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Über dieses Buch:

Die betagten Schwestern Tilda und Elida führen ein beschauliches Leben – bis der attraktive Alvar nebenan einzieht und neuen Schwung in ihren eintönigen Alltag bringt. Neue Kleider müssen her und das Haus sollte auch renoviert werden – doch dazu fehlt das Geld. Als sie eines Tages den Nachbarskater beobachten, wie er versehentlich von Alvars selbstgemachtem Dünger nascht, trauen sie ihren Augen kaum: Nicht nur die Pflanzen wachsen wie verrückt, sondern auch der Kater entwickelt danach eine ungewohnte Potenz! Da kommt den beiden Damen eine glänzende Geschäftsidee: Denn was beim Kater funktioniert, das müsste doch auch beim Mann wirken …

Unterhaltsam, charmant und liebenswert: »Karin B. Holmqvists Bücher sind typisch schwedisch und mit einer ganz besonderen Wärme erzählt«, sagt der erfolgreiche schwedische Blog ›En bokcirkel för alla‹.

Über die Autorin:

Karin B. Holmqvist, geboren 1944 im südschwedischen Simrishamn, machte eine kurze Karriere in der Kommunalpolitik und arbeitete anschließend als Sozialarbeiterin. In ihrer Freizeit ist sie Kabarettistin und schreibt Romane sowie Gedichte.

Bei dotbooks veröffentlichte Karin B. Holmqvist bereits die Romane »Schwedisches Glück«, »Villa mit Herz« und »Das fabelhafte Haus des Glücks« – auch als Sammelband unter dem Titel »Schwedische Küsse« erhältlich – sowie »Schwedische Herzen« und »Die Liebe kommt an Regentagen«.

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe September 2019

Dieses Buch erschien bereits 2005 unter dem Titel »Manneskraft per Postversand« bei Piper

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2004 Karin Brunk Holmqvist

Die schwedische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Potensgivarna« bei Kabusa Böcker AB, Ystad.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2005 Piper Verlag GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/chiociolla und Antonova Sauna

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-247-4

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Karin B. Holmqvist

Schwedischer Sommer

Roman

Aus dem Schwedischen von Annika Krummacher

dotbooks.

1. Kapitel

Das Knarzen des Ausziehsofas in der Küche zeugte vom Beginn eines neuen Tages. Elida Svensson schob das Bett um genau zehn Minuten nach sieben hinein, wie jeden Morgen.

Elida war die ältere der beiden Schwestern. Sie würde im Herbst ihren neunundsiebzigsten Geburtstag feiern. Tilda war erst zweiundsiebzig, sah aber älter aus. Sie waren beide in diesem Haus geboren, allerdings nicht auf dem Küchensofa, sondern im großen, schwarzen Eisenbett des Elternschlafzimmers.

Dort sah es übrigens genauso aus, wie es immer ausgesehen hatte: Das besagte Eisenbett mit den gelben Messingknäufen und der großen gehäkelten Tagesdecke, die aus Garnresten hergestellt war, stand noch immer an seinem angestammten Platz. Als Kinder waren Tilda und Elida von der Decke mit den vielen bunten Feldern sehr fasziniert gewesen. Heute lagen sie manchmal auf dem Bett und hingen Erinnerungen nach.

»Das war mal meine Strickjacke«, sagte Tilda und zeigte auf eines der altrosa Felder.

»Und das hier war Opas Schal«, meinte Elida.

Jedes Feld, jede Farbe hatte eine eigene Geschichte. Manchmal, wenn ihr Vater, Schmiedemeister Svensson, ein wenig über den Durst getrunken hatte, verwendete er die Tagesdecke als Märchenbuch.

»Heute nehmen wir uns die waagerechten äußeren Felder vor«, hatte er beispielsweise gesagt und dann Feld für Feld die Geschichten vom Ursprung der Garnreste erzählt. Dabei hatte er großen Wert darauf gelegt, Reihe für Reihe vorzugehen. »Morgen kommen die senkrechten Felder dran.«

Es war wirklich eine wundersame Tagesdecke.

Die Schwestern hatten beschlossen, das Zimmer nach dem Tod der Eltern unangetastet zu lassen. Da sie sich nur selten darin aufhielten, heizten sie dort nie. Außer dem Bett gab es zwei Nachtschränkchen mit einer Marmorplatte, einer kleinen Schublade und einem Fach für den rosafarbenen Nachttopf aus Porzellan.

In der Ecke stand wie eh und je der Waschtisch. Die Waschschüssel mit passender Kanne war aus altem Steingut der Firma Rörstrand. Die Seifenschale war ein anderes Fabrikat, aber ebenfalls aus Steingut. Sogar die Seife lag noch darin, rissig zwar, aber immerhin.

Ansonsten gab es nicht viel im Schlafzimmer, abgesehen von ein paar großen Porträts ihrer Vorfahren an den Wänden und natürlich der muffigen, eingeschlossenen Luft. Für Neuerungen hatten die Schwestern Svensson nicht viel übrig.

Sie waren in finanziell knappen Verhältnissen aufgewachsen. Schmiedemeister Svensson hatte sein Leben lang hart geschuftet, trotzdem hatte das Geld nur gerade eben gereicht. Seine Frau Elna hatte sich um Tilda, Elida und den jüngsten Sohn Rutger gekümmert. Der Vater hatte ihn immer das Nesthäkchen genannt, weil Rutger zehn Jahre jünger war als Tilda.

Das Leben in ihrem Elternhaus war von Liebe geprägt gewesen, und vielleicht war das der Grund, weshalb Tilda und Elida allzu lange geblieben waren. So lange, daß sie ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt verspielt hatten, wie man sich im Dorf scherzhaft erzählte.

Dabei waren sie keineswegs häßlich gewesen, sie hatten in ihrer Jugend sogar den einen oder anderen Heiratsantrag bekommen, und natürlich hatte die fleischliche Lust sie häufig heimgesucht. Aber sie hatten ihre Befriedigung in harter Arbeit gesucht und in der Dunkelheit des Abends ihre Körper erforscht. Gottes Strafe konnte schließlich nicht schlimmer sein als das Verlangen, und daher pflegten die beiden Schwestern, jede in ihrem Bett, die Flamme zu löschen, die manchmal unerträglich brannte.

Rutger war in jungen Jahren in die Stadt gezogen und war vermutlich ganz froh darüber, daß die Schwestern sich um die alten Eltern kümmerten. Bisweilen hatte Elida beim Kaufmann ausgeholfen, und Tilda war bei den großen Festen im Dorf als Köchin eingesprungen, doch ansonsten waren sie bei ihren Eltern gewesen. Diese hatten schließlich ihre letzten Atemzüge in dem großen Eisenbett getan, wo die drei Kinder einst unter Schmerzen geboren worden waren, während die Tagesdecke mit ihrer Geschichte über die Ereignisse gewacht hatte.

Seit vielen Jahren lebten Tilda und Elida allein in dem Haus. Sie bezogen eine bescheidene Rente, und es ging ihnen ganz gut, doch das Haus sah aus wie eh und je, mit Holzöfen, Plumpsklo und Brunnen auf dem Hof. Informationen über Fondssparen, Bausparverträge und Rentenversicherungen hatten das kleine Häuschen in Borrby nicht erreicht. Dabei sparten sie durchaus, doch auf ihre eigene Art: Elida in einem Kupferkessel in der Küche und Tilda in einem Holzfaß draußen in der Waschküche. Zufrieden sahen sie die Stapel von Geldscheinen wachsen, aber sie hätten im Leben nicht daran gedacht, etwas davon auszugeben, um ihren Alltag komfortabler zu gestalten.

In der Küche war es nie kalt, denn die Wärme des AGA-Herds füllte jede Nische. Sie schlich an den Bodendielen entlang, nestelte sich in jede Schlinge der selbstgewebten Flickenteppiche und stieg dann zum Fliegenfänger empor, dem braunen, klebrigen Streifen, der in der Wärme langsam hin und her schaukelte, während die Fliegen einen verzweifelten Todeskampf ausfochten.

Da es in der Küche am wärmsten war, schliefen die Schwestern Svensson dort, auf dem Ausziehsofa. Elida schlief auf dem Sofateil, weil sie die ältere war, und Tilda im Holzauszug, der kürzer und unbequemer war. Obwohl Tilda die jüngere von beiden war, hatte sie viel stärkere Gelenkschmerzen, und ihre Finger glichen den Ästen einer windgepeinigten Krüppelkiefer. Ihr fiel es schwer, aus dem unbequemen Bett zu klettern, aber da die Schwestern jegliche Veränderung ablehnten, war es trotz allem Tilda, die jeden Abend um exakt zehn nach neun in den kleinen Holzkasten kroch, der tagsüber den Sockel des Sofas bildete.

Sie gingen jeden Abend um dieselbe Zeit zu Bett, Sommer wie Winter, Alltag wie Feiertag, und um exakt zehn nach sieben war ein Knarzen zu hören, wenn Elida das Bett gemacht hatte und schließlich den Sockel hineinschob.

2. Kapitel

Den Schwestern Svensson fiel es immer schwerer, die Tage herumzubringen. Sie hackten Holz, kratzten die Asche aus den Öfen, buddelten im Garten und weckten Obst ein.

Die fleischliche Lust war verschwunden, und in den nächtlichen Stunden auf dem Küchensofa gab es keinen brennenden Herd mehr zu löschen. Gott hatte ihnen sicher längst vergeben, tröstete sich Tilda, wenn die Gelenkschmerzen schlimmer wurden und sie die Angst davor befiel, bald vor dem Angesicht des Herrn zu stehen. Sie vermißte die Stunden der heißen Sehnsucht unter der alten Bettdecke, aber das hätte sie sich nicht einmal selbst eingestanden. Schließlich wollte sie ebenso rein und unschuldig in den Himmel eingehen, wie sie im schwarzen Eisenbett geboren worden war.

»Der Kaffee ist fertig!« rief Tilda.

Eigentlich hätte sie gar nicht zu rufen brauchen, denn Elida wußte, daß das Frühstück genau in dem Moment, wenn sie das Ausziehsofa hineinschob, auf dem Tisch stand.

»Die Rhabarbermarmelade ist dies Jahr gut geworden«, sagte Tilda.

»Ein bißchen zu süß«, erwiderte Elida wie jeden Morgen.

Genaugenommen gab es gar nichts zu sagen, denn sie wußten schon alles. Aber vor der Stille hatten die beiden Schwestern Angst, und deshalb wiederholten sie dieselben Sätze jeden Tag, jahraus, jahrein, weil der Mangel an neuen Gesprächsthemen immer größer wurde.

Elida las als erste die Tageszeitung, so war es immer schon gewesen. Trotz ihrer Sparsamkeit wollten sie mitbekommen, was draußen in der Welt passierte. Sie waren keineswegs dumm. Gott hatte sie mit einem guten Verstand ausgestattet, und sie wären sicher weit gekommen, wenn sie nur auf die höhere Schule hätten gehen dürfen.

Rutger dagegen war aufs Gymnasium geschickt worden, denn schließlich sollte er als Junge eines Tages eine Familie versorgen. Mit der Zeit wurde er Journalist und heiratete eine Logopädin, mit der er drei Kinder bekam. Er besuchte seine Schwestern nur ab und zu, und vorzugsweise im Sommer.

Elida trug noch immer den Schatten der Schamesröte auf ihren Wangen, nachdem sie einmal seine Frau Marianne gefragt hatte, ob sie als Logopädin wohl auch Plattfußeinlagen anpasse. Nein, Elida war keineswegs unintelligent, aber auf solche neumodischen Sachen verstand sie sich nicht so recht.

An diesem Morgen ließ Elida die Seite mit den Lokalnachrichten ungewöhnlich lange aufgeschlagen. Eigentlich war selbst die Lesezeit pro Seite Tag für Tag dieselbe, weshalb jede Abweichung Tildas Neugier weckte.

»Gibt es was Besonderes?«

»Das Haus von Lantz ist verkauft worden, das steht bei den Amtlichen Bekanntmachungen.«

Lantz war der langjährige Nachbar der Familie Svensson gewesen. Nun war er gestorben, am vierzehnten April dieses Jahres, dem Tag, an dem die erste Frühlingslerche gekommen war. Tilda und Elida hatten Spekulationen darüber angestellt, was wohl mit dem Haus geschehen würde, und vermuteten, daß es wie so viele andere im Dorf als Ferienhaus an irgendwelche Städter verkauft werden würde. Und siehe da, sie hatten recht behalten: Der Käufer war ein Stadtbewohner.

Von einem Moment auf den anderen schlug die Angst in der kleinen Küche Wurzeln, und schon war ihr geregelter Tagesablauf durcheinandergekommen, denn es war schon zwanzig vor acht, wo doch das Frühstück sonst stets um Punkt halb acht beendet war.

Der Brunnen der Schwestern Svensson war so gelegen, daß sie das Lantzsche Grundstück betreten mußten, um Wasser zu holen. Bestimmt gab es irgendeine Nutzungsrechtsvereinbarung, aber die Papiere waren vor vielen Jahren verbrannt, als ein Kugelblitz den Schreibtisch von Schmiedemeister Svensson in Brand gesetzt hatte. Da die Nachbarn gut befreundet gewesen waren, hatte man sich um die Papiere nicht weiter gekümmert, denn Wasser durften sie sich in jedem Fall holen.

Lantz hatte einen Sohn gehabt, in den sich sowohl Tilda als auch Elida ein wenig verguckt hatten, und deshalb waren sie seinerzeit gar nicht ungern hinübergegangen, um den wackligen Eimer in den Brunnen hinabzulassen. Mittlerweile betraten sie das Nachbargrundstück nur noch, wenn sie Wasser brauchten. Aber sie konnten sich noch gut an ihre Jugend erinnern, als sie beide bisweilen auch Lantz junior im Kopf gehabt hatten, während ihre Hände sich unter der Bettdecke ihren Weg suchten.

»Stell dir vor, wir dürfen kein Wasser mehr holen!« meinte Tilda sichtlich erschrocken.

»Klar dürfen wir das«, antwortete Elida beruhigend, aber ihr flackernder Blick verriet, daß auch sie sich Sorgen um die Zukunft machte.

An diesem Abend saß Tilda lange am Brunnen. Ihr kam der Holzdeckel ungewöhnlich schwer vor, und als sie den Eimer hinabließ, wollte er nicht sinken und Wasser aufnehmen, sondern schaukelte auf der Oberfläche herum, wie aus Trotz. Tilda mußte ihn ein paarmal hinunterwerfen, bis er sich schließlich auf die Seite legte, mit Wasser füllte und sank. Seit einigen Jahren schwappte meist ein Großteil des Wassers aus dem Eimer, ehe er den Brunnenrand erreicht hatte. Tilda kümmerte das nicht weiter, da sie mittlerweile immer weniger Wasser brauchten.

Als sie den Eimer schließlich hochgezogen und das Wasser in den gelben Emailleeimer mit dem blauen Rand umgefüllt hatte, ließ sie den Holzdeckel schwer auf seinen Platz zurückfallen. Sie fand das Geräusch gar nicht unangenehm, denn es kam ihr so vor, als könnte es ihre Angst verscheuchen.

Sie erinnerte sich an Lantz, seinen Sohn Erik und die vielen gemeinsamen Sommer. Fast bereute sie, daß sie es jenes Mal nicht getan hatte. In der Nacht, als Erik sich voller Verlangen mit ihr auf dem weißen Gartentisch in der Laube hatte vereinen wollen. Gott hätte ihr sicher auch diese Sünde vergeben, dachte Tilda, doch jetzt war es zu spät, denn Erik war tot und sie selbst eine vertrocknete alte Jungfer.

In demselben Moment, als sie an die Situation in der Gartenlaube zurückdachte, kam es ihr plötzlich so vor, als rege sich etwas unter ihrer Wäsche. Schnell beschloß sie, daß es vermutlich nur ihr Schlüpfer war, der etwas zu eng saß. Sie blieb noch eine Weile sitzen, um nachzuspüren, ob das Gefühl noch einmal zurückkehren würde, aber das tat es nicht, und das stimmte sie ein wenig traurig.

3. Kapitel

Die folgenden Tage verloren Tilda und Elida kein Wort über das Nachbarhaus. Aber die Unruhe war noch immer da, leise und pochend, und die Schwestern wälzten sich ungewöhnlich lange auf dem Küchensofa herum, ehe der befreiende Schlaf ihre Glieder schwermachte, während der Mond durch die Sprossenfenster auf ihre zahnlosen Gaumen schien. Am Fußende des Ausziehsofas standen zwei Paar verschlissene Filzpantoffeln, die auf den nächsten Morgen warteten, denn dann würden sie wieder von den schmalen weißen Füßen ausgefüllt werden, deren Hühneraugen im Filz kleine Ausbuchtungen hinterlassen hatten.

Als schließlich der Umzugswagen vor dem Lantzschen Haus stand, wollte keine der Schwestern den Anschein erwecken, als sei sie besonders interessiert. Neugier, hatte Schmiedemeister Svensson stets gesagt, sei ein grobes Vergehen. Doch plötzlich standen Tilda und Elida mit Hacken ausgerüstet im Garten und jäteten Unkraut – und zwar ausgerechnet dort, wo ein Teil der Ligusterhecke dem Winter zum Opfer gefallen war und den Blick auf das Nachbargrundstück freigab. Sie standen so dicht nebeneinander, daß die Hacken sich bei der Gartenarbeit kreuzten und Funken schlugen.

Plötzlich griff Tilda sich ans Herz. Das war ein Trick, den sie schon seit vielen Jahren in peinlichen Situationen verwendete. Ihre Schwester wurde bei diesen Anfällen immer unruhig, und alles drehte sich um Tilda, die auf diese Art von der prekären Lage ablenkte, in der sie sich befand.

»Setz dich her«, sagte Elida und schob ihr einen kleinen Hocker hin, der immer an der Hecke stand, weil ihn die Schwestern bei der Beerenernte benutzten.

»Es sticht im linken Arm«, klagte Tilda. Sie hatte einmal in einer Arztkolumne gelesen, daß es angeblich im Arm stach, wenn es richtig schlimm war.

Elida konnte sich allerdings nicht so recht auf ihre Schwester konzentrieren, denn ihr Blick wanderte immer wieder über die Hecke, um sehen zu können, was drüben geschah.

»Bis in die Fingerspitzen«, sagte Tilda, und auf einmal hatte sie das Gefühl, als spürte sie tatsächlich ein Stechen. Sie hatte Angst vor dem Sterben – gerade so, als ahnte sie, daß das Leben noch manch seltsame Überraschung für sie bereithielt.

»Er sieht gut aus, unser neuer Nachbar«, sagte Elida, als sie abends ihren Zwieback in den Kaffee tauchten.

»Glaubst du, er ist alleinstehend?« meinte Tilda. »Es war ja sonst keiner zu sehen.«

»Die kommt schon noch«, sagte Elida. »Das machen die Frauen aus der Stadt immer so. Sie kommen erst, wenn alles fertig ist, die Möbel an ihrem Platz stehen und das Grundstück hergerichtet ist.«

»Stimmt, er sieht irgendwie verheiratet aus«, bemerkte Tilda und schlürfte den tropfenden Zwieback in sich hinein.

Die Zähne legten sie immer schon um viertel nach acht, wenn sie sich zum Schlafengehen fertigmachten, in ein Glas. Sie liebten es, den aufgeweichten Zwieback zu schlürfen, denn das kitzelte so angenehm am Gaumen. Eigentlich fühlten sie sich mit ihren dritten Zähnen nicht sonderlich wohl, aber sie eigneten sich gut für den Sonntagsbraten. Sie waren sich einig, daß es Geldverschwendung sei, die Zähne die ganze Woche im Wasserglas liegenzulassen, weshalb sie ihre unbequemen Gebisse täglich trugen – außer zum Abendkaffee. Zahnlos zu sein war ein beinahe sündhaft gutes Gefühl, fast so, als seien sie nackt, und manchmal sah Tilda wütend zum Glas auf dem AGA-Herd hinüber, in dem die Zähne lagen.

Eigentlich brauchen wir euch gar nicht, dachte sie, und wenn ihr nicht soviel gekostet hättet, müßtet ihr die ganze Zeit hübsch in eurem Glas bleiben.

4. Kapitel

Borrby war eine kleine Ortschaft mit etwa tausend Einwohnern, doch im Sommer wuchs die Bevölkerung stark an. Die Feriengäste liebten die Ruhe auf dem Land, die kilometerweiten Felder und den alten Kaufmannsladen, wo unter dem Dach die Räucherwürste neben den Holzschuhen hingen.

Die Post war seit vielen Jahren geschlossen. Dafür gab es einen Landbriefträger, der die Post direkt auf den Küchentisch legte, was nicht unbedingt eine Verschlechterung war, ganz im Gegenteil. Das Sozialamt hatte nämlich eine Vereinbarung mit den Landbriefträgern getroffen, daß sie allen Häuschen einen Besuch abstatten sollten, auch wenn es keine Post abzuliefern gab. Elida hatte in der Zeitung gelesen, daß die Gemeinde die Verantwortung für ihre Bewohner trug und niemand mit gebrochenem Bein oder Schlaganfall allein in seinem Häuschen herumliegen sollte.

In Borrby gab es alles, was sie brauchten. Mit Ausnahme des staatlichen Alkoholhandels, aber den vermißten die Schwestern Svensson nicht so sehr. Zu Weihnachten kauften sie sich eine Flasche Sherry, und im alten Eckschrank in der Küche stand ein Magenbitter – nur für den Fall, daß sie erkältet oder krank werden sollten, aber das kam ohnehin nicht vor.

Einen Sommer hatte Rutger in der Waschküche Wein produziert. Er hatte eine große Edelstahltonne mit Rohren und Schläuchen hingestellt, aus denen es tropfte, und Kohle gekauft. Als Tilda und Elida gemeint hatten, ob es nicht sauberer wäre, mit Holz zu heizen, hatte er nur gelacht. Es hatte da draußen ein bißchen merkwürdig gerochen, aber Rutger hatte abends, wenn er aus der Waschküche gekommen war, immer so fröhlich gewirkt, weshalb es mit dem Geruch bestimmt seine Richtigkeit gehabt hatte.

Es war wirklich ein netter Sommer gewesen. Rutger hatte seinen Schwestern allerdings nie etwas von dem Wein angeboten und behauptet, er müsse erst eine Weile gelagert werden. Dann hatte er alle Flaschen mit in die Stadt genommen. Elida war es komisch vorgekommen, daß der Wein so dünnflüssig und durchsichtig gewesen war, denn sie hatte an den roten, süffigen Abendmahlswein gedacht. Aber da Rutger so seltsam irritiert gewirkt hatte, wenn sich jemand nach dem Wein in der Waschküche erkundigte, hatte sie beschlossen zu schweigen. Sie hatten ja ihren Magenbitter und ihren Sherry und brauchten nichts anderes. Die Edelstahltonne stand noch immer in der Waschküche.

»Wir haben sowenig Platz in der Stadt«, hatte Rutger erklärt.

Sie hatten ihm geglaubt, selbst wenn sie noch nie dort gewesen waren, und natürlich hatte die Tonne stehenbleiben dürfen. Der Geruch hatte sich noch lange gehalten. Erst als die Herbststürme durch die undichten Fenster gedrungen waren, waren die letzten Sommerdüfte aus der Waschküche verschwunden.

Zu Weihnachten hatten sie endlich etwas von Rutgers Wein probieren dürfen. Der Landbriefträger war mit einem Paket und einem Weihnachtsgruß von Rutger und seiner Familie gekommen.

»Irgend etwas muß er zugesetzt haben«, sagte Tilda, denn jetzt war der Wein hellgelb. Rutger hatte sogar Etiketten gekauft und auf die Flasche geklebt, und im Flaschenhals steckte genau so ein Korken, wie sie ihn im Alkoholladen gesehen hatten.

»Ja, unser Rutger, der kann was«, meinte Elida, »aber er wohnt ja schließlich auch in der Stadt.«

In Borrby hatte man für Finessen nicht viel übrig. Man bevorzugte das Einfache und Normale, erfreute sich aber gern an den neumodischen Dingen der Feriengäste. Obwohl es in den Häusern richtige Öfen gab, kauften sie zusätzlich noch kleinere, mit oder ohne Schornstein, und bereiteten ihre Grillwürstchen jeden Abend im Garten zu, sofern das Wetter es erlaubte.

Eines Abends kamen Tilda und Elida auf dem Weg zur Musikandacht in der Kirche am Haus des Stockholmers vorbei, wie die Dorfbewohner es nannten. Der Stockholmer saß draußen im Garten und grillte seine Würstchen, und die Schwestern erhaschten einen Blick auf die Flasche, die vor ihm auf dem Tisch stand. Es war genau so eine, wie sie sie von Rutger zu Weihnachten bekommen hatten. Tilda wollte schon fragen, ob er Rutger kannte, aber sie war immer etwas unsicher, wenn sie sich mit jemand Fremdem unterhalten mußte, und ließ es bleiben.

»Bestimmt kennt er Rutger«, meinte Elida später zu Tilda.

»Stell dir vor«, sagte Tilda, »vielleicht ist er sogar in Stockholm gewesen, unser Rutger.«

»Man weiß nie«, antwortete Elida, »schließlich war er ja auch schon im Ausland.«

»Ja, und er kann sogar Ausländisch«, sagte Elida stolz.

Rutger hatte seinen Schwestern eine Ansichtskarte aus Deutschland geschickt, und obwohl sie mittlerweile vergilbt und voller Fliegendreck war, hing sie noch immer am Spiegel im Flur, als Beweis für die Erfolge ihres Bruders im Leben.

Erfolg hatte ihr neuer Nachbar wohl auch gehabt, denn als er einen Monat im Lantzschen Haus gewohnt hatte, war es kaum wiederzuerkennen. Die Fenster waren ausgetauscht worden, und auf den Wegen, die das Haus umgaben, lagen neue Platten in hübschen Mustern. Unter den Fenstern befanden sich Kästen mit den schönsten Blumen, die man sich nur denken konnte.

»Bestimmt ist er reich«, sagte Tilda eines Abends, während sie mit ihrer Schwester Stachelbeeren putzte.

»Der Kaufmann hat gesagt, er trägt drei Goldringe an den Fingern«, bemerkte Elida und legte vor lauter Aufregung eine ungeputzte Stachelbeere zu den geputzten.

Tilda sah es natürlich, und damit hatten sie zumindest für die nächsten Minuten ein Gesprächsthema.

»Die Marmelade kann bitter werden, wenn Fliegen mit hineinkommen«, sagte Tilda säuerlich.

»Aber doch wohl nicht wegen einer einzigen.«

»Oh doch, und stell dir vor, das Glas mit der ungeputzten Stachelbeere landet ausgerechnet dann auf dem Frühstückstisch, wenn Rutger und seine Familie zu Besuch kommen.«

Elida mußte zugeben, daß dies eine Katastrophe gewesen wäre, aber Rutger kam so selten, daß die Jahresernte sicher vor seinem nächsten Besuch aufgebraucht sein würde.

Von der Küche der Schwestern Svensson konnte man das Lantzsche Haus einsehen, und Tilda und Elida standen beim Beerenverlesen ziemlich dicht vor dem Fenster. In der letzten Zeit hatten sie sich gern dort aufgehalten, und die Blumenbeete an der Hecke waren seit Jahren nicht so schön gejätet gewesen wie jetzt. Offensichtlich änderten sich ihre geregelten Tagesabläufe ganz allmählich, aber keine von ihnen verlor ein Wort darüber.

Da sie alles mitverfolgten, was im Hause Lantz geschah, lernten sie auch die Angewohnheiten ihres Nachbarn kennen. Das war wichtig, denn da war ja die Sache mit dem Brunnen. Früher hatten die Schwestern immer mittags Wasser geholt oder besser gesagt um fünf vor halb eins, kurz vor ihrem Mittagsschläfchen, doch um diese Zeit konnten sie jetzt nicht mehr zum Brunnen gehen, aus Angst, daß der Nachbar sie sehen würde. Daher hatten sie nach genauer Beobachtung festgestellt, daß der Nachbar jeden Abend gegen siebzehn Uhr zum Kaufmann ging, um sich eine Abendzeitung zu holen, .und diese Gelegenheit nutzten sie zum Wasserholen.

Auch der alte Brunnen hatte inzwischen eine neue Gestalt angenommen. Das machte das Ganze noch komplizierter. Die Abdeckung war jetzt so grün gestrichen wie das üppige Gras drum herum, aber damit nicht genug: Auf dem Brunnendeckel hatte der Nachbar Blumen angepflanzt. Ja, natürlich nicht auf dem Brunnendeckel selbst, sondern in einem Topf. Einem gußeisernen Kochtopf, wie ihn die Schwestern Svensson immer für ihren Sonntagsbraten nahmen.

Die Feriengäste waren schon ein merkwürdiges Volk, denn sie verwendeten für alles die falschen Gegenstände. Auch in die großen Kupferkessel, die man zum Wäschewaschen brauchte, stellten sie Topfpflanzen, ja, sogar in Kaffeekannen. Da es doch unten im Kaufmannsladen so schöne, weiße Plastikübertöpfe gab, verstanden die beiden Schwestern nicht so recht, warum sie den Hausrat in den Garten stellen und Blumen hineinpflanzen sollten.

Kein Wunder, daß ihnen das Wasserholen manchen Kummer bereitete. Schließlich mußten sie mittlerweile nicht nur bestimmte Zeiten einhalten, sondern darüber hinaus die Blumen besonders behutsam vom Deckel heben und diesen vorsichtig auf die Erde legen, damit die grüne Farbe keinen Schaden nahm.

Immer wenn es Zeit zum Wasserholen war, setzten Tildas Krämpfe ein: ein Stechen im linken Arm, Schwindelgefühle und sogar Übelkeit. Zwischen den Schwestern, die bisher beinahe symbiotisch zusammengelebt hatten, war eine gewisse Reizbarkeit entstanden.

Als der Sommer in der siebten Woche war, einigten sich die beiden, daß sie mit ihrem Nachbarn reden und ihm von der Vereinbarung über die Brunnennutzung erzählen müßten. Der Zeitpunkt, als das Gespräch stattfinden sollte, war ein wunderbarer Sommerabend. Die Fliegen standen in der Luft, die Tonne mit dem Regenwasser war längst ausgetrocknet, und es herrschte eine gespannte Stille, die alles wie eine Mauer umgab. Die Fliegen summten besonders eifrig am Klebestreifen, und ihr surrender Totentanz wurde vom Knistern des letzten Holzscheits für diesen Tag begleitet, das im Ofen brannte. Das große, kräftige Holzstück war vor nur zehn Minuten hineingelegt worden und würde bald in Gestalt von armseligen Rußflocken wieder herausgescharrt werden.

»Was sollen wir denn sagen?« fragte Tilda unruhig.

»Daß wir das Recht haben, aus dem Brunnen Wasser zu holen natürlich«, meinte Elida.

»Geh du«, schlug Tilda vor, »dann koche ich schon mal Abendkaffee und hole den Zwieback.«

»Du darfst dich nicht so anstrengen«, sagte Elida ironisch. »Du hattest doch vorhin dieses Stechen im linken Arm. Geh du, dann mache ich solange Kaffee.«

Ehe die Schwestern einen Entschluß gefaßt hatten, war das Surren der Fliegen am Klebestreifen verstummt. Das Ofenrohr war abgekühlt und hatte seine üblichen drei Knacklaute von sich gegeben, und normalerweise hätten die Zähne der Schwestern Svensson längst in ihren Gläsern auf dem AGA-Herd gelegen, der Kaffee wäre ausgetrunken gewesen und der Sockel des Küchensofas ausgezogen.

Um einundzwanzig Uhr verließen Tilda und Elida gemeinsam das Haus und begaben sich mit zögernden Schritten zu ihrem neuen Nachbarn. Sie hatten ihre Sonntagskleider angezogen und vorher einen Blick in den Flurspiegel geworfen.

Es stellte sich heraus, daß ihr neuer Nachbar Alvar Klemens hieß, um die sechzig Jahre alt war, aus Sundsvall kam und Ministerialdirigent war.

Als Tilda sich erkundigte, wann denn seine Frau einziehen würde, versetzte Elida ihr mit dem Korkabsatz ihrer Lederpantoletten einen Tritt vors Schienbein. Später verteidigte sie sich damit, daß er irgendwie so ausgesehen habe, als sei er verheiratet, und versicherte, keinesfalls .neugierig zu sein. Elida wiederholte, was Schmiedemeister Svensson zum Thema Neugier gesagt hatte, und Tilda schämte sich ein bißchen. Allerdings sahen beide ausgesprochen zufrieden aus, als Herr Klemens erzählte, daß er Junggeselle sei.

Herr Klemens war ein stattlicher Mann, das mußten sich die Schwestern im stillen eingestehen, und außerdem war er freundlich und nett. Er bot ihnen ein Glas von einem hochprozentigen Getränk an, das um einiges stärker schmeckte als der Magenbitter und der Sherry. Dann versicherte er, daß sie so viel Wasser holen dürften, wie sie wollten und wann sie wollten.

Elida und Tilda saßen kerzengerade auf dem schönen Sofa mit Medaillonmuster und wollten gerade aufstehen, als Herr Klemens fragte:

»Darf es noch ein kleiner Schlummertrunk sein?«

Er schenkte seinen beiden Nachbarinnen, die vergeblich protestierten, noch ein Glas von dem Getränk ein. Tilda versuchte zu entziffern, was auf dem Etikett der Flasche stand, doch nirgends konnte sie das Wort »Schlummertrunk« entdecken. Auf der Flasche stand irgend etwas Ausländisches, aber vielleicht bedeutete es auf schwedisch Schlummertrunk?

»Es ist sehr nett von Ihnen, Herr Klemens, daß wir über Ihr Grundstück gehen dürfen, um Wasser zu holen.«

»Aber natürlich«, sagte Herr Klemens lachend. »Und bitte nennt mich doch Alvar, ja?«

Die beiden Schwestern verbeugten sich höflich und so tief, daß ihre eben noch so steifen Rücken zwei Flitzebögen ähnelten.

»Gibt es hier draußen eigentlich eine Altpapiersammlung?« erkundigte sich Alvar.

Die Schwestern sahen ihn verständnislos an.

»Na ja, einen Verein, der das Altpapier zur Wiederverwertung abholt. Ihr seht ja, wieviel bei mir zusammenkommt«, sagte er und zeigte auf einen Stapel Zeitungen auf dem Schreibtisch.

Es waren nicht nur Tageszeitungen, sondern auch Illustrierte. Die Schwestern Svensson wunderten sich, wieviel Alvar schon in der kurzen Zeit, seit er im Dorf war, angesammelt hatte.

»Zeitungen braucht man doch, um Feuer zu machen«, sagte Elida, die nicht verstehen konnte, wie man etwas so Nützliches wie Zeitungen verschenken konnte.