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DIE WINNETOU-
TRILOGIE

ÜBER KARL MAYS
BERÜHMTESTEN
ROMAN

VON
HELMUT SCHMIEDT

Herausgegeben von Bernhard Schmid
© 2018 Karl-May-Verlag, Bamberg
Alle Urheber- und Verlagsrechte vorbehalten
Deckelbild: pinta Gestaltung & Kommunikation
eISBN 978-3-7802-1629-8

KARL-MAY-VERLAG
BAMBERG · RADEBEUL

INHALT

Vorwort von Claus Roxin

Einleitung

I. Entstehung und Struktur

Leben und Streben

Inhalt des Winnetou

Kompositionsprobleme

II. Realität und Fiktion

Die Macht der Fantasie

Mays Quellen

Old Shatterhand alias Karl May

Intertextualität

III. Erzählen

Verführung zum Lesen

Wiederholung und Zukunftsorientierung

Spezielle Motive des Winnetou

Verfremdungseffekte

Die Sprache

IV. Interkulturelle Beziehungen

Unordnung

Konsequenz

Differenz, Aufwertung, Diskriminierung

Kreative Dissonanzen

Erzählen als Rettung

V. Männer und Frauen

Abgrenzungen

Anerkennung

Grenzüberschreitung

VI. Westmänner

Sam Hawkens im Speisezimmer

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Alternativgesellschaft

Passionsgeschichte

VII. Vom 18. ins 20. Jahrhundert

Von der Postkutsche zum Automobil

Neuer Mensch aus alter Zeit

Die literaturhistorische Position des Winnetou

VIII. Karl May nach Winnetous Tod

Erbschaftspflege

Winnetou IV: Von der Trilogie zur Tetralogie

Zu neuen Ufern

Winnetous Vermächtnis

Kunst und Technik

IX. Winnetou nach Karl Mays Tod

Leserreaktionen

Kreative Rezeption

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Es gibt wenige deutsche Romanfiguren, die so bekannt und beliebt sind wie ‚Winnetou‘. Fast jeder Deutsche weiß, dass es sich hier um einen edlen Indianer handelt, und nicht wenige können auch vieles von ihm erzählen. Karl Mays Winnetou hat nicht nur Millionen Leser, sondern ist auch bis heute in allen Medien präsent.

Es ist daher sehr zu begrüßen, dass Helmut Schmiedt der Winnetou-Trilogie, die schon unter vielen Einzelaspekten literarisch gewürdigt worden ist, eine erste umfassende Werkmonografie widmet. Er analysiert den Roman in allen seinen Facetten: von der Entstehungsgeschichte und der Erzähltechnik sowie dem Figurenpersonal bis hin zu den Wertvorstellungen, die der Autor seinen Lesern vermitteln will. Das alles wird vor dem Hintergrund der Literatur- und Geistesgeschichte entfaltet und in seiner „Botschaft“ auch ideologiekritisch gewürdigt. Auch der Jahrzehnte nach dem Tod Winnetous spielende vierte Band und die Rezeptionsgeschichte des Werkes werden in die Darstellung einbezogen.

Mit Recht verzichtet Schmiedt auf eine Gesamtcharakteristik des Werkes und hebt seine Komplexität hervor. Der Roman schildert spannende Kampfhandlungen, predigt aber auch Liebe und Versöhnung; May geißelt die Vernichtung der indianischen Kultur, geht aber auch von der Überlegenheit europäischer und speziell christlicher Werte aus; er bestätigt das zu seiner Zeit herrschende Verständnis von der Rolle der Frau, lässt aber doch auch emanzipatorische Tendenzen erkennen. Aus diesen und vielen anderen Gegensätzlichkeiten ergibt sich eine Komplexität des Gesamttextes, die den Roman über die spannenden Handlungszusammenhänge hinaus zu einem Spiegelbild der widerstreitenden geistigen und sozialen Strömungen seiner – und vielfach auch noch unserer – Zeit macht. Es ist freilich unverkennbar, dass die Gestaltung eines von staatlicher Bevormundung freien Lebens, wie sie sich in der Figur des von May erfundenen ‚Westmanns‘ darstellt, im Vordergrund steht.

Im Gewand fantastisch-exotischer Unterhaltungsliteratur wird das Zusammenleben von Menschen und Völkern in der Winnetou-Trilogie also unter sehr vielfältigen Aspekten problematisiert. Vielleicht liegt darin einer der Gründe für den großen Erfolg der drei Winnetou-Bände. Sie liefern stofflich eingängige und mit großer Erzählbegabung vorgetragene Abenteuergeschichten, bieten bei näherem Hinsehen aber auch hintergründige gesellschaftliche Kontrastinformationen, die den Leser zur Stellungnahme herausfordern.

Es ist das Verdienst Helmut Schmiedts, dies in aller Klarheit herausgearbeitet zu haben. Ich wünsche seinem Buch viele Leser. Es wird der May-Forschung ein wichtiger Anstoß zu weiterführenden Untersuchungen sein.

Claus Roxin

„Unsterblichkeit. Mindestens das
Gute, Edle, Schöne soll ewig leben.
Winnetou! Martin Luther King!
Marilyn Monroe!“

(Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,

26. 11. 2017)

Einleitung

Karl May ist der meistgelesene Schriftsteller der deutschen Literaturgeschichte. Winnetou wiederum ist Mays prominenteste Schöpfung, ein Begriff auch für viele, die nie ein Buch von ihm gelesen haben, und die „neben Faust wohl berühmteste Figur der deutschen Literatur“1.

Es gibt etliche ungewöhnliche Indizien, die bereits auf den einzigartigen Rang Winnetous hinweisen. Als Karl May 1987 aus Anlass seines 75. Todestages eine Briefmarke gewidmet wurde, war darauf nicht etwa er selbst zu sehen, sondern das Winnetou-Porträt, das den Band Winnetou I in der Ausgabe des Karl-May-Verlags schmückt. Winnetou ist es auch als einziger Figur dieses Autors beschieden, in den Duden aufgenommen worden zu sein. Bei den Segeberger Karl-May-Festspielen, die alljährlich Hunderttausende von Zuschauern anlocken, ist zu erfahren, dass sie für viele jugendliche Zuschauer wegen der überragenden Präsenz ihrer ständig wiederkehrenden Hauptfigur inzwischen ‚Winnetou-Spiele‘ heißen; dass der verantwortliche Schriftsteller auch eine große Zahl von Romanen geschrieben hat, die außerhalb Nordamerikas spielen, dürfte vielen Besuchern unbekannt sein. Der Schauspieler Pierre Brice avancierte mit den Karl-May-Filmen der 1960er-Jahre in der Rolle Winnetous zum Star und Teenager-Idol, und als nach seinem Tod im Jahr 2015 sein durchaus unspektakulärer Nachlass öffentlich versteigert wurde, war das den verschiedensten Medien eine ausführliche Berichterstattung wert. Wann immer möglich, greifen künstlerische und kommerzielle Erzeugnisse, die mit Karl May zu tun haben, auf den Namen Winnetou zurück. In Ratgeber-Literatur der jüngsten Vergangenheit wird dargelegt, wie man mit Hilfe von zehn sogenannten Winnetou-Prinzipien „ethisch-moralisches Verhalten im Wirtschaftsleben“2 durchsetzen kann und wie man dank einer Winnetou-Strategie das eigene Dasein selbstbestimmt, glücklich und erfolgreich gestaltet: „Werde zum Häuptling deines Lebens“3.

Auch im Werk Karl Mays selbst spielt der fiktive Apache4 natürlich eine herausragende Rolle, denn er war in dessen literarischer Karriere – wie übrigens auch Faust in derjenigen Goethes – von den Anfängen bis zum Ende beharrlich präsent, wenn auch mit Unterbrechungen. Schon in einer der ersten kurzen Abenteuererzählungen Mays, Old Firehand (1875), taucht ein Indianer dieses Namens auf. Anderthalb Jahrzehnte später, als Mays Ruhm seinem Gipfel zutreibt, wird in großer Auflage ein nach ihm betitelter Roman veröffentlicht, der nicht weniger als drei Bände umfasst. Wiederum knapp zwei Jahrzehnte später trägt Mays letzter Roman den Titel Winnetou. 4. Band (1910) und handelt davon, welche Art von Nachruhm dem großen Häuptling angemessen ist, eine Problematik, mit der sich May – außer in Bezug auf sich selbst – nur bei dieser Figur beschäftigt, während etwa der ebenfalls nach einem heroischen Protagonisten benannte mehrbändige Old Surehand-Roman auf einen solchen Nachfolger verzichten muss. Ferner tritt Winnetou zwischendurch in vielen anderen Arbeiten seines Schöpfers auf, darunter so beliebten wie dem gerade genannten, dem Schatz im Silbersee und dem Ölprinz.

Die substanziellsten Informationen über den literarischen Winnetou vermittelt die nach ihm benannte Trilogie aus dem Jahr 1893, denn darin geht es sozusagen um Eckdaten seiner Lebensgeschichte: um den Beginn seiner Bekanntschaft mit Old Shatterhand – die, weil Old Shatterhand als Ich-Erzähler vieler Winnetou-Geschichten fungiert, in einem sehr elementaren Sinne die Grundlage dafür bietet, dass wir so viel über den Apachen erfahren –, um eine frühe Liebesgeschichte und den Tod mehrerer Personen, die ihm nahestanden, und schließlich um Winnetous eigenen Tod und sein Testament. Wer also lesen will, wie es im Grundsätzlichen um diese populärste Figur im literarischen Kosmos Karl Mays bestellt ist, muss sich vor allem den ersten drei Bänden zuwenden, die er nach ihr benannt hat und in engster zeitlicher Folge erscheinen ließ. Unzählige Leser haben das denn auch getan: Winnetou I erreicht mit vier Millionen verkaufter Exemplare die höchste Einzelauflage in der Reihe der Grünen Bände, der weithin bekannten Edition des Karl-May-Verlags, über die die Mehrheit der deutschen Leser diesen Autor kennengelernt hat. Winnetou II und Winnetou III folgen in gebührendem Abstand.

Das Gewicht des Romans bestätigt sich in zahlreichen anderen Ausgaben und Projekten. Wenn Karl May ediert wird, steht häufig Winnetou am Anfang, insbesondere der erste Band. Auch Versuche, Mays Texte in völlig neuer Gestalt anzubieten – sie haben sich in letzter Zeit gehäuft –, setzen oft mit diesem Werk ein oder beschränken sich darauf. Das war beim Karl-May-Verlag so, als er zu Beginn des 21. Jahrhunderts daranging, Mays Abenteuerromane in neuem Design und mit veränderten Titeln in gekürzter Form für junge Leser anzubieten: Die drei Winnetou-Bände tauchten da sogleich als Blutsbrüder, Der alte Scout und Tödlicher Staub auf. Das war so, als in den Jahren 2008–2010 ein österreichischer Verlag Karl Mays Winnetou neu erzählt von Engelbert Gressl publizierte; diesmal lauten die Titel Freunde am Marterpfahl, Mörderjagd in der Prärie und Das Geheimnis des Häuptlings. Eine für Unterrichtszwecke konzipierte „Schulausgabe“ des Winnetou I, die der Verlag Hase und Igel 2009 veröffentlichte, trägt den Titel Mein Blutsbruder Winnetou; sie wird ergänzt durch ein für Lehrkräfte bestimmtes Heft, das „Materialien & Kopiervorlagen“ enthält. Auch in einer vom Arena Verlag produzierten Reihe, die sich der altersgerechten Aufbereitung von Kinder- und Jugendbuchklassikern für Schüler der 2. Klasse, d. h. für Erstleser, widmet, tauchte 2014 eine entsprechend gekürzte, sprachlich angepasste und illustrierte Fassung von Winnetou I auf. Auf der anderen Seite des Editionsspektrums erschienen 2015 die drei Winnetou-Bände sowie Der Schatz im Silbersee gemeinsam in einem Schuber im Haffmans Verlag bei Zweitausendeins; diese aufwändig gestaltete Leipziger Ausgabe erfolgt „getreu nach den Erstausgaben“, legt also Wert auf die Nähe des Textes zur ersten Buchausgabe von 1893. Erzählungen Karl Mays sind darüber hinaus in mehrere Dutzend Sprachen übersetzt worden; eine Version mit lateinischem Text gibt es jedoch nur von einem Winnetou-Band, in diesem Fall dem dritten: Vinnetv. Tomvs tertivs. Narratio itineraria quam in Latinum vertit Johannes Linnartz (1998).

Nahezu unüberschaubar ist die Zahl der Bemühungen, den Winnetou-Roman unter Beanspruchung künstlerischer Freiheit in anderem Rahmen als dem einer Buchveröffentlichung anzubieten. Der Bogen spannt sich von einer Theaterversion des ersten Bandes, die 1919 nach einem Buch von Hermann Dimmler am Deutschen Theater München uraufgeführt wurde, bis zu aktuellen, mit immer neuen Textversionen aufwartenden Inszenierungen auf rund einem Dutzend Freilichtbühnen des deutschsprachigen Raums. Winnetou gab es als siebenteilige Hörspielserie des WDR in den 1950er-Jahren und als deren parodistische Version unter dem Titel Ja Uff erstmal (2000), ausgeführt von Stars der deutschen Comedy-Szene, als Musical, in diversen Comics und natürlich im Film. Es wäre eine eigene, ausführliche Untersuchung wert, der multimedialen Verwertung des Winnetou-Romans systematisch nachzugehen.

Die vorliegende konzentriert sich jedoch in erster Linie auf die Buchfassung des Romans, wie sie zu Lebzeiten des Autors erschien. Das Ziel liegt darin, eine möglichst umfassende, perspektivenreiche Analyse zu erarbeiten: Wie ist er entstanden? Wie erzählt May? Wie geht er mit der historischen Realität um? Mit welcher Tendenz schildert er die Angehörigen verschiedener Länder und Kulturen, deren Mit- und Gegeneinander den Kern der Handlung bildet und seinen Ruf als „Abenteuerschriftsteller“ im Wesentlichen begründete? Welches Bild von den Geschlechtern zeichnet der Autor, und wie ist es um die sogenannten „Westmänner“ bestellt, eine Spezies von Menschen, die es sonst eigentlich gar nicht gibt, die May selbst aber in den Mittelpunkt des Geschehens rückt? Schließlich: Wie ist das Werk literaturhistorisch einzuordnen, und wie ist man nach dem Tod des Autors – von der erwähnten quantitativen Wirkung abgesehen – mit ihm umgegangen?

Angesichts der Bedeutung, die der Winnetou-Roman in Mays gesamtem Schaffen einnimmt, und im Hinblick auf seine Wirkungsmächtigkeit liegt es nahe, eine derart weitreichende Untersuchung gerade an diesem Text vorzunehmen. Schon in früheren Forschungsarbeiten, die Teilaspekte ins Auge fassen, gibt es Anzeichen dafür, dass sie sich lohnt. Eine grundlegende These zur Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts zielt beispielsweise darauf, dass diese Art von Romanen grandiose Initiationsprozesse vorführt, bei denen sich eine Figur zu einer gänzlich neuen, besseren Persönlichkeit verwandelt; wo könnte das eindringlicher beobachtet werden als an einem Roman, dessen Ich-Figur binnen kurzer Zeit vom biederen Hauslehrer in St. Louis zum bewunderten Helden im Wilden Westen aufsteigt? Selbst Themen, die zunächst nebensächlich wirken, lassen sich offenbar ebenfalls ertragreich in Bezug auf diesen Roman abhandeln: Eine Untersuchung über Mays weibliche Figuren bezieht sich schon im Titel auf Winnetou I bzw. konkret auf Winnetous Schwester, die nur hier auftaucht, deren Mörder dann aber in den beiden Folgebänden gejagt wird: Nscho-tschi und ihre Schwestern (2012). Auch Merkwürdigkeiten, die der Aufklärung harren, treten zutage: Manche Leser der Erstausgabe werden mit einiger Irritation zur Kenntnis genommen haben, dass nach dem Vorwort des ersten Winnetou der Titelheld von einem Weißen erschossen wird, während ihn nach dem Zeugnis des dritten Bandes doch unzweifelhaft ein Indianer tötet.

Die drei Winnetou-Bände werden im Folgenden mit Klammerzusätzen im fortlaufenden Text nach der historisch-kritischen Ausgabe zitiert, unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl; die Grundlage dieser Edition wiederum bildet die 1909 erschienene Ausgabe letzter Hand. Der Nachzügler Winnetou IV – heute eher bekannt unter dem Titel Winnetous Erben – wird auf dieselbe Art zitiert nach dem 1984 erfolgten Reprint der ersten Buchausgabe.

Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe für die Karl-May-Stiftung. Herausgegeben von der Karl-May-Gesellschaft. Abteilung IV. Band 12, 13, 14: Winnetou. Erster Band/Winnetou. Zweiter Band/Winnetou. Dritter Band. Hrsg. v. Joachim Biermann/Ulrich Scheinhammer-Schmid. Bamberg/Radebeul 22013, 22014, 2013.

Karl May: Freiburger Erstausgaben. Hrsg. v. Roland Schmid. Band 33: Winnetou. IV. Band. Reprint der ersten Buchausgabe von 1910. Bamberg 1984.

I. Entstehung und Struktur

Leben und Streben

Es ist Karl May nicht an der Wiege gesungen worden, dass er einst zu den wirkungsmächtigsten Schriftstellern der deutschen Literaturgeschichte gehören sollte. Das „Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers“5, als das er sich selbst bezeichnete, wurde am 25. Februar 1842 in dem erzgebirgischen Städtchen Hohenstein – heute: Hohenstein-Ernstthal – als Sohn eines blutarmen Webers geboren und wuchs in extrem kümmerlichen Verhältnissen auf. Die in Heimarbeit tätigen Handwerker waren durch die internationale Ausbreitung maschineller Herstellungsverfahren in großen Fabriken und das Geschäftsgebaren ausbeuterischer Unternehmer ins Elend geraten: Opfer der Industriellen Revolution, deren Leid an anderen Orten zu den bekannten Weberaufständen führte. In seiner Autobiografie berichtet Karl May eindrucksvoll vom allgegenwärtigen Hunger jener Jahre, von milieuspezifischen Krankheiten sowie von einem Vater, der die Familie gelegentlich mit sadistischen Prügelorgien bedachte.

Dem überdurchschnittlich begabten Jugendlichen gelang es, den misslichen Umständen eine Ausbildung zum Lehrer abzutrotzen und erfolgreich zu beenden. Allerdings erwies sich die bürgerliche Berufslaufbahn nach kurzer Zeit als Sackgasse. Schon während seiner Seminarzeit ließ sich der junge Pädagoge einiges zuschulden kommen, was Eingang in die Personalakte fand, und die Verstöße setzten sich zu Beginn der selbstständigen Lehrtätigkeit fort. Sie reichten vom Diebstahl einiger Kerzen aus dem Vorrat des Ausbildungsseminars über eine unziemliche Annäherung an die Ehefrau eines Mannes, bei dem er sich eingemietet hatte, bis zur Aneignung der Uhr eines anderen Mannes, mit dem er sich danach die Unterkunft teilen musste. Dieses Delikt trug ihm eine Gefängnisstrafe von sechs Wochen ein; daraufhin wurde er aus der Liste der Lehramtskandidaten ein für alle Mal gestrichen. Wenig später geriet May endgültig auf die schiefe Bahn. In den Jahren 1864/65 und 1869 vagabundierte er als Dieb, Hochstapler und Betrüger durch die Umgebung seines Heimatortes; 1865–1868 und 1870– 1874 saß er die daraus resultierenden Haftstrafen ab. Anschließend gelang ihm eine umfassende Resozialisierung, auch wenn er 1879 noch einmal eine dreiwöchige Gefängnisstrafe wegen Amtsanmaßung auferlegt bekam. Von nun an konzentrierte er sich auf eine Tätigkeit als Schriftsteller und zunächst auch als Redakteur. Die Arbeit für verschiedene Publikationen des Dresdner Verlegers Heinrich Gotthold Münchmeyer, die beides umfasste (1875–1877), vermittelte ihm wertvolle Erfahrungen auf dem literarischen Feld im weitesten Sinne.

Obwohl nun also die schriftstellerische Laufbahn Karl Mays langsam in Gang kam, war noch keineswegs zu ahnen, dass er später vor allem mit weltumspannenden Abenteuererzählungen Erfolg haben würde. Bei den ersten Veröffentlichungen aus seiner Feder, von denen wir wissen, handelt es sich um kleine Gedichte unter Titeln wie Mein Liebchen – gemeint ist eine Tabakspfeife –, Liebeslied-Recept und Wandergrüße. Die anderen Arbeiten dieser Jahre bewegen sich in unterschiedlichsten Bereichen: Sachtexte, zu denen Geographische Predigten ebenso gehören wie ein voluminöses Buch der Liebe, Humoresken, Dorfgeschichten, historische Novellen. Karl May probiert aus, was er zu leisten vermag und was der Markt des Publikationsbetriebs verlangt bzw. ermöglicht. Auch kurze Erzählungen entstehen, die abenteuerliche Ereignisse in fernen Ländern schildern. Deren erste heißt Inn-nu-woh, der Indianerhäuptling. Aus der Mappe eines Vielgereisten, Nr. 1; die Figur Inn-nu-woh lässt mit dem Klang ihres Namens und einigen anderen Eigenschaften bereits an einen späteren legendären Apachen denken.

Allmählich kristallisiert sich heraus, dass es dieses Genre ist, in dem Karl May am erfolgreichsten arbeitet. Ende der 70er-Jahre wird er mit Abenteuererzählungen zum regelmäßigen Mitarbeiter im Deutschen Hausschatz, einer renommierten Familienzeitschrift des katholischen Milieus, und seit 1887 publiziert er in Der Gute Kamerad, einer Zeitschrift für die männliche Jugend. Daneben wird er auch noch einmal für Münchmeyer aktiv, indem er ihm – überwiegend unter Pseudonym – fünf umfangreiche Fortsetzungsromane schreibt, die nach den damaligen Maßstäben des gutbürgerlichen Geschmacks als Trivialliteratur anrüchigster Art gelten, vergleichbar den Groschenheften des folgenden Jahrhunderts. Zu Beginn der 90er-Jahre hat May sich als Unterhaltungsschriftsteller etabliert, aber der materielle Erfolg hält sich immer noch in engen Grenzen.

Die jüngere Literaturgeschichte zeigt, dass der Weitblick und das Geschick von Verlegern oft eine wichtige Rolle bei der Entwicklung literarischer Karrieren spielen. Bei May wird diese Funktion nach seinem Tod der Jurist Euchar Albrecht Schmid mit der Gründung des Karl-May-Verlags übernehmen; in Bezug auf Mays Lebzeiten ist insbesondere Friedrich Ernst Fehsenfeld zu nennen. Fehsenfeld gründet 1890 in Freiburg i. Br. einen eigenen Verlag, dessen Veröffentlichungen sich zunächst den verschiedensten Themen widmen. Bei der Suche nach profitablen Texten stößt er auf die Zeitschriften-Publikationen Mays, ist fasziniert von ihnen und konfrontiert May brieflich mit dem Gedanken, sie in Büchern gesammelt vorzulegen. May reagiert erst einmal zurückhaltend, aber ein persönlicher Besuch Fehsenfelds führt dann zu der angestrebten Zusammenarbeit. Am 17. November 1891 schließen Fehsenfeld und May einen Vertrag, der die Buchausgabe der zuvor verstreut erschienenen Reiseromane Mays vorsieht. Die auf diese Weise entstehende Edition wird 1912, in Mays Todesjahr, 33 Bände umfassen, darunter auch einige, die May nicht mit älteren Arbeiten füllt, sondern ganz oder teilweise neu schreibt. Schon nach kurzer Zeit fällt der finanzielle Ertrag so gewaltig aus, dass May es sich leisten kann, in Radebeul bei Dresden eine ansehnliche Villa zu kaufen, die er „Villa Shatterhand“ nennt; später wird er eine anderthalbjährige Orientreise von seinen Einkünften finanzieren. In den Jahren nach 1900, als May aus verschiedenen Gründen ins Zentrum heftiger öffentlicher Kontroversen rückt und literarisch neue Wege geht, bricht der Verkauf allerdings ein, und Fehsenfeld denkt gelegentlich daran, seinen Verlag zu verkaufen. In die bittere Armut seiner Kinderzeit fällt May allerdings auch nicht annähernd zurück, zumal er Fehsenfeld im Zuge einiger Vertragsveränderungen immer günstigere Konditionen abgerungen hat.

Als die Buchreihe eröffnet wird, ist es wichtig, gleich einen ebenso attraktiven wie umfangreichen Roman zu präsentieren, und so werden 1892 sechs Bände veröffentlicht, die – mit kleinen Veränderungen und einem eigens geschriebenen Anhang – das heute als Orientroman bzw. Orientzyklus bekannte Werk enthalten, das zuvor in Fortsetzungen über mehrere Jahre hinweg im Deutschen Hausschatz erschienen war: Durch Wüste und Harem (später: Durch die Wüste), Durchs wilde Kurdistan, Von Bagdad nach Stambul, In den Schluchten des Balkan, Durch das Land der Skipetaren, Der Schut. Der nächste Roman führt auf den anderen großen Schauplatz der May’schen Abenteuerzählungen: in den sogenannten Wilden Westen Nordamerikas, durch den sich Mays Ich-Held, der im Orient Kara Ben Nemsi heißt, unter dem Namen Old Shatterhand bewegt. In der Besinnung auf eine schon vorher bestens eingeführte „prächtige Gestalt“6 gibt May dem nun entstehenden Werk den Namen Winnetou, der Rote Gentleman. Er kalkuliert zunächst mit zwei Bänden, entscheidet sich dann aber für eine Trilogie.

Deren Komposition – im doppelten Sinne als Erstellung des Textes und als deren Ergebnis – gestaltet sich überaus heikel und kompliziert. Während May den ersten Band weitestgehend neu schreibt, füllt er die Bände zwei und drei überwiegend mit verschiedenen älteren Erzählungen, die er im Hinblick auf den jetzigen Zusammenhang natürlich verändern muss, und ergänzt sie um einige Kapitel, mit denen er sinnvolle Übergänge und Ergänzungen zu schaffen und eine harmonische Verbindung im Sinne einer schlüssig fortlaufenden Handlung herzustellen versucht. Eine Einleitung in Band I und ein Nachwort in Band III runden den umfangreichen Text ab.7 Das Verfahren ist also deutlich anders als bei der Neupublikation des Orientromans: Da reproduziert die Buchausgabe im Wesentlichen einen fertigen, in sich geschlossenen Text, während der Fehsenfeld-Winnetou zum erheblichen Teil aus früheren Erzählungen besteht, die völlig unabhängig voneinander geschrieben und veröffentlicht worden sind; in einigen der Folgebände wird May noch einmal anders verfahren und mehrere separat entstandene Erzählungen ohne Versuch einer nachträglichen Verknüpfung aufnehmen, die Bücher also als Sammelbände anlegen. Betrachtet man den Verlagsvertrag mit Fehsenfeld, so ist das Procedere beim Winnetou zweifellos zulässig, vielleicht sogar wünschenswert, aber es stellt den Autor vor Probleme eigener Art und steht literaturgeschichtlich als etwas überaus Seltenes, wenn auch nicht einzig da; z. B. hat Honoré de Balzac seinen Roman Die Frau von dreißig Jahren (1842) ebenfalls aus mehreren Werken zusammengesetzt, die ursprünglich eigenständig und getrennt voneinander erschienen waren, und auch Raymond Chandler ist so verfahren, z. B. bei Der große Schlaf (1939).

Was erzählt nun der auf diese Weise erarbeitete Roman aus dem Jahr 1893?

Inhalt des Winnetou

In der Einleitung kündigt „der Verfasser“ an, er berichte im Folgenden über das traurige Schicksal der Indianer, die er „während einer ganzen Reihe von vielen Jahren“ persönlich kennengelernt habe und denen er in Gestalt von „Winnetou, de(m) große(n) Häuptling der Apachen, (…) das wohlverdiente Denkmal setzen (will)“ (I 12). So wird der Leser unter zwei elementaren Vorzeichen in die Handlung geführt: Wir bekommen es zum einen mit vermeintlich autobiografischen Schilderungen zu tun, die denn auch in der Ich-Form vermittelt werden, und zum anderen mit Abenteuern, deren Darbietung im Dienste eines höheren Ziels steht.

Es waren „(u)nerquickliche Verhältnisse in der Heimat und ein, ich möchte sagen, angeborener Tatendrang“ (I 14), die das vorerst namenlose deutsche Ich einst in die Vereinigten Staaten getrieben haben, wo es dem Leser zunächst als Hauslehrer in St. Louis begegnet. Dort lernt der junge Mann den Büchsenmacher Henry kennen, der ihn mit zwei besonders wertvollen Gewehren ausstattet, dem weittragenden „Bärentöter“ und später dem 25-schüssigen „Henrystutzen“. Henry sorgt, nachdem er die außergewöhnlichen geistigen und körperlichen Fähigkeiten seines jungen Freundes erkannt hat, auch dafür, dass dieser als Landvermesser bei einer Eisenbahngesellschaft angestellt wird, eine Tätigkeit, die ihn mitten in den sogenannten Wilden Westen führt, ein von staatlicher Ordnung noch so gut wie gar nicht erfasstes, zwischen Eingeborenen und weißen Invasoren umkämpftes Gebiet, in dem zahlreiche Banditen ihr Unwesen treiben. Unter der Anleitung des skurrilen Westmanns Sam Hawkens – der Westmann ist eine von Karl May erfundene Spezies männlicher Lebensführung: die ortsspezifische Variante des guten Menschen, der vorrangig im permanenten Abenteuer sein Lebensglück sucht – entwickelt das Ich nebenbei die Talente weiter, deren es für die Rolle des echten Westmanns bedarf. Erste Jagderlebnisse stellen seiner Umsicht und Tatkraft, seiner physischen wie psychischen Stärke ein glänzendes Zeugnis aus, und als der junge Mann den Zwist mit einem Kollegen dadurch beendet, dass er den Widersacher mit einem einzigen Hieb an die Schläfe niederstreckt, erhält er den Kriegsnamen Old Shatterhand. Wenig später kommt es zu einer Konfrontation mit Mescalero-Apachen, den eigentlichen Besitzern des für die Bahnstrecke vermessenen Landes. Diese Indianer zeichnen sich dadurch aus, dass sie unter dem Einfluss eines Mannes namens Klekih-petra stehen, eines Deutschen, der an der Revolution von 1848 beteiligt war, nach Amerika geflüchtet ist und nun versucht, durch einen im humanen Verständnis erzieherischen Einfluss auf die Eingeborenen seinem Leben noch einen guten Sinn zu geben. Allerdings wird Klekih-petra schon bei der ersten Begegnung mit den Bahnvermessern von einem der zwielichtigen Begleiter Old Shatterhands erschossen, und so ist die kriegerische Zuspitzung der Konfrontation unvermeidlich. Bei den rasch ausbrechenden Kämpfen bedienen sich die Weißen der Unterstützung der Kiowas, Angehörige eines mit den Apachen verfeindeten Stammes, die sich freilich als wenig zuverlässig erweisen. Old Shatterhand schenkt seine Sympathie insgeheim den Apachen und bewährt sich nach und nach in verschiedenen Kampfsituationen, darunter rituell ablaufenden Duellen mit einem Kiowa-Krieger und mit Intschu tschuna, dem jetzigen Häuptling der Apachen. Allerdings zieht er sich auch zwischendurch im Kampf mit dessen Sohn Winnetou eine lebensbedrohliche Stichverletzung am Hals zu und gerät in die Gefangenschaft der Apachen. Bei der Ausheilung der schweren Wunde hilft ihm Nscho-tschi, Winnetous Schwester. Am Ende, nach Überwindung von mancherlei Irrungen und Wirrungen, stehen die völlige Aussöhnung mit den Apachen und sogar eine durch Blutsbrüderschaft besiegelte Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand. Von den Weißen überleben den Konflikt nur Shatterhand, Sam Hawkens und ihre Freunde Dick Stone und Will Parker.

Bei den Mescaleros setzt nunmehr Winnetou den aufs Wildwest-Leben gerichteten Unterricht für Old Shatterhand fort: „Wir (…) machten weite Ritte, während welcher ich mich in allem, was zur Jagd und zum Kriege gehörte, üben mußte.“ (I 352) Zugleich stellt sich heraus, dass Nscho-tschi sich in den Gast verliebt hat, ein heikler Vorgang, da Old Shatterhands Lebensplan eine Verheiratung mit all ihren Folgen derzeit nicht vorsieht; auf diesbezügliche Äußerungen der Apachen antwortet er ausweichend. Nach einiger Zeit darf Old Shatterhand die unterbrochenen Vermessungsarbeiten beenden und begibt sich mit einer größeren Reisegesellschaft auf den Rückweg nach St. Louis. Dabei kommt es zu einer neuen Katastrophe: Sowohl Winnetous Vater als auch Winnetous Schwester werden von weißen Banditen erschossen, die sie im Besitz von Goldschätzen wähnen. Drei der Täter werden getötet, aber Santer, ihr Anführer, entkommt und flüchtet zu den Kiowas, mit denen daraufhin neue Auseinandersetzungen entstehen. Santer entkommt endgültig, und die Wege von Winnetou und Old Shatterhand trennen sich vorerst, da der eine Santer verfolgt und der andere mit Hawkens, Stone und Parker den Weg nach St. Louis fortsetzt.

Der Anfang von Winnetou II schließt unmittelbar an diese Ereignisse an. In St. Louis erfährt Old Shatterhand, dass seine Taten ihm inzwischen eine gewisse Prominenz eingetragen haben: Er ist zu einem allgemein bekannten Helden avanciert. Anschließend büßt er bei einem Schiffsunglück sein gesamtes Bargeld ein und verdingt sich deshalb als Privatdetektiv in New York. Ein großer Auftrag führt ihn zurück in den Wilden Westen: Der Bankierssohn Ohlert ist entführt worden, Old Shatterhand soll ihn und den Entführer finden. Die Verfolgungsjagd, an der sich auch der berühmte Westmann Old Death beteiligt, führt nach Texas und Mexiko. Die Reisenden werden dabei nicht nur in Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten Indianerstämmen der Apachen und Comanchen hineingezogen, sondern auch in die realgeschichtlichen Konflikte des amerikanischen Bürgerkriegs und des mexikanischen Machtkampfes zwischen Juarez und Maximilian. Während Shatterhand seine Mission erfolgreich zu Ende führt, stirbt Old Death an einer irrtümlich auf ihn abgefeuerten Kugel, aber er erreicht noch das große Ziel, das er sich gesetzt hat: die Verzeihung durch seinen lange verschollenen Bruder, den er einst ins Unglück getrieben hat. Winnetou wirkt in diesem Teil des Romans nur sporadisch mit.

Anders verhält es sich mit den folgenden Ereignissen, die einige Zeit später stattfinden und in denen das Ich erst einmal einer vom frevelhaft-unvorsichtigen Umgang mit frisch gefördertem Öl hervorgerufenen Brandkatastrophe entkommen muss. Bei dieser Gelegenheit erfährt man, dass Winnetou sich vor langer Zeit in die Indianerin Ribanna verliebt, auf eine Verbindung mit ihr aber zugunsten seines Freundes Old Firehand verzichtet hat; Ribanna wurde dann von einem abgewiesenen weiteren Verehrer, dem Weißen Tim Finnetey, ermordet. Dieser Mann taucht nun als Parranoh, Anführer der Ponka-Indianer, wieder auf und stiftet sie zu allerlei Verbrechen an, insbesondere zu Überfällen auf einen Eisenbahnzug und auf die Pelzjägergesellschaft Old Firehands, bei der sich auch dessen Sohn Harry befindet. Zwar fällt Parranoh schließlich, aber die Kämpfe verlaufen für Old Shatterhand und seine Freunde, zu denen neben Winnetou auch wieder Sam Hawkens, Dick Stone und Will Parker gehören, ungewöhnlich verlustreich: Stone und Parker sterben, ebenso zahlreiche Männer aus Firehands Pelzjägergruppe, und dieser selbst wird schwer verwundet.

Um die gelagerten Felle zu verkaufen, nehmen Winnetou und Old Shatterhand Kontakt zu einem in der Nähe tätigen Händler auf. Zu spät stellt sich heraus, dass dieser Mann niemand anders ist als Santer, der seinerzeit geflüchtete Mörder von Winnetous Vater und Schwester. Er nimmt die überraschten Feinde gefangen und bedroht sie mit dem Tod. Mit Hilfe einer List fliehen sie, aber es gelingt ihnen wieder nicht, den Verbrecher ihrerseits in die Hände zu bekommen. Am Ende trennen sich die Blutsbrüder auf unbestimmte Zeit.

Der dritte Winnetou-Band setzt ohne direkten Anschluss an das Vorherige zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt ein und schildert zunächst eine Reihe verschiedener, durch das Personal verbundener Abenteuer. Im ersten Kapitel verhindert Old Shatterhand einen Indianerüberfall auf einen Eisenbahnzug, im zweiten zerstört er in der Wüstenlandschaft des Llano estaccado das Beutelager einer Verbrecherbande, im dritten besteht er wiederum Kämpfe mit einer Gruppe von Comanchen. Seine wichtigsten Begleiter sind der Westmann Sam Hawerfield, genannt Sansear, der Juwelier Bernard Marshal, dessen Diener Bob und, vom dritten Kapitel an, Winnetou. Als Hauptbösewichter agieren Fred und Patrik Morgan, Vater und Sohn, die in all diesen Konflikten eine üble Rolle spielen und sich schwere Verbrechen an den Familien Sans-ears und Marshals haben zuschulden kommen lassen. Im vierten Kapitel werden sie gefangen und bei einem Fluchtversuch von Sans-ear getötet.

Deutlich später spielt der zweite Teil des Buches, dessen Ereignisse im Tod Winnetous und Santers ihren Höhepunkt erreichen. Wiederum geht es zunächst um einen Eisenbahnüberfall, den eine aus Ogellallah-Indianern und Weißen zusammengesetzte Gruppe in diesem Fall mit Erfolg durchführt. Shatterhand, Winnetou und der Westmann Fred Walker, der in seiner Eigenschaft als Detektiv den Anführer der Weißen sucht, folgen den Banditen und verhindern ein weiteres Verbrechen, den Angriff auf die nächstgelegene Bahnstation. Allerdings zerstören die Indianer das Helldorf-Settlement, eine Siedlung deutscher Auswanderer, und verschleppen deren Bewohner. Es gelingt Shatterhand und seinen Begleitern, die Weißen im Kampf zu befreien, aber Winnetou, der unmittelbar zuvor von Todesahnungen heimgesucht worden ist, wird dabei von der Kugel eines Ogellallah getroffen. Er stirbt unter den Klängen eines einst von Old Shatterhand kreierten Ave Maria, das der Chor der Siedler vorträgt, und mit dem Bekenntnis zum Christentum: „Winnetou ist ein Christ“ (III 397).

Nach der Beisetzung Winnetous reitet Old Shatterhand zum Grab Intschu tschunas, um nach dem dort vergrabenen Testament Winnetous zu suchen. Dabei stößt er überraschend auf Santer, der mit Hilfe desselben Schriftstücks Aufschluss über die verborgenen Goldschätze der Apachen gewinnen und sie stehlen will. Im Kampf um das Testament behält zunächst der Schurke die Oberhand: Während der Westmann von seinen alten Feinden, den abermals mit Santer verbündeten Kiowas, gefangen genommen wird, setzt der Verbrecher sich in den Besitz der Papiere und entdeckt den darin angegebenen Fundort der Schätze. Beim Versuch, sie zu heben, kommt es jedoch zu einer für ihn tödlichen Explosion: Winnetou hat zum Schutz des Goldes heimlich eine Sicherung eingebaut, die seinem Blutsbruder gewiss nicht entgangen wäre, jeden Unberufenen aber ins Verderben stürzt. Old Shatterhand kann sich zwar mit Hilfe einer ihm freundlich gesinnten Indianerin befreien, trifft aber am Ort des dramatischen Geschehens zu spät ein. Er beobachtet noch, wie Santer scheitert und stirbt, aber das Gold wie auch das Testament Winnetous sind – so scheint es jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – unwiederbringlich verloren.

Kompositionsprobleme

Wenn man den Titel des Romans bedenkt und ebenso in Rechnung stellt, was „der Verfasser“ einleitend über sich und seine literarischen Absichten schreibt, kann man den drei Bänden ein gut durchdachtes, überzeugendes inhaltliches Grundkonzept attestieren. In Bezug auf das erzählende und handelnde Ich erfahren wir, wie aus dem gerade erst in die USA eingereisten jungen Mann der prominente Old Shatterhand wird und wie er sich dauerhaft bewährt. In Bezug auf die Titelfigur werden wir Zeuge herausragender Ereignisse seiner Familiengeschichte: Wir nehmen im ersten Band teil am Tod des väterlichen Freundes Klekih-petra, des Vaters und der Schwester Winnetous, werden im zweiten durch einen rückblickenden Bericht über die traurigen Hintergründe seiner Ehelosigkeit informiert und sind im dritten zugegen bei seinem Tod; dass die Familiengeschichte vorrangig in Sterbeszenen kulminiert, passt bestens zu der programmatisch-elegischen Einleitung, mit der der Erzähler den Leser begrüßt. Es dient der Abrundung, dass wir auch erfahren, was aus dem Mörder des ersten Bandes, aus dem Mörder des von Winnetou umschwärmten Mädchens sowie aus Winnetous Testament wird. Ebenso präsent sind die Kernszenen der Beziehung zwischen Winnetou und Old Shatterhand: die komplizierte Vorgeschichte ihrer bemerkenswerten Freundschaft sowie ihre erste und ihre letzte Begegnung. Das Gros der Episoden des zweiten und dritten Bandes hat zwar weder mit Winnetous Familiengeschichte noch mit den Eckdaten seines Verhältnisses zu Old Shatterhand direkt zu tun, präsentiert aber beispielhaft die abenteuerlichen Gegebenheiten des Wilden Westens, von den immer wieder ins Spiel gebrachten Existenzbedingungen der indianischen Ureinwohner über charakteristische Landschaftsformationen bis zu den Besonderheiten des Westmannslebens. May hat weitestgehend gleichzeitig an den drei Bänden gearbeitet; damit mag es zusammenhängen, dass er ihnen trotz des teilweise episodischen Charakters ein beträchtliches Maß an Kohärenz einschreiben konnte.

Dieser episodische Charakter ergibt sich nicht zuletzt eben daraus, dass May den Roman zu einem erheblichen Teil aus älteren Erzählungen zusammensetzte, die ursprünglich völlig unabhängig voneinander entstanden waren.

Für Winnetou I gilt dies am wenigsten: Hier stammt lediglich die das erste Kapitel einleitende Charakterisierung des Greenhorns aus einem älteren Text, der 1888/89 im Deutschen Hausschatz erschienenen Erzählung Der Scout; alles andere wurde neu geschrieben. Der Scout als Ganzes bildet dann aber das Material für die ersten vier Kapitel von Winnetou II, während das fünfte und sechste auf der Erzählung Im fernen Westen basieren, die 1879 bereits in Buchform erschienen war und ihrerseits eine bearbeitete Version von Old Firehand darstellt, 1875 im Deutschen Familienblatt veröffentlicht. Lediglich das siebte Kapitel, Der Pedlar, in dem Santer einen maßgeblichen Auftritt hat, wurde von May gänzlich neu geschrieben. Der dritte Band entstand auf ähnliche Weise. Die Kapitel 1–4 gehen auf Deadly Dust zurück, eine 1880 im Deutschen Hausschatz publizierte Erzählung, und die drei folgenden, in denen Winnetous Tod geschildert wird, auf Im „wilden Westen“ Nordamerikas, 1882/83 in der Zeitschrift Feierstunden im häuslichen Kreise erstmals gedruckt; May lag bei der Arbeit am Winnetou vermutlich ein leicht veränderter Nachdruck von Im „wilden Westen“ Nordamerikas vor, der unter dem Titel Ave Maria 1890 in der Fuldaer Zeitung zu finden war. Das achte Kapitel und das Nachwort waren wiederum Neuschöpfungen.

Der Autor ließ sich einiges einfallen, um auch in Details den Eindruck von der Zusammengehörigkeit des Ganzen zu unterstützen. So wird notiert, dass das – neu entstandene – siebte Kapitel des zweiten Bandes „drei Monate nach den zuletzt beschriebenen Begebenheiten“ spielt, und es beginnt mit dem Plan, die von der Pelzjägergesellschaft Old Firehands gesammelten „Vorräte von Fellen“ (II 449) zu verkaufen, ein Unternehmen, das Old Firehand aufgrund seiner zuvor geschilderten schweren Verletzung nicht selbst durchführen kann; als möglicher Käufer wird ein Händler genannt, der sich später als der böse Santer entpuppt – damit ist über den Anschluss an das Vorherige hinaus die Verbindung zur Familiengeschichte Winnetous wieder hergestellt. Erhebliche Probleme warf die Integration von Der Scout in Winnetou II auf, denn in der ursprünglichen Fassung war der Ich-Erzähler kein rühmlich bekannter Old Shatterhand, sondern ein veritables Greenhorn, ein Neuling im Wilden Westen, der den Ansprüchen des abenteuerlichen Lebens noch keineswegs gewachsen ist, stundenlanges Reiten nicht verträgt und sogar zweimal vom Pferd fällt; zu dem Status des hochkompetenten Westmanns, den das Ich im Verlauf von Winnetou I bereits erreicht, passt das überhaupt nicht mehr. Für die Buchausgabe strich May deshalb die meisten der ungeeigneten Scout-Stellen oder gab ihnen eine andere Motivation, indem er dem handelnden Ich eine heimliche Freude daran zuschrieb, dem berühmten Begleiter Old Death etwas vorzuspielen, seinen Namen zu verschweigen und sich noch einmal freiwillig in die Rolle des Greenhorns zu begeben.

Manchmal schlägt sich der zeitliche Abstand zur Erstveröffentlichung der jetzigen Winnetou-Teile in winzigen Textveränderungen nieder. Eine Feststellung über Bisonherden, deren Bedeutung als Nahrungsquelle für die Indianer May wiederholt hervorhebt, wurde 1880 in Deadly Dust noch im Präsens formuliert, wandert aber in der Winnetou III-Veröffentlichung von 1893 ins Präteritum: 1880 „findet der wilde Bison (…) Pässe“8 für seine Herbst- und Frühjahrswanderungen, 1893 „fand“ (III 127) er sie; mag die Gegenwartsform auch schon für das Jahr 1880 historisch fragwürdig sein, so zeigt der Eingriff doch, wie präzise May bei den Bearbeitungen der eigenen Texte gelegentlich vorging. Immer wieder ist sein Bemühen erkennbar, dem Roman trotz der komplizierten Entstehungsgeschichte größtmögliche Geschlossenheit zu verleihen, und man wird nicht urteilen können, dass er dabei vollkommen gescheitert wäre.

Aber vollständig gelungen ist ihm die schwierige Komposition bei Weitem auch nicht: Mag die Grundkonzeption der Trilogie überzeugen, mögen die Selbstbearbeitungen des Autors häufig von Umsicht und Einfallsreichtum zeugen, so entsteht doch insgesamt kein harmonisches, abgerundetes, inhaltlich schlüssiges Gesamtwerk. Verantwortlich dafür ist in erster Linie der Umstand, dass die älteren Erzählungen, auf die May zurückgreift, noch von einem ganz anderen Bild des Wilden Westens geprägt sind, als er es in Winnetou I entwirft.

Die Erzählungen der 70er- und frühen 80er-Jahre zeigen im Vergleich zu den Fehsenfeld-Jahren einen Schauplatz, der sich überwiegend durch die Allgegenwart von Gewalt, Brutalität und Grausamkeit auszeichnet. Dieser Wilde Westen ist ein Territorium der immer neuen, martialisch ausgetragenen Kämpfe und Kleinkriege, die regelmäßig zahlreiche Todesopfer fordern. Zwar kann man meistens zwischen guten und bösen Menschen eine klare Trennung vornehmen, aber hinsichtlich der Aggressivität, mit der die eigenen Ziele verfolgt werden, unterscheiden sie sich höchstens graduell voneinander. Auch die positiv gezeichneten Figuren, handle es sich nun um die sympathischen unter den Indianern oder die Westmänner, stürzen sich mit beträchtlichem Elan ins tödliche Getümmel und beteiligen sich an den vielfältigen Gräueltaten. Blutrünstig und erbarmungslos geht es zu in den Erzählungen jener Zeit, und der Gedanke, dass man die nun einmal unvermeidlichen Konflikte anders als auf diesem Wege lösen könnte, spielt keine größere Rolle.

Das gilt vor allem dann, wenn man dieses Wildwest-Bild mit dem vergleicht, das May im weiteren Verlauf der 80er-Jahre entwickelt und dann in Winnetou I besonders ausgeprägt kultiviert. Old Shatterhand und seine weißen Freunde geraten da zwar auch von einem gravierenden Konflikt in den anderen – schließlich bewegen wir uns in der Welt eines Abenteuerromans, der von solchen Auseinandersetzungen lebt –, und es ist oft nicht zu vermeiden, dass man zum Mittel physischer Gewalt greift; aber sie hängen doch der Vorstellung an, dass die Menschen eigentlich anders miteinander umgehen sollten, und zumindest bei den Apachen, vor allem bei ihren Häuptlingen, finden sie damit einigen Widerhall. Von fern deutet sich hier schon jene tendenziell pazifistische Haltung an, die May rund ein Jahrzehnt später mit dem Romantitel Und Friede auf Erden! umreißt, den er aus der im Lukas-Evangelium geschilderten Geburtsgeschichte des christlichen Erlösers bezieht. In Winnetou I findet sich eine Szene, in der ein erschütterter und empörter Winnetou nach der Ermordung seines Vaters und seiner Schwester spontan erklärt, er werde in der Reaktion darauf „die Krieger aller roten Nationen unter sich (…) versammeln“ und in einen gewaltigen Rachefeldzug gegen die Weißen führen, einen – im Urteil Old Shatterhands – „Verzweiflungskampf“, der „den wilden Westen mit Hunderttausenden von Opfern bedecken mußte“; es gelingt Old Shatterhand, den Blutsbruder zu besänftigen und damit „großes Unheil abzuwenden“ (I 406). Eine solche Szene wäre in einer Erzählung aus den früheren Jahren undenkbar gewesen.

Gerade an der Entwicklung, die die Figur Winnetou in Mays Gesamtwerk nimmt, werden die Differenzen zwischen dem frühen und dem späten Wildwest-Bild deutlich. Erstmals taucht ein Indianer dieses Namens in der später für Winnetou II verwendeten Erzählung Old Firehand (1875) auf. Er ist hier ein älterer Mann, skalpiert seine Feinde, weiß kaum etwas von den Merkmalen der fortschreitenden Zivilisation und erschrickt deshalb, als er eine Eisenbahn zu Gesicht bekommt; der Gedanke, dass man mit Feinden auch schonend umgehen könnte, liegt außerhalb seiner Vorstellungswelt, und die „Freundschaft zwischen dem Erzähler und dem Indianer ist vornehmlich eine Kampfgemeinschaft“9. In den Erzählungen der späteren Jahre wird Winnetou dann allmählich nicht nur zu einem jüngeren, sondern auch zu einem friedlicher gestimmten Menschen, dessen außergewöhnliche kriegerische Fähigkeiten zwar immer wieder betont, aber nicht mehr kontinuierlich und drastisch eingesetzt werden; auffällig ist, dass May bereits 1883 den Tod Winnetous schildert, mit der Figur aber intensiv weiterarbeitet. Allerdings ist sie, auch wenn er sie dabei in die beschriebene Richtung entwickelt, vor Rückfällen in alte Verhaltensweisen lange Zeit keineswegs gefeit. So enthält der im Guten Kameraden erstveröffentlichte, also ausdrücklich für jugendliche Leser bestimmte Roman Der Schatz im Silbersee (1890/91) eine Szene, in der Winnetou einem feindlichen Häuptling, der ihn mit schweren Beleidigungen überzogen hat, nach einer Warnung buchstäblich zu Tode tritt, indem er ihm mit dem Fuß die Hirnschale und einen Teil des Brustkastens zertrümmert. Zu den völlig andersartigen Unternehmungen des Apachen, die man sich zeitlich in den Lücken vorstellen muss, die die Bände Winnetou II und III lassen, gehört es, dass er, wie in einem später Satan und Ischariot genannten Roman des Hausschatz (1893–96) nachzulesen ist – heute in den Gesammelten Werken des Karl-May-Verlags unter den Titeln Die Felsenburg, Krüger Bei, Satan und Ischariot enthalten –, Old Shatterhand in Dresden besucht und anschließend mit ihm nach Nordafrika reist, wo es leider nicht zu einer Begegnung mit Kara Ben Nemsis orientalischem Freund Hadschi Halef Omar kommt; hier zeigt sich eine Weltläufigkeit Winnetous, die man sich bei ihrem Auftreten in den Erzählungen der 70er- und frühen 80er-Jahre nicht hätte vorstellen können.

Es liegt auf der Hand, dass der Autor der Winnetou-Trilogie in große Schwierigkeiten gerät, wenn er dem Leser des ersten Bandes einen bereits in jungen Jahren milde und tendenziell friedlich gestimmten Winnetou vorstellt und bei der Darstellung seiner weiteren Lebensgeschichte dann Texte nutzt, in denen diese Figur wie selbstverständlich das Etikett des ‚Wilden‘ im buchstäblichen Sinne rechtfertigt; da dies in einem Umfeld geschieht, das überhaupt in erster Linie als Schauplatz brutal-blutrünstiger Ereignisse Konturen gewinnt, spitzt sich das Problem noch zu. Die WinnetouWinnetou