Holly Bourne

Spinster Girls

Was ist schon typisch Mädchen?

Roman

Aus dem Englischen von Nina Frey

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Holly Bourne

© Jonny Donovan

Holly Bourne, geboren 1986 in England, hat erfolgreich als Journalistin gearbeitet, bevor sie das Schreiben von Jugendbüchern zu ihrem Beruf machte. Mit den Wünschen und Sehnsüchten von Jugendlichen kennt sie sich gut aus, da sie auf einer Ratgeber-Webseite viele Jahre lang Beziehungstipps an junge Leute von 1625 Jahren gab. ›Was ist schon typisch Mädchen?‹ ist der zweite Band der ›Spinster Girls‹-Trilogie um Evie, Amber und Lottie.

 

Nina Frey, geboren in Heidelberg, studierte Anglistik und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitete lange im Kunsthandel in Hamburg, London und Berlin. Heute lebt sie als freie Übersetzerin in Wien.

Über das Buch

ALLES, WAS LOTTIE WILL, IST DIE WELT ZU VERÄNDERN.

 

Dafür startet sie ein Experiment: Einen Monat lang möchte sie mit ihren Freundinnen auf ihrem Vlog auf jede sexuell diskriminierende Situation aufmerksam machen, die ihnen im Alltag widerfährt. Ebenso wichtig ist Lottie aber das Vorstellungsgespräch an der Eliteuni Cambridge, auf das sie sich schon seit Jahren vorbereitet. Und dann ist da auch noch Will, der sie tagtäglich auf die Palme bringt. Hat sie sich zu viel vorgenommen?

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH und Co. KG, München

© 2016 Holly Bourne

Titel der englischen Originalausgabe: ›What's A Girl Gotta Do?‹

2016 erschienen bei Usborne Publishing Ltd., London

© für die deutschsprachige Ausgabe:

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH und Co. KG, München

Umschlaggestaltung: dtv / Katharina Netolitzky, nach einer Idee von Usborne Publishing Ltd., London

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43480-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71801-1

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423434805







Für alle Mädchen,
die das Richtige tun statt das Einfache.

Der Knackpunkt

Eins

Dabei hatte ich noch nicht mal einen kurzen Rock an.

Bescheuerter Gedanke. Völlig bescheuerter Gedanke.

Aber hinterher, als ich vor Wut kochte und heulte, dachte ich an nichts anderes als daran: Ich hatte noch nicht mal einen kurzen Rock an.

Wenn ihr unbedingt wissen wollt, was ich anhatte, damit ihr beruhigt sein könnt, dass ich in dieser Angelegenheit wirklich das unschuldige Opfer war: eine ganz gewöhnliche Jeans. Und ein Oberteil mit Spitzenbesatz. ABER REGT EUCH AB – die erotische Spitze lag VÖLLIG VERBORGEN unter meinem Dufflecoat. Und da perverse Lkw-Fahrer keinen Röntgenblick haben – hier wäre Gelegenheit für ein kleines Dankgebet –, trug ich also nichts, nichts, was irgendwie hätte auslösen können, was an diesem Tag geschah.

Nämlich Folgendes …

Ich war spät dran für die Schule, aufgrund eines Grundsatzstreits mit meinen Eltern über »Meine Zukunft«. Das gehört bei uns zum Alltag. Sie sind völlig besessen von »Meiner Zukunft«, doch heute Morgen war die Debatte über »Meine Zukunft« besonders unschön gewesen. Aus Gründen, die sich keinem je erschließen werden, noch nicht mal mir, hatte der Streit darin gemündet, dass ich »Meditiert doch mal DARÜBER!« gebrüllt und mir in den Schritt gelangt hatte. Dann hatte ich ihnen die Tür vor den fassungslosen Nasen zugeknallt und war die Straße hinuntergerauscht. Den Tränen nahe.

Es war kalt und hell. Ein schöner Oktobertag, aber einer, wo der goldene Sonnenschein gegen die Temperaturen nichts ausrichten kann. Ich rannte schon beinahe, teils wegen meiner Verspätung, teils, weil ich so fror.

Der Lkw stand hinter der Ecke.

Zwei Bauarbeitertypen, die vorne drinsaßen, hatten mich gleich entdeckt. Sie starrten durch die Windschutzscheibe. In einer Art, dass ich sofort einen Knoten im Magen hatte.

Einen Knoten der weiblichen Intuition.

Einen »Gleich gibt’s Ärger«-Knoten.

Nein – scheiß drauf. Das war keine weibliche Intuition. Ich bin ja keine Hellseherin – ich bin nur einfach extrem erfahren, was sexuelle Belästigung angeht, wie eigentlich jedes Mädchen auf diesem Planeten, das es wagt, irgendwo zu Fuß hinzugehen.

Der Lkw parkte auf meiner Seite der verschlafenen Wohngebietsstraße – der einzigen Straßenseite mit Gehweg. Ich blieb kurz stehen und wog meine Möglichkeiten ab. Mir war mulmig, doch an dem Laster musste ich vorbei. Obwohl mir schon übel davon war, wie sie mich nur anguckten. Als sollte ich mich schämen …

Vielleicht täusche ich mich ja, dachte ich. Einer von ihnen war im Alter meines Vaters. Vielleicht schauten sie einfach nur ganz unschuldig durch ihre Windschutzscheibe. Vielleicht würde gar nichts passieren. Und weil ich schon so erledigt war und so allein und so aufgewühlt wegen allem, was ich euch eben erzählt habe, ging ich nicht ganz so selbstbewusst an ihnen vorbei, wie ich es sonst wahrscheinlich getan hätte.

Instinktiv wandte ich den Blick ab, tat, als starrten sie mich gar nicht an, zog mir den Mantel fester über meine ohnehin völlig verborgene Brust und ging noch schneller auf sie zu.

Jetzt hatte ich den Lastwagen erreicht. Immer noch konnte ich ihre Blicke auf mir spüren. Aber ich war schon fast da. Und »fast da« bedeutete, fast an ihnen vorbei … und alles wäre gut … mir ginge es gut … und außerdem war ja helllichter Tag, und zur Not konnte ich ja schreien, doch ich würde natürlich nicht schreien müssen, weil ja alles okay sein würde und ich mir diese Bauarbeiter schlimmer ausgemalt hatte, als sie eigentlich waren, und … und … und …

… und dann ging die Wagentür auf.

Ich blieb sofort stehen. Die offene Tür blockierte den Gehweg. Der Jüngere stieg langsam aus, und ich sah auf, mit wildem Blick und voller Angst. Denn warum hatten die ihre Tür geöffnet? Ich hörte ein Knallen und zuckte zusammen. Das war die andere Tür. Weil der andere Kerl auch ausgestiegen war. Mein Kopf schnellte in seine Richtung und ich sah, wie er um die Motorhaube herumging, mir immer näher rückte. Er war kahl, alt, ganz rot im Gesicht, als tränke er schon seit Jahren einen über den Durst.

Jetzt hatte ich einen Mann vor und einen hinter mir. Ich war gefangen. Kaum Platz, ihnen auszuweichen. Der Typ, der mir von vorne den Weg verstellte, sprach als Erster.

»Siehst du aber sexy aus mit diesem roten Lippenstift«, sagte er mit einer so lüsternen Stimme, dass es mich schauderte.

Ach ja. Hab ich vergessen zu erzählen. Ich trug roten Lippenstift. BIN ICH JETZT SCHULD?

Der Mann beugte sich vor, genau über mein Gesicht, sodass ich gar nicht anders konnte, als ihn anzuschauen. Er war jünger als der andere – mit Flaum statt richtigem Gesichtshaar.

Der Kahle hinter mir stimmte ein.

»Du hast dich doch extra für uns so hübsch gemacht, oder? Gefällt uns. Gefällt uns sogar sehr gut!«

Mein Herz schlug so schnell, dass ich glaubte, gleich explodiert es. Mein Atem ging hektisch. Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann in seinem Garten und stutzte an irgendwas herum. Ich sah ihn verzweifelt an, bat stumm um Hilfe. Doch er schien nichts bemerken zu wollen.

»Stimmt was nicht, Süße? Warum sagst du denn gar nichts?«

»Ich …«, stammelte ich. »Ich …«

»Schüchtern, was? Aber schüchterne Mädchen tragen doch nicht so einen Lippenstift.«

Der Jüngere trat jetzt nach vorne, kam mir viel zu nahe. Sein Atem stank süßlich, nach Red Bull oder so. Panisch sah ich mich um, schätzte ab, wie viel Platz neben ihm blieb. Rechnete aus, ob ich da durchpassen würde.

Ich sah meine Chance. Ich nutzte sie.

Ich preschte an ihm vorbei, schubste seine Arme hoch und rannte die Straße hinunter, so schnell ich konnte. Meine Füße trommelten auf den Asphalt, mein Herz drehte durch. Würden sie mir hinterherrennen? Es war doch helllichter Tag.

»ERST AUFGEILEN, DANN ABHAUEN!«, brüllte mir einer hinterher.

Die Beleidigungen prallten an meinem Rücken ab. Ich lief und lief – ganz sicher, dass sie mir folgen würden. Ganz sicher, dass es noch nicht zu Ende war.

»KOMM SCHON, SÜSSE, WAR DOCH NUR NETT GEMEINT

»SCHEISSSCHLAMPE

Die kalte Luft pfiff mir in die Lunge, schnitt mir in den Hals. Mein Magen wollte sich umstülpen. Ich schlotterte so sehr, dass ich kaum geradeaus rennen konnte.

Hinter mir hörte ich keine Schritte. Am Ende der Straße wagte ich es, mich umzusehen.

Die zwei Männer lehnten an ihrem Laster. Sie lachten. Hatten sich vornübergebeugt und die Hände auf die Knie gestützt, schütteten sich aus wie im Kindergarten.

Und während ich krampfhaft die Tränen zurückhielt, die mir im Hals steckten, dachte ich:

Dabei hab ich doch noch nicht mal einen kurzen Rock an.

Zwei

Der Tag entwickelte sich zunehmend zum Debakel.

Ich kam gerade noch rechtzeitig zum Unterricht und winselte mich durch Politik- und Wirtschaftskunde hindurch, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Mit zitterndem Kuli schrieb ich sinnloses Zeug mit. Immer wieder spulte ich die Szene in meinem Kopf ab. Wie sie mich angesehen hatten. Wie mir zumute gewesen war, als sie mir den Weg verstellt hatten.

Während unser Lehrer vorne über die Schwächen unseres Mehrheitswahlrechts schwadronierte, war ich meinen Gefühlen ausgeliefert. Einer wahren Flut von Gefühlen.

Scham – als wäre ich daran schuld. Weil ich den blöden Lippenstift getragen hatte, nur weil der zu meiner Tasche passte und mich bis heute Morgen immer glücklich gemacht hatte.

Verlegenheit – dass es mich so mitnahm. Dabei fühlte es sich wirklich so an, als hätten die beiden Bauarbeiter mir die Kleider vom Leib gerissen und mich vor der ganzen Nachbarschaft bloßgestellt.

Angst – dass sie auf dem Heimweg immer noch da sein könnten …

Und rasende, glühende Wut. Auf die zwei Typen. Wieso glaubten die, so mit mir umgehen zu können? Warum hatte der Mann im Garten mir nicht geholfen? Aber auch Wut auf mich. Lottie, warum zum Teufel hast du dich nicht gewehrt? Was bist du nur für ein Schwächling!

Nach der Stunde ging ich direkt in die Schulkantine zu meiner Philosophielerngruppe. Ein paar von uns standen schon wie gewohnt in der Pommesschlange. Mittlerweile schlotterte ich nicht mehr, doch meine Gefühle, die waren noch alle da.

»Hey, Lottie!« Jane gesellte sich zu mir in die Schlange, einen Milchshake auf ihrem Tablett. »Alles okay? Du siehst irgendwie neben der Kappe aus.«

Ich erwiderte ihr Lächeln. Jane war eine Uraltfreundin von Evie, einer meiner beiden besten Freundinnen. Auch in unserem Abschlussjahr waren Jane und ich wieder im selben Philosophiekurs gelandet, und nach einigen gescheiterten Anläufen in Sachen Freundschaft mochte ich sie langsam richtig gern.

»Alles okay«, log ich unwillkürlich. »Bereit für die unendlichen Freuden der Pflichtenethik?«

Jane seufzte und fuhr sich über die frisch erpinkten Strähnen.

»Ich bin bereit dafür, sie mir von dir erklären zu lassen.«

Ich nickte Mike und ein paar anderen zu, die sich hinter uns angestellt hatten. Im Schneckentempo näherten wir uns der Essensausgabe, und auf Zehenspitzen beäugte ich den Zustand der Pommes.

»Würg«, sagte ich laut, »wir nähern uns dem Bodensatz. Ich hasse Bodensatz-Pommes – immer pappig und kalt.«

»Vielleicht bestellt sie ja noch jemand vor dir in der Schlange …«, sagte Jane.

»Da soll ich jetzt drauf hoffen?«

Natürlich wollte niemand vor mir Pommes frites. Stirnrunzelnd beäugte ich die lausigen Überbleibsel – einige verbrannt, die anderen verbogen und durchweicht. Dann drehte ich mich zu den Lerngruppenjungs hinter mir um. »Wenn ich die jetzt bestelle, ist das höchst utilitaristisch von mir«, witzelte ich. »Ich opfere mich und nehme den Bodensatz mit den alten Pommes, damit ihr dann die neuen, guten kriegt.«

Aber keiner hörte mir zu, und das ging mir auf den Geist, denn jetzt hatte ich nicht nur den Teller voller Dreckspommes, sondern auch kein Publikum für meinen erstklassigen Philosophiewitz.

Während Mike und die anderen sich Pommes aus dem herrlich frischen Gitterkorb bestellten, der gerade hereingetragen wurde, ging ich zu dem Ecktisch, den wir immer belegten. Es war stickig und roch nach Eiersalat. Die Sonne, die durch die riesigen Fenster schien, machte mein Gesicht ganz heiß und den Eiergeruch noch schlimmer. Schließlich hatten wir uns alle um den Tisch versammelt, insgesamt zu siebt – ich, Jane, Janes Freund Joel und vier weitere Jungs. Heute leitete Mike die Gruppe. Ich hatte ihn geküsst, als ich am Zeugnistag betrunken und völlig aus dem Häuschen gewesen war wegen meiner fünf Einsen, und er nahm mir immer noch übel, dass daraus nicht mehr geworden war.

Er schickte mir den obligatorischen verbitterten Blick über den Tisch und legte los.

»Also, Leute, ich hab mit Mr Henry gesprochen, und der hat gesagt, Deontologie und Utilitarismus kommen garantiert dran in der Prüfung …«

Ich blendete sein Gerede aus, griff mir lustlos eine kalte Pommes und verfing mich wieder in meinen Gedanken an den Morgen. War das ein ÜBLER Streit mit meinen Eltern gewesen! Dad hatte immer noch nicht verdaut, dass ich zu Beginn des Schuljahrs mein fünftes Prüfungsfach gekippt hatte. Obwohl ich für Cambridge nur vier brauchte. Und heute früh hatte er schon wieder versucht, mich umzustimmen – obwohl wir jetzt schon einen Monat Unterricht hatten. Mum war angespannt zwischen uns hin und her gewuselt, wie immer. Hatte versucht, den Frieden zu wahren, und war wie üblich daran gescheitert.

»Du musst deine Prioritäten im Auge behalten«, hatte Dad gesagt. Immer war es Dad, der damit anfing. »Diese Chance kommt nie wieder, Charlotte.«

Mum mischte sich ein. »Ich weiß, wie wichtig dir dieser »Spinster Girls«-Club ist, Liebling. Und wir sind ja so stolz auf dich … aber meinst du nicht, dass diese Zeit besser in ein zusätzliches Prüfungsfach investiert wäre, nur zur Sicherheit?«

Evie, meine andere beste Freundin Amber und ich hatten letztes Jahr eine feministische Diskussionsgruppe gegründet, die Spinster Girls, und waren damit voll durchgestartet. Die Schule hatte sogar eine richtige Arbeitsgruppe draus gemacht, die FemAG, die wir gemeinsam leiteten. Ich war selig, aber Dad war nicht ganz so erfreut.

»Schau mal, Charlotte«, fügte Dad hinzu, »hast du gar keine Bedenken, was für einen Eindruck diese Feminismusgruppe in deinem Lebenslauf macht? Ich meine, das ist ja nicht gerade eine … klassische außerschulische Aktivität. Hat deine Schule keinen Debattierclub oder so was? Etwas, was besser nach Cambridge …«

Was für ein Heuchler er war! Ständig nur »lasst uns die Welt retten und alle Menschen sind gleich«, doch wehe, es ging um seine ehrgeizigen Pläne für seine einzige Tochter. Dann ließ ihn seine Besessenheit vom Thema »Prestige und Bedeutung der Bildung« die Doppelmoral ausfahren.

Und Mum, na ja … von der kam entweder nur Mantragesinge oder sie versuchte, mit irgendwelchen pflichtschuldigen Phrasen die Gemüter zu kühlen.

Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich wieder auf Mikes Laberstimme.

»Okay, also, so, wie ich die Sache sehe, geht’s bei Utilitarismus um das übergeordnete Wohl …«

Was war der Typ beschränkt! Das alles hatten wir schon an Tag eins dieser Einheit durchgekaut. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn ich die Lerngruppe nicht leiten durfte, doch wir wechselten uns nun mal ab. Warum hatte ich ihn noch gleich geküsst?

»Also, wenn wir diese Theorie des Utilitarismus mal anwenden auf …«

Laberdilaberdilaber … Mein Hirn stellte wieder auf Durchzug, und ich sah Jane zu, wie sie mit ihrem rosa Haar spielte.

Diese Bauarbeiter … wie die mich angeguckt hatten …

Den ganzen Morgen hatte ich mit meinen Eltern über Feminismus gestritten – nur, um dann zur Haustür hinauszuspazieren und direkt in einen schreiend offensichtlichen Grund hineinzustolpern, weshalb wir Feminismus brauchten.

Warum hatte ich die Typen nicht angebrüllt?

Wie die mich angesehen hatten …

Mich schauderte. So auffallend, dass Jane mir ein »Ich find’s auch sterbensöde«-Lächeln zuschickte.

Ich lächelte schmal zurück und wandte meine Aufmerksamkeit einer Schülergruppe an der uralten Schuljukebox zu. Mit großem Getue warfen sie eine Münze ein.

Kurz herrschte Stille, dann dröhnte der erste Song aus den Mensalautsprechern. Kichern perlte von Tisch zu Tisch.

Sie hatten Marvin Gayes Let’s Get It On gewählt. Gerade wurde es zum schulweiten Witz, immer wieder dieses Lied aus der Jukebox zu spielen.

»Und, tja, wenn wir uns die Prüfungsfragen vom letzten Jahr anschauen …«, kämpfte Mike gegen Marvins Gejaule an, doch er drang nicht durch. Joel hatte sich bereits Jane zugewandt und brachte ihr ein theatralisches Ständchen dar. Er deklamierte den Text ebenso stumm wie melodramatisch mit, sein Pferdeschwanz wippte dazu im Takt, und Jane wackelte mit den Schultern … sogar mein Füller klopfte mit. Ich ließ mich entspannt in die Schmalzmusik sinken, bis Mike laut sagte …

»Also, am leichtesten begreift man den Utilitarismus, wenn man an die Pommes in unserer Schulmensa denkt.«

Mein Füller fiel zu Boden, und als ich mit ihm wieder auftauchte, wies Mike gerade auf meinen Teller.

»Also, Lottie hat sich geopfert und den pappigen Pommesrest genommen, weil sie gewusst hat, dass all die, die nach ihr kommen, dann die neuen leckeren Pommes kriegen. Perfektes Beispiel für Utilitarismus, was?« Er grinste in die Runde und lud alle ein, beifällig zu lachen – was sie auch taten.

Alle nickten, während ich den Kopf schüttelte, zu verdattert, um auch nur ein Wort herauszubekommen.

»Super Erklärung, Mike.«

»Ja, hätte nie gedacht, dass es so simpel ist. Aber stimmt, du hast recht.«

»Tut mir leid mit deinen Pommes, Lottie.« Joel salutierte, als wär ich ein Soldat. Dann lachten wieder alle los.

Ich blickte zu Jane, wollte sehen, ob es ihr auch aufgefallen war. Sie zuckte die Schultern und verdrehte die Augen in Mikes Richtung, bestätigte meine Fassungslosigkeit.

Ich lachte nicht. Ich nickte nicht. Ich stimmte den anderen nicht zu.

Ich konnte es nicht glauben.

Das war meine Erklärung. Und mein Witz!

Und Mike gab ihn schamlos als seinen aus.

Und was noch schlimmer war: Alle hörten ihm zu.

Weil Mike es gesagt hatte.

Nicht ich …

Mike.

Und der einzig ersichtliche Grund, weshalb der Spruch jetzt besser sein sollte als vorhin aus meinem Mund, bestand darin … dass Mike ein Kerl war.

Drei

Als am Ende des Tages die Schulglocke schrillte, war ich völlig in Rage. In der Mittagspause hatte ich gearbeitet, um mich durch all den zusätzlichen Stoff zu lesen, den ich für meine Eins plus in Literatur brauchte. Ohne Ablenkung ließ ich den ganzen Dreck dieses Morgens in mir gären, bis er mich bis in die letzte Pore durchsetzt hatte.

Ich fühlte mich wie abgestorben und zugleich rasend vor Wut und hilflos, falls das psychologisch überhaupt möglich war.

Warum hatten sie MEINER Erklärung erst zugehört, als Mike sie gebracht hatte?

Warum hatte ich mich nicht gegen diese widerlichen Bauarbeiter gewehrt?

Warum passierte solches Zeug immer, immer wieder?

Ich wollte nur noch nach Hause und den Tag vergessen, aber wir hatten noch ein FemAG-Treffen. Diesmal wurde es von Evie geleitet, und ich wusste, wie nervös es sie machte, wenn sie vor Publikum sprechen sollte. Sie brauchte mich zur moralischen Unterstützung. Also räumte ich meine Bücher zusammen und machte mich auf zum Versammlungsraum im Kunst- und Fotografietrakt. Eine weitere Tut-uns-leid!-Nachricht meiner Mutter ließ mein Handy aufbrummen. Sie ertrug es einfach nicht, wenn wir stritten. »Negative Energie« irgendwelcher Art passte einfach nicht zu ihrem »Ethos«.

Ihre Worte … nicht meine. Definitiv nicht.

Leider hatte ich keinen Schimmer, um welches Thema es bei der heutigen Versammlung ging. Ich hatte noch nicht mal einen Blick auf die Tagesordnung werfen können, die Evie gestern Abend gemailt hatte. Der Erfolg der FemAG hatte uns völlig kalt erwischt. Letzten Sommer hatten wir uns dafür starkgemacht, dass ein gewaltverherrlichendes Lied von der Schuljukebox entfernt wurde. Wir hatten es geschafft – was toll war. Die halbe Schule hasste uns dafür – was nicht ganz so toll war. Aber danach hatten eine Menge Mädchen angefragt, ob sie mitmachen könnten, und jetzt hatten wir über zwanzig Mitglieder. Dieses Schuljahr hatten wir erst zwei Versammlungen gehabt, aber bei jeder waren mehr Mädchen aufgetaucht. Und Evie, Amber und ich hatten noch unsere eigenen Spinster-Treffen außerhalb der Schule, damit wir auch Zeit zu dritt hatten.

Wenn man mit über zwanzig Leuten seine Käsecracker teilen muss, kommt man leicht zu kurz.

 

Ich schob mich durch die schwere Doppeltür, mitten hinein ins Stimmengewirr des Versammlungsraums. Ein paar Mädels winkten mir zur Begrüßung zu, als ich nach vorne ging, und ich winkte matt zurück. Immer noch wirbelten in mir die Emotionen, als hätte sich in meinen Eingeweiden ein Strudel gebildet. Das Schlimmste war, dass sich der heutige Tag so wääh anfühlte. Obwohl, war das, was passiert war, überhaupt so besonders?

Evie war ein einziges Nervenbündel und ihr sonst so wohlgekämmtes blondes Haar völlig zerzaust vom Darin-Herumwühlen. Amber hatte den Arm um sie gelegt und redete beruhigend auf sie ein.

Ich setzte ein Lächeln auf. Wollte sie nicht beunruhigen. Nicht in Evies großem Moment. Ich ließ mich auf den Stuhl neben ihnen fallen. »Was macht der Blutdruck?«, fragte ich.

Evie schnappte übertrieben nach Luft. »Warum sind wir noch gleich mit diesem Club an die Öffentlichkeit gegangen?«

Amber zog sie fester an sich. »Weil es sich so gut bei unseren Unibewerbungen macht?«, witzelte sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Fragt mal meinen Dad.«

Beide machten mitfühlende »Oh, du Arme«-Gesichter – sie hatten mich schon durch zahlreiche Vatergefechte zu diesem Thema gecoacht.

»Und außerdem ist er öffentlich, weil wir ja die Welt retten wollen. Und das können wir nicht, wenn wir uns immer nur in Evies unnatürlich ordentlichem Zimmer verschanzen, Käsetoast futtern und einander was vorpredigen.«

»Komm mir nicht mit Vernunft!« Evies Augen jagten über die Menschenmenge. »Du weißt, dass das bei mir nicht klappt.«

Ich lächelte betrübt. Ich wusste Bescheid … Evie hatte eine Zwangsstörung – obwohl sie sich momentan ziemlich unter Kontrolle hatte. Im vergangenen Jahr war es richtig schlimm gewesen, bevor Amber und ich überhaupt davon wussten. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, sie überhaupt gebeten zu haben, die Sitzung zu leiten. Manchmal war es nicht leicht, Evies Freundin zu sein. Es verlangte ein feines Gespür, nichts von ihr zu fordern, was sie erschrecken und in Selbstzweifel stürzen könnte, und sie doch gelegentlich anzustoßen, über sich hinauszuwachsen.

Ich schlang meinen Arm um sie, eine Dreierumarmung. »Du kriegst das hin. Aber das weißt du selbst, oder?«

Sie lächelte. »Ich kann’s nur noch nicht glauben, dass du mal jemand anderen zu Wort kommen lässt.«

»He!«, sagte ich, während sie und Amber in Gelächter ausbrachen. »So schlimm bin ich nun auch nicht … na ja … okay, vielleicht doch.« Ich stand in dem Ruf, ziemlich … nun ja … gesprächig zu sein. Obwohl, heute wollte ich eigentlich nur still in der Ecke sitzen und vor mich hin grübeln. Meine Laune war im Laufe des Tages immer mehr den Bach runtergegangen.

Die letzten Mädchen waren hereingehuscht, und jetzt senkte sich erwartungsvolle Stille über den Raum. Ich zog einen Block und einen Stift hervor und begann, an dessen Ende zu saugen.

Evie ordnete ihre Blätter und stand auf, wappnete sich. Amber rückte zu mir. »Glaubst du, sie schafft das?«, flüsterte sie. »Ich hab gesehen, wie sie sich vorher die Hände gewaschen hat …«

Der Schlechte-Gewissen-Knoten in meinem Magen wuchs zu einem Doppelknoten.

»Sie kriegt das hin«, sagte ich, nicht völlig überzeugt. »Manchmal macht sie das eben noch mit dem Händewaschen. Solange es nicht ständig passiert, ist das schon okay.«

»Hast du ihre Tagesordnung gelesen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht die Zeit gehabt.«

Amber rutschte noch näher – eine rote Locke kitzelte mich an der Wange.

»Wo wir gerade von okay sprechen, bist du okay?«, fragte sie. »Wir haben dich beim Essen vermisst. Und, also, dich scheint irgendwas zu beschäftigen.«

Ich seufzte wieder und wollte gerade den Mund aufmachen, um es ihr zu erzählen – da hüstelte Evie, um die Sitzung zu eröffnen.

»Hallo, alle zusammen.« Ihre Stimme war ganz kieksig vor Aufregung. Sie hustete und fing noch mal an. »Hallo, ihr.«

Die Mädchen, die uns alle in Reihen gegenübersaßen, verstummten respektvoll.

»Danke, dass ihr gekommen seid.« Evies Hände zitterten, doch ihre Stimme wurde mit jedem Wort fester. »Also, bei unserer letzten Versammlung haben wir beschlossen, dass wir uns für etwas einsetzen wollen. Ihr habt alle ein paar Ideen gehabt, und ich dachte, wir könnten die heute durchgehen und uns vielleicht auf ein paar davon einigen und darüber abstimmen. Es gibt reichlich Themen, bei denen wir gefordert wären … Könnte vielleicht dahinten jemand das Licht dimmen?«

Irgendwer huschte zum Schalter und hüllte uns in Dunkelheit. Evie klickte auf einem Laptop herum, bis sich hinter ihr die große Leinwand erhellte.

»Bei Evie sitzt wieder jeder Handgriff«, flüsterte Amber mir zu. »Ich wette um zehn Ocken mit dir, dass sie gleich einen Spezialzeigestock zückt.«

Ich lächelte in die Dunkelheit. »Als ich das letzte Treffen organisiert habe, hat meine einzige Vorbereitung darin bestanden, mir vor dem Spiegel Eye of the Tiger vorzusingen«, flüsterte ich zurück.

»Jetzt stell dir mal vor, wir kombinieren den Zeigestock mit Eye of the Tiger. Das klingt nach einer Bombenstrategie, wie wir die Weltherrschaft an uns reißen können.«

Gerade als wir loslachen wollten, wies Evie auf die Leinwand hinter sich.

»Gut, Mädels, hier ist der erste Vorschlag. Eingereicht von Sonia.« Sonia, klein und mit unfassbar langen blonden Haaren, nickte lächelnd. »Es handelt sich um eine neue Aftershave-Werbung, von der Sonia meint, dass wir gegen sie protestieren sollten. Moment bitte …« Evie nestelte an der Maus herum und klickte auf Play. »Also, los geht’s.« Sie deutete auf die Leinwand, und zwar mit dem Griff ihres Regenschirms, der fast genauso gut war wie ein Zeigestock. Ich hätte gekichert, wenn das Video, auf das Evie wies, nicht so erschütternd gewesen wäre.

Zu wummernd-kantiger Musik kugelten ein Mädchen und ein Junge – beide irrsinnig gut aussehend – auf einem Bett herum, vor einer coolen Ziegelwand. Dann warf der Junge sich auf das Mädchen und hielt ihre Arme fest, um sie aggressiver zu küssen. Sie lachte, versuchte aber, ihn abzuwehren. Mein Herz ging schon schneller, und ich merkte, wie sich mir der Magen umdrehte. Das war nicht gut … das war überhaupt nicht gut. Dann griff sich der Junge in die Jeanstasche und zog ein Aftershave hervor, sprühte sich damit ein, und das Mädchen gab jeden Widerstand auf. Sie begann zu stöhnen und zu keuchen, während der Junge ihr den Hals küsste, und dann wurde alles schwarz.

Im Raum herrschte geplättetes Schweigen. Ein vereinzelter Huster betonte noch, wie sehr wir alle verdauen mussten, was wir da gerade gesehen hatten.

»Ähm, Sonia?«, fragte Evie. »Willst du mal aufstehen und erklären, weshalb wir dies zum Ausgangspunkt einer Kampagne wählen sollten?«

Sonia nickte, stand auf und schob sich ein paar Strähnen hinter die Ohren.

»Ja, also … ich hab das gestern Abend im Fernsehen gesehen und, tja, also, ich denke, wir sind uns alle einig, wie bedenklich das ist. Ich meine, im Grunde wird hier Gewalt beim Sex als etwas völlig Normales dargestellt. Eigentlich werden Missbrauch und Vergewaltigung in der Partnerschaft sogar romantisiert …«

Da sah ich Megan, ein neues Mitglied, leise aufstehen und praktisch aus dem Raum rennen. Ihr Gesicht war ganz rot und verzerrt, als versuchte sie krampfhaft, nicht in Tränen auszubrechen.

Schnell stand ich ebenfalls auf. Nicht allzu viele Leute schienen Megans Verschwinden mitbekommen zu haben, denn die meisten hörten Sonia zu.

»Ich meine, ihr wisst ja bestimmt alle, dass Mädchen statistisch gesehen häufiger von jemandem vergewaltigt werden, den sie kennen – also einem Freund oder einem Exfreund. Diese Werbung fördert das geradezu. Die Botschaft ist im Grunde: ›Kauft unser Aftershave, denn es hilft euch, eure Freundin zu missbrauchen – es wird ihr noch nicht mal was ausmachen! Es wird ihr gefallen, wenn ihr sie festhaltet.‹«

Doch, Evie hatte Megans Aufbruch bemerkt und nickte mir stumm zu, ihr hinterherzugehen. Also schob ich mich zum Flur durch und sah mich in beiden Richtungen nach ihr um.

Ich fand sie in der nächsten Mädchentoilette, wo sie sich die Hände wusch. Weinend.

»Ah, hallo, Lottie«, sagte sie, als sei gar nichts vorgefallen. Obwohl ihre Hände schlotterten und ihr die Tränen hinunterliefen. Sie richtete sich auf und wischte sich hastig die Spuren ihrer Verzweiflung von den Wangen.

»Hey. Ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht.«

Ich kannte Megan nicht besonders gut. So blöd es klingt, aber ich kannte sie eher als »die Freundin von Max«. Sie war die ganze zwölfte Klasse lang mit diesem Typen zusammen gewesen, Max, aus einer Band namens Die Hochstapler. Sie saß mit Amber und mir in Kunst, aber sie machte selten den Mund auf. Sie und Max hatten immer total verknallt gewirkt – ich hatte sie fast nie ohne ihn gesehen. Also hatten wir alle ziemlich gestaunt, als er letzten Sommer mit ihr Schluss gemacht hatte. Und noch mehr gestaunt hatten wir, als sie zur FemAG gestoßen war, weil sie vorher, als sie noch zusammen gewesen waren, nie Interesse daran gezeigt hatte.

Megan hielt immer noch die Hände unters Wasser, obwohl die Seife längst ab war. Ihr dunkles Haar verdeckte das Gesicht.

Ich trat näher an sie heran, sah, dass sie am ganzen Körper zitterte – nicht nur die Hände.

»Alles okay.«

»Megan?« Ich rückte noch näher. »Hat irgendwas bei der Sitzung dich aufgewühlt? Die Werbung?«

Da richtete sie sich auf, blickte mir fest in die Augen. Ihre Wangen waren fleckig, die Wimpern mit Mascara verklumpt. Sie stellte den Hahn ab und schüttelte schwach den Kopf.

»Alles okay … okay … Nur … diese Werbung … Max … das hat mich irgendwie an irgendwas erinnert.« Beim Wort »Max« brach ihr die Stimme, sie blieb an seinem Namen hängen. »Er … er …« Sie brach ab, schlotterte noch stärker.

Was?!

»Megan, hat Max irgendwas ge…?«

»’tschuldigung, ich wollte hier nicht so einen Aufstand machen«, unterbrach sie mich jäh, mit entschiedener Stimme. »Ich krieg wohl grad meine Tage oder so.«

Sie zog ein Handtuch aus dem Spender, tupfte sich das Gesicht ab, trocknete sich die Hände damit und schleuderte es in den Mülleimer. Es fiel gleich wieder heraus.

Was hatte sie da gesagt? Was war ihr passiert?

»Megan? Es tut mir leid, wenn bei der Versammlung irgendwas hochgekommen ist … irgendwas, was zwischen dir und Max vorgefallen ist?«

Megan schüttelte den Kopf. »Nein, habt ihr nicht. Ist nicht, mein ich. Alles okay.« Der Zweifel in meinem Blick war wohl nicht zu übersehen. »Echt!«

»Megan?« Irgendwie musste ich ihren Namen immer wiederholen. »Du kannst mir wirklich sagen …«

»Mir wird eh keiner glauben«, murmelte sie, mehr zu sich selbst. Dann sah sie zu mir und lächelte. Sie lächelte doch tatsächlich. »Vielleicht lass ich den Rest des Treffens sausen, wenn das okay ist?«, fragte sie, als bräuchte sie meine Erlaubnis. »Wir sehen uns morgen in Kunst?«

Und bevor ich sie aufhalten oder etwas sagen oder sie umarmen oder irgendwas machen konnte, außer verwirrt und unbehaglich rumzustehen, war sie schon aus der Toilette gehuscht. Sie hinterließ nur den süßen Geruch unserer apfeligen Schulseife.

Vier

Die FemAG-Versammlung war schon fast vorbei, als ich wieder in den Raum schlüpfte. Ich hatte eine Weile mit dem Gesicht in den Händen auf einer der Toiletten gesessen und zu begreifen versucht, was da gerade passiert war.

Evie war dabei, den Sack zuzumachen, während Amber Vorschläge aus dem Publikum an die Tafel schrieb.

»Danke für die guten Ideen«, sagte Evie. »Das klingt, als wären wir uns schon weitaus klarer darüber, was wir machen wollen. Nächste Woche können wir uns die Vorauswahl ansehen und Stimmen abgeben. Ich glaube, das wird richtig gut, Leute!«

Alle fingen an, durcheinanderzureden und zu lachen, und die Luft sirrte vor Kreativität.

Ich stand immer noch hilflos da. Amber blickte vom anderen Ende des Raums herüber und fragte stumm: »Alles okay?«, und ich nickte … und schüttelte dann den Kopf. Amber bat mich mit erhobener Hand um etwas Geduld, und ich lächelte ihr leicht zu. Irgendwas in mir fühlte sich kaputt an. Den ganzen Tag schon war ich innerlich rissig gewesen, und diese Versammlung und Megan hatten die Risse plötzlich zu Abgründen aufgesprengt.

Normalerweise hätte ich hier die lautesten Reden geschwungen, die größte Begeisterung ausgestrahlt, alle anderen mit meinem Enthusiasmus angesteckt. Doch jetzt hatte ich nur Megans zitternde Hände vor Augen und ihre Stimme im Ohr, wie sie am Namen »Max« hängen blieb. Gleichzeitig spukten mir immer noch die beiden Bauarbeiter durch den Kopf – wie sie mich angeschaut hatten und wie ich es einfach hatte geschehen lassen. Und ich wusste: Selbst wenn ich mich gegen sie gewehrt hätte, geändert hätte es nichts.

Nichts ändert irgendwas.

Nicht bei Leuten wie denen …

Also, wozu das Ganze?

 

Nachdem die letzten Mädchen gegangen waren, ließ sich Evie wie ein nasser Sack auf ihren Tisch fallen, und ich umarmte sie fest.

»Du warst unglaublich«, brachte ich heraus.

»Im Ernst? Meine Hände zittern immer noch!«

»Im Ernst. Total großartig. Du bist eine gute Rednerin, du könntest ganz bestimmt in die Politik gehen oder so.«

Sie entwand sich der Umarmung und lächelte mit besorgter Miene zu mir hoch. Offensichtlich war es zu offensichtlich.

»Ich dachte, du wärst hier diejenige, die Premierministerin werden will?«

Ich lachte ein mir völlig fremdes Lachen.

»Lottie, bist du …?«

Bevor sie ausreden konnte, kam Amber herbeigeschossen. »Lottie, was ist los?« Sie rang die Hände. »Warum ist Megan gegangen? Ich wollte ihr noch nach, aber dann hab ich dich gesehen.«

Ich stieß einen Riesenseufzer aus. Wie sollte ich es nur sagen?

»Sie hat auf der Toilette geweint«, fing ich an. »Ich glaube, diese Werbung ist ihr nahegegangen. Sie hat Max erwähnt. Wisst ihr noch? Ihr Exfreund, aus Ethans Band? Sie …« Ich sog scharf Luft ein. Megans Worte steckten mir im Hals fest, wie Eissplitter. »Sie hat es nicht genau gesagt, aber sie hat angedeutet … dass …«

»Sprich weiter«, ermutigte mich Amber mit großen Augen.

»Sie, also sie hat angedeutet, dass Max ihr vielleicht was angetan hat … sexuell … also, ich glaube, dass sie das angedeutet hat. Sie hat es nicht genau gesagt. Aber sie hat geschlottert … ich glaube, bei dieser Werbung ist definitiv was bei ihr hochgekommen …«

Evie schossen die Tränen in die Augen. »Verdammt! Ich bin ja so blöd! Ich hab gar nicht dran gedacht, irgendwen vorzuwarnen, worum es bei der Werbung geht … Ich bin so bescheuert!« Sie knallte die Faust auf den Tisch und der Schlag hallte durch den stillen Raum.

Ich versuchte, mich an alles zu erinnern, was ich über Megan und Max wusste. Sie hatten glücklich gewirkt … obwohl ich es schon komisch fand, wie sie sich immer an ihn drangehängt und kaum je den Mund aufgemacht hatte. Überall hatten sie Händchen gehalten. Ständig hatte sie seinen Kapuzenpulli angehabt. Und Max … wirkte nett … Er spielte mit Ethan, einem Jungen, den wir kannten, Gitarre. Er lächelte alle an. Einmal war er bei einem Bandwettbewerb an unserer Schule auf die Bühne gesprungen und hatte Megan einen Song gewidmet. Alle waren geschockt gewesen, als er in den Sommerferien mit ihr Schluss gemacht hatte … Ich meine … er hatte mit ihr Schluss gemacht … Aber jetzt hatte Megan angedeutet, dass er ihr etwas Schreckliches angetan hatte … Also, nicht so richtig angedeutet … Sie hatte ganz einfach nicht im Raum bleiben können, als Evie diese Werbung abgespielt hatte. Ich stellte hier Mutmaßungen an. Aber ich hatte auch einen schrecklichen Verdacht, den ich nicht einfach ignorieren konnte – aufgrund der Art, wie sie aus der Versammlung geflüchtet war und wie sie seinen Namen gesagt hatte. Den Verdacht, dass er … ihr etwas angetan hatte.

Amber brach das Schweigen und drückte Evie an sich. »Wir sind hier alle noch Neulinge, Evie. Ich bin auch nicht auf die Idee gekommen, jemanden zu warnen. Und wir wissen ja auch nicht mit Bestimmtheit, dass zwischen Max und Megan etwas vorgefallen ist.«

»Ist es«, beharrte ich, obwohl ich es im Grunde nur zu mir selber sagte. »Muss es sein. So, wie sie gezittert hat, Mädels … Und gesagt hat, ›mir wird eh keiner glauben‹. Das muss ja wohl etwas zu bedeuten haben, oder?«

Amber blinzelte und schüttelte den Kopf, wie um meine Worte aus ihrem Hirn zu vertreiben. »Wir wissen es nicht mit Sicherheit, aber gut, wir haben jetzt gelernt, dass wir die Mädels bei unseren nächsten Treffen vorher warnen, wenn wir das Thema Missbrauch erwähnen.«

Augenblicklich kehrten meine Gedanken zum Morgen zurück – zu diesen Männern. Wie selbstverständlich sie sich das herausgenommen hatten. Das Recht, meinen Körper zu bewerten.

Und obwohl es im Vergleich zu allem anderen ziemlich lächerlich wirkte, dachte ich auch an Mike, und wie er sich meinen Spruch unter den Nagel gerissen hatte. Wie er vielleicht noch nicht mal kapiert hatte, dass es meiner gewesen war. Und wie er trotzdem damit Beifall geerntet hatte. War das kleinlich? Oder trugen auch solche Dinge dazu bei, dass all die schlimmen Sachen passierten? Hing das alles zusammen? Schufen all die kleinen, schrecklichen Momente, in denen Mädchen wie Dreck behandelt wurden, vielleicht eine Gesellschaft, in der die großen schrecklichen Momente geschehen konnten – wie das, was Megans Stimme in der Schultoilette zum Zittern gebracht hatte?

Ich schloss die Augen und drückte die Daumen hinein, genoss das Druckgefühl.

»Lottie?«

Gott – wenn das stimmte, was ich mir da zusammenreimte, konnte ich mir nicht im Entferntesten ausmalen, wie es in Megan aussah. So entsetzlich jedenfalls, dass sie es für sich behielt und alle anderen im Glauben ließ, Max sei ein netter Typ in einer Band. Mir dröhnte der Schädel, als hätte ich einen winzigen Affen im Hirn, der es seitlich mit dem Hammer bearbeitete.

»LOTTIE

Ich blickte auf.

»Scheiße! Lottie, was ist los? Weinst du?«

Tat ich das? Ich starrte auf meine Hände – sie waren nass. Ich berührte mein Gesicht. Es war tränenüberströmt. Ich stieß einen Schluchzer aus. Keine Ahnung, wo der herkam.

»Lottie? Was ist los?«, fragte Amber. Beide schalteten sofort in den Tröstmodus, schlangen die Arme um mich, machten beruhigende Geräusche, fragten nach, sorgten sich. Die Freundlichkeit in Evies Augen. Ambers fester Griff um meine Schultern. Das war die Erlösung, die ich brauchte.

Ich weinte.

Rotz. Und noch mal Rotz.

»Ich hätte nur … Ich hätte einfach irgendwas sagen sollen … Ich hätte mich gegen diese Bauarbeiter wehren sollen …«, stammelte ich, während sich meine Schultern hoben und senkten. »Und … ich hatte noch nicht mal einen kurzen … Rock an … und Megan … und Megan … und diese verdammte Werbung … diese VERDAMMTE WERBUNG

Evie hatte das Begleitposter zur Werbung ausgedruckt. Ich schnappte es mir vom Tisch und versuchte, es zu zerreißen. Aber Evie, ganz Evie, hatte das Scheißding laminiert. Also konnte ich es nur leicht biegen und tat mir dabei auch noch an der Hand weh.

»Seht ihr!«, schrie ich. »Genau das hier verkörpert ALLES, worüber ich hier flenne … Ich versuche, diese SCHEISSWERBUNG zu zerfetzen, und ICH bin diejenige, die sich dabei wehtut. Kämpfen … es versuchen … das ist alles so VERDAMMT SINNLOS, wenn man … wenn man nicht … einfach alles bekämpft. Und wer hat die Kraft für so was?«

»Hey, Lottie. Schon okay. Welche Bauarbeiter? Das wird schon wieder«, sagte Amber. Doch genau, als sie das sagte, blickte ich auf und ertappte sie dabei, wie sie Evie einen panischen Blick zuwarf. Normalerweise war ich nicht die Emotionale von uns dreien. Sie standen wohl unter Schock.

»Amber hat recht«, gurrte Evie. »Lass es einfach raus.«

 

Sie ließen mich ausheulen. Weil sie wussten, dass ich das brauchte. Weil sie eben so großartig sind.

Meine Schwestern, die gar nicht meine Schwestern sind.

Meine Freundinnen, die ich mir ausgewählt habe.

Meine Wahlschwestern.

Sie warteten, bis ich fertig war. Bis mir so viel Rotz von meinem Spitzenoberteil troff, dass es aussah wie der Schauplatz einer Nacktschneckenorgie.

Schließlich sprach Evie die Worte, die ich hören musste.

»Wir brauchen Käsegebäck. Gehen wir zu mir?«

DER PLAN

Fünf

Nachdem ich drei Tüten Käseflips verschlungen hatte, war mir etwas besser zumute.

Amber starrte mich angeekelt an. »Du hast einen Vollbart aus Neonkäsepampe«, sagte sie. »Hättest du nicht eine ganze Stunde lang hemmungslos geweint, würde ich jetzt ein Foto von dir schießen.«

Ich hob die Hand ans Gesicht und nahm sie orange beklebt wieder herunter. Kurz entschlossen leckte ich sie ab.

»Igitt, das ist widerwärtig«, stöhnte Evie. »Das löst einen Rückfall bei mir aus.«

Ich lächelte, bis ich ihren Gesichtsausdruck sah. »Im Ernst?«

Sie nickte. »Im Ernst.«

Wir brachen beide in Lachen aus, doch ich zog mir trotzdem ein Taschentuch aus dem Spender neben Evies Bett und tupfte mir den Käsebart ab. Dann warf ich es besonders sorgfältig in den Mülleimer.

»Wäre ich bei euch auf ewig untendurch, wenn ich noch eine vierte Tüte äße?«

»Ja«, antworteten sie wie aus einem Mund.

»Aber ich bin aufgewühlt!«

Amber verschränkte die Arme. »Du hast uns immer noch nicht gesagt, warum.«

Ich zuckte die Schultern, weil ich immer noch nicht wusste, wo anfangen. Ich wollte es einfach nicht noch mal durchleben. Hilflos ließ ich den Blick durch Evies Zimmer schweifen. Es war weniger keimfrei-aufgeräumt als früher – aber immer noch viiiiieel ordentlicher als Ambers und meins. Evie hatte mal erklärt, man könne auch ohne Zwangsstörung ein ordentlicher Mensch sein, aber das hatten wir geflissentlich überhört. Ihre monströse Filmsammlung nahm eine ganze Wand ein – die DVD-Regale reichten bis unter die Decke. Evie war der letzte Mensch in meiner Bekanntschaft, der sich noch DVDs kaufte. Ich starrte mit leerem Blick auf die Hüllen, obwohl ich längst alle Filme ausgeborgt hatte, die ich sehen wollte.

»Wie wäre es«, fing Evie an, »wenn du uns verrätst, was dich so verzweifelt macht, und hinterher belohne ich dich mit einer Käseköstlichkeit?«

Ich lächelte ihr schwach zu. »Das müsste schon die Mutter aller Käseköstlichkeiten sein.«

Sie durchbohrte mich mit ihrem tiefblauen Blick. »Ich habe Le Tartare im Kühlschrank.«

Ich schleuderte eines ihrer Kissen in die Luft. »UND DAS SAGST DU ERST JETZT

 

Evie ging nach unten und kehrte mit einem stinkigen, abgepackten Käsekreis und einigen Nobelcrackern zurück. Mein Magen muckte auf. Die Flipwürmchen darin schreckten beim Anblick des Tartare zurück – aus Scham, weil sie kein echter Käse waren. Kein richtig stinkiger, mit Knoblauch und Kräutern gespickter Tartare.

Evie hielt ihn mir zum Schnuppern unter die Nase – wie einer Zeichentrickmaus.

»Okay, ich packe aus!«

Amber warf mir einen Blick tiefster Verachtung zu.

»Was denn?«, protestierte ich.

»Wunschberuf Spionin kannst du schon mal knicken«, sagte sie.

Wir lachten.

 

Und dann erzählte ich ihnen von den Männern. Ich erzählte ihnen, wie ich weggerannt war, statt mich zu wehren. Ich erzählte ihnen von dem Streit mit meinen Eltern – wie sehr ich mich über Dads Druck wegen Cambridge ärgerte. Über seine Heuchelei, weil er zwar wollte, dass ich eine starke, gebildete und tatkräftige Frau war … aber nicht, dass ich die FemAG leitete. Ich erzählte ihnen, wie Mike meinen Philosophiespruch geklaut hatte und alle erst darauf reagiert hatten, als er aus seinem Mund kam. Von Megan wussten sie ja bereits …

»Im Grunde« – ich gönnte mir bröselsprühend eine dritte Ladung Le Tartare – »hasse ich mich selbst. Und ich hasse die Welt. Ich quäl mich nur gerade mit der Entscheidung, was ich mehr hasse.«

Das klang dramatisch, aber genau so fühlte ich mich.

Amber verzehrte ihre (respektable) erste Käsefliptüte. »Warum hasst du dich?«

Ich schloss die Augen und dachte wieder an den Morgen – an das triumphierende Gelächter der zwei Männer.

»Diese Typen«, sagte ich, und mein Knoblauchmagen drehte sich um. »Ich hätte was sagen sollen …«

»Und was?«, fragte Amber.

»Keine Ahnung … irgendwas … Aber ich hab sie einfach machen lassen … Ich hab mich nicht zur Wehr gesetzt.«

Evie legte mir eine Hand auf die Schulter. »Lottie, so, wie es sich anhört, war das extremer, als nur einmal hupen im Vorbeifahren. Ich hätte mich genauso gefürchtet.«

Ich nickte. »Die kamen mir wirklich noch viel übler vor als die meisten, denen man so begegnet. Ich wusste einfach nicht, zu was die fähig sind. Ich bin total erstarrt.«

»Völlig natürliche Reaktion.«

»Genau«, schaltete Amber sich ein. »Du hast dich nur geschützt.«

»Aber was die getan haben, war falsch.« So viel wusste ich. »Ich hätte mich irgendwie behaupten müssen. Jetzt glauben die, ihr Verhalten war völlig okay. Und machen es auch bei anderen Mädchen.«

»Dafür kannst du nichts.«

»Fühlt sich aber so an.«

»Warum?«

»Weiß nicht. Tut es einfach …«

Evie drückte mir die Schulter. »Lottie«, sagte sie sanft. »Du musst nicht ständig zurückschlagen.«

Muss ich nicht?

»Manchmal muss man eine Sache auch einfach hinter sich lassen. Sich klarmachen, dass es die Mühe nicht wert ist. Um sich selbst zu schützen.«

Aber wer schützt dann die, die schwächer sind als ich?

Wieder zuckte ich die Schultern. Ich merkte, dass ich mir über meine Gefühle noch nicht im Klaren war, dass ich erst kurz davorstand.

»Was unternehmen wir wegen Megan?«, fragte ich.

Amber schnitt eine Grimasse. »Wie ging es ihr?«

»Ihr ging’s … okay. Hat sie zumindest dauernd gesagt. Ganz offensichtlich wollte sie nicht darüber sprechen. Ich hab gedacht, vielleicht könnten wir anstoßen, dass sie öfter mal was mit uns macht? Damit wir sie besser kennenlernen?«

Evie nickte. »Gute Idee. Wir sollten sie öfter einladen … Seit Max scheint sie nicht wirklich irgendwo dazuzugehören. Ich kann es aber trotzdem immer noch nicht richtig glauben. Max hat immer so nett gewirkt.«

»Das heißt überhaupt nichts«, sagte Amber. »Man weiß nie, was sich hinter geschlossenen Türen in Beziehungen so alles abspielt. Außerdem können wir hier nicht einfach voreilige Schlüsse ziehen über das, was zwischen ihnen passiert ist. Das muss Megan uns schon selbst erzählen, wenn sie so weit ist. Falls sie das überhaupt je sein wird.«

»Ich weiß, dass was Schreckliches passiert sein muss.« Ich schüttelte den Kopf. »Ihre Körpersprache war eindeutig, die ganze Art, wie sie sich gehalten hat.«

Wir saßen still da, jede in ihrer eigenen Traurigkeit gefangen. Mein Hirn spulte in Dauerschleife den Tag ab.

Amber stand auf.

»Amber, du stehst ja auf«, sagte ich.

»So ist es.«

»Wieso?«

»Weil ich jetzt zu Joan Jett tanzen werde.«

»Wieso?«

»Weil wir etwas Aufheiterung brauchen.«

Und bevor ich das verarbeiten konnte, hatte sie Bad Reputation auf ihrem Telefon angestellt und wie eine Irre zu tanzen begonnen.

Amber tanzt nicht häufig. Sie ist eins achtzig groß und hat eine gewaltige Mähne, weshalb sie meistens das Gefühl hat, von allen angestarrt zu werden. Doch wenn sie es tut, ist es ein Bild für die Götter. So auch diesmal: Sie schleuderte ihre Gliedmaßen in alle möglichen Richtungen, unternahm Versuche im Shimmy, tanzte den Pogo.

»Macht ihr jetzt mit oder was?«, keuchte sie. »Oder schaut ihr einfach nur zu, wie ich mich zum Affen mache?«

Evie und ich tauschten einen kurzen Blick, standen auf und gesellten uns dazu. Evie – klein und kurvig – wackelte mit den Schultern und wand sich im Kreis. Ich warf die Hände in die Luft und schnappte mir Ambers Hände, damit wir herumwirbeln konnten. Sie lachten, und ich lächelte, und Joan Jetts Beat strömte durch mich hindurch und richtete mich ein klein wenig auf. Aber nicht ganz so, wie ich es gebraucht hätte.

»Na bitte!«, überbrüllte Amber die Musik. »Es gibt Tage, da musst du kämpfen, und es gibt Tage, da kannst du nur so tun, als wäre das alles nicht passiert, und tanzen und lachen und tanzen.«

Ich wirbelte sie unter meinem Arm herum, immer noch lächelnd, doch meine ungewöhnlich üble Laune wollte sich nicht verziehen.

Ich konnte nur eines denken: Was ist mit all den unaussprechlichen Dingen, die gerade jenseits dieser Blase geschehen, in der wir tanzen?

Sechs

Meine Eltern warteten schon auf mich, als ich heimkam. Saßen ganz geduldig da, ein Bild des Friedens. Obwohl ich Dads inneren Aufruhr schon zehn Meter gegen den Wind spürte und wusste, dass Mum ihm eine Predigt gehalten haben musste.

Mum stand auf, um mich zu umarmen. »Lottie, Liebling. Da bist du ja.«

Ich trat durch den nervigen Perlenvorhang und rang mir ebenfalls eine Umarmung ab.

»Hi«, sagte ich und wappnete mich innerlich gegen ihre Lieblingsmethode: mich im Sirup der Liebenswürdigkeit zu ertränken.

Dad nippte mit geschürzten Lippen an seinem Kräutertee, doch auf ein Nicken von Mum hin erhob auch er sich, um mich zu umarmen.