Die Blutfinca

 

 

 

Die Blutfinca

 

Von Jorge de la Piscina

 

 

 

Das Buch

 

Ein geheimnisvoller Azteke, grausam entstellte Leichen und ein Haus, in dem vor rund 500 Jahren ein Mord geschah …

Der ehemalige Kriminalbeamte und Profiler Marc Renner hat gerade sein Restaurant eröffnet, als das Grauen den malerischen Küstenort Cala Pi heimzusuchen scheint. Ein Leichenfund folgt dem nächsten und immer wieder erscheint kurz zuvor der Azteken-Prinz auf der Klippe. Renners Erfahrung ist gefragt und schon bald befindet sich der bodenständige Profiler auf den Spuren einer uralten Legende – der Legende um die Blutfinca. Aber wer ist sein Gegner? Kämpft er gegen einen Geist, ein Haus oder doch gegen einen brutalen Killer aus Fleisch und Blut? – Ein Mallorca-Thriller um ein mysteriöses Haus, das vor langer Zeit verschwand.

 

 

Über den Autor

 

Jorges Leben begann schon, wie ein guter Roman beginnt: Als Findelkind auf den Treppen der Kapelle Santa Maria de la Piscina in einem kleinen Ort namens Pecina im Norden Spaniens aufgefunden, wuchs er letztlich in Deutschland bei seinen Adoptiveltern auf und lebte und arbeitete dort jahrelang als Wirtschaftsredakteur. Heute lebt Jorge auf Mallorca in einem kleinen Dorf namens Cala Pi nahe der kleinen Stadt Llucmayor und schreibt von dort aus Fachbeiträge für ein überregionales deutsches Wirtschaftsmagazin. Sein erster Roman, die Blutfinca, erschien am 1. Juli im Epyllion Verlag.

 

 

 

 

 

 

Die Blutfinca

 

Ein Mallorca-Thriller

 

Jorge de la Piscina

 

 

 

 

 

Epyllion

 

Coverdesign: Pro_ebookcovers

Cover-Foto: ©vulcanus - stock.adobe.com / ©nejron - depositphotos.com

 

Lektorat: Nicole Zöllner

Korrektorat: Jonas Katzenberger, pingelkopf.de

 

ISBN 978-3-947805-01-3 (E-Book)

ISBN 978-3-947805-00-6 (Print)

 

1. Auflage, 2018

© Jorge de la Piscina – alle Rechte vorbehalten.

 

Epyllion Verlag

Ludwigstraße 23

76709 Kronau

Herausgeber Jochen G. Fuchs

info@epyllion.de

www.epyllion.de

 

 

In Liebe für meine Frau Caroline,

die den Familienbetrieb aufrecht erhält, während ich schreibe. Ich bin dankbar, dich an meiner Seite zu haben.

Inhaltsverzeichnis

 

Prolog 7

 

1. Renners Restaurant 18

2. 4,5 Liter 43

3. 9 Liter 91

4. 13,5 Liter 219

 

Epilog 249

 

Prolog

Königreich Aragon. Mallorca, Bucht von Cala Pi

August 1530, mittags

 

Der Junge schulterte das Gepäck seines Herrn, dessen Gewicht so schwer auf ihm lastete, wie der Fluch, der auf seinem ganzen Volk lag. Ein stetiger Strom von Schweißtropfen floss über seine olivbraune Haut, vom Kopf den Nacken entlang und dann den nackten Rücken hinunter. Fliegen umschwirrten ihn. Er atmete schwer und gequält und schaute kurz von dem steilen Pfad auf, um einen Blick auf das türkisblaue Wasser des Torrent de Cala Pi zu werfen. „Beweg dich endlich, du kleine, nutzlose Kröte!“, schrie ein kräftiger, stämmiger Mann mittleren Alters über seine Schulter nach hinten. Der Mann stapfte grimmig vor dem südamerikanischen Indio den Weg entlang und trieb zwei vollbepackte Esel mit einer Gerte vor sich her. Auf dem Rücken trugen die Tiere zwei Seekisten und einige Säcke aus geteertem Segeltuch. Sie gingen an einigen flachen Aleppokiefern vorbei, die den Weg säumten. Der harzige Duft der kleinen Bäume vermischte sich mit dem beißenden Geruch des Esels. Verbunden mit dem Geschmack des Staubes auf seiner Zunge, brachte ihn das dazu, in hohem Bogen auszuspucken. Der Junge stolperte und riss sich seinen nackten rechten Fuß an einem scharfkantigen Stein auf. Er verzog keine Miene und hinkte stoisch weiter. Von klein auf hatte er gelernt, dass er über allem zu stehen hatte. Über dem Schmerz, der Freude und über jedem anderen aus seinem Volk. Da würde er vor diesem hellhäutigen Teufel nicht anfangen, Schwäche zu zeigen. Über den beiden einsamen Figuren, die einen staubtrockenen Pfad entlang trotteten, thronte der strahlend blaue mallorquinische Himmel. Ein sanfter Wind blies frische Meeresluft um ihre Nasen. Der Junge atmete befreit tief ein und innerlich seufzte er auf. Der Geruch der Meeresluft erinnerte ihn an die Ausflüge, die seine Tante mit ihm als kleiner Junge unternommen hatte. An die Grenze ihres Reichs, bis an das endlose Wasser, das bis zum Himmel reichte. Nur die große Himmelsschlange wusste, wohin das Wasser ging. Stundenlang war er in das warme Wasser getaucht und hatte bis spät in die Nacht am Feuer gesessen, kräftig gewürzten, gegrillten Fisch mit Maisfladen gegessen und dem Rauschen der Wellen gelauscht. Nie wieder war er in seinem Leben so glücklich gewesen. Die Stimme des weißen Teufels riss ihn aus seinen Tagträumen. „Ich zieh dir das Fell über die Ohren, wenn du nicht schneller gehst, du räudiger Hund.“ Ein Funken Zorn flammte in den Augen des Jungen auf, um vorsichtig wieder zu erlöschen. Er beschleunigte seine Schritte und holte rasch wieder auf. Plötzlich drehte sich der Mann um und zog ihm die Gerte einmal quer über das Gesicht. Der Peitschenhieb hinterließ einen brennenden Striemen. Der Junge schaute seinem Peiniger unbewegt ins Gesicht. Die Gelassenheit des Indios fachte die Wut des Mannes nur noch an. Der alte Seefahrer verzog sein wettergegerbtes Gesicht und er steigerte sich in eine Raserei hinein. Er zog die Gerte immer wieder brutal über die Brust des dreizehnjährigen Jungen. Der Mann knirschte mit den Zähnen, als der Junge weiter stoisch nach vorne schaute, aber er riss sich zusammen. Er deutete nach oben, zur Finca, die sich langsam am Horizont abzeichnete. Und grinste grausam, als wolle er sagen: „Warte, bis wir dort sind.“

Als die Last abgeladen war, packte der Seefahrer den jungen Indio an den Haaren und riss ihn hinter sich her, in die Finca, schleuderte ihn auf den gefliesten Boden und begann auf ihn einzutreten. „Ich. Werde. Dich. Lehren. Mir Respekt zu erweisen!“ Als er mit seinen Gamaschen die Nase des Jungen traf, spritzte Blut auf und der Nasenrücken brach knirschend. Der Junge wurde ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, schien Alejandro Gomez da Puntajero wieder zur Besinnung gekommen zu sein. Das vor Raserei rot angelaufene Gesicht hatte wieder eine hellere Farbe und er schnaufte mehrmals tief ein und aus. In der Zwischenzeit musste er die erste Kiste ausgepackt haben, denn Kleidung und Geschirr lagen herum. Der Seemann ging gerade an den grob behauenen Tisch, der noch vom vorherigen Besitzer der Finca stammte, und griff nach der bronzenen Besitzplakette, die ihm Cortés überreicht hatte. Er griff sich Hammer und Nagel und nagelte sie stolz an dem Holzbalken fest, der über dem Kamin verlief. „Für seinen treuen Dienst auf den Schiffen seiner Majestät, dem König von Spanien“, stand dort neben der Kennzeichnung seiner Land-Parzelle zu lesen. Der Schlächter Cortés hatte Puntajero die Finca samt Land und den jungen Indio als Sklaven überlassen, als er sich zur Ruhe setzte. Der alte Seefahrer hatte als Konquistador gedient und in der Heimat des Jungen gegen die Völker der Mexica gekämpft. Der Indio weigerte sich, in Gedanken den Namen „Azteken“ zu verwenden, den die weißen Teufel seinem Volk gegeben hatten.

Später am Abend flackerte im Kamin ein Feuer, das bedrohliche Schatten an die Wände warf. Es knisterte unruhig und gelegentlich knackte es laut und vernehmlich, so als würde ein Knochen brechen. Von draußen drang das Zirpen der Grillen und Zikaden herein, die unbekannten Geräusche klangen für den Jungen wie eine Sinfonie des Unheils. Der Indio hatte sich in einer Ecke des Raumes auf dem harten, kühlen Boden zusammengerollt und den Kopf auf seine Arme gelegt. Die Temperatur fiel langsam auf ein angenehmes Niveau. Er gab vor zu schlafen, in der Hoffnung, der alte Mann würde ihn verschonen. Seine Hoffnung starb jedoch, als er die Schritte hörte. Der alte Mann kam, legte eine Kette an seinen Knöchel, die er an einem eisernen Ring in der Wand befestigte. Dann legte sich sein Peiniger schlafen. Eine Stunde später, als der Junge sicher war, dass der Mann schlief, begann er das Schloss zu untersuchen. Dann tastete er mit der Zunge in seiner Wange herum und beförderte schließlich ein kleines Knöchelchen ans Tageslicht, das er vorsichtig in das grobe Schlüsselloch des Schlosses führte. Mit einem Auge behielt er den alten Mann im Blick, während er versuchte, das Schloss zu knacken. Plötzlich hörte das Schnarchen auf. Der Junge erstarrte. Seine Hand verbarg blitzschnell das Knöchelchen. Der Mann drehte sich im Bett herum, ein Fuß schwang über die Bettkante. Der Indio wagte es nicht, aufzublicken. Ein, zwei Sekunden war völlige Stille. Dann setzte das Schnarchen wieder ein. Er atmete auf und begann weiter an dem Schloss zu arbeiten. Schließlich klickte es leise und der Bolzen schnappte auf. Behände wie ein Wiesel huschte der Junge aus dem Haus. Erst als er wenige Schritte entfernt war, traute er sich, laut aufzuatmen. Er ging an einigen Aleppokiefern vorbei und ließ die dürren Bäumchen hinter sich. Er ging weiter und weiter, bis er außer Hörweite war. Dann begann er, nach einem geeigneten Stein und einem Werkzeug zu suchen. Es wurde Zeit, dass er sich an die Arbeit machte. Bald tönte ein gleichmäßiges Klopfen durch die Nacht.

Die Tage flogen dahin, jede Nacht wiederholte sich das Spiel: Der Mann schlief ein und der Junge verließ die Finca, um sich an sein geheimnisvolles Nachtwerk zu machen. Dann kehrte er zurück und kettete sich eigenhändig wieder an. An Flucht schien er nicht zu denken.

Nach einer Woche kam der letzte Tag. Der Morgen brach an, die ersten Zikaden zirpten zaghaft. Der Junge ging feierlich mit seinen nackten Füßen durch die taufeuchte Steppe im Garten. Er lief immer wieder im Kreis. Um vier Pfähle herum, in deren Mitte der weiße Teufel lag, mit Händen und Füßen je an einen Pfahl gefesselt. Als Alejandro Gomez erwachte, sah er vor sich seinen Gefangenen stehen. Doch der stille, gepeinigte Junge war einem hoch aufgerichteten Azteken in voller Kriegsbemalung gewichen. Die kunstvollen Zeichen auf der olivbraunen Haut des Jungen hatten die Farbe des mallorquinischen Tons und ein Federschmuck aus zurechtgestutzten Schilfrohren thronte auf seinem Kopf. Der alte Seefahrer schaute mit dröhnendem Schädel in den Himmel und blinzelte müde in die Sonne. Er versuchte aufzustehen, dann erst bemerkte er, dass er gefesselt war, und bäumte sich auf. Er begann, gotteslästerlich zu fluchen. Und beschimpfte den jungen Azteken. Der wiederum stand ruhig vor ihm und beobachtete ihn zufrieden. Gomez verstand nicht, wie er hierher kam, dann erinnerte er sich an das Essen am Vorabend. Da war ein bitterer Nachgeschmack in der Suppe. Der räudige Köter hatte ihn betäubt! Wieder begann er zu brüllen und riss an seinen Fesseln. Als den alten Mann langsam die Kraft vor lauter Toben verließ, begann der Azteke leise in fast akzentfreiem Spanisch zu sprechen. Der alte Mann riss die Augen verblüfft auf. Er hatte den Indio für zu dumm gehalten, die Sprache zu lernen. Langsam dämmerte ihm, dass er die Intelligenz des Jungen unterschätzt hatte. „Du hast den göttlichen Herrscher getötet, obwohl er dir in einem ehrenhaften Handel, seinen erstgeborenen Sohn gab.“ Der Azteke ging langsam um ihn herum. Der alte Mann war verstört von dessen Verwandlung, nicht nur durch die Äußerlichkeiten – der stoische, unbewegte und hilflose Junge, der sich immer nur duckte und in sich zusammengekauert auf dem Boden lag, war verschwunden. Vor dem alten Mann stand jetzt kein gebrochener Gefangener mehr, sondern ein junger Azteken-Prinz mit stolzer Haltung, aufrechtem Gang und hochmütigen Blick.

„Das war ich nicht, sagte er leise. Cortés hat deinen Vater, euren Herrscher Moctezuma ermordet.“ Aber schon als der alte Mann es aussprach, wusste er, dass dieses Argument nichts bringen würde. Der Azteke spuckte ihm ins Gesicht. „Schweig, Mörder meines Volkes. Ihr habt Vater getötet und den Handel gebrochen. Millionen Leben vernichtet. Unser Volk wird sich davon nie wieder erholen.“ Es wird Quetzalcoátl milde stimmen, wenn ich ihm einen weißen Teufel als Opfer bringe. Das könnte den Mexica den Weg zurück zu alter Größe verhelfen. Er kniete neben dem alten Mann nieder und zischte hasserfüllt: „Und es bringt mir Frieden. Und meiner armen Schwester, deren Schreie heute noch in meinen Ohren klingen.“ Der Blick des alten Mannes fiel auf die Hand des Azteken. Er fing an zu zittern, als er dort die Steinklinge erblickte. „Sieben Tage habe ich gebraucht, um das Maquahuitl anzufertigen“, sagte der junge Mann und strich schon fast zärtlich über die Klinge des steinernen Kurzschwertes. Dann setzte er die Klinge auf dem Bauch des alten Mannes an und begann mit langen Schnitten die Haut am ganzen Körper aufzuschlitzen. Dann strich er Honig über die Wunden und ging ins Haus, um die Sonne und die Ameisen ihre Arbeit erledigen zu lassen. Die Schreie des alten Mannes verstummten erst gegen Abend.

Als der Junge wieder nach draußen in den kühlen Abend trat, hatte sich die Haut des Mannes am ganzen Körper gelöst und auf dem Boden lag nur noch ein wimmerndes, blutiges Bündel, das kaum noch als Mensch zu erkennen war. Als der Junge mit wenigen gezielten Schnitten sein grausiges Werk vollendet hatte, verlor der alte Mann gnädigerweise erneut das Bewusstsein. Der junge Azteke hielt auf einmal ein Sitzpolster eines Hockers in der Hand und hielt es über den Mann, als wolle er Maß nehmen. Dann schleppte er seinen halbtoten Peiniger ins Innere der Finca und machte sich an die Arbeit. Einmal kam er noch aus dem Haus, um einen Holzeimer nach drinnen zu holen. Dann ertöne noch einmal ein unmenschlich klingender, schriller Schrei aus dem Mund des alten Seefahrers, der abrupt abbrach. Dann lag gespenstische Stille über der Finca.

Am nächsten Morgen kam der junge Azteken-Prinz blutbeschmiert aus der Finca und zog einen tropfenden Leinensack hinter sich her. Er ging auf die Knie, zog die vier Pfähle heraus und vergrub an Stelle der Pfähle etwas aus dem Sack an seiner Seite. Dann warf er den bluttriefenden Sack auf die Seite, nahm einige Olivenkerne in die Hand und drückte diese tief in die Erde. Der Azteken-Prinz ging an die Tränke Wasser holen und begann sich zu waschen. Dann trug er mit den Händen Wasser zu den vergrabenen Kernen und begoss sie damit. Währenddessen sang er leise in seiner Sprache ein Klagelied, für seine Schwester, seinen Vater und sein ganzes Volk.

Nach der Waschung stellte er in stundenlanger Kleinarbeit seine Kriegsbemalung wieder her und setzte seinen improvisierten Federschmuck auf. Er begann einen lauten, aber melodischen aztekischen Kriegsgesang zu intonieren. Mit langsamen, würdevollen Schritten ging er durch die Landschaft, bis er schließlich an einer der Steilklippen des Torrente de Caja Pila ankam. Er verharrte kurz, schaute hinab auf den schmalen Strand unter ihm. Ließ den Blick ein letztes Mal über das türkisblaue Meer in der Bucht hinaus auf die dunkelblauen Wellen schweifen, dann schloss er die Augen und breitete die Arme aus. Die Brandung unter ihm rauschte gleichmäßig. Ein paar Vögel zwitscherten vor sich hin und die Sonne ließ ihm wie zum Abschied wärmend ein paar Sonnenstrahlen über seine Wangen streichen. Tiefer Friede erfüllte ihn. Leise sagte der Prinz: „Vater, ich komme!“, dann trat er einen Schritt über den Abgrund hinaus und übergab seinen Körper den Tiefen des Meeres.

1. Renners Restaurant

Restaurant Marcos. Am Turm von Cala Pi

25. März 2017, am frühen Morgen

Renner schloss die Augen, lauschte dem Meer und während die Sonnenstrahlen die Kälte aus seinem Herzen vertrieben, trugen die Wellen Leichen, Blut und Gewalt davon. Jeder Tag auf der Insel entfernte ihn weiter von seinem früheren Leben. Eigentlich könnte der ehemalige Kriminalbeamte glücklich sein. Er stand in einer fließenden, federnden Bewegung auf, streckte seinen großen, massiven Körper und schaute noch eine Sekunde zur Sonne, die vor ihm am Horizont stand. Dann drehte er sich seufzend um und verließ die Steilklippen. Inselparadies hin, Inselparadies her. Er hätte einfach zu Hause in Wiesbaden bleiben sollen, seinen frühzeitigen Ruhestand hätte er sich auch anders vermiesen können, als mit einer Kneipe in einer Bruchbude in Cala Pi. Pardon, in einem historischen mallorquinischen Gebäude mit Charme. Marc Renner strich sich genervt durch seine kurzgeschnittenen, frühzeitig ergrauten Haare. Er ging über einen Brettersteg durch den Gastraum seines Restaurants. Der Estrich war noch nicht trocken und er wollte keine Dellen in den Boden treten. An einigen Stellen blitzte an den Wänden schon wie geplant die Natursteinmauer durch, die Handwerker waren jedoch wieder mal nicht pünktlich morgens um 7.30 Uhr erschienen. Renners Gesicht verzog sich zu einem ironischen Lächeln, die tiefen Falten seiner hohen Stirn vertieften sich und die breite Narbe auf seiner linken Wange zuckte. Er verdrehte seine stahlblauen Augen. Vermutlich war er immer noch zu deutsch für die Sonneninsel Mallorca, wenn er tatsächlich erwartete, dass die Handwerker pünktlich auftauchten. Aber langsam wurde er nervös, es war noch jede Menge zu tun – und mittlerweile war der März schon fast in den April übergegangen. Im Mai kämen die ersten Ausflugsgäste des deutschen Reiseunternehmers Landmüller, mit dem Renner einen Vertrag abgeschlossen hatte. Er erinnerte sich noch zu gut an den Anlass für den Vertrag. Der pensionierte Kriminalbeamte kannte die Familie schon sehr lange. Noch im letzten Jahr hatten sie ihn wieder zum Geburtstag ihrer mittlerweile fünfzehnjährigen Tochter eingeladen. Er freute sich jedes Mal, wenn er das Kind sah, dass er vor zehn Jahren aus den Händen ihres Entführers gerettet hatte – auch wenn er meist nach dreißig Minuten wieder verschwand. Fröhliche Kindergeburtstage gingen ihm auf die Nerven. Die vielen fremden Gäste ebenfalls. Er verabschiedete sich dann von der Familie und eröffnete, dass er aufgrund seines Ruhestandes zukünftig nicht mehr kommen könnte. Schließlich wurde er solange ausgefragt, bis er preisgeben musste, dass er auf Mallorca ein Restaurant mit Fremdenzimmern eröffnen wollte. Daraufhin hatte ihn Landmüller an die Seite genommen und ihm mitgeteilt, dass er Cala Pi in seinen Reisekatalog aufnehmen würde. Zuerst hatte Renner protestiert, aber eher halbherzig, wie er sich selbst eingestehen musste. Es fühlte sich an wie eine Bestechung, aber erstens war er jetzt im Ruhestand und zweitens schuldete ihm Landmüller doch wirklich etwas? Oder?

Das Handy klingelte, als er auf die große Terrasse trat. Wenigstens dort waren die Handwerker schon fertig. Knöchelhohe Mäuerchen säumten den Weg, der auf den etwa fünfzig Meter breiten Außenbereich führte. Ringsherum war die Terrasse von einer kleinen Natursteinmauer eingefasst und auf den Säulen des Mäuerchens prangten Laternen. Die rustikalen Holztische waren schon in Reih und Glied angeordnet, die Gartenanlage mit Palmen, Kakteen und Oleander bepflanzt. Ein paar der unvermeidlichen Aleppokiefern waren ebenfalls vorhanden. Während Renner das Gespräch annahm, ließ er befriedigt seinen Blick über den fertigen eingezäunten Kinderspielplatz hinter der Terrasse streifen. Schaukel, Rutsche und Sandkasten waren einsatzbereit. Im Prinzip waren ihm Kinder eher unheimlich, aber er wusste aus Erfahrung, dass Eltern mehr Geld ausgaben, wenn die Kinder ihnen Zeit dazu ließen. Insofern war der Spielplatz ein Umsatzbringer. Der pensionierte Kriminalbeamte blickte an der historischen Turmruine vorbei aufs offene Meer. Fast hätte er sich bei diesem Anblick wieder entspannt, aber als er die nervöse Stimme seines Koches Joaquin am anderen Ende hörte, klingelten seine Alarmglocken. Der Junge druckste etwas herum, dann rückte er damit heraus, dass er einen doppelt so gut bezahlten Job in Palma in einem Vier-Sterne-Hotel angenommen hatte. Renner schimpfte laut auf Spanisch in den Hörer, aber im Grunde konnte er den Jungen verstehen. Vermutlich hätte er es nicht anders gemacht. Es war nur ärgerlich, dass er das jetzt erst erfuhr. Joaquin hatten den Vertrag schon vor sechs Monaten unterschrieben, bevor die Saison losging. Er legte auf, lehnte sich an die Mauer und spürte die Frustration in sich aufsteigen, wie ein Gift, dass sich durch seine Adern ausbreitete und einen bleiernen Klotz in seinem Magen hinterließ. Immerhin, seine Bedienung Sonia traf jetzt ein. Er warf der verdutzten Mittzwanzigerin den Schlüssel für das Lokal zu und setzte sich in Bewegung. „Wo willst du denn hin?“, fragte die schwarzhaarige, schlanke Frau und runzelte ihre hohe Stirn missbilligend. „Weg!“, knurrte Renner. „Ich bin in einer Stunde etwa zurück, polier Gläser – oder was weiß ich.“

„Gläser? Wir haben noch nicht einmal Schränke.“ „Dann stell sie wieder in den Karton nach dem Polieren.“

Renner trabte den gemauerten Weg entlang und schwang sich aufs Rad, bevor Sonia noch mehr Fragen einfielen. Er brauchte jetzt dringend einen Café con Leche und einen Sprung in das marineblaue Wasser am Strand, sonst würde er durchdrehen.

Am Strand angekommen, lehnte er sein Rad an den Bretterverschlag, der sich Strandcafé schimpfte, und versuchte einen laktosefreien Milchkaffee zu bestellen. Entweder verstand die Bedienung „delactosada“ nicht, oder sie hielt ihn für einen überdrehten Hipster. Er versuchte es noch auf Katalanisch, das er ebenfalls fließend sprach, dann gab er auf und trank eine Cola. Das Koffein aus der süßen Plörre würde auch helfen. Ein älterer, stämmiger Mann mit gut gebräunter Haut drehte sich am Tresen um und nickte ihm freundlich zu. „Geht es Ihnen gut?“

Renner knurrte unfreundlich: „Nein!“

„Atmen Sie tief durch, unsere wunderbare Meeresluft vertreibt alle Sorgen. Sie sind ja schließlich im Urlaub.“

Offensichtlich hielt der alte Mallorquiner ihn für einen Urlauber.

Er seufzte genervt. „Nein, ich lebe hier seit kurzem. Mir gehört das Restaurant am alten Turm, oben auf den Klippen.“

Der alte Mann runzelte seine faltige Stirn und kratze sich an seinem Haarkranz. Er schaute etwas verlegen drein. „Wirklich? Darf ich Sie etwas fragen, trotz Ihrer Anspannung?“

Renner versuchte möglichst abweisend zu schauen, aber der Mann sprach einfach weiter.

„Was wollen Sie denn für eine Küche anbieten?“

Der pensionierte Kriminalbeamte riss sich zusammen, der Mann konnte ja ein späterer Stammkunde sein. Mehr als ein knappes, „Einheimische Küche und eine Handvoll deutscher Gerichte, die ich selbst zubereite“, brachte er nicht zustande.

„Interessant, ich habe noch nie deutsch gegessen. Was isst man denn da so?“

„Schnitzel.“

Der alte Mann schien sich an Renners Einsilbigkeit nicht zu stören, denn er plapperte munter weiter. „Ah ja, richtig. Das berühmte Schnitzel. Eines der beliebtesten deutschen Gerichte. Aber kam das nicht eigentlich aus Wien?“

„Ja.“

„Sie wirken wirklich äußerst angespannt. Darf ich Ihnen zur Entspannung einen Thé à la menthe anbieten?“

Fast wollte Renner, „Nein!“, brüllen. Dann fragte er doch aus schierer Neugierde nach: „Was ist denn an einem Pfefferminztee besonders?“

„Frangelico, der Besitzer des Strandcafés hat zwei Jahre in einem marokkanischen Hotel gearbeitet und dort eine orientalische Zubereitungsform gelernt. Ein sehr starker Schwarztee aus dem Samowar, mit dem eine Unmenge marokkanischer Minze abgebrüht wird.“

Der erwähnte Frangelico brachte ihnen ein ziseliertes Metallkännchen auf einem silbernen Tablett, dazu ein paar kleine, bunte Gläser. Um den geschwungenen Griff war ein kleines Tuch gewickelt. Der Wirt stellte eine kleine Tonschale mit Pistazien und Oliven dazu.

Der alte Mann schenkte ihm langsam ein. Dann stellte er das Glas vor Renner ab. „Bevor wir anstoßen: Santos di Santiago. Ist mir eine Freude.“

Der Deutsche zögerte noch kurz, dann hob er das Glas: „Renner. Marc Renner.“ Er probierte den Tee und verzog das Gesicht. Der Tee war stark und extrem süß, ein kräftiger Minzgeruch stieg ihm in die Nase. Nicht sein Fall. Aber zu seiner Verblüffung fühlte er sich tatsächlich etwas entspannter. Irgendwie hatte er auch das Gefühl, dass er weniger schwitzen musste.

„Nicht übel!“ Renner wollte nicht unhöflich sein, nachdem der alte Mann den Tee ausgegeben hatte. Am liebsten wäre er trotz des positiven Effektes zu seiner Cola zurückgekehrt.

„Wie kommt es eigentlich, dass Sie bei uns ein Restaurant eröffnen?“

Ihm bleib nichts anderes übrig, als zu antworten: „Ich bin pensioniert und will hier meinen Ruhestand verbringen. Als junger Mann wollte ich immer Gastronom werden, jetzt erfülle ich mir den Traum.“

„Ah ja. Kann ich verstehen. Eigentlich arbeite ich seit Jahren nicht mehr, weil ich im Ruhestand bin. Aber seit meine Frau vor einem Jahr starb und ich nach Cal Pi gezogen bin, sterbe ich beinahe vor Langeweile.“

Renner schaute in sein Teeglas und schwieg.

„Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber wieso sind Sie denn so angespannt. Vielleicht hilft es ja, darüber zu reden?

Er zögerte, dann dachte er: Was soll’s. Renner schaute auf und erklärte dem alten Mann seine Lage: „Das Restaurant ist noch eine Bruchbude, die Handwerker kommen, wann sie wollen. Und mein Koch hat gerade gekündigt.“

Der Mann zögerte, dann sagte er: „Wissen Sie, ich bin früher Koch gewesen.“

Renner nickte höflich und versuchte Interesse zu heucheln.

„Wenn Sie wollen, könnte ich für Ihren Koch einspringen. Zumindest bis Sie Ersatz haben.

Ungläubig starrte Renner den Mann an. Der schien das Starren fehlzuinterpretieren und hob entschuldigend die Hände. „Sie brauchen nicht zu antworten, ich will mich gar nicht aufdrängen.“

Renner schaute den Mann abschätzend an. Ob der wohl noch die Kraft für den anstrengenden Job in der Küche hatte? Immerhin, die Oberarme waren muskulös.

Der alte Mann lächelte gewinnend und entblößte zwei Reihen makelloser, weißer Zähne. „Ich würde gerne für einige Monate wieder den Kochlöffel schwingen.“

Renner beschloss, es einfach auszuprobieren. Schlimmstenfalls war das etwas vergeudete Zeit. Bestenfalls ein Koch. „Könnten Sie heute Nachmittag zum Probekochen vorbeikommen?“ Der alte Mann deutete eine leichte Verbeugung an. „Sehr gerne.“

„ Na dann.“ Renner stand auf, drückte Santos seine Visitenkarte in die Hand. Dann winkte er wortlos zum Abschied und ging an den Strand. Dort zog er sich sein weißes Hemd aus, legte es auf eine Sonnenliege direkt am Meer, dann streifte er die Hose ab. Er faltete sie zusammen und packte das Kleidungsstück auf das Hemd. Dann sprang er in Boxershorts direkt ins Wasser. Der Vormittag zog schnell vorüber und Renner wartete in seinem Restaurant ungeduldig auf Santos, der kurz nach 12 Uhr auftauchte. Renner hatte mit Absicht keine feste Uhrzeit vereinbart, er wollte sehen, wann sein potentieller Koch auftauchte. Kurz nach zwölf war die frühestmögliche Interpretation von „heute Nachmittag.“ Das sah schon mal gut aus. Sie stapften durch die Baustelle im Gastraum und traten in die Küche. Hier sah es schon besser aus, die Küche war schon fertig eingerichtet – nur die Dunstabzugshaube fehlte noch. Santos hatte Lebensmittel mitgebracht und schien sein eigenes Programm durchzuziehen, wie Renner angenehm überrascht feststellte. Er hatte eher damit gerechnet, den Mann hämisch lächelnd erst mal zum Einkaufen schicken zu müssen. Neugierig stand er neben Santos und schaute ihm über die Schulter. Da saß jeder Griff und jede Bewegung. Die langjährige Erfahrung war dem Mallorquinen anzumerken. Eine Stunde später war Renner als Vorkoster beschäftigt. Santos stand ungeduldig neben ihm auf der Terrasse und schaute zu, wie Renner sich durch gebratene Auberginen, einen gegrillten Sankt-Petersfisch auf Kartoffel-Tomaten-Gratin und allerlei andere Köstlichkeiten probierte. Schweigend probierte der Gastronom in spe einen Mandelkuchen mit Limettenkruste zum Abschluss. „Ganz ehrlich, Santos? Das ist himmlisch. Die Vorspeisen sind vielfältig, das Hauptgericht perfekt gewürzt und der Kuchen ist himmlisch luftig und locker.“ Renner streckte Santos die Hand hin und sagte: „Von mir aus haben Sie den Job.“ Der alte Mann lachte und umarmte den verdutzten Renner, klopfte ihm auf beide Schultern und warf zwei Küsse in die Luft. Der Deutsche wischte irritiert über seine Wange. „Wenn Sie hier schon leben, dann sollten Sie auch ein Muamua beherrschen!“, sagte Santos. Die braunen Augen in dem verschmitzt lächelnden Gesicht funkelten vergnügt über Renners Gesichtsausdruck.

„Ein was?“

„Zwei Küsse, über die Wange gehaucht. Muamuas eben.“

Renner seufzte. „Muss ich jeden Gast etwa küssen?“

Der stämmige, alte Mann lachte aus vollem Herzen, klopfte Renner auf den Rücken, dann zog er das hellbeige Leinenhemd zurecht, bevor er sich ans Abräumen machte.

Restaurant Marcos, Cala Pi

29. April 2017, vormittags