Sandra Puls

Einmal Schicksal und zurück

Für Lilli und Jona
Ihr seid mein Wunder

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Es ist ihre letzte Chance. Wenn sie heute nicht pünktlich beim Vorsprechen erscheint, hat sie jede Möglichkeit auf eine Zukunft als Schauspielerin verwirkt. Sie ist besser vorbereitet als jemals zuvor. Aber sie ist spät dran. Den ganzen Weg zur Haltstelle muss sie rennen. Rosa bekommt gerade noch in letzter Sekunde ihren Bus. Sie verpasst ihn nicht. Glück gehabt?

Liv trägt einen schwarzen Kapuzenmantel bei der Beerdigung ihres kleinen Bruders. Der Himmel sieht finster auf dieses Ereignis herab. Viele Menschen sind gekommen, dunkel gekleidet unter grellbunten Regenschirmen. Manche hat Liv noch nie zuvor gesehen. Sie erkennt Nachbarn, Freunde, Verwandte und auch die Erzieherinnen aus Finns Kindergarten. Das Unfassbare ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Tante Frankas Falten treten heute überdeutlicher als sonst hervor. Auch Livs Vater hat Augenringe wie nach einer durchzechten Nacht. In den letzten Tagen war er kaum zu Hause gewesen, sondern bei Finn. Im Beerdigungsinstitut hat er Finn kaum aus den Augen gelassen, ihn gewaschen und angezogen. Liv sah ihn am Dienstag nur kurz nach der Schule, als er Finns Kuscheltiger holte. Den kleinen Sarg ließ er in einer Autolackiererei hellgrün ansprühen. Grün war Finns Lieblingsfarbe.

Als Liv in die Trauerhalle kommt und sich nach vorn neben ihre apathische Mutter setzt, erkennt sie gleich den Kranz aus Efeu und gelben Rosen. Der kleine grüne Sarg sieht für sie unwirklich und fremdartig aus. Als würde er nicht wirklich hierher gehören. Wie aus dem Spiel „Waspasst-nicht-in-dieses-Bild?“. Sie kennt den Anblick von Särgen inmitten von Blumenkränzen. Sie hat bereits zwei Großelternpaare, eine Nachbarin und einen Urgroßonkel mütterlicherseits beerdigt. Es waren Erwachsene in schweren dunklen Eichenkästen. Aber dieser ist viel zu klein, zerbrechlich beinahe. Einfach deplatziert.

Auf der breiten weißen Schleife des Kranzes steht in grünschimmernden Buchstaben auch ihr Name im Abschiedsgruß. Es ist dunkel und stickig in der Halle. Die Kerzen versuchen, ein wohlwollendes Licht auf die tränenreichen Gesichter der Anwesenden zu werfen. Während der Pfarrer spricht, gleitet Liv in ihre eigene Welt.

Sie denkt an Finns Geburt vor fast fünf Jahren. Wie sie in dieses kleine Baby vernarrt war. Seinen Geruch, die speckigen Beinchen und das überwältigende Lächeln. Dabei war Liv nicht gerade erfreut, als ihre Mutter ihr von seiner nahen Ankunft berichtete. Schließlich war es erst vier Jahre her, dass sie Mia verloren hatte. Liv glaubte damals nicht, dass ein neues Kind diese Lücke schließen könnte. Aber er konnte es beinah. Mit seiner fröhlichen Wildfangart konnte er jeden bezaubern. Liv liebte ihren Bruder vom ersten Moment an wie verrückt und tief in ihrem Herzen weiß sie, dass sie ihn immer bei sich hat.

Liv hört die Worte des Pfarrers. "Und du sollst wissen: Der Herr lässt nicht zu, dass du zu Fall kommst. Er gibt immer auf dich Acht. Er, der Beschützer Israels, wird nicht müde und schläft nicht ein; er sorgt auch für dich. Der Herr ist bei dir, hält die Hand über dich, damit dich die Hitze der Sonne nicht quält.“

Die Bilder laufen wie in einem Film in ihrem Kopf. Finn, wie er im Sommer im Garten über den Wasserschlauch springt; Finn als Indianer verkleidet, bindet Liv an einen Laternenpfahl; Finn, wie er auf der Wiese liegt und die Wolken beobachtet. Er hat die Sonne geliebt. Die Gedanken ziehen Liv weiter davon, in eine zunehmende Schwärze. Tief hinein ins Meer der Sterne. Schwerelos gleitet sie durch die Dunkelheit. Umgeben von weit entfernten leuchtenden Punkten. Das Vakuum hat sie in sich aufgenommen und verschluckt alles. Die Umgebung, ihren Schmerz, ihr ganzes Sein. Hier ist es friedlich.

Aus weiter Ferne hört Liv wieder die leise sanfte Stimme des Pfarrers. „Auf seiner Lebensreise erfährt sich der Mensch in Höhen und Tiefen, auf Bergen und in tiefen Tälern. Dabei wird aber nur, wer sich auf den Weg macht, die Fülle und den Reichtum eines erfüllten Lebens erfahren. Nur auf dem Weg können sich Menschen begegnen, Gemeinschaft, Partnerschaft und Liebe erfahren - nur auf dem Weg können Menschen Freude und Leid teilen - nur, indem sie sich auf den Weg machen, werden sie dann schließlich auch Gott begegnen.“

Livs lange blonde Haare kleben an ihrer Wange. Die Tränen wollen nicht enden. Schweigend sitzt sie da und lässt sie einfach laufen. Ob Finn Gott jetzt wirklich begegnet? Wird er ihn behüten und beschützen? Liv hat nie wirklich an Gott geglaubt. Wo war er denn, als das Auto ihren Bruder direkt vor ihrer Haustür überfahren hat? Wieso hat er ihn da nicht behütet und beschützt? Liv spürt eine zornige Unruhe in sich aufsteigen. Dieser Gott kann ja so gnädig nicht sein, wenn er zulässt, dass ein warmherziger Junge wie Finn einen so grausamen Tod erleiden muss.

„Jeder von uns weiß, dass es ein unglücksfreies Leben nicht gibt. Wo Menschen leben, da werden sie auch Gefahren ausgesetzt sein, den Sorgen um die Gegenwart und Zukunft, einer Krankheit, dem Altwerden, dem Tod. Der Herr wendet Gefahr von dir ab und bewahrt dein Leben. Auf all deinen Wegen wird er dich beschützen, vom Anfang bis zum Ende, jetzt und in aller Zukunft!"

Livs Zorn über die Ungerechtigkeiten ihres Lebens weicht einer Verzweiflung, die sich an den Gedanken klammert, dass Finn jetzt nicht allein ist. Wenn Gott schon nicht auf Erden auf ihn Acht gegeben hat, dann soll er es gefälligst jetzt tun.

Am Grab gibt es Gummibärchen. Eine ganze Schale. Der Regen hat sie in eine glibberige Masse verwandelt, so dass kaum jemand zugreift, um sie Finn hinunter zu werfen. Liv weiß um Finns Vorliebe für die süße Gelatine und greift tief in die Schüssel. Die glitschigen Bären entgleiten ihr zwischen den Fingern, so dass sie erneut zugreifen muss. Liv will ihm so viele wie möglich mitgeben. Ihre Hände zittern, als die Bärchen auf den grünen Holzdeckel klatschen. Schnell geht sie zu ihren Eltern rüber und verkriecht sich in ihren Mantel. Niemand sagt ein Wort. Am Ende der Schlange aus Regenschirmen und Menschen, die sich vor dem Grab aufgebaut haben, sieht Liv ein bekanntes Gesicht, das sie nicht erwartet hat.

Es ist ein Junge aus der Straße. Ben ist sein Name. Sie haben nie viel miteinander gesprochen. Er muss irgendwo oberhalb der Einbiegung wohnen. Seine Eltern sind erst vor ein paar Jahren hergezogen, so dass Liv ihn noch nicht kannte, als sie in dem Alter war, als alle Kinder noch gemeinsam auf der Straße miteinander spielten. Seit einiger Zeit schon geht Liv kaum noch raus. Sie hat Ben gelegentlich beim Einkaufen oder einfach auf der Straße gesehen. Das Glück strahlte immer nur so aus ihm heraus. Vielleicht hat Liv genau das so abgeschreckt. Jetzt sieht er beinah unglücklicher aus als ihr Vater, dessen resigniertes Gesicht keinerlei Emotionen mehr zuließ. Sie beobachtet, wie er in der Reihe langsam und abwartend nach vorne geleitet wird. Als er direkt vor den Gummibärchen steht, greift Ben beherzt zu. Auch ihm flitschen die matschigen Bärchen durch die Finger. Er schafft es, ein paar davon sicher in das mit Blumen, Erde und Stofftieren angefüllte Grab zu bugsieren. Als Ben sich die klebrigen Hände verstohlen an seiner schwarzen Jeans abwischt, sieht er zu Liv hinüber und ihre Blicke treffen sich für einen winzigen Augenblick.

In diesem Moment flackern in Bens Gedankenwelten Bilder auf, die ihm zu Livs Familie einfallen. Es wurde viel erzählt über diese Familie in dem vanillefarbenen Haus. Sie leben sehr zurückgezogen. Die Mutter sieht man so gut wie nie. Der Vater erscheint distanziert und mürrisch. Es gibt oft Streit, jedenfalls gehen die Nachbarn davon aus, denn immer wieder mal sind Schreie aus dem Haus zu hören. Schreie aus Zorn und Verzweiflung. Die Kinder haben kaum Kontakt zu jemandem. Kaum einer kennt sie näher. Der kleine Junge wirkte jedoch immer ganz vergnügt. Das Mädchen macht dagegen einen eher unscheinbaren und in sich gekehrten Eindruck. Natürlich weiß man auch von den schwierigen Lebensumständen der Familie. Der Vater ist schon lange arbeitslos, die Mutter war vor Jahren nach ihrem Krankenhausaufenthalt am Ende der Schwangerschaft ohne Baby nach Haus gekommen. Mit schicksalsgebeutelten Menschen wollen die Leute nichts zu tun haben. Vielleicht glauben sie, dass ein schlechtes Karma ansteckend ist, denkt Ben. Es wird auch viel Schlechtes erzählt, für das es keinerlei Beweise gibt, nur um die Umstände zu erklären, unter denen diese Leute leben. Herr Hermann soll seine Kinder geschlagen haben, die Mutter sieht so schlecht aus, dass sie nur Alkoholikerin sein kann. Das Auto der Familie sah schon immer verunfallt aus, aber seit Monaten hat es einen so schweren Schaden an der Seite, dass es wohl gar nicht mehr zu fahren scheint. Auch eingebrochen wurde wohl schon öfter. Kein Wunder, wenn die Terrassentür immer sperrangelweit aufsteht. So sieht es jedenfalls von außen aus. Die Herren mit den Aktenmappen, die in regelmäßigen Abständen an der Tür klingeln, runden das Bild ab. Genauso stellt man sich Gerichtsvollzieher vor.

Auf dem Parkplatz wartet Liv auf ihren Vater. Ihre Mutter spricht mit Nachbarn und Freunden. Der Regen lässt deutlich nach. „Es tut mir sehr leid, das mit deinem Bruder“, hört Liv leise neben sich. Ben tritt vorsichtig neben sie. Liv nickt kurz zu ihm herüber, dann sieht sie ihren Vater mit dem Auto und rennt zur anderen Straßenseite hinüber. Ben sieht ihr nachdenklich hinterher. Wieviel ist wahr von den Erzählungen und Gerüchten? Ben will so gerne glauben, dass alles eine irrwitzige und völlig harmlose Erklärung hat. Er wünscht sich irgendeinen Impuls, der es ihm ermöglicht, sich nicht länger fern halten zu wollen von diesem Mädchen mit den traurigen Augen.