Predigtstudien

Herausgegeben

von Wilhelm Gräb (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,
Klaus Eulenberger, Doris Hiller, Kathrin Oxen,
Christopher Spehr, Christian Stäblein und Birgit Weyel

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände.

Predigtstudien

für das Kirchenjahr 2018/2019

Perikopenreihe I – Erster Halbband

Herausgegeben

von Wilhelm Gräb (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann, Klaus Eulenberger, Doris Hiller, Kathrin Oxen, Christopher Spehr, Christian Stäblein und Birgit Weyel

Redaktion: Martin Kumlehn

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S004

© Kreuz Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Wunderlich&Weigand

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-946905-55-4

ISBN (Book) 978-3-946905-49-3

Inhalt

Homiletischer Essay


Kathrin Oxen

Wortvertrauen –
Zur Einführung der neuen Perikopenordnung

02.12.181. Advent


Matthäus 21,1–11:

Ankunft im eigenen Leben

Frank Michael Lütze / Wilfried Engemann

09.12.182. Advent


Jesaja 35,3–10:

Der Weg der Befreiten

Peter Riede / Ute Niethammer

16.12.183. Advent


Römer 15,4–13:

Tochter Zion, freue dich!

Peter Schaal-Ahlers / Peter Martins

23.12.184. Advent


Lukas 1,(26–38)39–56:

Morgen: Kinder!

Ulrike Suhr / Jan Janssen

24.12.18Heiligabend (Christvesper)


Jesaja 9,1–6:

Hoffnungsgeburt

Wilhelm Gräb / Martin Kumlehn

24.12.18Heiligabend (Christmette)


1 Timotheus 3,16:

Megamysterium der Gottseligkeit

Hans-Martin Gutmann / Frank Thomas Brinkmann

25.12.181. Weihnachtstag


Johannes 1,1–5.9–14(16–18):

Aller Anfang

Martin Vorländer / Ursula Roth

26.12.182. Weihnachtstag


Römer 1,1–7:

Weihnachtlich verbunden bleiben

Astrid Kleist / Marcus Ansgar Friedrich

30.12.181. Sonntag nach Weihnachten


Matthäus 2,13–18(19–23):

Zur Freiheit berufen

Ralf Stroh / Ernst Michael Dörrfuß

31.12.18Silvester


Jesaja 51,4–6:

Erwartungsreserven

Johannes Greifenstein / Thorsten Moos

01.01.19Neujahr


Josua 1,1–9:

Mach dein Ding –
Risiken und Nebenwirkungen

Friedemann Magaard / Kay-Ulrich Bronk

06.01.19Epiphanias


Matthäus 2, 1–12:

»Dies Kind soll unverletzet sein«

Andrea Morgenstern / Maike Schult

13.01.191. Sonntag nach Epiphanias


Josua 3,5–11.17:

Wie es sein könnte

Ulrike Wagner-Rau / Klaus Eulenberger

20.01.192. Sonntag nach Epiphanias


Römer 12,9–16:

Weinet mit den Weinenden

Hajo Petsch / Helge Martens

27.01.19Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus


Epheser 4,25–32:

Die Lücke offen halten

Christine Schlund / Stephan Schaede

27.01.19Letzter Sonntag nach Epiphanias


2 Mose 3,1–8a(8b.9)10(11–12)13–14(15):

Burn-in: Brennende Dornbüsche des Lebens

Lars Heinemann / Matthias Liberman

03.02.195. Sonntag vor der Passionszeit


1 Korinther 1,4–8:

Zu schön, um wahr zu sein?

Wibke Janssen / Henning Theurich

10.02.194. Sonntag vor der Passionszeit


Markus 4,35–41:

»... und schwer zu fassen«

Albrecht Grözinger / Elisabeth Grözinger

17.02.19Septuagesimae (3. Sonntag vor der Passionszeit)


Prediger 7,15–18:

Wo unser Latein am Ende ist

Wiebke Köhler / Cornelia Coenen-Marx

24.02.19Sexagesimae (2. Sonntag vor der Passionszeit)


Apostelgeschichte 16,9–15:

Wegscheide

Christian Nottmeier / Matthias Lemme

03.03.19Estomihi (Sonntag vor der Passionszeit)


Lukas 10,38–42:

Da sein vor Gott – das ist alles

Doris Hiller / Wiebke Bähnk

10.03.19Invokavit (1. Sonntag der Passionszeit)


Hebräer 4,14–16:

Er machte den Weg frei

Sabine Kast-Streib / Markus Engelhardt

17.03.19Reminiszere (2. Sonntag der Passionszeit)


Johannes 3,14–21:

Erinnerst du dich?

Kathrin Oxen / Frank Martens

24.03.19Okuli (3. Sonntag der Passionszeit)


Jeremia 20,7–11a(11b–13):

Notwendige Konfessionen

Ruth Poser / Kristin Merle

31.03.19Laetare (4. Sonntag der Passionszeit)


Johannes 6,47–51:

Vollkorn statt Völlerei

Thomas Schlag / Ralph Kunz

07.04.19Judika (5. Sonntag der Passionszeit)


Johannes 18,28–19,5:

Ein König ohne Reich, aber ein Zeuge für die Wahrheit

Friedrich W. Horn / Sebastian Feydt

14.04.19Palmarum (6. Sonntag der Passionszeit)


Jesaja 50,4–9:

Das Ohr geöffnet

Margrit Wegner / Christof Jaeger

18.04.19Gründonnerstag


1 Korinther 11,(17–22)23–26(27–29.33–34a):

Wegstärkung

Andreas Kubik / Martin Zerrath

19.04.19Karfreitag


Johannes 19,16–30:

Es ist vollbracht

Johann Hinrich Claussen / Matthias Lobe

20.04.19Osternacht


1 Thessalonicher 4,13–18:

Nachtgedanken

Jeanette Kantuser / Tilman Fuß

21.04.19Ostersonntag


Johannes 20,11–18:

Stimme, die Stein zerbricht

Christian Grethlein / Lutz Friedrichs

22.04.19Ostermontag


Jesaja 25,6–9:

Festfreude

Heinz-Dieter Neef / Birgit Weyel

Vergleichstabelle zur neuen Predigtperikopenreihe

Perikopenverzeichnis

Anschriften

Homiletischer Essay

Kathrin Oxen

Wortvertrauen –
Zur Einführung der neuen Perikopenordnung

Zum 1. Advent 2018 wird die revidierte »Ordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte« mit einem Gottesdienst in der Wittenberger Schlosskirche feierlich eingeführt. Ein neues Lektionar und ein neues Perikopenbuch mit dem Text der revidierten Lutherbibel von 2017 werden bis dahin erschienen sein. Damit wird genau vierzig Jahre nach der letzten größeren Perikopenrevision von 1978 die neue Ordnung nach dem in seltener Einmütigkeit im Herbst 2017 gefassten Beschluss der Synoden von EKD, VELKD und UEK in Kraft treten.

Vierzig Jahre sind ein biblischer Zeitraum, der – denkt man dabei an die Wüstenwanderung Israels – einer gewissen Symbolkraft nicht entbehrt. Nun war die alte Perikopenordnung keine Wüste. Sie hatte aber Wegstrecken, die durchaus zum Murren Anlass gaben. Im verflixten siebten Jahr des Durchgangs durch die sechs Perikopenreihen verlassen wir jetzt nach Reihe IV kurzerhand die gewohnten Predigtpfade und beginnen – alles auf Anfang – wieder mit Reihe I. Der Predigttext zum 1. Advent 2018 ist allerdings nicht neu, sondern das wohlbekannte Evangelium aus Mt 21, das den Einzug Jesu in Jerusalem erzählt. Schon am darauffolgenden Sonntag wird aber die markanteste Veränderung der Revision deutlich werden: Es folgt als Predigttext kein weiterer Evangeliumstext, sondern mit Jes 35 ein alttestamentlicher Text. Die bisherige Praxis, jeweils ein Jahr lang eine Hauptgattung biblischer Texte als Predigttexte zu verwenden, wird zugunsten einer Durchmischung der Reihen ganz aufgegeben. Damit gehört auch die bisweilen als homiletische Wüstenstrecke beseufzte Epistelreihe, die ein Kirchenjahr lang für jeden Sonntag einen Episteltext als Predigttext aufgab, der Vergangenheit an. Dem Charakter der »moderaten Revision« entsprechend, bleiben die »alten« Reihen I, II und III (Evangelium, Epistel, alttestamentliche Lesung) aber als Lesetexte weitgehend erhalten.

Darüber hinaus ist der Anteil an völlig neuen Predigtperikopen – manche mögen das bedauern – eher gering. Häufig handelt es sich lediglich um Umstellungen im Kirchenjahr oder um Kürzungen bzw. Erweiterungen. Die Predigtstudien bieten als besonderen Service für alle, die schon über eine längere Zeit mit diesem bewährten Hilfsmittel zur Predigtvorbereitung arbeiten, am Ende eines jeden Bandes eine tabellarische Übersicht zum bisherigen Ort des jeweiligen Predigttextes in der alten Perikopenordnung, wodurch auch die älteren Jahrgänge weiterhin nutzbar bleiben.

Schon in der Phase der Vorbereitung und Erprobung der neuen Perikopenordnung gab es immer wieder den Einwand, die Beschäftigung mit diesem Thema sei ein typisch binnenkirchliches und dazu noch ein Spezialthema einiger weniger liturgiewissenschaftlicher Enthusiasten, deren Begeisterung, Engagement und nicht zuletzt Arbeitskraft an anderer Stelle weitaus sinnvoller hätte eingesetzt werden können. Kritiker des Revisionsvorhabens wie etwa der Praktische Theologe Christian Grethlein forderten in diesem Zusammenhang mit der gleichen Verve, mit der auch schon ›notwendige Abschiede‹ (Klaus-Peter Jörns) von bestimmten Inhalten des christlichen Glaubens gefordert wurden, die Abschaffung des Perikopensystems insgesamt. Er schlug ein Vierfelder-Grundschema des Kirchenjahres mit eher lebensweltlich formulierten Hauptthemen vor. Auch wenn im Folgenden deutlich für das Festhalten am Perikopensystem plädiert werden wird, ist es in meinen Augen wichtig, an dieser Stelle kein schlichtes »Pro und Kontra« aufzumachen, sondern zu sehen, dass in der revidierten Perikopenordnung viel Raum für eine eher an lebensweltlichen Themen orientierte Suche nach biblischen Texten gegeben ist. Die neu erarbeiteten »Themenfelder« und auch die Berücksichtigung von Gedenktagen aus der Erinnerungskultur (27. Januar, 9. November) und der »Volksfrömmigkeit« (Nikolaus, St. Martin) stehen beispielhaft dafür.

Zudem ist zu prüfen, ob im Zuge der Einführung der neuen Perikopenordnung nicht auch das am Kalenderjahr und an lebensweltlichen Themen orientierte Modell des »Elementaren Kirchenjahres« noch einmal sehr genau in den Blick genommen werden sollte. Seine Rezeption ist bislang relativ gering; seine Bedeutung könnte in den nächsten Jahrzehnten in einer sich verändernden gottesdienstlichen Wirklichkeit noch erheblich steigen. Erfreulicherweise wird diese »alternative Perikopenordnung« auch im neuen Perikopenbuch abgedruckt sein.

Nicht nur in Wittenberg ist ein Jahr nach dem Reformationsjubiläum wieder Ruhe eingekehrt. Es wird zurückgeblickt und ausgewertet. Dabei sind es nach meinem Eindruck in erster Linie nicht die Veranstaltungen mit Eventcharakter, die in Erinnerung bleiben. Nachhaltigere Wirkungen sind in anderen Bereichen spürbar. Dazu zählen die Revision der Lutherbibel mit ihren Neuausgaben – einschließlich einer kostenfrei herunterladbaren App –, die das Jubiläumsjahr eröffnete, und die überraschend hohe Akzeptanz der Gottesdienste in den Gemeinden zu seinem Abschluss am Reformationstag 2017. Sie hat dessen Einführung als neuen gesetzlichen Feiertag in mehreren norddeutschen Bundesländern erleichtert, vielleicht sogar überhaupt erst möglich gemacht. Genau in der Schnittmenge dieses deutlich wahrnehmbaren Interesses an der Bibel und am Gottesdienst bewegt sich das Vorhaben einer Perikopenrevision. Die Frage, welche Texte im Gottesdienst laut werden und der Predigt zugrunde liegen sollen, ist von hoher theologischer Relevanz, weil sie den Anspruch des reformatorischen Schriftprinzips in die Praxis überträgt, nach dem die Kirche eine creatura verbi divini ist. Ausgehend vom grenzenlosen Wortvertrauen Martin Luthers, dessen reformatorische Entdeckung – jedenfalls in seiner eigenen Darstellung – hauptsächlich von der Lektüre eines biblisches Textes ausgegangen ist, ist die Frage nach dem Umgang mit und der Verwendung von biblischen Texten im Gottesdienst für die »Kirche des Wortes« auch 500 Jahre später noch relevant. Die berühmten letzten Worte Luthers »Wir sind Bettler, das ist wahr« waren zudem keine allgemein existenzphilosophische Einsicht, sondern der Seufzer eines Menschen angesichts des unerschöpflichen Reichtums der biblischen Texte. Auch in lebenslanger wissenschaftlicher und homiletischer Beschäftigung mit ihnen hatte jedenfalls Luther nicht den Eindruck, damit auch nur annähernd an ein Ende gekommen zu sein.

Diesen Reichtum biblischer Texte will die Perikopenordnung in das gottesdienstliche Leben in den Gemeinden übertragen. Im Wissen um die aus pragmatischen Gründen nötige Auswahl biblischer Texte für den Gottesdienst und die damit verbundene Beschränkung müssen alle Bemühungen um diese Auswahl theologisch gut verantwortet sein. Es ist im Zuge der jüngsten Revisionsbemühungen an vielen Stellen deutlich geworden, dass die hermeneutischen Voraussetzungen der Perikopenauswahl eigentlich zuvor einer systematisch-theologischen Durchdringung bedurft hätten. Diese ist zwar begleitend auch zur aktuellen Revision erfolgt, dennoch bleibt eine eigene »Theologie der Perikopenordnung« mit der Reflexion ihrer Zeit- und Kontextgebundenheit ein Desiderat.

Sehr vergröbert und ohne dies jetzt im Einzelnen zeigen zu können, lässt sich sagen, dass die Entscheidungen bei der Textauswahl, die in der Perikopenordnung von 1958 getroffen wurden, einen deutlich soteriologischen und christologischen Akzent aufweisen. Die Veränderungen von 1978 nahmen bereits Themen aus dem Kontext gesellschaftlicher und kirchlicher Umformungen, die (kleine) Überarbeitung von 1999 vor allem Themen des konziliaren Prozesses auf. Und 2018 werden es die Einsichten aus den verschiedenen »engagierten Exegesen« der vergangenen vierzig Jahre, wie etwa aus dem christlich-jüdischen Dialog und der feministischen Theologie sein, die Kriterien für die Auswahl der Texte geliefert haben. Auffällig ist außerdem, dass Texte mit existenziell-lebensweltlichem Bezug, die sonst eher bei Kasualien Verwendung fanden, nun auch als Predigtexte vorgeschlagen werden. Dazu zählen viele Texte aus der weisheitlichen Literatur und die Psalmen, aber auch prophetisch-politische Texte. Die deutlichste Veränderung im Vergleich zur alten Perikopenordnung ergibt sich durch die Erhöhung des Anteils alttestamentlicher Texte, von denen viele wirkungsgeschichtlich außerordentlich relevant sind, aber zuvor nicht oder nur als Marginaltexte Verwendung als Predigttext fanden. In der Erprobung wurden diese Texte als besonders prädikabel bewertet.

Eine erste Erprobung von Teilen der revidierten Ordnung fand im Advent 2012 mit den Adventsproprien statt, eine weitere in der Trinitatiszeit 2013, während der auch die neuen Proprien für den 10. Sonntag nach Trinitatis, den Israelsonntag, erprobt wurden. Seit November 2014 lag das umfangreiche Erprobungslektionar vor, das vor dem Beginn des Kirchenjahres 2014/2015 den Landeskirchen zugänglich gemacht wurde. Das Zentrum für evangelische Predigtkultur (ZfP) in Wittenberg unterstützte die Bemühungen um die Perikopenrevision vom Beginn der Erprobung an durch Veröffentlichung von Predigthilfen. Zu den kleineren Erprobungsphasen erschien die vom ZfP herausgegebene Predigthilfe »StichWort«. Mit der Veröffentlichung des Erprobungslektionars ging im November 2014 die Internetseite www.stichwortp.de online, die in Zusammenarbeit mit allen namhaften Herausgebern von Predigthilfen in Deutschland Meditationen oder fertige Predigten zu den etwa 110 neu in die Perikopenordnung aufgenommenen biblischen Texten zur Verfügung stellt. Diese Internetseite steht auch weiterhin zur Verfügung.

Dass eine verbindliche Ordnung gottesdienstlicher Lesungen und Predigttexte grundsätzlich sinnvoll ist und wenig hinterfragt wird, hatten die empirische Untersuchung zur Perikopenordnung aus dem Jahr 2010 bereits gezeigt (vgl. Empirische Studien). Diese Zustimmung ist aber nicht, wie gelegentlich gemutmaßt wird, ausschließlich arbeitsökonomisch und durch das vorhandene Angebot von Predigthilfen bestimmt. Die Auslegung des gleichen biblischen Textes von unterschiedlichen Predigtpersonen in unterschiedliche Situationen hinein hat über pragmatische Aspekte hinaus eine Predigerinnen und Prediger verbindende, geistliche Dimension. Wo Möglichkeiten des Austausches über verschiedene Predigten zu dem gleichen Text gegeben sind, wird es vielfach als entlastend erlebt, in der eigenen Predigt nicht alles zu einem Text sagen zu müssen, sondern auf die Vielstimmigkeit und Mehrdimensionalität der verschiedenen Predigten vertrauen zu können.

Diese Beobachtung wird durch eine Vielzahl von Rückmeldungen, die das ZfP innerhalb seiner facebook-Gruppe erreichen, bestätigt. Dort wurde bedauert, dass man ein Jahr lang nicht miteinander am jeweils gleichen Predigttext arbeiten könne, weil jeder ja eine andere Reihe erproben »musste«. Dieser geistliche Gemeinschaft stiftende Aspekt der Perikopenordnung wird so durch die Revisionsbemühungen noch einmal in besonderer Weise bestätigt – ein vielleicht so nicht beabsichtigter, aber dennoch bemerkenswerter Nebeneffekt.

Das Maß an Veränderungen bei biblischen Texten wird in der Wahrnehmung der Predigenden außerdem eher »zu gering« als »zu groß« ausfallen. Die verbreitete Angst vor »Überforderung« bzw. das zu geringe Zutrauen in die Rezeptionsfähigkeiten der jeweils anderen Seite scheint sich nicht nur im Verhältnis zwischen den Predigenden und den Hörenden abzubilden, sondern auch im Verhältnis zwischen den Verantwortlichen für die Revision und den Predigenden. Mehr Zutrauen in die homiletische Neugier der Predigenden und in das Anregungspotenzial noch ungepredigter Texte sind dringend geboten: »Die neue Lust am Tüfteln: Da sind noch keine Anmerkungen in meiner Bibel aus den letzten zweieinhalb Reihendurchgängen. Und auch nicht das ›Schon-Wieder‹-Gefühl«, formulierte eine Kollegin unlängst. Und ein Kollege schreibt: »Die neu hinzugekommenen Texte sind sicher eine Herausforderung. Zum einen, weil sie noch nicht im Kanon der Predigtliteratur besprochen sind. Zum anderen, weil sie auch noch persönlich unbedacht sind und auch in früheren Zeiten noch nicht gehört worden sind. Die Herausforderung, sich dem Wort Gottes neu und aufs Neue zu stellen, ist unheimlich anregend. Meine Predigten wirkten auf mich noch etwas roh und unfertig. Problematisch ist das aber nicht. Ich bin froh über das neue ›Futter‹.«

So bleibt zu hoffen, dass sich ab dem 1. Advent 2018 viele Predigerinnen und Prediger mit der gleichen Neugier und Entdeckerfreude auf den Weg durch die neue Perikopenordnung machen. Die Erprobung ist abgeschlossen – und sie beginnt jetzt.

Literatur: Empirische Studie zur Perikopenordnung – Abschlussbericht, epd-Dokumentation Nr. 44 vom 2. November 2010; Christian Grethlein, »Was gilt in der Kirche?« Perikopenrevision als Beitrag zur Kirchenreform, Leipzig 2013.


A

1. Advent

Matthäus 21,1–11:

Ankunft im eigenen Leben


Frank Michael Lütze

I Eröffnung: Tochter Zion – freue dich?!

Die Perikopenrevision hat nur auf den ersten Blick das Proprium des Ersten Advents unverändert beibehalten. Nach wie vor eröffnet der Zug Jesu über den Ölberg und das »Hosianna dem Sohn Davids« (V. 9) gemäß der Matthäus-Fassung den Advent. Doch macht die nun festgelegte Erweiterung um zwei Verse (Mt 21,1–11 statt 21,1–9) deutlich, dass die Freude keineswegs ungeteilt ist, vielmehr der von den einen bejubelte Einzug – erst recht im Zusammenhang mit den folgenden Ereignissen im Tempel 21,12–17, die zu dieser Erzählung dazugehören! – auf andere durchaus befremdlich wirkt.

Geradezu meisterlich inszeniert Pier Paulo Pasolini in seinem Film Il Vangelo Secondo Matteo mithilfe Laiendarsteller den Kontrast (die Szene ist im Internet unter den Stichworten »pasolini vangelo tempio« leicht zu finden): Während humpelnde Alte und lärmende Straßenkinder Jesus begleiten und hinter ihm in das zum Tempel umfunktionierte Castel del Monte drängen, mit Zweigen fuchteln und ihr Hosianna herausschreien und damit selbst Pasolinis strengen Jesus zum Lachen bringen (zum ersten und wohl einzigen Mal im ganzen Film), reagieren die Granden des Hauses nachvollziehbar pikiert auf die chaotische, in jeder Hinsicht wenig würdige Szene. Tochter Zion, freue dich?! In einer Zeit, in der merkwürdige Imperative so dicht wie sonst nirgends im Kirchenjahr begegnen – Freue dich! Bereite dich! Öffne dein Herz! und abermals: Freue dich! –, könnte ein Ritardando, das um die Ambivalenz und Anstößigkeit Jesu weiß, geradezu entlastend wirken. Dazu braucht es freilich solider exegetischer Arbeit, um nicht in der einen oder anderen Weise einer Verkitschung der Szene zu erliegen.

II Erschließung des Textes: Das Heiligtum wird zum Heiltum

a) Jesu Weg von Betfage über den Ölberg ist in der Matthäusvariante weder ein klassischer Triumphzug noch der in den Bibelüberschriften angekündigte »Einzug in Jerusalem«. Ersterem hat die Revision nun Rechnung getragen, die die Perikope nicht länger mit der Aufforderung Sagt der Tochter Zion … und einem vollmundigen Hosianna in der Höhe! enden lässt, sondern Tochter Zions skeptische Reaktion noch hinzunimmt: »Wer ist denn dieser?« (V. 10) Das war ein richtiger, sachlich freilich noch kein ganz überzeugender Schritt: Der Zug Jesu bleibt auch im jetzigen Perikopenzuschnitt ein Weg ohne wirkliches Ziel. Die Markusvorlage kaschiert die erzählerische Verlegenheit, indem sie Jesus anschließend eine spontane, inhaltlich nicht motivierte Stadtbesichtigung machen lässt (Mk 10,11). Bei Matthäus hingegen ist – so zu Recht Luz und weitere Kommentatoren – der Tempel das eigentliche Ziel des Einzugs: Auf diesen Ort zielt der Herrschaftsanspruch Jesu, hier zeigt sich, was pra’ys (V. 5) praktisch meint – und hier kulminiert die schon den Einzug begleitende Rivalität zwischen Hosiannarufern zweifelhafter Provenienz und städtischer Aristokratie. Kurz: Es handelt sich bei Mt 21,1–17 um eine einzige durchgehende Erzählung. Wer sie – wie die Perikopenordnung – auf halbem Weg abbricht, läuft Gefahr, dem Jubel seinen eigentlichen Grund, dem Einziehenden sein Programm und nicht zuletzt dem damaligen wie heutigen Beobachter das Recht auf kritische Distanz zu nehmen.

b) Kratzt man ein wenig am adventlichen Blattgold, das aus dem bejubelten Weg den Ölberg herab eine Art messianische Krönungsmesse macht, kommen darunter Ambivalenzen zum Vorschein, die eine einfache erbauliche Adaption signifikant erschweren. Auffällig ist insbesondere die Spannung zwischen Demut und selbstbewusstem Herrschaftsanspruch: Der hier als »sanftmütig« gepriesen wird, lässt sein Reittier nicht, wie noch in Mk 11,3, zeitweilig ausborgen, sondern kurzerhand für den Kyrios konfiszieren; und jener Esel, der in Predigten der Spur von Sach 9,9 folgend gern zum Inbegriff der Demut wird, erinnert nicht zufällig an jenes königliche Maultier, auf dem ein echter Davidssohn wie einst Salomo (vgl. 1 Kön 1,38–40) seine Herrschaft antritt. Noch einmal gesteigert scheint der Anspruch schließlich, wenn der Einziehende das ihm geltende Hosianna selbst im Tempel nicht abwehrt, sondern mit dem Zitat aus Psalm 8 als Gotteslob (!) interpretiert und sich damit mehr oder weniger mit göttlicher Aura umgibt. Wie immer man diesen Anspruch theologisch einordnet (dazu s. u.): Sanftmütigkeit ist durchaus nicht der einzige Gefährt des Einziehenden, der keineswegs für alle Freud und Wonn mit sich bringt. Wer alle Ambivalenzen aus Mt 21 entfernt und daraus ein adventlich-romantisches Bild macht, hat wohl von dem, der da kommt, noch weniger verstanden als das Jerusalemer Establishment, das Anstoß an ihm nimmt.

c) Eine Predigt kann kaum darauf verzichten, den Herrschaftsanspruch des Einziehenden inhaltlich zu untermauern bzw. zu legitimieren. Meist geschieht das durch ergänzend genannte Eigenschaften, die bald dem Traditionsbild des gerechten Königs (gerecht, gütig, demütig – so die Adventslieder), bald moderneren Vorstellungen vom sanften Menschenfreund entlehnt sind. Bricht man aber die Erzählung nicht mit V. 11 ab, sondern lässt den Einziehenden an sein Ziel kommen, so wirken die folgenden Szenen im Tempel wie eine programmatische Selbstvorstellung, eine inauguration speech, die zeigt, was von dieser Herrschaft zu erwarten ist. Dabei bilden die sog. Tempelreinigung, die summarisch berichtete Heilung und das abschließende Lob der Kinder eine dynamische Einheit. Auch wenn die Interpretation insbesondere der »Tempelreinigung« mit Unsicherheiten im Detail behaftet ist (vgl. dazu Luz, 185–187), so dürfte doch der gemeinsame Nenner der drei Szenen darin bestehen, dass ein hierarchisch verwaltetes und für die Aristokratie profitables Heiligtum von Grund auf umgestaltet wird zu einem Heiltum, zu einem heilsamen Ort für Marginalisierte. Der Davidssohn zeigt sich, mit einem alten adventlichen Wort, als Heiland – und zwar vor allem als Heiland derer, die am Rand der Gesellschaft stehen. Dass sie fortwährend »Hosianna dem Sohn Davids!« rufen, ist insofern ebenso sprachlich unsinnig wie es sachlich doch Sinn macht: unsinnig, insofern »Hosianna« von Haus aus keine Akklamation, sondern die griechische Fassung einer Bitte (hebr. hoschiah na, hilf doch!) ist; sachlich dennoch passend, insofern ebendiese Hilfe exakt das Kernanliegen des Einziehenden ist.

d) Vor diesem Hintergrund kann mich die klassische protestantische Allegorisierung von Mt 21 als spiritueller Einzug Jesu ins gläubige Herz nur bedingt überzeugen. Es ist nicht nur der reichlich assoziative Umgang mit dem Bezugstext, der für Menschen, die nicht mit Macht hoch die Tür und Wie soll ich dich empfangen sozialisiert wurden, schwer nachvollziehbar ist. Vor allem nimmt eine rein individuelle Adaption dem Text jene politische Dimension, jene gesellschaftskritische Note, die spätestens dann unüberhörbar ist, wenn man Weg und Ziel, Ölberghosianna und Tempelhosianna zusammenhält. Der Hilf-doch-Messias gehört eben nicht nur in mein Herz, sondern wendet sich dorthin, wo Hilfe am allernötigsten ist; der Einziehende verändert nicht nur Herzen, sondern auch exklusive Selbstbilder und exkludierende Strukturen. Und wenn man denn unbedingt an einer spirituell-allegorischen Lesart festhalten und das eigene Herz als Tempel anbieten möchte (vgl. EG 166,2), dann soll man wenigstens die ganze Geschichte allegorisch lesen: Dann muss auch in diesem »Tempel« das wenig ästhetische Lob der Unmündigen und Unwürdigen seinen Ort haben.

III Impulse: Anstecken statt Aufrufen

Der Advent ist traditionell eine Zeit der Vorbereitungsimperative. Unser Text eignet sich dafür im Grunde denkbar schlecht: Denn Türen und Herzen öffnen, Weg bereiten, jubeln und Palmzweige streuen – von solchen Aktionen ist hier nicht im Imperativ, sondern im Indikativ die Rede. Das alles geschieht einfach, der Herr kommt, Menschen leben auf und können schlecht anders als sich freuen. Das geschieht, aber wo und wann, ist bei diesem Herrn chronisch schlecht voraussagbar; bisweilen spielt eben die beste Musik vor den Toren Jerusalems. Es könnte adventlicher sein, mit der Predigt den Blick darauf zu richten, erzählend die Freude in den Gesichtern von Menschen zu zeigen, als wie der Ansager eines Stars auf der Bühne zu stehen und periodisch wiederkehrend Applaus zu fordern für den, der derweil im Nachbarort auftritt. Pasolinis jubelnden Dreikäsehochs im Tempel, die mit ihren Zahnlücken kaum fehlerfrei Hosianna rufen können, kann man schwer widerstehen. Lassen sich in der Predigt ähnliche Szenen schildern von einem Herrn, der unverhofft auftaucht, und von Menschen, deren Freude darüber ansteckend ist? Während ich an der Predigtstudie sitze, schreibt ein Freund, der gerade in Afrika Theologie studiert, von einer solchen Begegnung. Ich würde sie in meiner Adventspredigt aufnehmen und drucke sie – mit Dank an den Autor – in anonymisierter Form ab:

Werkstück Predigt

Ich war vorgestern bei einem Freund zu Besuch, dessen Mitbewohner ein fröhlicher Muslim ist. In seinen Augen sind wir jetzt schon beide »Pastors«. Als ich mich vorstellte, bat er mich kurzerhand, ihm den Segen Gottes zuzusprechen. Immerhin sei unser Gott doch für uns alle da. So kam es dazu, dass in der kleinen vergitterten und etwas angeranzten Hinterhofwohnung ein Christ einem Muslim auf dessen Bitte den Segen Gottes zugesprochen hat. Und als dessen anderer (ebenfalls muslimischer) Freund Gefallen daran fand, hat sich das Geschehen gleich noch einmal wiederholt. Wer am Ende hier mehr gesegnet wurde, ist für mich nicht zu entscheiden: ein Muslim, der sich dem (christlichen) Gott verbunden fühlt, oder ein Christ, der von der Offenheit eines (muslimischen) Glaubens bereichert wurde.

Literatur: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus Bd. 3 (EKK 1/3), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1997.

B

Wilfried Engemann

IV Entgegnung: Der prototypische Charakter des 1. Advent

Der mir am wichtigsten erscheinende Punkt im Fazit von A ist die Einsicht, dass in diesem Text und hoffentlich auch dem Gottesdienst, mit dem das Kirchenjahr programmatisch neu einsetzt, vom »Türen und Herzen öffnen, Weg bereiten, jubeln und Palmzweige streuen … nicht im Imperativ, sondern im Indikativ die Rede« (A III) ist. Die Menschen, die in diesem Text und am 1. Advent 2018 ihren Glauben zur Sprache bringen, nehmen dabei selbstverständlich Bezug auf das, was (mit ihnen) ist, sie artikulieren zuversichtlich und mit guten Gründen, was sie erwarten – und das vor dem Hintergrund von Erfahrungen, die sie gemacht haben. Sie wissen nicht nur intuitiv, sondern auch aufgrund von Geschichten, was für sie gut ist, und lassen sich dabei (noch) nicht beirren.

Die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem und seinem sich unmittelbar anschließenden Auftritt im Tempel erzählt von Menschen, die sich ihrer »Sache« – in diesem Zusammenhang: dass es ihnen gut geht – sehr sicher sind. Die wiederholten summarischen »Heilungsberichte« gehören – wenn auch nicht allein – in den Begründungszusammenhang für das Bedürfnis der Menschen, sich mit Jubel zu artikulieren. Unmittelbar vor der Predigtperikope haben die »zwei Blinden zu Jericho« ihren Auftritt; im Tempel, nach der Aufräumaktion Jesu, sind es viele »Lahme und Blinde«, die Heilung erfahren; die Kinder haben von den Erwachsenen bereits durch »Nachahmung« gelernt, wem wofür zu danken ist, und jubeln mit. Ohne bestellt zu sein, jubeln Menschen jemandem zu, dessen Hilfe und Solidarität sie sich gewiss sind. Da diese Art des Jubels weder in der Antike noch in der Gegenwart selbstverständlich ist, ist die Frage »Wer ist das bloß?!« (V. 10) ebenso naheliegend wie berechtigt. Normalerweise werden derartige Aufläufe von Massen inszeniert, »Wink-Elemente« werden gratis bereitgestellt – ohne dass die zu diesen quasi-religiösen Übungen Abkommandierten dazu motiviert wären. Ihnen fehlen in der Regel die Beweggründe.

Den Menschen, denen zum 1. Advent gepredigt wird, fehlen sie nicht. Sonst wären sie nicht da. Die Beweggründe ihrer Zuversicht, die Gründe für ein dem Jubel nicht entfremdetes Lebensgefühl – kurz: für ein Leben aus Glauben – können aber gleichwohl neu artikuliert und vertieft werden. Der erste Sonntag des Kirchenjahres verdeutlicht prototypisch eine zentrale Facette der religiösen Praxis des Christentums: Sie zielt nicht auf die Mobilmachung der Massen im Interesse irgendeiner Idee, für die sich die Menschen in Anspruch nehmen lassen und im Ernstfall opfern müssten, sondern dient Menschen dazu, leben zu können.

V Erschließung der Hörersituation: Ankunft des Menschen im eigenen Leben

1. Gegenwärtig werden – »Wann, wenn nicht jetzt?«

Wem die Erkundung der anthropologischen Dimension der Sonn- und Festtage des Kirchenjahres ein Anliegen ist, braucht nicht lange zu warten: Der 1. Advent ist eine Steilvorlage für die Herausforderung und die Möglichkeit, Predigt für Predigt herauszuarbeiten, inwiefern Sonntag für Sonntag eine Facette unseres Menschseins (vor Gott und in der Welt) im Fluchtpunkt des liturgisch-homiletischen Prozesses steht: Wir werden in einem Maße von Erfahrungen und Erwartungen bestimmt, dass es unausweichlich ist, sich hin und wieder ihrer Inhalte zu vergewissern und sie zu konkretisieren – um ihnen zu trauen, um das eigene Gewissen zu schärfen und um zu wissen, woher die Verbindlichkeit der damit verbundenen Einsichten kommt.

Die Menschen, die Jesus beim Einzug in Jerusalem folgen, die ihn bei seinem Auftritt dort bejubeln und im Hören auf seine Worte zuversichtlich gestimmt werden, sind den Hörern der Predigt darin verwandt, dass ihnen ihr Glaube geholfen hat, aufzustehen und Hoffnung zu schöpfen, Scham zu überwinden, der eigenen Erfahrung zu vertrauen, einen Schritt in die Freiheit zu gehen. Der »eschatologische Ernst« dieses Sonntags drückt sich darin aus, dass es Ernst wird mit dem eigenen Leben, dass Menschen wirklich anfangen zu leben, in ihre eigene Gegenwart durchbrechen – was nicht nur in dieser Geschichte mit dem Ausbruch von Jubel als zuverlässigem Indikator intensiven Gegenwärtigseins einhergeht. Sich als Prediger mit der Gemeinde unter die Jubelnden zu begeben, hat nichts damit zu tun, Leid und Schmerz, Krankheit und Tod zu übergehen, sondern die Geschichte des eigenen Lebens als Geschichte einer Ankunft im eigenen Leben wahrzunehmen.

Wer die Erfahrung macht, »gelebt zu werden«, d. h. seine Erwartungen an die unterstellten Erwartungen oder Vorgaben anderer anzupassen, eigene Beweggründe zu vergessen, keine Ideen mehr für den morgigen Tag zu entwickeln usw., hat keinen Grund zu jubeln, es sei denn, er wird gezwungen. Niemand kann das wollen, ohne sich aus einem eigenen Leben zu verabschieden. Vor diesem Hintergrund ist der auf »Ankunft« gestimmte, mitreißende, den Ernst der Lage (»Wann, wenn nicht jetzt?!«) vergegenwärtigende Text dazu geeignet, neu zur Sprache zu bringen, in welchem Maße unser Leben aus Glauben Ausdruck von in Anspruch genommener Solidarität (Gottes) und wachsender Freiheit ist.

2. Religiöse Praxis als Erkenntnisprozess

Diese Facette des Christentums, für die der 1. Advent prototypisch steht, lässt Glauben als einen Aneignungsprozess erscheinen, für den eigene Wahrnehmung und daraus resultierende persönliche Erfahrung ebenso konstitutiv sind wie leidenschaftliches – eher selten in explizitem Jubel artikuliertes – Gegenwärtigsein. Dieser Prozess hat substanziell mit Erkenntnis zu tun: Menschen erkennen, was zählt, was hilft, was wichtig für sie ist. Sie empfinden Dankbarkeit, lassen sich in Anspruch nehmen und beziehen Position.

Das hat so gar nichts von der betäubenden Wirkung, die der Religion in Anlehnung an Karl Marx gelegentlich zugeschrieben wird. Marx hatte übrigens das Erscheinungsbild von Religion an Vorabenden von Revolutionen im Blick, als er ihr – dem ›Opium des Volks‹ – die Eigenschaft zuschrieb, Menschen an der Autonomie zu hindern. Andere Religionskritiker halten dagegen, dass die geschichtliche Wirkung von Religion leider nicht die eines Opiates sei, sondern Religion sei eher aufputschend wie Kokain (vgl. Eco, 9). Dabei wird sarkastisch auf die schier endlose Liste religiös begründeter, irrationaler Gewaltausbrüche verwiesen, u. a. auf die Kreuzzüge, auf fundamentalistische Aktionen in allen Religionen, bürgerkriegsartige Konfrontationen unter Katholiken und Protestanten u. a. m.

Die jubelnden Menschen am Wegrand stehen nicht unter Drogen, sondern artikulieren eine Erkenntnis, was selbst schon als religiöser Akt zu begreifen ist: Sie fangen an, eine Geschichte zu verstehen, und sie begreifen, wie diese Geschichte sich in ihr eigenes Leben hinein fortsetzt. Ihr Jubel ist Folge davon, dass sie ein Vorher und Nachher kennengelernt haben und in der Gegenwart als ihrer Zeit angekommen sind.

VI Predigtschritte: Mobilisierung des Vertrauens ins Vertrauen

1. Beim Indikativ anzusetzen, heißt, etwas in den Blick zu nehmen, was da ist. Dafür sollten drei Minuten der Stille eingeräumt werden.

Werkstück Predigt

Wir haben die Hurra-Rufe am Straßenrand und das übermütige Hosianna der Kinder im Tempel noch im Ohr. Erfahrene Hilfe, Heilung gar haben hoch emotionale und zugleich begründete, reflektierte Reaktionen der Dankbarkeit ausgelöst. Ist in diesem Nachhall nicht auch etwas von Ihrem eigenen Jubel zu hören, den Sie an bestimmten Punkten Ihres Lebens empfunden haben – ganz gleich, ob Sie das zum Singen oder glückseligem Schweigen gebracht hat? Lassen Sie uns – jeder und jede für sich – an einen solchen Moment denken, an dem begründeter Jubel in uns war.

Stille (ca. drei Minuten).

Im Nachgang zu dieser Übung wird vertieft, wovon diese Situationen geprägt sind: Wir vermögen durchaus zu erkennen – und wissen das entsprechend zu schätzen, indem wir uns freuen –, was für uns gut ist. Dass uns das, auch ohne unser Zutun, hin und wieder zuteil wird, ist unverfügbar. Solche Erfahrungen der Solidarität, des uneingeschränkten Beistands und der anhaltenden Hilfe gehören zu den wichtigsten Koordinaten unseres Lebens. An ihnen orientieren wir uns zu Recht. Sie in den Blick zu bekommen, hat mit Schatzsuche zu tun.

2. Zur Vertiefung des sich darauf gründenden Lebenskonzepts gehört es, die Möglichkeit der Erschütterung jenes Wissens um die Ressourcen des eigenen Lebens anzusprechen: Wir machen die Erfahrung, in der Beurteilung dessen, was für uns gut ist, unsicher zu werden – etwa dann, wenn andere »Logiken« des Lebens in den Vordergrund rücken und die Frage aufwerfen, ob es wirklich wichtig ist, (in der Symbolsprache der Bibel gesprochen:) mit reinem, ungeteiltem Herzen zu leben, nicht gegen die eigenen Überzeugungen zu handeln, Teilen als Form eines Lebens »aus dem Vollen« zu verstehen usw. Dass nicht wenige von denen, die eben noch jubelten, in dem Moment unsicher werden und »Kreuzigt ihn!« rufen, als die Staatsmacht ein sich auf Jesus gründendes Lebenskonzept für unerwünscht erklärt, zeigt, wie tief solche Irritationen reichen können.

3. Die Predigt zielt nicht auf eine Mobilmachung der Anwesenden zum Jubel, sondern auf ein Innehalten und Gewahrwerden der Umstände und Gründe, die uns zumindest im übertragenen Sinn jubeln lassen, indem wir erkennen, dass uns unser Glaube geholfen hat: dass es richtig war, zu einer Überzeugung zu stehen, hinter die wir nicht mehr zurück konnten, dass es recht war, uns hier zu verweigern und uns dort zu engagieren, dass die Lebenskunde Jesu nicht in die Irre führte, dass unser Vertrauen in unser Vertrauen nicht enttäuscht wurde.

Literatur: Umberto Eco, Ein unverbesserlicher und zugleich liebevoller Wüterich [Vorwort], in: José Saramago, Das Tagebuch, Hamburg 2010, 5–11.


A

2. Advent

Jesaja 35,3–10:

Der Weg der Befreiten


Peter Riede

I Eröffnung: »Stärkt die schlaffen Hände!«

Der Predigttext für den 2. Advent ist ein Mutmachtext. Er lädt ein, Ballast abzuwerfen, den Blick neu auszurichten, die Ohren zu öffnen und sich in Bewegung zu setzen. Hier wird kein Aktionismus gepredigt, der von Menschen ausgehen müsste, sondern es wird aufgefordert, die Zeichen der Zeit zu sehen: Die Wüste wird voller Wasser, die Trockenheit ist vorüber, neues Leben ist möglich.

Immer wieder gibt es Wüstenzeiten, Zeiten, in denen sich scheinbar nichts bewegt. Das betrifft das persönliche Leben von Menschen, es betrifft Erfahrungen im Beruf, in der Kirche. Solche Erfahrungen ermüden. Und dann plötzlich wieder ein Neuanfang, ein kleines Zeichen, ein Hoffnungszeichen, das in die Zukunft weist. Manchmal muss etwas von außen dazukommen, damit sich etwas bewegt, ein Anstoß, eine Erfahrung, ein Thesenanschlag. Es muss etwas von außen kommen, so wie das Wasser, das die Wüste belebt, das das trockene Land ergrünen lässt, das den Durst der Durstigen stillt und sie wiederbelebt. Manchmal muss etwas von außen dazukommen, das meine Lähmung durchbricht und mich mit einem Neuanfang beschenkt. Manchmal braucht es fast ein Wunder, damit sich etwas bewegt, so wie wenn Wasser in der Wüste hervorbrechen und die Dürre in leuchtendes Grün verwandeln.

»Seht – da ist euer Gott«, das ist der Ausblick des Tages. Nach ihm gilt es, Ausschau zu halten in der Adventszeit, nach seinen Zeichen, die den Alltag durchbrechen, gilt es zu suchen. Seine Zeichen gilt es zu entdecken, die einem Müden wieder die Leichtigkeit zurückgeben, damit er springen kann wie ein Hirsch. Der Jubel geht leicht von der Zunge. Diese Botschaft will anstecken, diese Botschaft will viele erreichen. »Seht auf und erhebt eure Häupter.« (EG 21, nach Lk 21,28)

II Erschließung des Textes: »Siehe – euer Gott«

Jes 35 ist eine wohl aus der späten Exilszeit, wahrscheinlich dem 4. Jahrhundert vor Christus stammende Heilsankündigung für Israel, die auf die Verkündigung Deuterojesajas zurückblickt und diese unter veränderten Bedingungen erneuert. Das Kapitel hat einen dreiteiligen Aufbau:

V. 1–2 Die Verwandlung der Natur als Grundlage für JHWHs Erscheinen
V. 3–6a Die Verwandlung der Menschen
V. 6b–10 Ihre Rückkehr zum Zion

Der erste Teil, der nicht Bestandteil der zu predigenden Perikope ist, hilft, die Gesamtaussage des Textes zu verstehen, und sollte daher in der Predigt nicht ausgeblendet werden. Die Natur wandelt sich. Wüste und Steppe brechen in Jubel aus, weil sie erblühen. Dieser Jubel wird mit mehreren Ausdrücken benannt, und schließlich wird selbst die sprichwörtliche Pracht des Libanon, von Karmel und Scharon, der dichte Bewuchs dieser Berge herangezogen, um zu schildern, was das neue Erscheinungsbild von Wüste und Steppe ausmacht. Sie ist grün, voller Leben, voller Lebensmöglichkeiten. In dieser Pracht der Natur zeigt sich zugleich die Herrlichkeit Gottes, die von den verwandelten Landschaften »erkannt« wird. Die Natur wird so zum Vorbild für die Menschen, an die sich die Heilsbotschaft richtet.

Diese Menschen sind dann im Folgenden im Blick (V. 3–6a). Sie werden charakterisiert als solche, die schlaffe Hände, ein ängstliches Herz und wankende Knie haben (V. 3). Es sind Menschen, die unter der Abwesenheit Gottes leiden und aufgrund dessen in jeglicher Hinsicht erstarrt und gelähmt sind. Doch dabei bleibt es nicht. Durch Ermunterungsrufe sollen sie in ihrer Vitalität gestärkt werden. Grund für diesen Zuspruch ist die heilvolle Rückkehr Gottes, der für sein Volk eintritt und die zur Rechenschaft zieht, die Israels Verderben bewirkt haben. »Siehe – euer Gott« – dieser Ruf ist verbunden mit der Heilswende, von deren Folgen die anschließenden Verse erzählen.

Der Verwandlung der Natur folgt die Verwandlung der Menschen (V. 5f.). Mit Augen, Ohren und Zunge wird die Reihe der Körpertermini aus V. 3f. fortgeführt, nur dass sich jetzt die Wirkung der Heilsoffenbarung Gottes zeigt. Blinde, Taube, Lahme, Stumme bleiben nicht im Zustand der Lebensminderung. Im Gegenteil: Wo Augen und Ohren geöffnet werden, wo der Stumme in Jubel ausbricht, ist das Heil Gottes bereits konkret geworden und im Leben der Menschen sichtbar. Der Jubel des Stummen nimmt auf, was die Natur bereits an Freudenrufen erklingen ließ. Insofern ist die Alternative zwischen wörtlichem oder geistig-geistlichem Verständnis dieser Heilsankündigung nicht wirklich gegeben. Das Heil, das hier vor Augen gestellt wird, ist allumfassend und schließt keinen Bereich des Lebens aus.

Der dritte Abschnitt verbindet die Thematik der ersten beiden Teile. Die Menschen können zum Zion zurückkehren. Erneut wird bei der Natur eingesetzt, nur dass nun nicht die üppige Vegetation im Blick ist, sondern eher die Voraussetzungen für deren Wachsen und Erblühen: In der Wüste brechen Wasser hervor, die das Land beleben (V. 6b–7). Typische Wüstenbewohner wie die Schakale verschwinden, andere Lebewesen treten an deren Stelle. Aber nicht nur das lebensermöglichende Wasser prägt die veränderten Lebensbedingungen. Das dreimalige »dort« (V. 8f.), das auf die verwandelte Gegend anspielt, ist auch dadurch charakterisiert, dass eine »aufgeschüttete« Straße existiert, die von den zuständigen offiziellen Stellen angelegt wurde, ein begehbarer Weg also, der ebenfalls die Veränderung der Wüstensituation zeigt.

Es ist ein besonderer Weg, der sich da auftut, ein Weg mit einem herausgehobenen Namen, es ist der »Weg der Heiligkeit« (V. 8). Er ist frei von Menschen, die auf anderes vertrauen als auf Gott, er ist frei von Menschen, die woanders als bei Gott Sicherheit suchen. Wer sich auf den Weg der Heiligkeit begibt, der rechnet mit Gott, der sucht Gott, der hofft auf die Veränderung des eigenen Lebens. Normalerweise sind Reisende gefährdet; wer sich aufmacht, nimmt Gefahren auf sich. Beispielhaft nennt Jes 35,9 Löwen und wilde Tiere, die immer wieder für Menschen gefährlich wurden. Doch der Weg, der hier beschrieben wird, ist ganz anders: Alles, was menschenfeindlich ist, wird den Weg, der sich auftut, nicht tangieren. Im Gegenteil: Der Weg gehört denen, die auf ihm gehen. Der Weg gehört denen, die sich aufmachen, die sich ausstrecken nach Gott.

Nun erst werden die Menschen charakterisiert, für die dieser Weg bestimmt ist: Es sind die Erlösten JHWHs, die, die er »losgekauft« hat (V. 9f.). JHWH ist für sein Volk eingetreten, er hat es aus der Macht der Unterdrücker befreit. Die Unterdrücker werden selbst namentlich nicht genannt, vielleicht bewusst, weil ihre Nennung erneute Schrecken zur Folge hätte. Es ist genug, dass Angst und Klage über das Erlebte nachklingen. Aber diese dumpfen Töne werden abgelöst durch den Jubel und die Freude derer, die zurückkehren (V. 10). Ihr Ziel ist der Zion. Ihr Ziel ist Gott. Kummer und Seufzen, die sonst oft genug die Flucht von Menschen in eine ungewisse Zukunft begleiten, sie ergreifen nun die Flucht, sie entfliehen auf dem Weg dorthin. Dagegen holen Frohsinn und Freude die auf dem Weg Dahinziehenden ein. Ja, die »›Freude‹ wird zum Anführer der Reise« (Beuken, 349). Sie strahlt aus, sie steckt an. Sie zeigt die Verwandlung der Menschen, die aufbrechen, die sich aufmachen.

III Impulse: Advent heißt: »Gott selbst kommt und wird euch Heil schaffen«

Advent ist ein doppelter Weg: Gott kommt auf uns zu, er durchbricht unsere Befindlichkeiten, unsere Vorläufigkeiten, unsere Ängste; er schafft ein Neues. Advent heißt aber auch: Wir begeben uns auf den Weg hin zu Gott.