Cover

PROLOG

WM-FINALE 2018

Mai 2018 im Crucible Theatre in Sheffield. Das legendäre „The Crucible“, seit 1977 Austragungsort der Snookerweltmeisterschaft, gilt als Kathedrale des Snookersports. Jeder Spieler und jeder Fan bekommt eine Gänsehaut, wenn er an das Crucible denkt. Es ist ein mystischer, beinahe heiliger Ort, auf jeden Fall die spirituelle Heimat dieses Sports. Das Besondere: Die Zuschauerränge fallen in diesem Theater steil ab und reichen bis ganz dicht an die Spieltische heran – das schafft eine einzigartige Atmosphäre. Das Crucible Theatre bietet nur etwa 980 Plätze (ein skurriler Anachronismus, man könnte viel mehr Tickets verkaufen), aber in der Arena spürt man die Blicke und den Atem der Zuschauer geradezu körperlich. Hinzu kommt das Wissen um die Tradition und die Geschichte. Jeder weiß, dass im Crucible Karrieren gekrönt wurden und werden, aber auch zerbrechen können.

Die WM, der alljährliche Höhepunkt jeder Snookersaison, ist die Mutter aller Turniere, ein Zermürbungskampf. Der Wettbewerb dauert satte 17 Tage. Ein Spieler, der das Finale erreicht, hat zu dem Zeitpunkt (wenn er gesetzt war und sich vorher nicht noch qualifizieren musste) vier Spiele hinter sich, Spiele, die locker mal zehn Stunden und mehr dauern können. Er hat schon 53 Frames geholt. Und dann kommt der Hammer, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Sportarten, in denen die vorgegebene Spielzeit oder Anzahl der einzelnen Spielabschnitte bei allen Spielen gleich ist, wird beim Snooker die Schlagzahl im Finale nochmals deutlich erhöht. Im WM-Finale wird „best of 35“ gespielt, also maximal 35 Frames über maximal vier Sessions, verteilt auf zwei Tage. 18 siegreiche Frames trennen einen Finalisten also noch vom ersehnten Titel. Eine echte Marathonstrecke und eine enorme körperliche, aber vor allem mentale Herausforderung für die Spieler.

Doch zurück zum Mai 2018. Am Snookertisch: zwei Männer Anfang 40 mit leichtem Bauchansatz. Beim einen ist das schüttere Haar schon deutlich ergraut, beim anderen lässt die Stoppelfrisur das Grau der Haare erahnen. Beide gewandet in einen merkwürdig formalen Dress, der aus Stoffhose, Hemd, Weste, Fliege und blank polierten Straßenschuhen besteht – ihr Erscheinungsbild würde einen zufällig reinzappenden Fernsehzuschauer möglicherweise frappieren, so ungewöhnlich ist so etwas heutzutage. Dabei stehen sich hier zwei Giganten des Sportes gegenüber, zwei Veteranen der „goldenen Generation“, die sich schon als Junioren regelmäßig gemessen haben und die beide im selben Jahr, nämlich 1992, Profis wurden. 26 Jahre später hat der eine, John Higgins, vier WM-Titel gewonnen, der andere, Mark Williams, immerhin zwei – den letzten davon allerdings vor bereits 15 Jahren. Beide gelten als absolute Spitzenspieler und Meister ihres Fachs, aber während John Higgins sich relativ konstant an der Spitze hielt, verlief die Karriere von Mark Williams wesentlich holpriger mit vielen Auf und Abs: Zur WM 2017 konnte er sich noch nicht einmal qualifizieren und dachte ernsthaft darüber nach, seine Karriere zu beenden. Seiner Frau Joanne ist es zu verdanken, dass er damals sein Queue nicht an den Nagel hängte. Doch in der Saison 2017/18 erlebte er plötzlich einen zweiten Frühling, gewann zwei Ranking-Events, darunter das German Masters in Berlin.

Nun stehen sich diese zwei Snooker-Dinosaurier und lebenden Legenden in einem Traumfinale gegenüber. Um die technische Brillanz der beiden weiß man, wissen die Zuschauer seit vielen Jahren, aber in diesem WM-Finale wird sich zeigen, wer die größere mentale Stärke hat. Nur darauf kommt es in einer solchen Begegnung zwischen Topspielern auf Weltniveau letztlich an. Die Weichen sind gestellt für ein neuerliches Drama in der so dramenreichen Welt des Snooker.

Drei Stunden, 59 Minuten und 24 Sekunden effektiver Spielzeit später steht es 7:7, inklusive der Pausen sind das sechs Stunden höchster Konzentration und Anspannung. Das Finale hatte für Higgins denkbar schlecht begonnen, beim ersten Midsession Interval stand es 4:0 für Williams. Doch Higgins kämpft sich auf 7:7 heran, den letzten Frame hat er mit einem Break von 117 Punkten in Serie gewonnen (bereits sein drittes Century in diesem Spiel) und scheint nun endgültig auf Betriebstemperatur zu laufen. Er könnte jetzt, in Frame 15, zum ersten Mal in diesem Spiel in Führung gehen. Und was passiert? Higgins verschießt eine lange Rote als Einsteiger. Williams will eine nach menschlichem Ermessen unlochbare lange Rote sicher an der Bande ablegen, doch sie prallt von Grün ab und senkt sich als Fluke, also quasi aus Versehen, in die Ecktasche. Nach einem Snooker von Williams, einem Foul von Higgins und anschließend einer Safety von Williams liegt wieder eine lange Rote für Higgins da – und erneut verschießt er – diesmal meilenweit! Nun ist es geschehen: Für seinen Gegner bleibt ein einfacher Einsteiger liegen. Williams öffnet mit einem guten Stoß den Pulk der Roten und spielt das Break mit einer Clearance von 123 zu Ende, zum 8:7.

Higgins hatte über mehrere Frames fantastisch gespielt, um seinen Rückstand aus der ersten Session aufzuholen, doch nun wirkt er überraschend fahrig, unkonzentriert. Mark Williams gewinnt auch die letzten beiden Frames der Session und beendet den ersten Tag mit einer 10:7-Führung.

John Higgins weiß aber genau, dass ein solcher Rückstand noch keine Vorentscheidung sein muss. Ein Jahr zuvor, in seinem WM-Finale gegen Mark Selby, hatte er schon mit 10:4 vorne gelegen und den ersten Tag letztlich mit einer 10:7-Führung beendet. Am Ende aber war es nicht Higgins, sondern Selby, der mit 18:15 das Match und damit auch den Titel holte. Sollte sich die Geschichte nun mit umgekehrten Vorzeichen wiederholen? Eine echte Chance hat Higgins indes nur, wenn er optimal in den zweiten Tag startet. Aber genau das gelingt ihm nicht. Williams ist der konstantere Spieler und gewinnt die ersten vier Frames am Montagnachmittag; der Druck, der auf Higgins liegt, ist brutal. Mit 14:7 gehen die Spieler ins Midsession Interval der dritten Session, ein riesiger Vorsprung für Mark Williams, der lediglich noch vier Frames zum Sieg braucht. Mittlerweile sind bei dieser WM 16 ½ Tage gespielt. Anderthalb Tage, drei Sessions des WM-Finales.

John Higgins hockt im 21. Frame mit – je nach Interpretation – leerem bis leicht geschocktem Gesichtsausdruck auf seinem Stuhl. Es droht die Höchststrafe: schon in drei Sessions so weit zurückzuliegen, dass die vierte Session komplett entfällt – eine Schande für jeden Spieler und umso mehr für einen viermaligen Weltmeister. Was geht in diesem Moment in ihm vor? Wie motiviert man sich in einer solchen Situation?

Das Match scheint gelaufen. Doch jetzt schlägt die Stunde von John Higgins, dem „Wizard of Wishaw“, der für seine Zähigkeit und Kämpferqualitäten bekannt ist.

Der erneute Wendepunkt kommt in Frame 22: Williams verschießt eine lange Rote. Higgins bekommt den Einsteiger, locht danach eine extrem schwierige Schwarze, die fast an der Bande liegt, mit viel Gefühl und Zuhilfenahme des Ecktascheneinlaufes mit Bravour ein. Viermal Rot, dreimal Schwarz. Anschließend verschießt er die Schwarze vom Spot und bringt damit Williams wieder ins Spiel. Dieser führt im Frame mit 29:25 – als ein Split schiefgeht und er die Stellung verliert. Er muss mit einer Safety aussteigen. Nun kommt Higgins mit einer fantastischen Safety, durch die er Williams sofort unter Druck setzt. Die Konsequenz: ein großartiger langer Einsteiger des Schotten. Eine unglaubliche Nervenstärke in dieser Situation, bei einem Stand von 14:7, also mit einem Fuß im Abgrund. Den Rest des Frames spielt Higgins locker runter und gewinnt auch die nächsten zwei Frames.

Was für eine Achterbahnfahrt der Emotionen! Den Zuschauern bietet sich ein Psychokrimi, wie ihn sich kein Hollywood-Drehbuchautor besser ausdenken könnte. Thomas Hein, mein Co-Kommentator, und ich sitzen mit feuchten Händen am Mikrofon. Alfred Hitchcock lässt grüßen.

John Higgins kämpft sich Schritt für Schritt, Frame für Frame zurück, schafft das 15:15. Der ganze schöne Vorsprung für Mark Williams ist dahin! Die Atmosphäre ist zum Zerreißen gespannt. Beide Familien, die Ehefrauen Jo und Denise, die Kinder (jeweils drei an der Zahl), sitzen im Publikum, werden von den Kameras immer wieder gesucht. Auch für sie ist die Veranstaltung ein Wechselbad der Gefühle, die Nervenanspannung ist ihren Gesichtern allzu gut abzulesen, sie können teilweise nicht mehr hinschauen. Die Kinder von Mark Williams waren alle noch nicht auf der Welt, als er seine ersten beiden WM-Titel holte. Natürlich will er ihnen hier etwas bieten, hofft, dass sie live miterleben können, wie ihr Vater den WM-Pokal hochhält.

In einer solchen Situation kann ein Spieler zerbrechen, wenn er den Glauben an sich verliert, sich zu hinterfragen beginnt. Nicht so Mark Williams. Der hat die nötige Gelassenheit, vor allem aber die psychische Stärke, gewinnt den 31. Frame klar mit zwei mittleren Breaks zu null, macht also das 16:15, und holt anschließend sogar mit einem Century Break das 17:15. Und plötzlich hat er wieder alle Trümpfe in der Hand. Das Momentum hat die Seite gewechselt und jeder hat das Gefühl, das war die Vorentscheidung. Ein Gefühl, das sich im 33. Frame noch verstärkt, als Williams in ein Break kommt, den Tisch relativ offen vor sich liegen hat – ein Bild, das er auf jeden Fall zum frameentscheidenden und damit auch matchentscheidenden Break nutzen kann. Ein Bild, das er schon zigmal vor sich gehabt, aus dem er schon so oft ein hohes Break gemacht hat.

Aber nicht hier und heute. Beim Stand von 63 Punkten muss er Pink spielen, eigentlich ein leichter Ball, doch in dieser Situation gibt es keine leichten Bälle mehr. Dies ist schließlich der Frameball, in diesem Fall sogar der Matchball, der Ball, der dafür sorgen würde, dass Higgins Snooker braucht – und damit der Ball, bei dem der Druck am allergrößten ist. Williams, der hat ja bewiesen, dass er mit Druck umgehen kann … Mark Williams verschießt Pink! Zwar führt er mit 63:0, aber der Frame ist noch nicht sicher. Es liegen noch genügend Punkte für John Higgins auf dem Tisch.

Und dann gelingt Higgins wieder das, was er schon so oft gezeigt hat, unter anderem in diesem Match: Mit dem Rücken zur Wand pickt er sich einen Ball nach dem anderen heraus, locht einen Ball nach dem anderen fehlerlos, bleibt cool bis in den letzten Winkel seiner Seele, spielt eine 65er-Clearance, räumt bis zum letzten schwarzen Ball den Tisch ab und gewinnt damit diesen Frame mit 65:63 hauchdünn. Damit hat er auf 16:17 verkürzt, hat sich vorerst in einen 34. Frame gerettet – eine erneute Wende in diesem bereits so wendungsreichen Spiel.

Frame 34: Williams bekommt die erste Chance, locht die erste Rote, hat aber keine Fortsetzung. Es gibt noch ein Safe-Duell und dann plötzlich eine zweite Gelegenheit für Williams. Ein roter Ball aus dem Gewusel heraus – es herrscht schieres Chaos auf dem Tisch – ganz dünn in die Mitteltasche gelocht, dann eine Reihe von schweren und allerschwersten Bällen. Ich erinnere mich vor allem an einen Ball, den er diagonal den langen Weg über den ganzen Tisch lochen muss, 3,70 bis 3,80 m, den er ganz präzise und ganz sicher locht, ohne dass der Ball irgendwo die Bande mitnimmt. Und das sind bei Weitem nicht die einzigen schwierigen Bälle, die er versenkt: „The Welsh Potting Machine“ macht seinem Spitznamen alle Ehre und geht konzentriert einen haarigen Ball nach dem anderen an. Er bewahrt die Ruhe, hat die Nervenstärke, die mentale Kraft, trotz aller Rückschläge, die er vorher hat hinnehmen müssen, und spielt in dieser prekären Situation dann das letztendlich entscheidende Break von 69 Punkten zum Titelgewinn. John Higgins bringt es nachher auf den Punkt, als er sagt, das sei beinah unmenschlich gewesen und eines der besten Breaks, die ein Spieler jemals unter Druck gespielt habe.

Edel Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright ©2018 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

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Redaktion: Ronit Jariv

Projektkoordination: Dr. Marten BrandtLektorat: Ursula Fethke

Coverfoto: Sebastian Fuchs

Layout und Satz: Datagrafix GSP GmbH, Berlin

Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.de

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

eISBN 978-3-8419-0657-1

INHALT

Vorwort

PrologWM-Finale 2018

Kapitel 1Faszination Snooker

Kapitel 2Wie Snooker nach Deutschland kam

Kapitel 3Wie für mich alles anfing

Kapitel 4Das Leben als Snookerspieler

Kapitel 5Die Top Ten

Kapitel 6Von Schiedsrichtern und anderen Snookerprofis

Kapitel 7Master of Ceremonies beim German Masters

Kapitel 8Fans und Online-Community

Nachwort

Danksagung

VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser, liebe Snookerfans,

ich habe einen absoluten Traumjob: Ich darf den besten Snookerspielern der Welt das ganze Jahr über die Schulter blicken, darf darüber reden und werde sogar noch dafür bezahlt. Für dieses große Privileg bin ich sehr dankbar.

Seit vielen Jahren verfolge ich die Snookerszene und bin mittlerweile auch selber Teil der Snookerfamilie. Dieses Buch soll Ihnen einen kleinen Blick hinter die Kulissen erlauben. Sie können in die Welt des Snooker eintauchen und erfahren vieles über meinen Arbeitsalltag (und damit zwangsläufig auch über mein Leben). Ich hoffe, Sie finden die Lektüre spannend. Und wenn Sie dabei der Snookervirus noch mehr packt, ist alles prima.

Herzliche Grüße und viel Spaß beim Lesen


KAPITEL 2

WIE SNOOKER NACH DEUTSCHLAND KAM

Das zu Anfang geschilderte WM-Finale 2018, an dem sich so wunderbar die Faszination des Snookersports zeigen lässt, hatte übrigens noch ein skurriles Nachspiel, das im krassen Gegensatz zu der im vorigen Kapitel dargelegten Snooker-Tugend der vornehmen Zurückhaltung steht. Mark Williams hatte nämlich im Vorfeld verkündet, dass er im Falle eines Titelgewinns die anschließende Pressekonferenz im Adamskostüm abhalten würde. Als es dann so weit war, musste er sein „Versprechen“ – von den Presseleuten vor Ort sicher eher als Drohung aufgefasst – natürlich halten; ein Mann, ein Wort. Und so kam es, dass Snooker am 8. Mai 2018 in Deutschland auf der Titelseite der BILD-Zeitung landete:

„So sieht der Snooker-König unterm Anzug aus“

Als „Nackt-Weltmeister“ wurde er da tituliert und Snooker als „Schick-Sport“ bezeichnet. Na bitte! Schließlich hätten vor einigen Jahren die meisten Menschen in Deutschland bei einer Straßenumfrage zum Begriff „Snooker“ wahrscheinlich noch gesagt: „Keine Ahnung, neuer Schokoriegel oder was?“

Williams hat übrigens angekündigt, wieder nackt zu erscheinen und außerdem ein Rad zu schlagen, sollte er erneut Weltmeister werden. Zumindest im Hinblick auf den Bekanntheitsgrad seines Sports in Deutschland sollte man ihm für das Unternehmen Titelverteidigung also beide Daumen drücken …

KLEINE GESCHICHTE DES SNOOKER

Lange Zeit war Snooker eine rein britische Angelegenheit. Erfunden wurde das Spiel im Jahr 1875 von britischen Soldaten in der Kronkolonie Indien. Es war Monsunzeit, draußen stürzten die Wassermassen vom Himmel und die unterbeschäftigten Offiziere schlugen die Zeit im Offizierscasino tot. Ein junger Lieutenant namens Neville Chamberlain (nicht der spätere Premierminister) experimentierte damals im Offizierscasino mit der Billardvariante Black Pool herum, bei der 15 rote und eine schwarze Kugel verwendet wurden. Chamberlain ergänzte den Aufbau um einige farbige Kugeln. Die anwesenden Spieler nannte er angeblich „snookers“, in Anlehnung an die Bezeichnung für Kadettenneulinge an der Royal Military Academy in Woolwich, da sie ja alle Neulinge bei dem von ihm gerade erfundenen Spiel seien (so zumindest die gängigste Erklärung). Der Name wurde auf das ganze Spiel übertragen und blieb haften. Chamberlain und sein Regiment, das übrigens bis heute sehr stolz auf seine Rolle bei der Erfindung des Sports ist, wurden später nach Ootacamund in die südindische Region Tamil Nadu versetzt, wo sie sich dank des regenreichen Wetters und der grünen Landschaft ausgesprochen heimisch fühlten. Dort spielten sie im vornehmen Ootacamund Club, auch „Snooty Ooty“ genannt, einem 1841 im Kolonialstil errichteten Gentlemen’s Club, weiter. Snookerenthusiasten, die sich auf eine Pilgerreise begeben wollen, werden heute im Club, umgeben von Tiger- und Leoparden-Jagdtrophäen, einen Original-Snookertisch aus der damaligen Zeit vorfinden.

Von Ootacamund aus verbreitete sich Snooker in der Welt, zuerst in Indien und Anfang des 20. Jahrhunderts allmählich auch in Großbritannien. Die erste Snooker Championship der Amateure wurde 1916 mitten im Ersten Weltkrieg ausgetragen. Daraus ging später die English Amateur Championship hervor, die somit als ältestes Snookerturnier der Welt gilt. Mit Ausnahme der Kriegsjahre von 1941 bis 1945 fand die Meisterschaft bis heute in jedem Jahr statt. Die genauen Ergebnisse aus den ersten Jahren (bis 1920) sind allerdings nicht überliefert. Bis 1926 wurden die Matches durch die kumulierten Punkte aus sieben Frames entschieden; erst in der Folge stellte man auf das heute bekannte Format um, bei dem eine bestimmte Anzahl an Frames gewonnen werden muss. So wurde 1927 „best of 7“ gespielt – ein Vorläufer der heutigen Kurzformate. Als in den letzten Jahren eine Reihe von Turnieren über diese kurze Distanz eingeführt wurde, bereitete das vielen Traditionalisten große Bauchschmerzen; man kann in dieser „Neuerung“ aber auch eine Rückkehr zu den Wurzeln sehen. 1919 wurden die bislang uneinheitlichen Regeln festgezurrt und man führte die Re-spotted Black ein, um jeden Frame mit einem Gewinner enden zu lassen – ein genialer Einfall, um die Dramatik des Spiels weiter zu steigern, wie wir schon so oft feststellen konnten. Noch einmal kurz erklärt: Herrscht am Ende eines Frames Punktegleichstand, so wird der schwarze Ball noch einmal auf seinem Spot aufgesetzt. Daraufhin wird eine Münze geworfen und der Gewinner des Münzwurfs entscheidet, wer mit Ball in Hand beginnt. Die nächste Wertung (egal ob Pot oder Foul) entscheidet dann den Frame: Locht ein Spieler Schwarz korrekt, hat er den Frame gewonnen; begeht er ein Foul, so hat er den Frame verloren. Das hat natürlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Elfmeterschießen und treibt die Spannung auf die Spitze. Auf YouTube sei zum Beispiel das Masters-Finale 1998 Hendry versus Williams (damals noch mit voller Haarpracht) empfohlen. Fünf Minuten Drama pur, in denen mehrere scheinbar doch so einfach lochbare Bälle verschossen wurden! Das bessere Ende hatte – auch diesmal – Mark Williams!

Die nächste Ära, die Snooker professionalisierte, stand im Zeichen eines einzigen Mannes: Joe Davis, Sohn eines Bergmanns und späteren Kneipenwirts aus Derbyshire, sollte den Sport über Jahrzehnte dominieren. 1927 war er Mitorganisator der ersten Snookerweltmeisterschaft, der Vorläuferin des heutigen Turniers, und gewann diese durch einen Sieg von 20:11 Frames gegen Tom Dennis. Wobei: 1927 als Austragungsjahr ist nicht ganz präzise. Denn damals wurde die WM nicht als geschlossenes Turnier ausgetragen, sondern als eine Serie von Matches – die erste Weltmeisterschaft begann also bereits 1926. Austragungsort war Birmingham, das Teilnehmerfeld bestand aus zehn Spielern, das Preisgeld betrug stolze sechs britische Pfund und zehn Pence. Der Pokal, den Joe Davis damals in Empfang nahm, ist übrigens derselbe, den der jeweilige Weltmeister auch heute erhält; lediglich der Fuß wurde zwischenzeitlich erneuert, weil weitere eingravierte Namen auf ihm Platz finden mussten. Der WM-Pokal dürfte damit zu den ältesten Sporttrophäen der Welt gehören. Joe Davis hatte ihn höchstpersönlich vor der ersten WM von den Antrittsgeldern der Teilnehmer gekauft.

Davis gewann anschließend jede Weltmeisterschaft, bis er ab 1946 nicht mehr bei diesem Turnier antrat, und hält bis heute mit 15 sukzessive gewonnenen Titeln den Rekord in dieser Kategorie (auch die WM wurde in den Kriegsjahren von 1941 bis 1945 nicht gespielt). Dem Publikum gefiels: Der ersten WM nach dem Zweiten Weltkrieg wohnten über einen Zeitraum von zwei Wochen zweimal täglich 1200 Zuschauer bei. Danach setzte Joes Bruder Fred die Familientradition fort und gewann 1948 seinen ersten von insgesamt acht WM-Titeln. Von 1946 bis 1949 wurden im WM-Finale jeweils 145 Frames gespielt! Das Endspiel zog sich also über mehrere Wochen. Der Grund dafür war, dass es damals noch keine Sponsoren gab, das Preisgeld musste also ausschließlich durch Zuschauereinnahmen finanziert werden. Und so galt: Je mehr Sessions gespielt wurden, desto mehr Tickets konnte man verkaufen. Fernsehbilder des Events wurden 1950 zum ersten Mal von der BBC übertragen – ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des Snooker.

Kurios: Die WM 1952 ging komplett ohne britische Beteiligung über die Bühne, was aber an dem skurrilen Umstand lag, dass insgesamt nur zwei Spieler an ihr teilnahmen: der Australier Horace Lindrum und der Neuseeländer Clark McConachy. Der Grund: Nach einem Disput zwischen den meisten Profispielern und dem Billiards Association and Control Council (BACC) hatte Titelverteidiger Fred Davis ein Konkurrenzturnier ins Leben gerufen, die Professional Matchplay Championship (PMC), die von 1952 bis 1992 ausgetragen und zwischen 1952 und 1957 als offizielle WM anerkannt wurde. Im Jahr 1952 gab es absurderweise also zwei Snookerweltmeisterschaften, wobei die zwischen Lindrum und McConachy ausgetragene WM von fast niemandem anerkannt wurde. Als dann Neil Robertson 2010 Weltmeister wurde, ließ Lindrums Familie aber trotzdem für die Geschichtsbücher wissen, dass nicht Neil, sondern Horace der erste Australier sei, der den Titel geholt habe.

Doch zurück zu Joe Davis: Am 2. Januar 1955 spielte er das allererste anerkannte Maximum Break. Das geschah allerdings im Rahmen einer Exhibition, nicht in einem Turnier, weshalb dieses Maximum auch nicht in den offiziellen Listen auftaucht. 1956 brachte der zu diesem Zeitpunkt bereits als „Grandfather of Snooker“ titulierte Davis dann noch die Bibel des Snookerspieles heraus: How I Play Snooker. Für Steve Davis und seinen Vater Bill, der ihn trainierte, war dieses Buch ein ständiger Begleiter, das sie stets zurate zogen. Mehr geht nicht. Oder doch? Am 26. Oktober 1959 stellte Joe Davis mit Snooker Plus eine Erweiterung des gewöhnlichen Snooker vor. Wie damals schon Neville Chamberlain erhoffte auch er sich durch zusätzliche farbige Bälle (in diesem Fall zwei an der Zahl: orange und lila) ein spannenderes Spiel. Diese Erweiterung setzte sich jedoch nie durch.

War der Sport 1948 noch auf dem Höhepunkt seiner Popularität, so ging es in den 50er-Jahren bergab. Joe Davis war 1946 von der WM zurückgetreten, spielte aber in anderen Turnieren und Exhibitions weiter, was dem Hauptevent des Sports einen empfindlichen Dämpfer versetzte, denn jeder wusste ja, dass der beste Spieler nicht teilnahm. Doch im Juli 1969 trat ein Ereignis ein, das Snooker in der Beliebtheitsskala wieder ganz nach oben katapultierte und die Grundlage für die Main Tour, wie wir sie heute kennen, legte.

Als Ende der 60er-Jahre in Großbritannien das Farbfernsehen eingeführt wurde, suchte die BBC nach geeigneten Programmen, bei denen die Vorteile eines Farbfernsehers gegenüber dem alten Schwarz-Weiß-Gerät klar zutage traten. David Attenborough, damals einer der Verantwortlichen bei der BBC, fand, dass Snooker die ideale Sportart zum Propagieren des Farbfernsehens sei, denn das Spiel lässt sich wesentlich leichter verfolgen, wenn die Ballfarben erkennbar sind. So kam Snooker in Form der wöchentlichen Sendung Pot Black ins britische TV und wurde dort sehr schnell erfolgreich. Bei Pot Black wurde immer nur ein Frame gespielt, das kurze Format machte Snooker zum idealen Füller für Programmlücken. Natürlich war alles Monate vorher aufgezeichnet worden und die BBC hatte die Spieler zu strengstem Stillschweigen hinsichtlich der Ergebnisse verpflichtet. In den 70er-Jahren war Ray Reardon, ein ehemaliger Bergarbeiter und Polizist, mit sechs WM-Titeln der führende Spieler. Ein anderer Spieler stahl ihm jedoch die Schau und steigerte die Popularität und Öffentlichkeitswirksamkeit (beziehungsweise Skandalträchtigkeit) von Snooker: der Belfaster Alex „Hurricane“ Higgins, der einen rasanten und nicht immer regelkonformen Spiel- und Lebensstil pflegte. Weitere Highlights in den 70ern: Sponsoren, vor allem aus der Tabakindustrie, wurden auf Snooker aufmerksam und die BBC erhöhte die TV-Schlagzahl durch Senden von Highlights der WM sowie eines neuen Einladungsturniers, dem Masters. Außerdem fand die WM 1977 ein neues, permanentes Zuhause – The Crucible Theatre in Sheffield. Eigentlich war dies ein Zufall: Mike Watterson, der damalige Promoter der WM, war auf der Suche nach einer neuen Heimat für das Event. Da gab ihm seine Frau Carol den Tipp, sich doch einmal das Crucible anzusehen. Sie hatte dort ein Theaterstück gesehen und war der Meinung, der Theaterkomplex eigne sich auch perfekt für die WM.

1979 betraten dann zwei Figuren die Bühne, die dem Sport nachhaltig ihren Stempel aufdrücken sollten: Steve Davis, ein scheuer und etwas steif wirkender junger Spieler mit roten Haaren, und sein Manager, der extrovertierte, mit allen geschäftlichen Wassern gewaschene Barry Hearn. Die beiden, die später auch gute Freunde wurden, haben übrigens nur ein einziges Mal einen schriftlichen Vertrag abgeschlossen. Das war 1978, bevor Steve offiziell Profi wurde. Unterzeichnet haben sie den Vertrag an einem Laternenpfahl in Blackpool. Das Powerduo Davis und Hearn mischte in den 80ern die Snookerwelt auf: Davis, indem er Titel um Titel gewann und sich sieben Jahre lang an der Spitze der Weltrangliste hielt, und Hearn durch seine Firma Matchroom Sport, die Spieler unter Vertrag nahm und unabhängige Turniere ausrichtete. Typisch war übrigens die Reaktion von Hearn, nachdem Davis das legendäre Finale von 1985 gegen Dennis Taylor verloren hatte. Davis berichtete später, Hearn habe am Abend noch gemeinsam mit ihm getrauert, am nächsten Morgen dann aber umgehend Dennis Taylor unter Vertrag genommen. Trotz dieser traumatischen Niederlage wurde Steve Davis in den darauffolgenden drei Jahren wieder Weltmeister, seinen sechsten (und letzten) WM-Titel holte er 1989 überlegen mit 18:3 gegen John Parrott. Er schien unbezwingbar. Doch dann trat ein junger Mann aus Schottland auf den Plan: Stephen Hendry.

Wie Davis die 80er-Jahre, so dominierte Hendry die 90er. Sein Rekord von sieben WM-Titeln und der Gewinn von 36 Ranking-Events ist bis heute ungebrochen. Derzeit wird heiß diskutiert, ob Ronnie O’Sullivan das Format habe, sich auch diese Rekorde zu holen. Möglich ist es. Bei der heutigen großen Anzahl an Ranking-Titeln könnte ich mir sehr gut vorstellen, dass Ronnie den Rekord von 36 Siegen knackt; mehr als sieben WM-Titel zu holen wird allerdings extrem schwer. Doch Hendrys Bedeutung für den Sport reicht weit über solche Statistiken hinaus, denn er revolutionierte die Art und Weise, Snooker zu spielen. Bevor er die Bühne betrat, waren niedrige Breaks und ein ausuferndes Safety-Spiel an der Tagesordnung. Hendry hingegen spielte viel aggressiver, nahm Bälle in Angriff, bei denen die anderen Spieler eher mit einer Safety ausgestiegen wären, und war immer bestrebt, den Frame mit nur einem einzigen Break für sich zu entscheiden. Sein Spielstil wurde zum Vorbild für eine neue Generation von Snookerspielern, darunter ein Trio, das 1992 ins Profigeschäft einstieg.

Ronnie O’Sullivan, John Higgins und Mark Williams werden heute als die „goldene Generation von 1992“ oder „Holy Trinity“ (heilige Dreieinigkeit) bezeichnet. Kein Wunder, gewannen die drei doch zwischen 1998 und 2013 zusammen elf der insgesamt 16 WM-Titel! O’Sullivan führt nach aktuellem Stand die Liste mit fünf gewonnenen WM-Titeln an, gefolgt von Higgins mit vier und Mark Williams, unserem amtierenden „Nackt-Weltmeister“, mit drei Titeln. Dass Anfang der 90er-Jahre auf einmal so viele talentierte junge Spieler hochkamen, war vor allem der Entscheidung der WPBSA (World Professional Billiards and Snooker Association, hervorgegangen aus dem BACC) aus dem Jahr 1991 zu verdanken, die Rankingturniere für jeden Spieler zugänglich zu machen, der bereit war, das Startgeld zu zahlen. Statt wie bisher 128 gab es nun plötzlich 700 Profispieler, darunter auch das eben erwähnte Trio. Doch trotz dieser geballten Spielpower war im neuen Millennium etwas faul im Snooker-Staate Großbritannien. Aufgrund der wirtschaftlichen Probleme des Landes machten immer mehr Snookerclubs dicht. Andere Sportarten wie der omnipräsente Fußball (die Premier League wurde 1992 gegründet) verdrängten Snooker und mit dem sinkenden öffentlichen Interesse nahm auch das Interesse der Fernsehsender ab, die Matches zu übertragen. Und dann wurde auch noch das Sponsoring durch Tabakkonzerne verboten, was die Kassen empfindlich leerte. Die Folge: Die Preisgelder sanken (auf 3,5 Millionen Pfund), die Zahl der Turniere ging zurück (es gab nur noch sechs vollwertige Ranking-Events). Höchste Zeit, neue Besen kehren zu lassen und neue (globale) Märkte zu erobern.

Der neue Besen war ein alter Bekannter: Barry Hearn. Mit gewohnter Energie krempelte der 2009 zum Vorsitzenden der WPBSA Gewählte den Sport um – mit durchschlagendem Erfolg. Den Namen in die Debatte geworfen hatte Ronnie O’Sullivan. Plötzlich waren alle elektrisiert. Snooker nach Jahren des Missmanagements endlich wieder in die Hände eines Vollprofis zu geben, schien die letzte Chance für den Sport. Allerdings hatte Hearn selber gar nicht so richtig Lust auf den Job. Mit seiner Firma Matchroom Sport war er überaus erfolgreich und ausgelastet. Am Ende war es eher das Gefühl alter Verbundenheit, das ihn dazu veranlasste, seine Meinung zu ändern. Und natürlich die Tatsache, dass sein Freund Steve Davis ihn intensiv bearbeitete. Schließlich war Snooker einmal die Keimzelle für Matchroom Sport gewesen, mit Snooker hatte die erfolgreiche Karriere des Geschäftsmanns Barry Hearn ursprünglich begonnen. Zunächst übernahm er den Vorsitz der WPBSA, die im Kern eine Spielervereinigung ist (ähnlich wie die ATP im Tennis). In dieser Funktion analysierte er mit seinem Team die Situation und vertiefte sich in die Geschäftsbücher, bevor er seinen Vorschlag unterbreitete. Die WPBSA besaß schon seit Längerem eine Tochterfirma, World Snooker Limited, die für die kommerzielle Seite der Main Tour verantwortlich war. 51 Prozent der Anteile dieser Tochterfirma sollten auf Hearn beziehungsweise auf Matchroom Sport überschrieben werden. Hearn wollte das Sagen haben und so verhindern, dass Funktionäre oder Spieler ihm in geschäftliche Dinge hineinreden konnten. Im Gegenzug versprach er mit einem Fünfjahresplan eine kontinuierliche Steigerung des Preisgelds; sollte er in einem Jahr die zugesagte Summe verfehlen, dann würden seine 51 Prozent entschädigungslos wieder an die WPBSA zurückfallen. Dieser Plan war nicht unumstritten, aber in einer außerordentlichen Hauptversammlung stimmten die Spieler mit knapper Mehrheit zu. Zumindest finanziell hat es sich unter dem Strich für sie gelohnt: In bisher jedem Jahr lag das Gesamtpreisgeld höher als von Hearn versprochen. Den Vorsitz in der WPBSA legte Hearn nach der Übernahme von World Snooker Limited nieder, sein Nachfolger in diesem Amt ist Jason Ferguson, der den Sport als Ex-Profi bestens kennt, aber auch Erfahrung im Wirtschaftsleben und in der Verwaltung besitzt.

Heute gibt es pro Saison über 20 Rankingturniere und insgesamt knapp 30 Events, bei denen ein Preisgeld von 14 Millionen britischen Pfund (fast 16 Millionen Euro) ausgeschüttet wird. Auch in Großbritannien ist Snooker inzwischen wieder im Aufwind. Doch um sein volles Potenzial auszuschöpfen, musste es in die Welt hinausziehen und seine Fanbase erweitern. Heute ist Snooker ein globaler Sport, der von über 120 Millionen Menschen weltweit gespielt und von 500 Millionen Zuschauern im Fernsehen verfolgt wird. Es gibt zudem Bestrebungen, die Sportart ins Programm der Olympischen Spiele aufzunehmen; bei den World Games werden bereits Medaillen im Snooker vergeben.

SNOOKER GOES GLOBAL – TURNIERE WELTWEIT UND IN DEUTSCHLAND

Holiday on Ice