wie einen weißen Vorhang im offenen Fenster bewegt der Nordostwind den Schnee. Iszidor, der Diener der Bezirksverwaltung, drückt sich die Mütze mit beiden Händen gegen die Ohren, wobei er befürchtet, die unter den Arm geklemmte Aktentasche könnte hinunterfallen. In dieser sonderbaren Haltung erreicht er die Kneipe, deren Tür sich vor dem einkehrenden frommen Lamm mit Glockengeläut öffnet. Iszidor könnte sich auch eine ansehnlichere Kneipe als diese vorstellen: Die Stühle kommen wohl aus einer großen Schlacht, kriegsversehrt, wie sie aussehen; in die Tische haben die Nihilisten des Holzes, die Holzwürmer, geheime Gänge gegraben, und wenn sich jemand auf dem Tisch abstützt, kann es schon einmal vorkommen, dass sich unter seiner Hand plötzlich ein Abgrund auftut oder ein Jahresring einstürzt. Doch vor allem die hier herumlungernden Gestalten sind ihm unangenehm: lauter Teerkocher, durch den Dreck in Mohren verwandelt, geschmückt mit pechschwarzen Bärten. Die Haarwälder in ihren Gesichtern und ihre von der Zeit durchlöcherte Kleidung werden von Läusen, Wanzen, Küchenschaben und fröhlich hüpfenden Flöhen bewohnt. Wenn die Männer Iszidor erblicken, fahren sie ihn düster an:

»Na, Sie Rindvieh, Sie tragen wohl noch immer die Zettel aus?«

Der ihn so anspricht, ist ein ehemaliger Kutscher, 1919 war er Rotgardist … Ein riesiger Kerl, er könnte die Wächterfigur des Toreingangs der Siedlung sein, die aus dem linken Kneipenfenster zu sehen ist. Diese Siedlung besteht aus den verlassenen Holzhäusern einer vergangenen, verglühten, verdampften ehemaligen Kalkbrennerei. Sie sind wie die Cholerahäuser zur Zeit der großen Seuche.

Im Sommer ist es in den Häusern warm, im Winter kalt. Der einzige Vorteil an ihnen ist, dass alle Balken und Bretter so locker sitzen, dass man sie bei großer Kälte, oder wenn jemand im Sterben liegt und noch einmal ein großes Feuer sehen will, bevor er diese schöne Welt verlässt und sich die abkühlenden Hände an der Glut wärmen möchte, einfach herausnehmen kann. Ein weiterer Vorteil ist, dass jeder, der hier wohnt, getrost sagen kann, ich bin arm, ich lebe im Elend.

Iszidor, der Diener, kommt hierher, um die Bescheide des Ingenieuramtes zuzustellen, wonach die Bewohner der Siedlung verpflichtet sind, innerhalb von zwei Wochen aus den Bauten auszuziehen; derlei Bescheide kommen in jedem Jahr dreimal. Da machen sich die Siedlungsbewohner, Ungarn, Turanier, Zigeuner, Slowaken, Katholiken, Muslime und Juden, auf den Weg und ziehen, wie die Heuschrecken in Ägypten, unter schrecklichem Surren und Rauschen in Richtung Bezirksverwaltung. Ein gewaltiger, schöner Zug ist das, der von beiden Seiten von Polizisten in großen Stiefeln und mit silberglänzenden Schwertern und Revolvern begleitet wird. Unter ihrem Geleit weinen, schreien die Säuglinge, beschimpfen die Frauen Himmel, Leben und Tod, ebenso die schwangeren Mädchen, die Männer mit Veilchen unter den Augen, die blinden Kriegsinvaliden, die ihre weißen Stöcke drohend in die Luft halten, und die großen, faulen Hallodris, deren Körper an mehreren Stellen mit Messerstichen durchbohrt wurden. Sie gehen, reden, schluchzen, strömen lärmend durch die Gänge der Bezirksverwaltung. Der anständige Bürger weicht einen Schritt zurück, drückt sich an die Wand und mustert diese ungezieferartigen Wesen mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel. Die Schreiber der Bezirksverwaltung blicken gelassen durch die Türfenster und ermahnen alle mit einem Wink zur Ruhe, so könne man schließlich keinen Zwangsvollstreckungsbescheid formulieren … Der Herr Bezirksvorsteher ist ein gedrungener Mann mit hochrotem Kopf: Er liebt Fischsuppe und Zigarillos. Er sieht gerne den Kartenspielern zu und kann herzlich lachen, nachdem er sein viertes Bier getrunken hat. Er ist ein guter, gläubiger Mensch, dem die Belange seines Bezirks am Herzen liegen, und der sich nach sorgfältigem Abwägen der Meinung der Ingenieurskommission angeschlossen hat: Die neue Straße wird die geplante Strecke entlangführen, also sind die Hütten innerhalb von vierzehn Tagen abzureißen … Er kommt aus seinem Zimmer, so viele Menschen kann er ja nicht bei sich empfangen. Er bleibt vor der dichten, schwarzen Menschenmasse stehen und sagt:

»Ruhe.«

Leider steht ein Mädchen mit Eiterflechte, dem sich der lila Grind bis übers Auge gezogen hat, gerade vor ihm … Doch der Herr Bezirksvorsteher beherrscht sich: Schließlich ist es auch ein Mensch, denkt er, starrt das vom Ausschlag entstellte Gesicht noch einen langen Augenblick an und widmet sich dann dem Studium der allgemeinen Stimmung. Er hört, wie die Ermahnung von Mund zu Mund fliegt:

»Hörst du nicht, Ruhe hat er gesagt … halt die Schnauze, wenn ich’s dir sage … keinen Mucks mehr … Klappe …«

»Hört zu, die Wohnungen müssen geräumt werden«, sagt der Bezirksvorsteher.

»Sie sind lustig. Das wurde uns schon mitgeteilt. Kirchen haben Sie gleich zwei gebaut, warum nicht lieber etwas für uns?! Dann werden wir eben hier in der Bezirksverwaltung wohnen. Erhäng dich doch, du armer Prolet! Du siehst, wie viel der Mensch wert ist … so viel wie Rotze oder eine Wanze, eine Laus … so geht man mit ihm um … man zerquetscht ihn einfach!«

»Wir gehen nicht weg, Herr Bezirksverwalter! Wir gehen nicht weg!«, rufen sie.

Das ist die Masse, denkt der Herr Bezirksverwalter, die Masse, der man einen Diktator überordnen muss. Es stimmt schon, dass ich keinen Ort weiß, wohin ich sie stecken könnte. Mir sind die Hände gebunden, mir sind die Hände völlig gebunden! Warum auch muss es dieses Pack ausgerechnet in meinem Bezirk geben! Damit der Bürgermeister bei der Versammlung der Bezirksverwalter in dem für ihn typischen leisen Ton sagen kann: »Wie ich gehört habe …«

Dem Herrn Bezirksverwalter kommt der Gedanke, dass er dieses ganze Gesinde aufs Rathaus der Stadt schicken müsste, sollen sie doch dort ihre Künste vortragen.

»Also länger als bis zum Herbst können Sie nicht bleiben! Haben Sie mich verstanden?«, sagt er, um wenigstens das letzte Wort zu haben.

Die an alle einzeln adressierten Mahnungen werden stets von Iszidor zugestellt. Wenn er fertig ist, geht er in die Kneipe, kippt Wein, Schnaps und versucht, sich mit den dunklen Rittern der Siedlung anzufreunden.

»Verstehen Sie«, sagt er auch jetzt zu Mehmed, der sich bei den Jahrmärkten immer als Muslim verkleidet, »ich muss kommen. Man sagt mir, geh zur Siedlung. Und ich gehe. Dabei weiß ich, dass man über mich schimpfen wird, mich verachten wird, mich, der ich selbst arm bin. Wenn ich zurückgehe, fragt mich der Herr Ingenieur gleich: ›Na, haben sie die Briefe entgegengenommen?‹ Und er sieht sich die Unterschriften an. Deshalb sage ich Ihnen, Mehmed, unterschreiben Sie, da passiert Ihnen nichts.«

Mehmed pult sich in den Zähnen. Er wirft Iszidor einen überlegenen Blick zu und sagt dann sanft:

»Zeigen Sie, wo soll ich unterschreiben?«

Iszidor schlägt das Buch auf, in dem die Entgegennahme bestätigt wird, sucht vor sich hinmurmelnd Mehmeds Namen und hält den Finger an die entsprechende Stelle.

»Hier, bitte …«

Mehmed beugt sich über das Buch.

»Hier?«, fragt er, hebt den Kopf und spuckt seine Unterschrift mit voller Kraft auf die Seite.

»Das kannst du ihnen zeigen«, sagt er düster. »Zeig diesen Hundesöhnen die Spucke eines Lungenkranken.«

Und Iszidor erkennt voller Entsetzen, dass er von dunklen Wolken umgeben ist … Wie Blitze schlagen die Worte vor seinen Füßen ein:

»Du Halunke … du Pensionär … wir reißen dir die Ohren ab … wag es ja nicht, noch einmal herzukommen …«

Dann öffnet sich die Tür … Iszidor tritt hinaus … sein Herz erschrickt, denn die Füße spüren die Treppenstufen nicht … schließlich landet er beinah auf dem Boden, doch der Wirt fängt ihn noch auf.

Zwei Damen gehen durch die Siedlung. Von überallher kommen Kinder herbeigerannt.

»Liebe Frau, geben Sie mir einen Krajcár!«, rufen sie und ergreifen die Rocksäume der Damen, sodass sich die eine kaum beherrschen kann, nicht eines der Kinder zu ohrfeigen. Aber das geht doch nicht! Wohin kämen wir denn dann! »Wie können Sie es wagen, mein Kind zu schlagen?«, würde die Mutter sie anfahren, und die anderen Weiber würden ihr mit funkelnden Augen und gebogenem Finger im Chor drohen: »Das Kind ist so schon gestraft; möge Gott Sie erblinden lassen!«

»Elizabet«, sagt die ältere Frau zu der anderen, »sehen wir zu, dass wir so schnell wie möglich bei Anna Markovszki sind.«

Doch eine Greisin und ein Greis verstellen ihnen den Weg. Er ist vollkommen blind, geht dorthin, wo ihn seine Frau hinzieht. Beide weinen, und die Frau sagt zu ihrem Mann:

»Nimm die Hand der gnädigen Frau …« Der Blinde tastet in der Luft und ergreift das Handgelenk der Dame von der Wohlfahrt. Diese seufzt. Was soll sie tun, das ist der Preis der Güte, das gehört nun einmal zu ihrem Beruf dazu.

»Verstehen Sie doch, dass wir nichts dabeihaben. Wir sind nur gekommen, um Anna Markovszki zu besuchen.«

Da sagt eine junge Frau:

»Anna braucht sowieso nichts mehr. Sie ist nicht mehr bei Bewusstsein. Die Alten haben recht, wenn die gnädigen Frauen schon etwas mitgebracht haben, dann tun Sie besser daran, es uns zu geben.«

Nun ist ein putziges Bild zu sehen: Ein langer Mann trägt einen anderen langen Mann über dem Arm wie der Fischer seinen Fang. Gefolgt von einer weinenden Frau, die sich die Augen mit dem Rockzipfel abwischt. Der Mann, der den anderen schleppt, hat einen langen Hals und eine brummende Stimme. Der Mann in seinem Arm hat ein Seil um den Hals gebunden, die Zunge hängt ihm aus dem Mund. Sein Gesicht ist wie von Tinte verfärbt. Er trägt keine Schuhe, und die Zehen stehen auseinander wie Nägel aus Fleisch.

Der Mann, der den Toten trägt, hält ihn den beiden Damen von der Wohlfahrt hin:

»Hier, riechen Sie«, sagt er und wendet sich an die anderen, die herbeikommen: »Ich bringe ihn zum Herrn Bezirksverwalter.«

Jetzt sagt der kleine Kucsera:

»Zeig mir mal diesen Borbás.«

Er betrachtet den Erhängten und lockert ein wenig das Seil um dessen Hals.

»So«, sagt er, »und jetzt bring ihn ins Krankenhaus. Oder weißt du was, an der Ecke steht der Kerl, der sich so aufgespielt hat, als wir eine Gans gestohlen haben … bring ihn zu ihm und sag: ›Herr Wachtmeister, hier bringe ich Ihnen einen der Gänsediebe. Er hat sich vor Kummer erhängt, weil er nicht wieder stehlen durfte.‹ Sag es so und lass ihn da.«

Es gibt auch kleine Kinder. Eines hält die Hand eines anderen; ein drittes lutscht am Daumen, so sehen sie sich die Attraktion an. Sie stehen im Schnee, barfuß, in ärmellosen Jäckchen, mit rotzverschmierten Nasen. Sie stehen auf dem Schnee und gehen nie auch nur einen Schritt zu Fuß. Wie Fliegen den Honig belagern sie die Trittbretter der Straßenbahnen, fahren kreuz und quer durch die Stadt, ihre Augen sind gieriges Feuer, ihr flinker Blick tastet alles ab, auf der Suche nach einer Gelegenheit, etwas zu klauen. Sie klettern auf Wagen, und wenn schon nichts anderes, so bringen sie ihren Eltern eben ein Selbstmordseil nach Hause; doch vor kurzem umringten sie zu fünft eine alte Frau, nahmen ihr den Beutel mit Zucker, Speck, Brot und einer mit wenig Geld gefüllten Börse weg … Bevor die Straßenbahn stehenbleibt, springen sie ab, ergreifen im Flug die Masten der Oberleitungen, drehen sich um diese und lachen über die Häuser, Bäume und Straßen, die sich mit ihnen drehen. Sie haben keine Mütze, die der Schaffner beschlagnahmen könnte, nur ihre Ohren und Haare sind freie Beute. Wenn sie nichts anderes finden, sammeln sie Zigarettenstummel, kauen darauf herum, spucken aus. Jetzt haben sie die Handtaschen der Damen von der Wohlfahrt ins Auge gefasst. Es sind hungrige, spärlich bekleidete, unruhige kleine Wölfe, die sich sofort alles nehmen, was sie greifen können.

Dort drüben öffnet ein dünnes Ärmchen das Fenster und stellt einen kleinen grünen Eimer aufs Fensterbrett. Im Eimer ist Wasser, darin soll sich die Seele der armen Anna Markovszki baden, bevor sie ins Weltall entschwebt. Jemand weint. »Meine Tochter, meine Tochter«, sagt die Stimme.

Die Flügel des offenen Fensters bewegen sich, als wollten sie die Seele immer wieder in den Raum zurückjagen, und das Wasser im Eimer schlägt kleine Wellen, als bade tatsächlich jemand darin.

»Nun haben wir die Bescherung«, sagt der kleine Kucsera, »die werden gleich melden, dass wir zwei Essensmarken weniger brauchen.«

»Du Maulheld«, sagt eine der düsteren Gestalten, »du warst es doch, der vorhin gesagt hat, Juszuf soll den Bordás zum Polizisten bringen.«

»Überlass das ruhig mir, mein Guter. Halt du dich fern von der Politik, du hast deine sechs Jahre schon hinter dir. Das bringt uns wenigstens viel Anteilnahme, du wirst schon sehen, was die Zeitungen schreiben!«

Die Zeitungen! Sie sind der einzige Trost des hiesigen Völkchens. An die Zeitungen wenden sie sich Tag und Nacht: Sie beschuldigen den Bezirksverwalter, die Damen von der Wohlfahrt, den Arzt, den Apotheker, die Polizei, alles und jeden.

Die Zeitungen! Hier werden die Bilder des einen oder anderen abgedruckt: Wenn einer fünfzehn Jahre bekommen oder wenn es eine »Verbrecherjagd über die Häuserdächer« gegeben oder wenn »sich jemand in den Fluss gestürzt« hat.

Anna Markovszki ist tatsächlich gestorben. Es ist besser für sie, denken die eintretenden Damen, während sie sich bekreuzigen. Sie ist so mager, so wächsern, dass es besser für sie ist. Nur ihre Mutter kann es nicht glauben, sie beobachtet den Eimer, die quietschenden Fenster ganz genau; sie ist eine abergläubische Frau vom alten Schlag: Solange das Wasser Wellen schlägt, ist ihre Tochter noch da …

Die Damen von der Wohlfahrt beten leise. Die Jüngere weint. Und stellt ihre Handtasche auf den Tisch hinter sich.

Der kleine Jóska wirft Nikodém mit dem geschwollenen Auge einen flachen Blick zu. Die jungen Gangster stellen sich auf Zehenspitzen. Und dann schleichen sie sich hinaus. Wiehernd galoppieren sie mit der Beute davon, wie Cowboys auf ihren Pferden. Sie galoppieren, jagen durch diese Prärie des Elends.

Die ältere Dame schließt das Fenster, stellt den kleinen Wassereimer auf den Boden und bemerkt dabei die Handtasche der anderen.

»Passen Sie auf, Elizabet«, flüstert sie ihr zu.

Die Jüngere blickt in die Handtasche. Ihr Gesicht verfinstert sich, aber sie sagt nichts. Sie mustert lediglich die Anwesenden, die ihrem Blick ohne mit der Wimper zu zucken standhalten. Klauen ist für sie keine große Sache. Wir haben nichts, also nehmen wir es uns!

Diese Blicke sind ruhig und sicher. Auch das tote Mädchen betrachten sie gleichmütig.

Heute du, morgen ich.

Der Nordostwind wird stärker. Wie zwei Engel verlassen die beiden Damen von der Wohlfahrt die Siedlung. Ausgemergelte Menschen verstellen ihnen den Weg, Kinder ohne Schuhe begleiten sie. Die Truppe, die den gehängten Bordás zum Polizisten gebracht und dort gelassen hat, kommt gerade zurück. Aus einer anderen Richtung kommen zwei Frauen mit jeweils einem Eimer in der Hand angelaufen. Die Papierdeckel hat der Wind hinuntergeblasen. Blut ist in den Eimern, Blut.

In der Gegend wurde geschlachtet, und sie haben sich das Blut erbettelt. Sie werden es braten, kochen, essen und endlich satt sein.

Der Schauplatz ist Mitteleuropa. Genauer gesagt: eine der Großstädte, die mit B anfangen. Es gibt viele Wörter, die mit B anfangen: Behörde! Bodenrecht! Beständigkeit! Beherztheit! Betrübnis und Bangigkeit! – Ach, werter Leser, benenne es mit einem Wort deiner Wahl.

FILIPOVICS UND DER GIGANT

Auf der schneebedeckten Straße war nach Mitternacht niemand mehr zu sehen außer einem Polizisten in dickem Pelzmantel und, neben dem Sodawasserkarren vor der Kneipe von Frau Cink, einem Esel, der mit den Ohren wackelte, als wollte er die Kälte abschütteln.

Filipovics, dieser schmächtige Kerl, bog in die dämmrige Straße ein; er verströmte einen angenehmen Sauerkrautgeruch. Dieser Mensch, den tagsüber eine ängstliche Unterwürfigkeit kennzeichnete, schien jetzt von einer gewissen Kühnheit erfüllt. Kurz zuvor hatte er Wein getrunken, der ihm noch das Blut antrieb. Und er hatte, beim Abendessen des unter dem Protektorat von Erzherzog Joseph August von Österreich stehenden Kriegsveteranenvereins, wo er in dieser Nacht zum Schriftführer gewählt worden war, ohne aufs Geld zu sehen zwei Portionen Szegediner Gulasch gegessen.

Diesen in allem nebengeordneten Menschen, der in seinem bisherigen Leben über keinerlei Rang verfügt hatte, kümmerte es nicht, dass die Zeit der Geister nahte und man nach zwölf Uhr nachts gut daran tut, auch an etwas anderes als die Freuden des irdischen Lebens zu denken.

Filipovics stellte sich eine kleine Visitenkarte vor, auf der stand: Anton Filipovics, Schriftführer des Kriegsveteranenvereins Joseph August von Österreich.

Solch eine Visitenkarte kann einem reichlich Kraft verleihen, wenn man von seinem abscheulichen Arbeitsplatz heimkommt, sich wie ein Häufchen Elend fühlt, im Bett liegt, seufzt und sich fragt, warum man eigentlich auf die Welt gekommen sei. Da kann sich der Schriftführer des erzherzoglichen Kriegsveteranenvereins im Kerzenschein sagen: »Na, Anton Filipovics, du hast doch nicht vergebens gelebt, hast sogar einen Rang erhalten, dreh dich zur Wand und schlaf.«

Die Straßen des Bezirks, in dem unser Mann wohnte, waren auf abenteuerliche Weise miteinander verbunden. Als spielten sie Verstecken, tauchten sie stets plötzlich auf und stellten sich mit weit aufgerissenem Maul vor: Ich bin die Vályog utca, Kamerad. Und dunkel sind sie, diese Straßen, dunkel wie der Kummer, der Schatten eines Banditen oder das schwarze Blut toter Rinder.

Filipovics ließ diese abenteuerliche Angst angenehm erschaudern: Hach, ich streife durch die Nacht, kein Hund bellt, Hilfe ist von nirgends zu erhoffen, dabei rieche ich nach Sauerkraut und Wein, wie ein echter Zechbruder. Filipovics bemerkte gar nicht, dass er auf Zehenspitzen ging und vor sich hin pfiff. Dabei ist das nächtliche Pfeifen, vor allem, wenn jemand so aufmerksam die finsteren Hauseingänge beobachtet, nicht gerade ein Zeichen von Heldentum.

»Bleib stehen!«, sagte eine Kellerstimme zu ihm, und die Person, zu der sie gehörte, legte Filipovics von hinten die Hand auf die Schulter.

Filipovics blieb stehen und erstarrte, und dafür hatte er auch allen Grund, denn der Fremde hatte die Gestalt eines Turmes, gekrönt von einem gewaltigen Uhrenkopf, mit von Messerklingen verursachten Narben und dunklen Augen als Stundenstrichen und als Zeiger eine Nase von der Größe einer Zervelatwurst. In Sekundenschnelle kroch aus Filipovics der Beruf hervor, den er tagsüber ausübte: Er wurde wieder zum Amtsdiener, dessen größtes Gut die Höflichkeit war.

Er verbeugte sich vor dem gewaltigen Fremden.

»Ich bin stehengeblieben, gnädiger Herr«, sagte er.

Damit wollte er auch zeigen, dass er arm war, auf jeden Fall ärmer als der Angreifer, seine Tasche beinah leer, für den Überzieher war er auch mit fünfundsiebzig Pengő im Rückstand und die Schuhe beschützte er vor der winterlichen Feuchtigkeit mit Löschpapier.

»Gnädiger Herr, gnädiger Herr«, knurrte der Riese, »selbstverständlich bin ich das. Doch komm du erst einmal her ins Licht der Laterne, ach, du Fuchsgesicht, du bist ja ein Jurist, da kannst du mir sagen, ob ein armer Enkel für die Taten seines Großvaters geradestehen muss.«

Dann ergriff er Filipovics am Kragen, schüttelte ihn wie ein Sturm den Baum, so sehr, dass es Filipovics vorkam, als sei er in einen Orkan geraten, in dem der Wind zu ihm spreche, mit einer Stimme, die die leisen Fenster klirren und die Dächer die Schultern zusammenziehen ließ, wodurch die Ziegel hinunterflogen.

»Mein Großvater war noch größer als ich. Das solltest du nicht bezweifeln.«

Wie Kieselsteine fielen die Worte aus Filipovics, und er fürchtete, seine vor Angst aufgerissenen Augen und die beiden falschen Zähne würden ebenfalls hinausfallen, sollte dieser fremde Herr nicht aufhören, ihn zu schütteln.

»Ich … bezweifle es … nicht.« Und nur zu sich selbst sagte er, was er nicht laut auszusprechen wagte: Oh, Heiliger Anton, rette mich, denn wenn dieser Mensch mich an die Wand schleudert, bleibe ich gewiss dort kleben. Wenn ich bloß wüsste, was ihn derart gegen mich aufgebracht hat. Erträgt er den Sauerkrautgeruch nicht? Sogar dieser Gedanke kam Filipovics.

»Mein Großvater hat den Mühlstein von Muslica allein getragen«, donnerte der Fremde, »dabei war der drei Doppelzentner schwer.«

Aus dem geschüttelten Filipovics brach ein langgezogenes und dann noch ein kurzes »Oh« hervor. Der hintere Hosenknopf des Armen war abgerissen, und sein Hosenträger war wie eine Schlange bis zur Mitte des Rückens hinaufgekrochen; er musste befürchten, dass der fremde Riese die ganze Hose von ihm abschütteln würde. Was für ein hinterhältiger, seltsamer, entsetzlicher Banditentrick: Der Riese könnte Filipovics, den bei dem Gedanken Übelkeit überkam, bei minus zehn Grad in weißer Unterhose in der Nacht stehen lassen und die Beute wie eine Piratenflagge über sich schwenkend fortziehen. Und all das geschah gerade jetzt, als er den ersten Rang seines Lebens erhalten hatte, genau da musste ihm die Hose bis zu den Schuhen hinunterrutschen, bang und leise wie ein Schleier. »Mein Großvater!«, rief der Angreifer (Ach, wann kommt er denn endlich auf seinen Vater und vielleicht auch noch seine Mutter zu sprechen, und mein Gott, was bleibt bis dahin von mir übrig, dachte Filipovics). »Mein Großvater«, wiederholte der Mann, »hat so manches veruntreut, musst du wissen. Was er veruntreut hat und was nicht, das geht dich nichts an, hast du verstanden?«

»Ja«, stammelte Filipovics.

»Ob es Frauen waren, Fingerhüte oder ein so großer Diamant wie meine Faust, das geht dich, wie gesagt, nichts an.«

Wenn doch bloß endlich ein Polizist vorbeikäme, dachte Filipovics.