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Mein herzlicher Dank gilt Sylvia Schädlich vom Friesengestüt Oberurff, die ihr Wissen über die Friesenzucht so großzügig mit mir geteilt hat.
AMK

ALEXIA MEYER-KAHLEN

Endless Trust

NICHTS KANN UNS TRENNEN

Nach Motiven der Geschichte von Jenny Simon und ihrem Friesenhengst Mambo

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Inhalt

„If love could have saved you, you would have lived forever.“

Prolog

Pferd auf den zweiten Blick

Zeit der Prüfungen

Unfall mit Folgen

Jedes Ende ist ein neuer Anfang

Bittersweet

Epilog

„If love could have saved you, you would have lived forever.“

Diesen Satz haben mir tausende von Menschen zukommen lassen, als ich die größte Liebe meines Lebens verlor. „Hätte meine Liebe ihn schützen können, würde er ewig leben.“

Leider wollte es das Schicksal anders und ich verlor nach sieben Jahren intensivster Pferd-Mensch-Beziehung meinen geliebten Friesenhengst Mambo.

Er war für mich nicht nur der schönste, sondern auch der stolzeste Hengst und wir zwei zusammen waren das perfekte Dream-Team. Wir verstanden uns ohne Worte, und das Größte war, wenn wir zwei völlig allein in der Natur unterwegs waren oder ich einfach nur auf seiner Koppel lag, während er friedlich graste. Mambo war nicht nur ein Pferd – er war mein Freund, mein Fels in der Brandung, mein Ein und Alles. Ein Leben ohne ihn konnte ich mir nicht vorstellen.

Leider geht das Leben manchmal ganz andere Wege, und so stürzte Mambo eines Morgens auf nasser Koppel und verletzte sich so schwer, dass wir ihn nicht retten konnten.

Wir haben gemeinsam einen Traum gelebt, und ich möchte, dass alle Mädchen wissen, dass es sich immer lohnt, an Träume zu glauben, das Leben zu leben und zu lieben und niemals aufzugeben, sind die Zeiten auch noch so schwer. Alle Fragen nach „warum“, „warum ich“ oder „warum er“ wird man mir nie beantworten können – aber meine wunderbaren Erinnerungen mit Mambo werde ich für immer in meinem Herzen tragen. Er wird für immer „die Liebe meines Lebens“ bleiben, und ich möchte, dass die Erinnerungen an ihn niemals sterben.

Aus diesem Grund freue ich mich sehr, dass nun dieser Roman erscheint, der von unserer Geschichte inspiriert ist und die wichtigsten Stationen meines Lebens mit Mambo aufnimmt. Daneben enthält ENDLESS TRUST auch viel Spannendes und Bewegendes, was von der Autorin frei erfunden wurde. Alexia hat zu mir gesagt, dass sie der Seele meiner Beziehung zu Mambo treu bleiben will, und ich finde, das ist ihr gelungen.

So hoffe ich, dass ENDLESS TRUST von unseren Fans und auch von Menschen, die uns noch nicht kennen, gut aufgenommen und geliebt wird. Die biografische Geschichte von Mambo und mir kann man parallel in meinen Social-Media-Kanälen nachlesen und ein Sachbuch über uns gibt es auch schon. Für mich ist dieser Roman ein weiteres Andenken, das Mambo in Erinnerung hält. Meinem Traum, dass er niemals vergessen wird und immer unter uns lebendig bleibt, komme ich durch dieses Buch und alles, was damit zusammenhängt, jedenfalls ein gutes Stück näher.

Mambo war mein schönstes Geschenk! Dass ich diesen Traum leben durfte, verdanke ich meiner Familie, die bei allem, was ich tue, hinter mir steht – heute mehr als je zuvor. Nur so geht unsere Geschichte mit Dreamcatcher M, Mambos Nachfolger, weiter!

Man kann kein geliebtes Tier ersetzen, aber man kann sein Herz öffnen für etwas Neues. Das Leben läuft weiter und man selbst bestimmt den Weg. Ich bin dankbar, dass mein „Catchy“ mich täglich mit vielen kleinen Gesten an die „größte Liebe meines Lebens“ erinnert: MAMBO.

Eure Jenny

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Prolog

„Das Leben ist nicht fair. Wie kann es einem alles geben und dann alles nehmen? Wir waren doch erst am Anfang. So viel war noch möglich, so viel hätten wir noch gemeinsam erleben können. Und jetzt? Vorbei … einfach so.“

Charly saß mit einem türkisfarbenen Halfter in der Hand auf der leeren Pferdekoppel. Ihre langen blonden Haare leuchteten in der Herbstsonne, aber Charly spürte nichts als Kälte, eine tiefe Verlorenheit, wie sie sie in ihren sechzehn Lebensjahren noch nie gefühlt hatte.

„Ich vermisse dich, ich vermisse dich so sehr, dass es wirklich wehtut! Ich weiß nicht, wie alles weitergehen soll, wie ich alles schaffen soll, wo ich meine Kraft hernehmen soll.“

Tränen begannen, ihre Wangen herabzulaufen.

„Ich verstehe erst jetzt, dass du so viel mehr warst als mein bester Freund! Du warst mein kompletter Lebensinhalt, alles, worum sich meine Welt gedreht hat, mein Ausgleich zu allem und jedem. Ich wollte nirgendwo anders hin, wenn es mir schlecht ging, und wusste, du bist immer da, hörst mir zu und schaffst es, mich aufzumuntern, in jeder noch so schwierigen Lebenslage.“

Von den Birken, die die Koppel säumten, regnete ein Schwall hellgelber Blätter auf Charly herab, doch sie bemerkte es noch nicht mal. Ruckartig stand sie auf. Sie konnte plötzlich den Anblick der Pferde nicht mehr ertragen, die auf der anderen Seite der Birkenallee friedlich im frühmorgendlichen Sonnenlicht grasten. Charly wandte sich ab und ging über die Koppel auf die backsteinernen Stallgebäude zu.

Dort angekommen, begann sie, mechanisch einen Spind voller Pferde- und Reitsachen auszuräumen und in einer großen Umzugskiste zu verstauen, die schon bereitstand: Schabracken in Türkis, Smaragdgrün, Royalblau, Weiß. Passende Bandagen und Gamaschen. Diverse Stirnriemen, zwei Trensen, eine Kandare. Dressurgerten, Sporen, Reithelm und vieles mehr. Alles, was ein Reiterleben so ausmachte, verschwand nach und nach in der großen Kiste. Dabei liefen Charly immer wieder stille Tränen über die Wangen.

Als alles eingepackt war, kam ein kräftiger Mann Anfang vierzig die Stallgasse herab.

„Alles drin?“

Charly nickte. „Fahr schon mal. Ich brauche hier noch ein bisschen.“

Ihr Vater legte seine Hand auf ihre Schulter. „Soll ich warten?“

„Nein, fahr. Echt. Ich komm schon irgendwie nach Hause.“

Theo Sommer nickte und nahm die Kiste hoch.

„Soll ich dir Mama schicken? Oder Jule?“

„Alles gut, Papa. Ich brauche nur noch ein bisschen Zeit für mich.“

Ihr Vater nickte. „Wie du willst, Kleines. Bis später dann.“

Als er den Stall verlassen hatte, wandte sich Charly einer leeren Pferdebox zu, die ein bisschen abseits, am Ende der Stallgasse, lag. Für einen Moment konnte sie sich nicht vom Fleck bewegen, doch dann zwang sie sich, hinüberzugehen und hineinzuschauen. Sie war sauber eingestreut, in einer Ecke lag ein Berg frisches Heu, als ob ihr Bewohner jeden Moment wiederkäme.

Charly lehnte ihren Kopf an die Gitterstäbe der Box. Alles in ihr war leer, so unendlich leer.

„Vorhin bei den Paddocks habe ich dich für einen Moment gesehen, wie du deinen Kopf hochreißt und laut wieherst, so wie du es immer getan hast, wenn ich um die Ecke kam. Doch im nächsten Moment war da wieder … nichts. Vier Wochen schon, es ist alles so unwirklich. Jeder Gedanke an dich zerreißt mir mein Herz. Wieder und wieder. Dein zärtliches Brummeln, mit dem du mich begrüßt hast, wenn ich in den Stall gekommen bin, wie du an meiner Wange geknibbelt hast oder wie ich deine Muskeln unter mir spüren konnte, wenn wir ohne Sattel galoppiert sind; dein Stolz, deine Schönheit, deine Stärke. Janko, du fehlst mir so, so sehr.“

Charly wurde von einem Schluchzen geschüttelt.

„Irgendwie dachte ich immer, dass wir füreinander bestimmt sind, du und ich. Das darf doch nicht so einfach vorbei sein!“

Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, starrte Charly eine Weile ins Leere. Dann schlich sich ein wehmütiges Lächeln auf ihr Gesicht.

„Weißt du noch, Großer, wie es angefangen hat mit uns beiden? Vor viereinhalb Jahren? Wie ich dich zuerst gar nicht beachten wollte, weil ich nur die schicke schwarze Stute im Kopf hatte? Aber du, du hast von Anfang an um mich gekämpft, weil du wusstest, dass wir beide zusammengehören …“

Pferd auf den zweiten Blick

Die 12-jährige Charly lümmelte im Wohnzimmer auf dem Sofa und las. Maggie, die schwarze Labradorhündin der Familie, hatte es sich auf dem Teppich davor bequem gemacht und schlief.

Gedankenverloren schob Charly ihre Füße unter Maggies warmen Bauch, während sie sich weiter in ihr Pferdebuch vertiefte. Plötzlich steckte ihre Mutter den Kopf zur Tür herein.

„Charly, willst du mitkommen zu Andrea?“

Maggie war blitzartig wach und begann, fröhlich zu bellen, als wollte sie sagen: Wenn ihr irgendetwas unternehmt, komme ich auf jeden Fall mit.

Charly hingegen schüttelte nur träge den Kopf, ohne von ihrem Buch aufzublicken.

„Echt nicht?“ Ihre ältere Schwester Jule war hinter der Mutter aufgetaucht und wippte ungeduldig mit dem Fuß.

„Nee“, brummelte Charly und las weiter.

„Wenn Charly hierbleibt, will ich auch hierbleiben“, tönte es aus einer Ecke des Raumes. War klar, dass Isa ihren Senf dazugeben musste. Charly schielte kurz zu ihrer 10-jährigen Schwester hinüber, die wie so oft irgendetwas am Computer daddelte.

Die Sommer-Mädchen hatten alle drei lange blonde Haare und waren zierlich gebaut, und wenn man ihre Mutter Susanne sah, wusste man, warum.

Diese ließ sich nun seufzend in einen Sessel sinken. „Ich versteh das nicht. Ihr seid alle drei so pferdebegeistert. Und jetzt habe ich bei der Rettungshundestaffel schon eine Kollegin, die euch eine Reitbeteiligung anbietet, und keiner will mit, um sich das Pferd auch nur anzusehen?“

„Das stimmt nicht, Mama“, protestierte Jule. „Ich freue mich schon total!“

„Und du, Charly?“, hakte Susanne Sommer erneut nach. „Charlotte?“

Genervt hob Charly den Blick von ihrem Buch. „Was?“

„Ich dachte, du träumst von einem eigenen Pflegepferd?“, beharrte ihre Mutter.

„Ich steh nun mal nicht auf Friesen, Mama“, gab Charly zurück.

„Friesen sind doch voll schön“, warf Jule ein. „Und der hier ist sogar ein Friesenhengst. Die sind so cool.“

„Andrea kennt Janko seit seiner Geburt, und sie sagt, dass er ein ganz besonderes Pferd ist“, ergänzte Susanne Sommer.

„Warum reitet sie ihn dann nicht selber?“, knurrte Charly und wandte sich wieder ihrem Buch zu.

„Sie hat eben noch ihr Dressurpferd. Das nimmt ganz schön viel Zeit in Anspruch.“

Bei dem Wort Dressurpferd saß Charly plötzlich kerzengrade auf dem Sofa.

„Dressurpferd? Davon hast du gar nichts gesagt. Was für eine Rasse? Welche Prüfungen geht sie?“

„Hannoveraner, glaube ich, aber meines Wissens nach sucht Andrea für Daisy keine Reitbeteiligung. Sie hat nur über Janko gesprochen“, erwiderte ihre Mutter.

„Los, komm mit, vielleicht lässt sie dich Daisy ja mal reiten“, stupste Jule ihre Schwester an.

„Wenn ihr alle geht, will ich aber auch mit“, meldete sich Isa wieder aus ihrer Computerecke, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

„Isa, was machst du da überhaupt die ganze Zeit?“, wandte sich Susanne Sommer an ihre jüngste Tochter.

„Pferdevideos auf YouTube anschauen.“ Isa blinzelte über den Bildschirmrand und wandte sich mit einem flehenden Blick an ihre großen Schwestern.

„Wenn ihr reitet, darf ich euch dann filmen?“

Jule verdrehte die Augen. „Setz dich lieber selbst aufs Pferd.“

„Los, Mädchen, ihr kommt jetzt alle mit“, rief Susanne Sommer energisch aus. Und zu Labrador Maggie gewandt: „Und du bleibst hier!“

Der Privatstall, in dem neben Janko und Daisy noch vier andere Pferde standen, war eine gute halbe Stunde vom Haus der Sommers entfernt. Es gab einen Außenreitplatz und sogar eine kleine Halle. Als Charly aus dem Auto stieg, fiel ihr Blick direkt auf Janko, den seine Besitzerin Andrea am Putzplatz angebunden hatte.

Obwohl nicht sonderlich groß, war der Friesenhengst eine beeindruckende Erscheinung mit tiefschwarzem Fell, langem Stirnschopf, wallender Mähne und dichtem Schweif. Eine kleine weiße Flocke auf seiner Stirn gab ihm ein verspieltes Aussehen. Charly musste gegen ihren Willen zugeben, dass er ein bildhübscher Kerl war.

Beim Zuklappen der Autotüren spitzte er aufmerksam die Ohren.

„Ich habe dem Bub schon erzählt, dass er gleich Besuch bekommt“, rief Andrea ihnen zu und legte das Putzzeug aus der Hand, um sie zu begrüßen. Sie war eine sportliche Frau Mitte dreißig und ihr offenes Lächeln gefiel Charly auf Anhieb.

Jule stürzte gleich auf Janko zu, der für einen Hengst ungewöhnlich sanft und gut erzogen zu sein schien. Anstatt in üblicher Hengstmanier gleich an Jule herumzuknappen, beschnupperte er nur ruhig ihre Hand.

„Das ist also Janko“, stellte Andrea ihn vor. „Er ist ein Hengst, sechs Jahre alt, aber sehr umgänglich, wie man sieht, und sobald er aufgetrenst ist und einen Sattel drauf hat, ist er ein echtes Verlasspferd. Sonst würde ich ihn gar nicht als Reitbeteiligung anbieten.“

Auch Isa stand mittlerweile neben Jankos Kopf und kraulte ihn hinter den Ohren, was er sichtlich genoss.

„Den würde ich total gerne mal einflechten“, plapperte sie gleich drauflos. „Vorne würde ich ihm einen langen Zopf machen und an der Seite so einen Bauernzopf flechten und das Ende am Widerrist lang runterhängen lassen.“

Charly hielt sich etwas abseits.

Es war ihr irgendwie peinlich, dass ihre Schwestern sich gleich so auf Janko gestürzt hatten. Vielleicht mochte er es ja gar nicht, so belagert zu werden.

Andrea musterte die Mädchen.

„Wer von euch dreien interessiert sich denn für Janko?“

Bevor irgendwer antworten konnte, machte der Hengst einen langen Hals und begann, mit den Lippen zärtlich an Charlys Wange zu knibbeln.

Charly blieb regungslos stehen. Für einen Moment tanzten tausend Schmetterlinge in ihrem Bauch.

Andrea lachte auf. „Na, der Bub hat sich offenbar schon entschieden.“

„Ich möchte ihn gerne als Pflegepferd haben“, meldete sich Jule. „Ich finde Friesen superhübsch und würde ihn gerne auch mal reiten.“

„Klar“, nickte Andrea. „Wir können ihn zusammen putzen, dann sattle ich ihn und trense auf und wir gehen auf den Reitplatz.“

Charly konnte sich des Gefühls nicht erwehren, als würde der Hengst sie die ganze Zeit beobachten, als warte er auf irgendetwas.

„Mama hat erzählt, dass Sie noch ein anderes Pferd haben“, stieß sie schnell hervor.

„Du kannst mich ruhig duzen“, erwiderte Andrea. „Ja, meine Hannoveraner Stute Daisy.“

„Charly ist total dressurbegeistert und durfte im letzten Sommer das alte S-Pferd ihrer Reitlehrerin pflegen und reiten“, warf Susanne Sommer jetzt ein.

Charly hätte ihre Mutter knutschen können und sandte ihr einen dankbaren Blick.

„Na, wenn das so ist, dann kannst du dich ja mal auf Daisy setzen“, zwinkerte Andrea ihr zu. „Hol sie doch gleich mal zum Putzen aus der Box. Halfter und Strick hängen außen an der Tür.“

„Cool“, jubelte Charly und schielte doch noch einmal schnell zu Janko hinüber.

Blickte der Hengst sie einen Moment lang traurig an oder bildete sie sich das nur ein?

Charly schob den Gedanken beiseite und führte stattdessen Daisy aus ihrer Box. Als sie die elegante Rappstute mit etwas Abstand neben Janko anband, baute er sich nicht auf oder machte sonst irgendwelche Anstalten, „hengstig“ zu werden.

„Der ist ja wirklich todbrav“, kommentierte Susanne Sommer sichtlich beeindruckt.

Charlys Mutter war früher selbst eine begeisterte Reiterin gewesen, und ihr Vater sagte immer, dass alle seine Mädchen das Pferde-Gen direkt von ihrer Mutter geerbt hätten.

Mit einem Lachen fügte Susanne Sommer nun hinzu: „Also, der könnte mir auch gefallen.“

„Friesen sind sehr freundlich und menschenbezogen“, kommentierte Andrea. „Klar, wenn eine rossige Stute kommt, kann Janko auch mal schnell hochfahren. Doch selbst da bekommt man ihn in der Regel gut wieder unter Kontrolle.“

„Darf ich ihn vielleicht auch mal reiten?“, meldete sich Isa.

„Erst ich“, warf Jule schnell ein.

Diesmal gab es keinen Zweifel: Janko blickte Charly direkt in die Augen, als wolle er sagen: Und was ist mit dir?

Für einen Moment bekam Charly eine Gänsehaut, dann wandte sie sich schnell Daisys Sattel zu.

Auf dem Reitplatz setzte sich Charly auf die hübsche Hannoveraner Stute und ließ sie erst mal am langen Zügel ganze Bahn gehen. Sie hatte einen taktsicheren, raumgreifenden Schritt und auf Charlys Mund schlich sich sofort ein kleines Lächeln.

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Janko an der Aufstiegshilfe nicht ruhig stehen bleiben wollte, sondern jedes Mal loswalzte, sobald Jule den Fuß in den Steigbügel setzte. Schließlich konnte diese sich schnell hochziehen und das Bein über den Sattel schwingen. Sobald ihre Schwester im Sattel saß, schaltete der Hengst drei Gänge runter und schlurfte bewegungsfaul über den Platz.

„Weck ihn auf!“, rief Andrea Jule zu. „Am Anfang muss man immer etwas arbeiten, damit er fleißig wird.“

Charly konzentrierte sich wieder auf Daisy und nahm die Zügel etwas auf, um einen Handwechsel zu reiten. Sofort reckte die Stute ihr Maul ans Gebiss und suchte die Anlehnung an Charlys Hand.

„Wow, die ist echt superfein“, rief sie Andrea begeistert zu.

Jule mühte sich inzwischen ab, damit Janko im Schritt mehr vorwärtsging.

„Trab ihn mal am langen Zügel an, da findet er leichter ins Vorwärts und in die Dehnung“, rief Andrea ihr zu.

Diese Gangart schien dem Hengst tatsächlich deutlich mehr zu liegen, und er fiel bereitwillig in einen ausdrucksstarken Trab mit hoher Knieaktion, wie sie für Friesen typisch war.

Wie will sie das denn sitzen?, schoss es Charly durch den Kopf.

Aber auf dem Gesicht ihrer Schwester erschien ein seliges Grinsen, als schwebe sie auf einer Wolke. Und wirklich dehnte der Hengst jetzt im Trab den Kopf mehr nach vorne und ans Gebiss heran.

Charly trabte mit Daisy ebenfalls an und begann, einfache Bahnfiguren zu reiten. Die Stute war wirklich hervorragend ausgebildet. Jede feinste Gewichts- und Schenkelhilfe von Charly nahm sie sofort an und setzte sie um.

„Ihr seht richtig harmonisch zusammen aus“, rief Andrea zu Charly herüber. „Reite mal ein paar Wechsel aus dem Zirkel und durch den Zirkel, um sie ein bisschen mehr in die Biegung zu bringen.“

Charly folgte Andreas Anweisung, und die Stute schnaubte ab und begann, auf dem Gebiss zu kauen.

„Sie fühlt sich wohl mit dir, das sieht man“, nickte Andrea, als sie das nächste Mal an ihr vorbeikamen. „Du hast eine schöne weiche Hand.“

Jule versuchte inzwischen, Janko auf der linken Hand anzugaloppieren, aber anstatt ihrer Hilfe zu folgen, fiel der Hengst nur in einen starken Mitteltrab, den zu sitzen Jule offenbar einiges kostete.

„Durchparieren“, trompetete Andrea. „Du darfst ihn nicht in den Galopp treiben, sonst gewöhnt er sich das an.“

Jule hatte mittlerweile vor lauter Anstrengung einen puterroten Kopf und versuchte in der nächsten Ecke erneut, den Hengst anzugaloppieren.

Diesmal sprang Janko mit einem Riesensatz an, allerdings nicht im erhofften Links-, sondern in einem holprigen Kreuzgalopp.

„Stopp, Stopp!“, rief Andrea. „Lass das mal mit dem Linksgalopp, Jule. Das müssen wir richtig üben, er ist ja noch lange nicht fertig ausgebildet. Rechts springt er besser an.“

Charly fing Jules Blick auf.

Schaute ihre große Schwester so angefressen, weil sie es auf der perfekt ausgebildeten Daisy viel einfacher hatte?

Beim Trockenreiten am Ende der Stunde gesellte sich Charly neben Jule und meinte versöhnlich: „Das musst du unbedingt mit ihm üben, an der Aufstiegshilfe still zu stehen. Wenn du willst, helfe ich dir dabei.“

„Wenn ich deine Hilfe brauche, dann sag ich das schon“, schnappte Jule.

Auf der Rückfahrt herrschte im Wagen eine ungewöhnliche Stille. Schließlich brach Susanne Sommer das Schweigen. „Dafür, dass gerade eben jede von euch ein Pflegepferd bekommen hat, ist die Stimmung aber reichlich gedämpft.“

Sie blickte über den Rückspiegel nach hinten. „Charly, du müsstest dich doch ganz besonders freuen, dass Andrea dich Daisy reiten lässt, obwohl sie sie zuerst gar nicht abgeben wollte.“

Charly nickte etwas beschämt. Ihre Mutter hatte recht. Es war eine Riesenchance, ein so gut ausgebildetes Pferd reiten zu dürfen. Andrea verstand offenbar eine ganze Menge von Pferden und sie konnte viel von ihr lernen. Und bald würde sie mit Daisy sicher schon erste Prüfungen gehen, wenn Andrea es erlaubte. Ein Herzenswunsch war in Erfüllung gegangen und trotzdem fühlte Charly sich irgendwie nicht so.

Sie blickte hinüber zu Jule, die neben ihr saß und aus dem Fenster schaute. Ihre große Schwester sah ebenfalls nicht so aus, als ob sie vor Glück platzen könnte. Hatte sie nicht immer davon geträumt, einen Friesenhengst zu reiten? Und nun hatte sie sogar einen als Pflegepferd!

Charly stupste Jule in die Seite.

„Bist du sauer?“

Jule brummelte: „Du kannst ja nichts dafür, dass Janko so anstrengend zu reiten ist. Hatte ich mir halt irgendwie anders vorgestellt.“

„Das wird schon“, entgegnete Charly lahm.

Sie hätte es an Jules Stelle eigentlich spannend gefunden, mit einem jungen Pferd zu arbeiten. Da war noch nichts geformt, nichts verdorben. Irgendwie ein weißes Blatt, das man ganz neu beschreiben durfte.

Charly atmete einmal tief durch. Sie hatte keine Lust mehr auf die miese Stimmung. Eigentlich war doch alles in bester Ordnung! „Morgen Pferdeshopping?“, wechselte sie das Thema.

Auf Jules Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. „Wollen wir zu Reitsport Franke fahren oder erst im Internet gucken?“

Erleichtert, dass zwischen ihnen wieder alles in Ordnung war, hakte Charly sich bei Jule ein.

„Franke natürlich. The real deal. Ich habe noch Geld von Weihnachten, das haue ich auf den Kopf. Ich hole Daisy ein komplettes Outfit in Rot: Schabracke, Bandagen, Stirnriemen. Und du?“

„Ich glaube, Blau steht Janko ziemlich gut“, meinte Jule. „Oder Grün.“

„Ach, dem Großen steht einfach alles“, gab Charly lächelnd zurück.

Isa blinzelte vom Vordersitz nach hinten zu ihren beiden Schwestern.

„Nehmt ihr mich mit? Ich könnte euch beim Shoppen filmen und dann hinterher Janko und Daisy, wenn sie alles drauf haben.“

Jule und Charly blickten sich verschwörerisch an.

Dann meinte Jule: „Also, kleine Schwester, wenn du dich gut benimmst und uns nach dem Putzen die Stallgasse kehrst, dann überlegen wir uns das mit dem Filmen.“

Seit ihrer ersten Begegnung hatte Charly es vermieden, mit Janko direkt Kontakt aufzunehmen, obwohl der Hengst ganz offensichtlich ihre Nähe suchte. Sie konnte gar nicht genau sagen, warum sie sich so reserviert verhielt. Vielleicht, weil er das Pflegepferd ihrer Schwester war? Und weil sie in ihrem tiefsten Innersten fühlte, dass es zwischen Janko und ihr eine Verbindung gab, die ihr fast ein bisschen unheimlich war. Seit Andrea ihnen ihre beiden Pferde anvertraut hatte, fuhren Charly und Jule dreimal die Woche mit dem Bus zum Stall, wo sie Daisy und Janko putzen und unter Andreas wachsamem Auge reiten durften. Nach dem Reiten ließen sie die Pferde oft noch in der Halle frei laufen, damit sie sich wälzen konnten. Die Mädchen standen währenddessen an der Bande und beobachteten ihre beiden Schützlinge.

Charly genoss diese Momente, in denen die Konzentration von ihr abfiel, aber sie immer noch ganz bei den Pferden sein konnte.

An einem Nachmittag im dritten Monat ihres Trainings klopfte sie plötzlich hektisch ihre Taschen ab.

„Mist, ich habe einen Reithandschuh verloren“, murmelte sie und ließ den Blick über den Boden schweifen.

„Der muss doch irgendwo liegen. Schau einfach mal in der Halle“, gab Jule zurück.

Charly begann, die Halle systematisch nach dem Handschuh abzugehen.

Janko hob sofort den Kopf. Der Hengst hatte sich schon gewälzt und beobachtete Charly nun interessiert. Dann setzte er sich langsam in Bewegung und folgte ihr.

Isa lachte laut auf.

„Charly, du wirst gerade beschattet.“

Doch Charly hatte den Hengst schon hinter sich gespürt. Einem Impuls folgend, schlug sie einen Haken und begann, in die entgegengesetzte Richtung zu rennen.

Janko nahm sofort Tempo auf und galoppierte hinter ihr her.

Wieder wechselte Charly abrupt die Richtung und rannte los. Auch der Hengst drehte auf der Stelle um und hatte sie bald eingeholt. Er schien das alles für ein lustiges Spiel zu halten.

Als Charly nach ein paar weiteren Kehrtwendungen komplett außer Atem war, stoppte sie mitten im Lauf ab und drehte sie sich zu ihrem Verfolger um.

Sofort stand auch Janko still und funkelte sie übermütig an, als wolle er sagen: Und jetzt? Wie geht’s weiter?

Charly spürte ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch. Schnellen Schrittes ging sie plötzlich auf Janko zu. Der Hengst wich im Eiltempo rückwärts. Es bereitete ihm offenbar überhaupt kein Problem, vom Beweger in die Rolle des Bewegten zu schlüpfen.

Charly sprang nun ohne Vorwarnung zur Seite, als wolle sie Jankos Flanke angreifen. Sofort hüpfte der Hengst mit den Vorderbeinen herum, um sie mit seinem Hals und Kopf zu blockieren. Gut pariert!

Schon warf Charly sich auf seine andere Flanke zu und wieder reagierte Janko blitzschnell und blockierte sie auch da.

In diesem Spiel waren sie einander vollkommen ebenbürtig.

Charly atmete tief aus.

Sofort senkte auch Janko seinen Kopf, schnaubte ab und verharrte reglos. Für einen Moment schien es, als sei die Zeit stehen geblieben.

Irgendwann nahm Charly wieder die Reithalle wahr und ihre Schwestern, die dem ausgelassenen Spiel mit Janko verblüfft zugeschaut hatten.

Charly näherte sich Janko, strich ihm über den Hals und flüsterte: „Danke für dein Vertrauen.“

Dann verließ sie schnellen Schrittes die Halle.

Daisy war bis Klasse M ausgebildet und beherrschte alle höheren Dressurlektionen, sodass Charly auf ihr bald schon versammelten Trab und Galopp, erste fliegende Galoppwechsel und Trabtraversalen reiten konnte. Reiterlich ging es mit ihr in Riesenschritten voran, das konnte sie auch auf den Videos erkennen, die Isa regelmäßig zusammenschnitt.

„Das macht Daisy alles allein. Ich muss einfach nur draufsitzen, ihr die richtigen Hilfen geben und sie nicht stören“, meinte Charly zu Jule, als sie eines Tages in der Stallgasse gemeinsam die Pferde putzten.

Irgendwie hatte Charly das Gefühl, als müsse sie sich dafür entschuldigen, dass es mit Daisy so glatt lief, während Jule immer noch damit kämpfte, Janko links ordentlich angaloppieren zu lassen und einen fleißigen Schritt hinzubekommen. Oder war es etwas anderes, das an ihr nagte?

Ihre große Schwester putzte schweigend weiter.

„Um ehrlich zu sein, ist es mit Daisy fast ein bisschen langweilig“, platzte Charly plötzlich heraus. „Sie läuft vorhersehbar wie ein Uhrwerk.“

Jule riss die Augen auf. „Echt?“

Dann fügte sie leise hinzu: „Und ich beneide dich manchmal insgeheim, dass du ein Pferd reiten darfst, das so gut läuft.“

Charly fing Jankos Blick auf, der ihr Gespräch scheinbar aufmerksam verfolgte.

Sie gab sich einen Ruck.

„Also mich würde das echt reizen, dass bei Janko noch so viel zu tun ist. Ich hätte total Lust, mit ihm zu arbeiten.“

Jetzt war es raus. Einen Moment konnte sie selbst nicht glauben, dass sie das gerade gesagt hatte.

Die beiden Schwestern blickten sich ratlos an.

„Und jetzt?“, ergriff Jule schließlich das Wort.

Charly fasste all ihren Mut zusammen.

„Was, wenn wir Andrea fragen, ob wir einfach mal Pferde tauschen können? Wer sagt denn, dass du immer nur Janko reiten musst und ich immer nur Daisy?“

Sie spürte, wie ihr Herz bei dem Gedanken, auf Janko zu sitzen, einen Riesensprung machte.

„Und das wäre für dich okay? Ich meine, weil du doch immer nur Dressur reiten wolltest und so“, hakte Jule nach.

Charly winkte betont lässig ab.

„Ich fände das echt cool, mal zu tauschen.“

Sie fühlte sich innerlich plötzlich ganz leicht.

In diesem Moment begann Janko, mit dem Vorderhuf zu scharren.

Charly ging zu ihm hinüber und flüsterte: „Wollen wir zwei es miteinander versuchen?“

Der Hengst näherte sich mit den Nüstern ihrem Gesicht und blies ihr seinen warmen Atem ins Ohr.

Charly wurde von einem Glücksgefühl durchflutet. Es war, als sagte Janko ihr in diesem Moment: Mit dir will ich alles versuchen!

Nach der Reitstunde erzählten Charly und Jule Andrea von ihrem geplanten Pferdetausch. Doch zu ihrer Überraschung war sie von der Idee überhaupt nicht begeistert.

„So ein Hin- und Hergetausche ist Murks. Ihr müsst euch klar entscheiden. Daisy und Janko sind nicht nur zwei total unterschiedliche Pferde, sie haben auch ganz unterschiedliche Aufgaben. Auf einem hervorragend ausgebildeten Dressurpferd wie Daisy kannst du eine Menge lernen. Es macht dich zu einem vollkommeneren Reiter. Bei einem Pferd wie Janko geht es nicht nur ums Reiten, sondern um alles. Er macht dich zu einem vollkommeneren Menschen. Doch das muss man wirklich wollen.“

Charly versuchte, ihre aufkommende Enttäuschung wegzudrängen. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht mit dieser Reaktion von Andrea.

Konnte sie denn nicht sehen, dass Jule nicht wirklich zu Janko passte? Dass der Hengst und Charly eigentlich das bessere Paar waren? Und was sollte das überhaupt heißen, bei einem Pferd wie Janko ging es um alles? Und man musste das wirklich wollen?

Charly war verwirrt. Was wollte sie eigentlich? Sie hatte immer nur ein Ziel gehabt: eine super Dressurreiterin zu werden. Mit Daisy waren ihr die besten Bedingungen dafür quasi in den Schoß gelegt. Jede Woche machte sie Fortschritte, schon bald konnten sie erste Prüfungen gehen.

Mit Janko war es etwas ganz anderes – irgendwie ging ein Zauber von ihm aus. Ja, er hatte sie regelrecht verzaubert. Hatte ihre Ziele komplett auf den Kopf gestellt. So bildschön er auch war, von seinem Exterieur und Gangwerk her war er weit davon entfernt, das perfekte Dressurpferd zu sein. Barocke Dressur vielleicht, aber mit den großrahmigen Sportpferden, die sich auf den Turnieren tummelten, konnte er nicht mithalten.

Doch was war wirklich wichtig? Wenn sie Janko sah, ging ihr Herz auf. Sie wurde innerlich ganz leicht und froh. Er machte sie glücklich. Und zwar nicht durch irgendetwas, das er leistete, sondern durch seine reine Anwesenheit. Einfach dadurch, dass er war, wer er war.

Das Gespräch mit Andrea hatte eine Tür geöffnet, die sich nicht mehr schließen ließ. Und wenn Charly ehrlich war, wollte sie das auch gar nicht.

Jedes Mal, wenn sie in die Stallgasse kam, begrüßte sie der Hengst jetzt mit einem trompetenhellen Wiehern, als wolle er sagen: Wann kommst du endlich zu mir?

Charly konnte dann einfach nicht anders, als zuerst in seine Box zu gehen, um mit ihm zu schmusen, auch wenn sie Jule gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte.

In der Reitstunde beobachtete sie ihre Schwester und machte sich viele Gedanken darüber, wie man die Dinge lösen konnte, mit denen Janko noch Schwierigkeiten hatte – wie zum Beispiel das Angaloppieren auf der linken Hand.

„Stell doch einfach mal ein Cavaletti im Scheitelpunkt vom Zirkel auf, da hast du ihn schon schön nach innen gestellt und kannst ihn direkt nach dem Sprung angaloppieren. Das hilft ihm bestimmt“, meinte sie eines Tages zu ihrer großen Schwester.

Was hätte Charly darum geben, sich selbst auf den Hengst zu setzen, um es auszuprobieren. Aber nach Andreas strengen Worten traute sie sich nicht, noch mal zu fragen.

Dann kam der Sommer. Andrea musste beruflich auf eine Fortbildung und Jule und Charly durften die Pferde zum ersten Mal allein betreuen. Eine ganze Woche lang, mitten in den Sommerferien!

Schon frühmorgens brachen sie mit einer gut bestückten Kühlbox von zu Hause auf, ihre kleine Schwester Isa im Schlepptau. Sie war mittlerweile zu ihrer Haus- und Hof-Filmerin aufgestiegen. Allerdings stapelte sich das ganze Filmmaterial noch auf Isas Computer, wo sie wild daran herumschnitt. Charly hatte zwar schon einige Videos von ihrem Training angesehen, aber immer wenn sie Isa fragte, was sie denn daran noch bearbeiten würde, machte die ein riesiges Geheimnis daraus. Isas „großer Film“ war inzwischen fast schon ein Running Gag in der Familie Sommer.

Am Stall angekommen, verstauten sie als Erstes die Kühlbox und gaben Janko und Daisy ein paar mitgebrachte Äpfel und Möhren.

„Ich finde, wir lassen es bei dem tollen Wetter ganz entspannt angehen“, meinte Charly an ihrem ersten Morgen zu Jule und Isa. „Vielleicht einen gechillten Schrittausritt ohne Sattel, solange es noch nicht so heiß ist. Dann mit den Pferden auf der Koppel im Schatten abhängen, zwischendurch mal kalt abduschen und abends gemütlich füttern, oder?“

„Also ich würde gerne auch was am Boden machen. Ich habe ein paar Zirkuslektionen, die will ich mit Janko mal ausprobieren“, erwiderte Jule.

Charly fühlte bei Jules Worten einen Stich.

Bodenarbeit war so gar nicht Daisys Sache. Sie war dazu ausgebildet, perfekt im Dressurviereck zu laufen, aber wenn es darum ging, irgendetwas spielerisch auszuprobieren, wirkte sie merkwürdig dumpf und teilnahmslos. Janko war dagegen unglaublich gelehrig und klug, und irgendwie brodelte in Charly jedes Mal die Eifersucht, wenn sie sah, wie Jule ihn zum Spanischen Schritt oder dem Kompliment anleitete. Janko versprühte dabei so viel Neugier und Offenheit, dass Charlys Herz ihm noch mehr zuflog.

„Kannst du Janko nicht beibringen, auf Kommando zu flehmen, Jule?“, riss Isas Stimme Charly aus ihren Gedanken. „Das würde total süß aussehen in meinem Film!“

„Welcher Film, Isa?“, gab Jule zurück und zwinkerte Charly verschwörerisch zu. „Wird das noch was in diesem Leben?“

„Ich bin fast so weit. Ein paar Sachen brauche ich noch, damit er richtig gut wird. Also bring Janko jetzt gefälligst etwas Lustiges bei!“, beharrte Isa.

„Ich kann ja mit ihm was üben“, ergriff Charly schnell das Wort.

Bevor Jule antworten konnte, trat Charly vor Jankos Box und deutete mit dem Finger auf ihre Wange. Dazu sagte sie „Kussi“.

Sofort streckte der Hengst seinen Hals vor und knibbelte zärtlich an Charlys Wange, wie er es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte. Charly lachte auf und lobte ihn dann ausgiebig.

„Nein, wie süß, der küsst dich ja wirklich!“, rief Isa verzückt aus. „Mach noch mal, das muss ich aufnehmen.“

Charly deutete mit dem Finger auf ihre andere Wange und sagte „Kussi“ und wieder bekam sie von Janko mit den Lippen ein zärtliches Knibbeln.

„Hallo? Kannst du mal bitte aufhören, meinem Pflegepferd so einen Scheiß beizubringen?“, schaltete sich Jule in gespielter Entrüstung ein.

„Alles gut“, erwiderte Charly. „Kannst Daisy ja auch was zeigen. Und jetzt lasst uns die Pferde endlich auf die Weide bringen!“

Zärtlich klopfte sie noch einmal Jankos Hals und wandte sich dann der geduldig wartenden Daisy zu.

Als habe Janko es sich zu Herzen genommen, dass Isa für ihren Film noch ein paar lustige Szenen brauchte, entpuppte er sich in den nächsten Tagen als richtiger Clown. So gewöhnte er sich plötzlich an, seine Fliegendecke auf der anderen Seite herunterzuziehen, sobald Jule sie ihm für die Weide aufgelegt hatte. Das brachte Jule fast zur Verzweiflung.

„Gib zu, du hast ihm das beigebracht!“, schimpfte sie vor sich hin, während sie zum gefühlt hundertsten Mal auf Jankos andere Seite hechtete, um die Decke vor dem Runterfallen zu retten.

Charly und Isa wollten sich wegschmeißen vor Lachen.

„Ich schwöre, damit habe ich nichts zu tun“, prustete Charly zwischen zwei Lachanfällen hervor.

Ein anderes Mal hatte Jule Jankos Anbindestrick schon gelöst, musste aber noch die Fliegenmaske aus dem Spind holen. Also nahm Janko das herunterhängende Ende des Stricks ins Maul und marschierte schon mal allein Richtung Weide. Jules verblüfftes Gesicht, als sie mit der Maske aus der Stalltür trat und ihr Pferd nur noch von hinten sah, wurde von Isa natürlich sofort festgehalten.

Am vierten Tag ihres „Pferdesommers“ hatte Isa eine neue Idee.

„Ich würde die Pferde so wahnsinnig gerne im Wasser filmen! Ich glaube, hier in der Nähe ist ein kleiner See. Wie wär’s, wenn ihr dahin reitet und wir dann den Tag dort verbringen?“

Charly war von der Idee sofort begeistert, auch wenn Jule meinte, dass viele Pferde doch eigentlich ziemlich wasserscheu wären. Aber schließlich ließ sie sich überzeugen.

Nach einem halbstündigen gemütlichen Schrittausritt erreichten sie den kleinen Waldsee. Sie waren die einzigen Besucher. Isa war schon mit dem Fahrrad vor ihnen angekommen und hatte eine Decke und ihr ganzes Filmequipment am Seeufer ausgebreitet.

An dieser Seeseite war das Ufer schön flach und Charly ritt gleich zielgerichtet auf den Saum des Wassers zu. Sie saß ohne Sattel auf Daisy und hatte ihr nur eine alte Trense angezogen. Nach kurzem Zögern machte die schwarze Stute ein paar Schritte in den See hinein und fing an, mit den Vorderhufen im Wasser zu scharren und zu planschen, sodass Charly ganz nass gespritzt wurde. „Iiih, Daisy!“, quietschte Charly vergnügt. „Komm schon, Jule, das müsst ihr unbedingt auch ausprobieren!“

Aber Janko stand mit Jule auf dem Rücken wie angewurzelt am Ufer und starrte auf das Wasser, als wäre es etwas ungeheuer Gefährliches. Weder Daisys sichtliche Freude am kühlen Nass noch Jules hartnäckiges Treiben konnten ihn dazu bringen, auch nur einen Huf ins Wasser zu setzen.

„Steig doch ab und geh vor“, rief ihr Isa zu, während sie das ganze Schauspiel filmte, „dann kommt er bestimmt hinterher.“

Währenddessen ritt Charly mit der braven Daisy immer tiefer ins Wasser hinein, bis die Stute irgendwann den Boden unter den Füßen verlor und tatsächlich zu schwimmen begann.

Charly hielt sich an ihrem Hals fest und kreischte vor Freude.

„Sie schwimmt echt mit mir, wie cool ist das denn.“

Jule war derweil abgestiegen und versuchte immer verzweifelter, Janko ins Wasser zu locken. Sie selbst stand schon bis zur Hüfte im See, doch je nachdrücklicher sie den Hengst aufforderte, doch endlich einen Huf ins Wasser zu setzen, desto mehr versteifte er sich.

Charly wollte gerade den Mund öffnen, um den beiden erneut etwas zuzurufen, da stieß Janko ein herzzerreißendes Wiehern aus, stieg und riss Jule die Zügel aus der Hand. Dann drehte er sich um und galoppierte davon.

Das versetzte auch Daisy in Alarmbereitschaft. Sie wieherte schrill und versuchte ihrerseits, so schnell wie möglich aus dem Wasser zu kommen, um ihrem Kumpel zu folgen. Für eine Sekunde war Charly ganz steif vor Schreck, doch dann glitt sie geistesgegenwärtig von Daisys Rücken, sobald sie das Ufer erreicht hatten.

„Alles okay bei dir?“, stieß Charly hervor. Jule nickte verdattert. „Hier!“ Charly drückte ihrer Schwester die Zügel in die Hand. „Pass auf Daisy auf, ich gehe Janko suchen.“

So schnell sie konnte, lief Charly in die Richtung, in die der Hengst soeben davongaloppiert war, begleitet von Daisys lautem Wiehern, die ihren Freund rief.

Charlys Herz klopfte ihr bis zum Hals. Während sie sich durch den Wald vortastete, begann sie daher, leise mit ihm zu sprechen, sie ließ die Worte einfach laufen, ohne darüber nachzudenken, was sie eigentlich sagte: „Hey, mein Großer, es tut mir echt leid, dass du dich so vor dem Wasser erschreckt hast. Zeig mir doch, wo du bist, dann gehen wir zusammen zurück. Und wenn du willst, gehe ich auch mit dir ins Wasser. Du musst keine Angst haben, wenn ich bei dir bin. Ich verspreche dir, dass ich von jetzt an immer an deiner Seite sein werde und du an meiner.“

Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln einen großen schwarzen Schatten wahr und sah den Hengst mit bebenden Flanken auf einer Waldlichtung stehen.

Auch wenn er pumpte wie verrückt, waren seine Augen doch ruhig auf Charly gerichtet. Er war hundert Prozent bei ihr, als habe er alles gehört und verstanden, was sie auf dem Weg zu ihm gesagt hatte.

Charly ging auf ihn zu und strich ihm über den Kopf. „Hi, Großer!“, begrüßte sie ihn zärtlich.

Janko schnaubte ab, als wolle er sagen: Endlich bist du hier.

Ohne weiter darüber nachzudenken, kletterte Charly auf einen Holzstoß, und der Hengst stellte sich parallel dazu auf, sodass sie auf seinen Rücken gleiten konnte.