CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

Wenn die Tage

kürzer werden

 

 

 

 

 

Apex Western, Band 13

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Luke Short: GEBRANDMARKT (The Feud Of Single Shot) 

Dan Temple: ER KAM AUS IDAHOE (The Man From Idahoe) 

E. E. Halleran: ENDSTATION MASO VERDE (Outlaw Guns) 

Will Cook: GRENZBANDITEN (The Tough Texan) 

Ray Townsend: BLUTIGER STROM (Renegade River) 

Robert E. Howard: IM SCHATTEN DER GEIER (The Vultures) 

 

Bibliographische Notiz 

 

 

Das Buch

 

Herbstzeit ist Lesezeit – die von Christian Dörge zusammengestellte und herausgegebene Sammlung Wenn die Tage kürzer werden enthält sechs ausgesuchte und klassische Spitzen-Romane US-amerikanischer Autoren, perfekten Lesestoff also für alle Western-Fans und Leser der Reihe APEX WESTERN an langen, dunklen Herbst-Abenden: Grenzbanditen von Will Cook, Er kam aus Idahoe von Dan Temple, Gebrandmarkt von Luke Short, Endstation Maso Verde von E. E. Halleran, Blutiger Strom von Ray Townsend sowie – als besonderen Leckerbissen – Im Schatten der Geier von Robert E. Howard. 

  Luke Short: GEBRANDMARKT (The Feud Of Single Shot)

 

 

 

1.

 

 

Der Zug fuhr durch die Nacht. Auf der zweiten Bank des Waggons schliefen zwei Cowboys. Auf der anderen Seite des Abteils waren drei Cowboys und ein Berufsspieler in ein Pokerspiel vertieft, das sie auf zwei aufgerichteten Koffern durchführten.

Der Spieler warf einen Blick auf den von einer trüben Lampe beleuchteten Gang. »Da kommt Hoagy«, murmelte er.

Die Männer nahmen keine weitere Notiz von dieser Bemerkung. Schaffner Hoagy Henshaw kam heran und legte seine große Hand auf die Sitzlehne. Die Dienstmütze verlieh seinem Gesicht einen strengen Ausdruck.

Der Cowboy schob Hoagys Hand beiseite.

»Drei Könige, Freunde, und zwei Asse - na, das dürfte wohl reichen.« Dann fuhr er fort, als wäre er mitten in einer Erzählung unterbrochen worden: »Und dieser Bursche mit den unheimlich großen Füßen wandte sich an den Schaffner und fragte mit ausgesuchter Höflichkeit: Es gibt also eine Bestimmung, nach der im Zug nicht gespielt werden darf, wie?«

»Was tat der Schaffner?«, fragte ein anderer Cowboy gespielt unschuldig.

»Oh, der Schaffner sagte: Ja, eine solche Bestimmung gibt es wirklich, mein Freund. Mir persönlich ist es gleich, ob Sie in einem Zug pokern oder nicht. Man kann ja überall spielen, und ich würde mich gern beteiligen. Darauf zieht Großfuß seinen Colt, bohrt die Mündung in den Bauch des Schaffners und sagt: Na, ist das nicht herrlich! Wir haben hier noch Platz für dich. Setz dich! Der Schaffner setzt sich also, und nachdem er ein paar Chips gekauft hat, werden die Karten ausgeteilt.«

»Und dann?«, fragte der Cowboy.

»Nun, nachdem der Schaffner alles verloren hat, fragt Großfuß: Möchtest du vielleicht eine Anleihe? Der Schaffner lehnt ab, und Großfuß bohrt ihm wieder den Colt in den Bauch und knurrt: Vielleicht hast du nicht gehört? Ich habe dich gefragt, ob du eine Anleihe möchtest! Jetzt stimmt der Schaffner zu, und das Spiel geht weiter. Er verliert immer mehr und versucht verzweifelt, auszusteigen. Als Großfuß sein Reiseziel erreicht, schaut er sich um. Wie viel schuldest du mir?, fragt er den Schaffner. Fünfzig Dollar, wie? Der Schaffner bejaht, und Großfuß schaut sich im Waggon um. Der Teufel soll mich holen, wenn der alte Henry Crossman diese hübschen Kissen nicht gut für seine Wagen brauchen könnte. Innerhalb weniger Minuten hat Großfuß die Hälfte der Sitzkissen des ganzen Waggons an sich genommen.«

»Und der Schaffner?«, fragte der andere Cowboy.

»Ich schätze, er hat nichts dagegen eingewendet. Großfuß war ein verdammt gefährlicher Bursche.«

Der andere Cowboy nickte, und dann schaute er auf den Fußboden.

»Welche Schuhgröße hast du eigentlich, Finney?«, fragte er beiläufig.

»Elf«, erwiderte der andere ebenso beiläufig.

Der Cowboy blickte auf und sah, wie Hoagy die Hand von der Sitzlehne nahm.

»Hallo, Hoagy! Möchtest du vielleicht mitspielen?«

»Ich?«, fragte der Schaffner mit gespielter Überraschung. »Ich habe viel zu viel zu tun. Unterhaltet euch nur weiter, Boys.« Kopfschüttelnd ging er weiter.

Der Spieler schaute zu den beiden Cowboys hinüber, die augenscheinlich noch immer schliefen. Dann streifte sein Blick einen weiteren Cowboy, der allein auf der letzten Bank des Waggons saß. Eine brennende Zigarette baumelte in seinem Mundwinkel, und er schaute ununterbrochen zum Fenster hinaus.

Stirnrunzelnd sah der Spieler, wie der Mann ein Zündholz anriss und die Flamme an seine bereits brennende Zigarette hielt. Der Spieler war etwa dreißig Jahre alt. Er trug ein weißes Hemd mit einer schwarzen Querschleife und einer karierten Weste. Die Falten an seinen Augen schienen eher von der Sonne als von den trüben Lampen in den Saloons zu stammen.

Als der Spieler sah, dass der Cowboy ein drittes Streichholz anzündete, wandte er sich an seinen Nachbarn und öffnete den Mund zu einer Bemerkung. Ein Blick in das Gesicht dieses Nachbarn ließ ihn jedoch verstummen.

Dieser Mann hatte ein schmales, fast kinnloses Gesicht mit ausgeprägten Stirnfalten, obwohl auch er kaum viel älter als dreißig war. Er war vor zwei Stunden aufgeweckt worden, um als vierter Mann beim Pokerspiel teilzunehmen.

»Wir wollen die Einsätze erhöhen«, brummte er, indem er die Karten ergriff. »Bis jetzt war es ja das reinste Kinderspiel!«

Finney warf ihm einen forschenden Blick zu. Dann spuckte er auf den Gang. Gähnend stand er auf.

Zwei der Cowboys verließen den Waggon, und kurz darauf ging auch der Mann hinaus, der so viele Zündhölzer für seine bereits brennende Zigarette gebraucht hatte.

Einer der beiden Cowboys, die auf der anderen Bank geschlafen hatten, stand plötzlich auf und ging ebenfalls hinaus.

Der dem Spieler gegenübersitzende Cowboy nahm das Kartenspiel zur Hand. »Wie wäre es mit einem Spiel zu zweit um hohen Einsatz?«

Der Spieler schüttelte den Kopf.

»Du bist doch ein Spieler, nicht wahr?«, fragte der Cowboy herausfordernd.

»Wenn ich an einem Spieltisch sitze, ja - aber sonst tue ich, was mir gefällt.«

Der Cowboy hielt plötzlich einen Colt in der Hand.

»Ich habe gesagt, wir wollen spielen«, knurrte er.

»Nein«, gab der Spieler zurück.

Er sah, wie der Cowboy den Hahn spannte.

»In diesem Land zählt ein Spieler nicht viel, Fremder«, sagte der Cowboy mit gepresster Stimme.

Der Spieler zuckte die Achseln. Der Zug fuhr jetzt sehr langsam.

»Zum letzten Mal«, sagte der Cowboy. »Wir beide spielen jetzt Karten!«

Der Spieler schüttelte langsam den Kopf.

Auf der anderen Seite des Abteils krachte ein Schuss. Der Cowboy schrie auf und starrte auf seine blutende Hand, der der Colt entglitten war. Mit katzenhafter Gewandtheit sprang der Spieler auf und schmetterte dem Cowboy die Faust ins Gesicht.

Er wandte sich um und schaute zu dem Cowboy mit den schläfrigen Augen hinüber, auf dessen Knien ein rauchender Colt ruhte. Ein Lächeln huschte um seine Mundwinkel.

Der Cowboy, der vorhin geschlafen hatte und hinausgegangen war. war ein hochgewachsener, rothaariger Bursche mit einer drahtigen Gestalt. Als er jetzt die Plattform betrat, die diesen Wagen vom Gepäckwagen trennte, schaute der Mann auf, der die vielen Zündhölzer verbraucht hatte.

»Hallo«, sagte der Rothaarige.

»Was wollen Sie?«, fragte der andere Mann unwirsch. An seinen Hüften baumelten zwei schwere Halfter.

»Ein bisschen frische Luft.« Der Rothaarige lehnte sich mit dem Rücken an die Brüstung und kniff ein wenig die Augen zusammen.

»Passagiere dürfen die Plattform nicht betreten«, sagte der Mann.

»Na, das trifft wohl auf uns beide zu, wie?«

»Ich gehöre zur Zugbesatzung«, brummte der Mann.

»Ich auch«, erwiderte der Rothaarige ungerührt.

Der Mann richtete sich langsam auf.

»Soll ich den Schaffner rufen?«, fragte er langsam.

»Ja, rufen Sie ihn nur. Vielleicht könnte er mir ein paar Erklärungen über diese Vorgänge abgeben.«

Der Mann schwieg einen Augenblick.

»Zum Beispiel?«

»Ich habe Sie während der letzten zehn Minuten drinnen im Wagen beobachtet«, sagte der Rothaarige. »Sie haben eine Zigarette geraucht und sie achtmal angezündet, obwohl sie überhaupt nicht ausgegangen war. Wer wartet da draußen?«

Dabei deutete er mit dem Kopf in die Nacht hinaus. Im Abteil fiel ein Schuss, aber die beiden Männer ließen sich keine Sekunde aus den Augen.

Plötzlich begannen die Bremsen zu kreischen. Der Rothaarige zog beide Colts aus den Halftern und feuerte, während er auf die Plattform des Gepäckwagens hinübersprang. Der andere Mann sackte mit den Colts in den Händen zusammen. Mit einem gezielten Schuss durchs Türfenster löschte der Rothaarige die Deckenlampe aus, und dann riss er die Tür des Gepäckwagens auf.

»Löscht das Licht - es ist ein Überfall!«, rief er.

Im nächsten Augenblick lag er bereits flach auf dem Dach des Gepäckwagens.

Der Zug hielt auf dem letzten Stück der Anhöhe. Im Scheinwerferlicht der Lokomotive waren ein paar Reiter zu sehen. Vorsichtig schob der Rothaarige sich über das Dach vor.

»Gib ihnen Bescheid, dass wir hier sind«, sagte eine Männerstimme neben der Tür des Gepäckwagens.

»Du verdammter Narr! Warte doch, bis wir erst mal drinnen sind. Wenn sie die Tür verriegeln, können wir sie nicht mehr aufbrechen. Wir müssen auf Snipe und Chinch aus dem Waggon warten!«

Inzwischen hatte der Rothaarige den Kohlentender erreicht und schob sich weiter vor, bis er in die Lokomotive blicken konnte. Zwei maskierte Männer hielten den Maschinisten und den Heizer mit vorgehaltenen Waffen in Schach.

Rasch feuerte der Rothaarige seine beiden Colts ab. Einer der beiden Banditen stürzte der Länge nach zu Boden, während es dem anderen noch gelang, die Lokomotive zu verlassen und hinunterzuspringen.

Von allen Seiten krachten jetzt Schüsse, und das rötliche Mündungsfeuer zuckte durch die Dunkelheit.

»Weiterfahren!«, rief der Rothaarige dem Maschinisten zu. »Wird die Maschine es schaffen?«

»Ich weiß es nicht. Wir stehen noch vor der Anhöhe.«

»Gebt Dampf auf den Kessel!« Dann rief er rasch: »Vorsicht!«

Die drei Männer kauerten eng beieinander in der Deckung der Maschine, während die Reiter eine ganze Salve abfeuerten.

»Sind die Schienen in Ordnung?«, fragte der Rothaarige den Heizer.

»Ja, sie haben keine Sperre aufgestellt Die beiden sind einfach auf die Maschine gekommen, und...«

»Dann setzt das verdammte Ding in Bewegung!«, fiel der Rothaarige ihm ins Wort

Der Maschinist legte einen großen Hebel herum, und die Lokomotive begann zu beben. Der Rothaarige zerrte den am Boden liegenden Banditen zur Tür und warf ihn kurzerhand hinaus.

Weitere Schüsse krachten, während sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Glas splitterte, und der Maschinist stieß einen wilden Fluch aus. Der Rothaarige feuerte ein paar Schüsse in die Nacht hinaus, und dann starrte er nach vorn. Der Gipfel der Anhöhe kam immer näher.

»Haben wir noch alle Waggons am Zug?«, fragte der Rothaarige, indem er beide Colts in die Halfter zurückschob.

Der zuckende Feuerschein huschte über sein rotes Haar.

»Ich spüre es am Anzug, dass wir noch alle Waggons bei uns haben.« Der Maschinist wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Im Safe des Gepäckwagens liegen die Lohngelder der Minen, und wenn du nicht eine fette Belohnung bekommst, mein Junge, dann...«

Er brach ab, denn der Rothaarige war mit einer kurzen Handbewegung wieder im Kohlentender verschwunden.

»Wer, zum Kuckuck, ist das eigentlich?«, fragte der Heizer langsam.

Der Rothaarige schob sich wieder vorsichtig über das Dach und erreichte die Tür des Gepäckwagens. Sie stand jetzt offen, und er trat ein.

An der Decke flackerte das trübe Licht einer Lampe, und der Rothaarige sah, dass sich jetzt alle in diesem Wagen versammelt hatten. Am Boden lag ein Mann.

Hoagy Henshaw wirbelte herum. Er hielt einen Revolver in der Hand.

»Woher wusstest du etwas von diesem Überfall?«

Der Rothaarige zuckte die breiten Schultern und zog einen Tabakbeutel aus der Hemdtasche. Lächelnd schaute er den Schaffner an, dann richtete er den Blick auf den Cowboy, der vorhin neben ihm geschlafen hatte und nun neben dem Spieler stand.

»Ich sah, wie der Bursche mit den Zündhölzern in die Nacht signalisierte. Als er den Wagen dann verließ, bin ich ihm gefolgt. Er versuchte, den Waggon abzukuppeln - weiter weiß ich auch nichts.«

»Jedenfalls ist er tot«, brummte Hoagy, »und niemand hat etwas Verdächtiges bei ihm bemerkt. Wir haben nur dein Wort, und mir scheint, du hast ein bisschen zu viel von dieser ganzen Sache gewusst.«

»Er hat Recht, Hoagy«, sagte der Spieler. »Ich habe auch gesehen, wie dieser Mann die Zündhölzer angerissen hat.«

Der Schaffner schaute den Spieler an und ließ den Revolver sinken.

»Na schön, Quinn, ich verlasse mich auf dein Wort.« Er richtete den Blick wieder auf den Rothaarigen. »Ehe ich dich freigebe, werde ich mich erst mal mit den Leuten auf der Lok unterhalten. Irgendetwas ist hier faul.« Er wandte sich wieder an Quinn. »Du übernimmst die Verantwortung für ihn.«

»Das braucht er gar nicht«, sagte der Rothaarige gelassen. »Ich habe keineswegs die Absicht, aus dem Zug zu springen.«

Hoagy nickte grimmig und wandte sich an alle.

»Verschwindet jetzt aus diesem Wagen. Es könnte mich die Stellung kosten, dass ich euch überhaupt hereingelassen habe.«

Nachdem sie in den Waggon zurückgekehrt waren, stellte der dunkelhaarige Cowboy seinem Freund den Spieler vor.

»Das ist Martin Quinn, Rosty«, sagte er, und dann fuhr er, an den Spieler gewandt, fort: »Und dies ist der Held des Zugüberfalls - sofern er nicht zu den Banditen gehört. Er heißt Rosty Rand.«

Sie tauschten einen Händedruck und setzten sich.

»Was hatte der Schuss hier drinnen zu bedeuten, Dave?«, fragte Rand seinen Freund. »Oder habe ich mich etwa verhört?«

»Turner...«, begann Quinn, und dann sprang er plötzlich auf und schaute sich im Waggon um. »Hol mich der Teufel!«, murmelte er. »Der Kerl ist spurlos verschwunden!« Er erklärte Rand, wie es zu dem Schuss gekommen war, und dann wandte er sich wieder an Dave Turner. »Dafür bin ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Turner. Der Kerl hätte mich bestimmt im nächsten Augenblick niedergeschossen.«

»Wer war es denn? Haben Sie ihn schon mal gesehen?«, fragte Rand.

Der Spieler schüttelte den Kopf.

»Mancher Cowboy hat sich schon eingebildet, er könne einem Spieler das Fell über die Ohren ziehen«, murmelte Turner.

Quinn nickte lächelnd.

»Ich habe früher mal einen Mann gekannt, der behauptete, ein Spieler brauche nur jeden Monat seinen Namen zu wechseln und von einem Ort zum anderen zu ziehen, dann könne er sogar einem dummen Viehdieb noch etwas vormachen.«

Turner lachte.

»Das habe ich auch gehört. Der Mann war Dipper-Mouth Hartley, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte der Spieler. »Ich habe gehört, er wäre seit einiger Zeit im Gefängnis von Yuma.«

»Dort habe ich seine Bekanntschaft gemacht«, sagte Turner kurz.

»Tut mir leid«, murmelte Quinn. »Das geht mich natürlich nichts an.«

Er betrachtete die beiden Freunde mit den forschenden Blicken eines Menschenkenners. Turner schien ein wenig kleiner und leichter zu sein als Rand, aber beide waren augenscheinlich vom gleichen Schlag, und er kannte diese Art von Männern. Sie verließen sich stets nur auf ihre Erfahrungen, und wenn sie gebraucht wurden, dann waren sie prompt zur Stelle.

Quinn nahm nicht den geringsten Anstoß daran, dass Turner im Gefängnis gewesen war. Er sah auf den ersten Blick, dass der Mann sich dort nicht zu einem jener verbitterten Galgenvögel verwandelt hatte, wie man sie gewöhnlich in den Zellen antrifft. Beide Männer waren in die übliche Weidetracht der Cowboys gekleidet.

Der Schaffner kam durch den Gang.

»Single Shot!«, rief er. »Noch fünf Minuten bis Single Shot!«

Er blieb neben ihrer Bank stehen und schaute Rand an.

»Ich habe mich eben auf der Lok mit den Boys unterhalten. Sie meinen, du hättest ihnen aus einer verteufelten Klemme geholfen.«

»Ach, sie brauchten doch nur die Maschine unter Dampf zu setzen«, brummte Rand abwehrend.

Hoagy schüttelte den Kopf.

»Ich komme auf dieser Fahrt nach Walpais und werde dem Superintendenten von der Sache berichten. Es dürfte eine hübsche Belohnung für dich herausspringen.«

Rosty Rands Gesicht rötete sich.

»Die können sie behalten.«

Hoagy gab sich jedoch nicht so schnell geschlagen.

»Der Superintendent wird sich bestimmt dankbar zeigen wollen. Im Safe des Gepäckwagens befinden sich nämlich die Lohngelder der Minen.«

Rand überlegte einen Augenblick.

»Na schön; wenn er etwas für mich tun will, dann soll er dem Anstaltsleiter von Yuma darüber schreiben.«

»Anstaltsleiter? Yuma?«, fragte Hoagy langsam.

»Ich bin auf Bewährung entlassen worden«, sagte Rand.

Hoagy notierte sich kopfschüttelnd seinen Namen und verließ den Waggon.

»Er glaubt dir nicht«, murmelte Turner.

»Ich auch nicht«, sagte Quinn.

»Es ist aber eine Tatsache«, murmelte Rand.

Turner nickte bestätigend, und der Spieler schaute die beiden Cowboys kopfschüttelnd an.

»Wenn ihr mit der Aussage eines Spielers etwas anfangen könnt, dann braucht ihr euch nur an mich zu wenden. Ich bin in Single Shot im Free Throw zu finden.«

»Dann werden wir uns bestimmt treffen«, sagte Dave Turner. »Mein Vater hat nämlich ganz in der Nähe eine kleine Ranch.«

Von der Tür kam Hoagys Stimme.

»Single Shot - Single Shot!«

 

 

 

2.

 

 

Die hohen, schneebedeckten Gipfel der Sierra Blancos ragten hinter der kleinen, schäbigen Rinderstadt Single Shot auf, die hier nun seit etwa vierzig Jahren ihr recht dürftiges Dasein führte. Die Stadt lag im Tal neben einem ausgetrockneten Flussbett.

Im Osten erhob sich der Höhenzug, der soeben von der schnaufenden Lokomotive überwunden worden war, bevor der Zug auf dem kleinen Bahnhof hielt.

Dave Turner stand am Fenster, während Rosty Rand ihre Deckenrollen aus dem Gepäcknetz hob.

»Siehst du sie?«, fragte Rosty.

Dave wartete eine Weile.

»Nein, vermutlich hat sie meinen Brief doch nicht rechtzeitig bekommen.«

»Wahrscheinlich wartet sie im Hotel«, sagte Rosty.

Durchs Fenster warf er einen Blick auf die kleine Stadt. Der Bahnhof lag an der sogenannten Hauptstraße, die zu beiden Seiten mit hölzernen Gehsteigen versehen war. Die falschen Fassaden einiger Häuser waren beleuchtet, und vor den Haltegeländern standen ein paar Reitpferde und Wagengespanne.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Dave Turner ruhig. »Schließlich haben wir uns seit acht Jahren nicht mehr gesehen, und es wäre doch Marys Pflicht als Schwester, mich hier am Bahnhof abzuholen.«

Als sie den Zug verließen, schweifte Daves Blick auf der Suche nach seiner Schwester über den Bahnsteig, auf dem sich nur wenige Leute eingefunden hatten. Ein Gefühl der Bitterkeit stieg in ihm auf, als er sah, dass sie nicht gekommen war. Sie schämte sich vermutlich, mit einem Verbrecher wie ihm in der Öffentlichkeit gesehen zu werden.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter.

»Dave Turner?«, fragte eine raue Männerstimme.

Dave wandte sich um und erkannte den Mann auf Anhieb.

»Gewiss, ich bin Dave Turner - und Sie sind Sheriff Lowe. Also immer noch im Amt«, brummte Dave trocken.

Keiner von beiden streckte die Hand aus.

»Ja, immer noch im Amt. Sind Sie mit diesem Zug gekommen?«

»Ja.« Dave ließ einen Augenblick verstreichen. »Ich habe eine Fahrkarte gekauft, falls Sie sich deswegen Sorgen machen sollten.«

»Das interessiert mich nicht«, entgegnete der Sheriff mit seiner rauen Stimme.

Dave schaute wieder suchend über den Bahnsteig.

»Halten Sie Ausschau nach Ihrer Schwester?«

Dave blickte ihn forschend an.

»Ja, ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie mich hier abholt«

»Sie kommt nicht«, sagte der Sheriff mit fester Stimme.

Dave kniff die Augen zusammen.

»Nein? Sie wusste aber doch, dass ich komme.«

»Das dürfte sie wohl gewusst haben - jeder hat es hier gewusst.«

»Wo ist sie dann?«

»In Soledad.«

»In Soledad? Warum denn dort? Ich habe ihr geschrieben, dass sie mich hier abholen soll.«

»Ja, das hat sie mir erzählt«, brummte der Sheriff.

Dave musterte ihn wieder mit einem forschenden Blick.

»Was hat das alles zu bedeuten, Hank?«, fragte er ruhig. »Ich habe Mary gebeten, mich hier am Bahnhof abzuholen, und stattdessen sind Sie gekommen.«

»Haben Sie vielleicht etwas gegen meine Anwesenheit einzuwenden, wenn hier ein Zug einläuft?«

»Sie wissen genau, dass ich überall etwas gegen Ihre Anwesenheit einzuwenden hätte«, entgegnete Dave langsam und nachdrücklich. »Sie behaupten, Mary wäre in Soledad, und ich möchte gern wissen, warum.«

»Liegt Soledad nicht genauso weit von eurer Ranch entfernt wie Single Shot?«, fragte der Sheriff.

»Na und?«

»An Ihrer Stelle würde ich sie jedenfalls in Soledad suchen.«

»Hat sie Ihnen aufgetragen, mir das auszurichten?«, fragte Dave ruhig.

»Nein.«

Die ganze Sache ging Dave langsam gegen den Strich.

»Woher wissen Sie denn, dass sie dort ist?«

»Ich vermute es wenigstens, denn ich habe ihr gesagt, dass sie Sie dort treffen könnte.«

Dave schwieg eine Weile.

»Sie haben anscheinend nicht den Mut, es offen auszusprechen, Hank, wie?«

Ein paar Leute standen in einem weiten Halbkreis herum; sie bemühten sich, etwas von dem Gespräch mitzubekommen.

»Ich schätze, ich habe doch den Mut. Verschwinden Sie hier!«, knurrte der Sheriff.

Dave lachte leise, und seine Augen blitzten.

»Warum?«, fragte er.

»Ich möchte keinen Ärger in der Stadt haben.«

»Ich bin nicht aus dem Gefängnis geflohen, sondern regelrecht entlassen worden«, sagte Dave langsam. »Sie waren sich ja damals Ihrer Sache ohnehin nicht ganz sicher, nicht wahr, Hank?«

»Jedenfalls waren die Geschworenen ihrer Sache sicher. Außerdem bin ich nicht hergekommen, um die alten Geschichten wieder auf zu wärmen.«

»Ich auch nicht«, sagte Dave ruhig. »Ich habe acht Jahre gesessen, weil ich einen Pferdedieb niederschoss, der es nicht anders verdiente. Nun bin ich regelrecht entlassen worden.« Er hielt inne und schaute den Sheriff fest an. »Ich kann hingehen, wo immer ich will.«

»Das glaube ich nicht - wenigstens nicht in dieser Stadt«, gab der Sheriff zurück.

Quinn, der Spieler, schaltete sich ein.

»Diese beiden Männer haben einen Überfall auf den Zug vereitelt, Sheriff. Damit haben sie sich doch jedenfalls als Bürger erwiesen, die das Gesetz achten, nicht wahr?«

Der Sheriff musterte Quinn mit einem kühlen, ablehnenden Blick.

»Wer hat Sie denn um Ihre Meinung gefragt?«

»Niemand«, räumte Quinn ein. »Aber jemand hat Sie anscheinend auf die falsche Fährte gehetzt, und ich wollte diesen Fehler korrigieren.«

»An Ihrer Stelle würde ich mich lieber um die eigenen Angelegenheiten kümmern«, brummte der Sheriff.

»Ein ausgezeichneter Rat«, pflichtete Quinn ihm bei. »Er dürfte auch auf Sie zutreffen.« Er wandte sich an Dave. »Wenn ich mir so einige dieser wichtigtuerischen Vertreter des Gesetzes betrachte, dann wünschte ich mitunter, mein Vater wäre als Viehdieb gehenkt worden. Es dürfte wohl an einem überspitzten Ehrgefühl liegen.«

Er winkte Dave Turner und Rosty Rand zu und wandte sich ab.

Die Augenlider des Sheriffs zuckten ein wenig.

»Sie sind erst seit zwei Wochen in dieser Stadt. Vielleicht möchten Sie sie in Gesellschaft von Turner verlassen?«

Quinn wandte sich langsam um und schaute den Sheriff an. Mit einer lässigen Bewegung setzte er seinen schwarzen Stetson auf.

»Wenn Sie es fertiggebracht haben, Turner endgültig aus dieser Stadt zu verjagen, Sheriff, dann können Sie Ihr Glück ja mal bei mir versuchen. Vielleicht bin ich dann bereit, von selbst abzuziehen.«

»Ich werde mich zu gegebener Zeit daran erinnern«, sagte der Sheriff.

»Falls Sie dann noch dazu in der Lage sein sollten«, entgegnete Quinn, indem er sich langsam umwandte und um die Ecke verschwand.

In diesem Augenblick ertönte die Zugglocke, und Schaffner Hoagy, der das Gespräch mitgehört hatte, legte die Hand auf Dave Turners Arm.

»Wenn sie wirklich in Soledad wartet, dann solltest du wieder einsteigen.«

»Danke, Hoagy«, sagte Dave, ohne den Blick vom Sheriff zu wenden. »Ich weiß noch nicht, wann ich wieder mal nach Single Shot kommen werde, Hank - aber wenn mir danach zumute ist, dann werde ich kommen.«

»Versuch es doch«, brummte der Sheriff.

»Ich verstehe das alles nicht recht«, sagte Dave langsam. »Haben Sie es vielleicht auf einen Kampf abgesehen, Hank?«

»Nein, durchaus nicht.«

»Was haben Sie denn dagegen einzuwenden, dass ich nach Single Shot komme, wenn ich Ihnen keinerlei Veranlassung zum Einschreiten gebe?«

»Versuchen Sie es doch«, wiederholte der Sheriff.

Daves Gesicht wurde hart.

»Das werde ich tun - und ich würde es sogar jetzt tun, wenn Mary nicht in Soledad wartete.«

Er hielt inne und versuchte, in dem Gesicht des Sheriffs zu lesen.

»Meine Ranch liegt zwölf Meilen von Single Shot entfernt, und ich habe die Absicht, dort ein friedfertiges Leben zu führen, Hank - aber wenn Sie meinen, dass ich nicht in diese Stadt komme, nur weil Sie mich nicht mögen, dann haben Sie sich gewaltig getäuscht.«

»Das glaube ich kaum.«

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Rosty stand bereits in der Tür und half seinem Freund beim Einsteigen.

»Damit kommen Sie nicht durch, Dicker«, sagte Dave. »Vermutlich werde ich hier in Single Shot nicht viel zu tun haben - aber wenn es sich so ergibt, werde ich bestimmt herkommen.«

Der Sheriff blieb breitbeinig auf dem Bahnsteig stehen und schaute dem Zug nach.

 

 

 

3.

 

 

Soledad, die nächste Station auf der Strecke, lag zwölf Meilen von Single Shot entfernt. Der Ort bestand aus einer Anzahl von Adobe- Häusern, die sich um das Geschäftshaus scharten, und aus einer kleinen, weiß getünchten Kirche.

Der Bahnhof lag etwas außerhalb des Ortes, und als die zischende Lokomotive am Bahnsteig hielt, stiegen lediglich die beiden Cowboys aus.

Eine schmale Gestalt löste sich aus dem Schatten des Bahnhofsgebäudes.

»Dave!«

Im nächsten Augenblick lag sie in seinen Armen. Endlich lockerte sich die Spannung, die sich während der vergangenen acht Jahre auf gestaut hatte, und sie lachte ein wenig. Dave legte die Hände auf ihre Schultern und schob sie ein wenig zurück, um sie genauer betrachten zu können.

»Mary«, sagte er liebevoll. »Ich - du bist direkt schön geworden, Schwesterlein. Aber wo ist denn dein goldblondes Haar geblieben? Jetzt ist es braun und lockig. Deine Augen haben auch nicht mehr den frechen Ausdruck von früher.«

Ihre Wangen röteten sich, und sie schaute ihn zärtlich an. Sie war einen halben Kopf kleiner als Dave, aber ihre Haltung war kerzengerade. Sie trug eine Reithose und ein weißes, ausgeschnittenes Hemd. Ihre Figur war schlank und dennoch wohlgerundet, und ihre Bewegungen waren graziös und anmutig. Wieder lachte sie herzlich.

»Aber, Dave, mein Haar schlägt eben Mutter nach. Du hast dich kaum verändert. Natürlich bist du ein bisschen voller geworden, aber du siehst noch immer aus, als wolltest du es selbst mit dem Teufel aufnehmen. Deine Augen verraten dich.«

Sie lachten zusammen.

»Hast du nicht etwas vergessen, Dave?«

Sie wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern wandte sich gleich Rosty zu, der sich in höflicher Entfernung hielt.

»Sie sind Rosty Rand, von dem Dave mir geschrieben hat. Ich bin Mary.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er drückte sie; dabei murmelte er ein paar unverständliche Worte vor sich hin, denn seine Kehle schien plötzlich zugeschnürt zu sein.

»Bist du allein gekommen, Mary?«, fragte Dave.

»Ja, ich reite immer gern allein. Erinnerst du dich denn nicht mehr daran?«

Rosty schaute Dave an und grinste.

»Da hast du es, großer Bruder!«

Sie gingen hinter das Bahnhofsgebäude, wo die Pferde angebunden waren. Wieder lachte Mary.

»Ich habe extra ein großes Pferd für Mr. Rand mitgebracht. Du hast mir doch geschrieben, dass er so groß wäre, Dave.«

»Habe ich vielleicht übertrieben?«

Sie traten auf die Pferde zu, und Daves Hand berührte etwas, was am Sattelhorn baumelte.

»Was soll denn das, Schwester?«, fragte er langsam. »Waffen?«

Mary zögerte einen Augenblick.

»Ja, ich wusste ja nicht, ob du welche bei dir hast oder nicht.«

Dave versuchte, ihren Gesichtsausdruck in der Dunkelheit zu erkennen.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte er.

»Ich - ich wusste doch nicht, ob du bewaffnet bist.«

Nachdenklich befestigte Dave die Deckenrolle hinter dem Sattel. Hier schien etwas in der Luft zu liegen, und er musste unbedingt herausfinden, was das war.

Mary plapperte munter drauflos, während sie durch die Stadt ritten und den Weg zu den im Norden aufragenden Bergen einschlugen. Sie erzählte von dem Leben auf der Ranch, und dabei wandte sie sich auch an Rosty, als wäre er ein alter Freund der Familie.

Die Nacht war warm und ruhig, und in der klaren Luft hing der Geruch des Weidelandes und der weiten Prärie. Dennoch regte sich in Dave ein leises Gefühl des Unbehagens.

»Was ist eigentlich los, Mary? Warum hast du die Waffen mitgebracht?«

»Ist das denn in diesem Land so abwegig, Dave?«

»Für meine Person schon. Du weißt doch, dass ich wegen einer Waffe ins Gefängnis gekommen bin, Mary. Das hat in mir den Entschluss reifen lassen, von nun an im Umgang mit Waffen besondere Vorsicht walten zu lassen.«

»Nun, es war das Zusammentreffen verschiedener Umstände, Dave. Der Sheriff hat mir geraten, nicht in Single Shot auf dich zu warten, weil er dich dort nicht aussteigen lassen würde. So etwas kann leicht zu einer Auseinandersetzung führen, und in dem Fall brauchst du doch eine Waffe, nicht wahr?«

»Du musst dich schon ein bisschen mehr anstrengen, Mary«, erwiderte er ruhig. »Sheriffs locken einen Mann nicht in den Hinterhalt. Außerdem kann ich mir nicht recht vorstellen, dass ich hier eine Waffe brauche. Also, was ist es?«

Mary seufzte.

»Na schön, ich will es dir sagen.« Ihre Stimme klang ernst, und es fiel Rosty Rand auf, dass sie auf einmal nicht mehr so lebhaft

wirkte wie bisher. »Erinnerst du dich noch an das Landstück im Süden der Ranch, wo Daddy immer das Heu ernten wollte?«

»Ja, und er hat es nie getan.«

»Dort haben sich fünf Siedlerfamilien niedergelassen«, fuhr Mary langsam fort. »Sie hassen uns. Unser Cowboy Fennegan ist mal in diese Gegend gekommen, und als er sie von unserem Land vertreiben wollte, haben sie ihn überwältigt und ihm den Colt abgenommen. Ich weiß nicht, ob diese Familien schlecht sind oder nicht, Dave, aber sie haben von deiner Rückkehr erfahren und fürchten nun wohl, endgültig vertrieben zu werden. Sie könnten...«

»Ja, sie könnten versuchen, mir zuvorzukommen. Das stimmt doch, nicht wahr?«

»Jetzt weißt du es«, erwiderte Mary ruhig.

»Warum sind sie nicht schon längst von unserem Land vertrieben worden?«

»Wer hätte das denn unternehmen sollen? Unsere Cowboys haben kein Interesse daran.«

»Und der Sheriff?«

»Meinst du etwa, der würde unserer Familie helfen? Auf der Straße spricht er ja kaum mit mir. Er hat dir die damalige Sache noch immer nicht verziehen.«

Bitter kam ihm zum Bewusstsein, dass die Jahre im Gefängnis nicht nur eine Qual für ihn selbst gewesen waren. Offensichtlich hatten die Leute es Mary bei jeder Gelegenheit zu spüren gegeben, dass ihr Bruder im Gefängnis steckte und dass sie so gut wie wehrlos war. Na, es wurde höchste Zeit, dass etwas dagegen unternommen wurde.

Er dachte an Marys Beschreibung der Situation mit den Siedlern auf seinem Land. Sie hielt es also für möglich, dass sie sich ihm offen widersetzten und vielleicht sogar nicht mal vor einem Angriff auf ihn zurückschreckten? Siedler waren im Allgemeinen hart arbeitende Menschen, die sich nichts weiter wünschten, als in Ruhe gelassen zu werden. Irgendwie passte das nicht zu diesem Bild. Er versuchte, in Marys Gesicht zu lesen, aber es war zu dunkel.

»Und was sonst noch, Schwester? Was hat dich noch veranlasst, die Waffen mitzubringen?«

»Ich habe es dir doch schon gesagt.«

»Was sonst noch?«, fragte er unerbittlich.

Mary seufzte. »Du bist schon als Kind ein Dickkopf gewesen, Dave, und ich sehe, dass sich daran nichts geändert hat. Muss ich dir denn gleich am ersten Tag alles erzählen?«

»Gewiss - und zwar auf der Stelle!«

Sie lachte nervös. »Es dreht sich um Hammond. Du hast wohl noch nicht von ihm gehört, nicht wahr?«

»Wer ist das denn? Auch ein Siedler?«

»Nein, er ist der Besitzer einer Mine, und er hat das Land an der Eisenbahnstrecke am Fuß der Berge aufgekauft. Du weißt doch, wie steil die Abhänge dort sind, und der einzige Weg führt durch das trockene Flussbett. Genau an dieser Stelle hat er die Draw-Three-Mine erbaut.«

»Na und?«, fragte Dave.

»Einen Augenblick! Erinnerst du dich auch noch an den kleinen See etwas unterhalb des Bergrückens?«

»Natürlich; das ist doch unser Wasser, nicht wahr?«

»Bis jetzt, ja«, sagte Mary. »Der See liegt kurz vor der Grenze unseres Landes, und Hammond behauptet, der See wäre im Kaufvertrag ausdrücklich angeführt worden und gehöre somit rechtmäßig ihm.«

»Der See?«, wiederholte Dave verdutzt. »Aber der gehört doch uns. Als Daddy seinerzeit das Land registrieren ließ, war das Gebiet um den See mit eingeschlossen. Warum schaut Hammond denn nicht im Grundbuch nach?«

»Oh, es ist alles so dumm, Dave! Ich habe ihm unsere Planzeichnungen gezeigt, in denen der See auf unserem Gebiet eingeschlossen ist, aber er hält sich an seine eigenen Zeichnungen. Wenn wir ihm den See nicht abtreten, will er mit seiner Forderung vor Gericht gehen.«

Dave lachte grimmig.

»Na, der Bursche hat wirklich Nerven. Weil ihm jemand eine falsche Zeichnung verkauft hat, auf der ein See enthalten war, will er ihn uns einfach wegnehmen. Wir sollen ihm also all unser Wasser abtreten, weil er einem Schwindler und Betrüger auf den Leim gegangen ist, wie?«

»So sieht er die Dinge nun mal.«

»Und was meint der Sheriff dazu?«, fragte Dave.

»Er will damit nichts zu schaffen haben«, antwortete Mary. »Seiner Ansicht nach sollte die ganze Angelegenheit vom Amtsgericht geklärt werden.«

Fernes Kojotengeheul unterbrach Daves Gedanken. Die Nacht war ruhig, und am Himmel glitzerte das Myriadenheer der Sterne. Hammonds Ansprüche waren viel zu lächerlich, um ernst genommen zu werden. Aber die Siedler mussten von seinem Land verschwinden!

»Wie steht es denn mit dem Gericht, Mary?«, fragte Dave unvermittelt. »Die Siedler haben doch keine rechtmäßigen Ansprüche angemeldet, wie?«

Mary lachte ein wenig.

»Ich glaube, ich habe vergessen, dir zu sagen, dass wir kein Geld haben, Dave. Die beiden Cowboys, die uns noch geblieben sind, haben im vergangenen Jahr nur unregelmäßig ihren Lohn bekommen. Ich weiß, dass ich dir nicht viel zu übergeben habe, aber wenigstens habe ich mir die größte Mühe gegeben.«

»Schon gut«, sagte Dave ruhig. »Wir haben Land, Wasser und Gras. Banken geben Darlehen, und damit können wir eine Herde auf ziehen.«

»Die Bank hat uns schon Geld geliehen, Dave«, erwiderte Mary. »Da ist nichts mehr zu holen. In ein paar Tagen ist sogar eine Rate fällig.« Ihre Stimme klang sehr bitter. »Das ist ein weiteres Geschenk von deiner lieben Schwester!«

»Hör auf damit, Mary«, sagte Dave leise. »Es gefällt mir gar nicht, wenn du so bitter sprichst.«

»Ich weiß, und es tut mir leid, Dave. Du hättest ein viel größeres Recht, bitter zu sein.« Sie schaute ihn an. »Es freut mich wirklich, dass du es nicht bist, Dave, denn irgendwie würde es nicht recht zu dir passen.«

Dave dachte an die Bitterkeit der vergangenen acht Jahre - aber das war jetzt vorüber. Jetzt war er ein freier Mann mit einer Ranch und einer Zukunft vor sich. Dabei standen ihm zwei Menschen zur Seite, die er von allen am meisten liebte.

Der Pfad wurde schmal, so dass sie hintereinander durch den Canyon reiten mussten. Hier begann das Land seiner D-Bar-T-Randi.

Alte Erinnerungen tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Hier, in diesem Canyon, hatte er mal fünf kleine Wölfe gefunden, die von der Ranch-Hündin Dinah aufgezogen worden waren. Später waren sie so wild geworden, dass er sie erschießen musste. Jeder Baum, jedes Gebüsch und fast jeder Stein hatte für ihn eine gewisse Bedeutung. Wie sollte er bitter sein, wenn er in dieses Land zurückkehrte?

»Mach dir keine weiteren Sorgen, Schwesterlein«, sagte er. »Noch sind die schwarzen Tage für die Turners nicht gekommen. Noch...«

Ein Schuss krachte.

Auf dem Bergkamm blitzte Mündungsfeuer auf, und Dave spürte einen Schlag gegen den Kopf, der ihn seitlich aus dem Sattel riss. Bewusstlos fiel er zu Boden.

Rosty feuerte sofort ein paar Schüsse auf die betreffende Stelle ab, und das Echo brach sich dröhnend an den Berghängen.

Marie kniete bereits neben Dave, und Rosty sprang aus dem Sattel. »Getroffen?«, fragte er heiser.

»Ich kann es noch nicht sagen«, gab Mary ängstlich zurück.

Rosty riss ein Zündholz an, und die zuckende Flamme beleuchtete den blutenden Riss unter dem schwarzen Haar. Er legte das Ohr an Daves Brust, lauschte einen Augenblick und stand dann wieder auf.

»Das Herz pumpt wie eine Lokomotive«, verkündete er erleichtert. »Sein Kopf ist nur angeritzt, und bei dem Schlag hat er momentan das Bewusstsein verloren.«

Mary schluchzte verhalten vor sich hin, und er legte ihr mit einer linkischen Bewegung die Hand auf die Schulter.

»Alles in Ordnung, Miss Mary.« Er schluckte. »Ich glaube, es hätte mich um den Verstand gebracht, wenn sie ihn getötet hätten.«

Mary nickte. »Mich auch.«

»Ich werde mal nachsehen, wer sich auf dem Kamm versteckt hält. Verbinden Sie inzwischen die Wunde mit diesem Halstuch. Er wird bald wieder zu sich kommen.«

Rosty kletterte die Wand des Canyons hinauf. Auf dem Kamm lag eine reglose Gestalt mit einem Schrotgewehr. Rosty drehte den Mann um und riss ein Zündholz an. Es war ein kräftiger, untersetzter Mann mit einer verschmutzten Leinenhose und einem ebenso verschmutzten Hemd. Neben ihm lag ein alter, verbeulter Hut.

Er war unrasiert, und unter den Stoppeln am Hals klaffte ein Loch, aus dem sich ein Blutstrom ergoss. Er war tot.

Als das Zündholz ausging, wartete Rosty, bis sich seine Augen wieder auf die Dunkelheit eingestellt hatten, und dann spähte er lauschend über den Kamm.

Er hörte das Scharren eines Hufes und fand das Pferd. Er legte den Toten quer über den Sattel, ging ein Stück auf dem Kamm entlang und fand eine Stelle, die einen leichten und gefahrlosen Abstieg zum Weg ermöglichte.

Mary wartete auf ihn. »Er ist noch nicht wieder zu sich gekommen«, sagte sie, indem sie gegen die Tränen ankämpfte.

»Seien Sie unbesorgt, er wird bald wieder auf dem Posten sein. Am besten reiten wir wohl zur Ranch, denn dort können wir ihn besser versorgen.«

»Ja«, sagte Mary schwach, und dann nahm sie sich zusammen. »Wer ist es denn?«

»Keine Ahnung.« Rasch fügte Rosty hinzu: »Er bietet nicht gerade einen schönen Anblick. Wir wollen lieber warten, bis Dave wieder zu sich kommt.«

»Ich möchte ihn mir ansehen«, sagte Mary mit fester Stimme.

Widerstrebend setzte Rosty ein Zündholz in Brand, und dabei fragte er sich unwillkürlich, ob sie diesen Mann wohl kannte. Mary warf einen kurzen Blick auf den Toten, und Rosty blies das Zündholz rasch aus.

»Ist es einer der Siedler?«, fragte er.

»Ich habe ihn noch nie gesehen.«

Rosty starrte sie verdutzt an. »Kennen Sie alle diese Siedler?«

»Ja, und dieser Mann gehört nicht zu ihnen.«

Rosty zuckte die Achseln. »Glauben Sie, dass Sie sein Pferd führen können? Ich werde Dave zu mir in den Sattel nehmen und sein Pferd führen. Wie weit ist es denn?«

»Drei Meilen.«

Die Turner-Ranch lag an einer windgeschützten Talanhöhe und war rings von hohen Bäumen umgeben. Unterhalb der Gebäude schlängelte sich ein kleiner Bach durch das Gras.

Niemand erschien zu ihrem Empfang. Rosty nahm Dave in die Arme und folgte Mary ins Haus. Sie kamen in einen großen, weitgestreckten Raum mit einer niederen Decke; im Hintergrund stand ein großer Herd, und der Fußboden war mit ein paar Navajo-Tep- pichen bedeckt. Der flackernde Widerschein des Herdfeuers fiel auf die dunkle Holzdecke. Ohne den in einem bequemen Sessel vor dem Herd sitzenden Mann zu sehen, legte Rosty Dave auf eine neben der Wand stehende Couch.

»Hallo, Mary«, sagte der Mann.

Rosty schaute auf. Der Mann war etwa dreißig Jahre alt und hatte ein gebräuntes, kühl wirkendes Gesicht. Er trug eine Reithose mit blitzenden Stiefeln und ruhte lässig in seinem Sessel. Er hatte gerade ein Buch aus der Hand gelegt und strich sich nun den schmalen, schwarzen Schnurrbart.

»Oh, Ted.« Marys Stimme klang unsicher. »Jemand hat auf Dave geschossen!« Sie schaute zu Rosty hinüber, und das Blut trat in ihre Wangen. »Entschuldigen Sie, Mr. Rand - dies ist Ted Winners, mein Mann.«

Winners nickte lässig.

»Willkommen, Rand.«

»Hallo«, sagte Rosty. Er streifte Mary mit einem fragenden Blick.

»Es sollte eine Überraschung für Dave werden«, sagte sie verlegen.

Rosty nickte kurz. »Wir brauchen jetzt Wasser.«

»Was ist dem Lieblingssohn denn zugestoßen?«, fragte Winners.

»Irgendein Bursche hat auf dem Bergkamm auf der Lauer gelegen«, antwortete Rosty.

Winners verließ den Sessel und kam herüber, um einen Blick auf den noch immer bewusstlosen Dave zu werfen.

»Wo war das?«

»Diesseits der Brücke. Er hat dort mit einer Schrotflinte im Anschlag gelegen.«

»Alle Teufel!«, rief Winners stirnrunzelnd. »Wer könnte wohl auf einen solchen Gedanken kommen?«

»Ich weiß es auch nicht. Er liegt jetzt draußen auf seinem Pferd. Sehen Sie doch mal nach, ob Sie ihn kennen.«

»Soll das etwa heißen, dass Sie ihn erwischt haben?« Winners starrte ihn in einer Mischung von Bewunderung und Überraschung an.

Rosty nickte.

»Lebend?«

»Tot«, erwiderte Rosty trocken.

Mary kehrte mit einer Schüssel warmem Wasser und einem Desinfektionsmittel zurück. Sie kniete neben Dave und wusch die Wunde aus. Ihr Gesicht war bleich und gespannt.

»Es war grauenhaft, Ted«, sagte sie, ohne den Blick von Dave zu wenden. »Wir ritten hintereinander über die Brücke und durch den Canyon. Der Mann muss Katzenaugen gehabt haben. Er...«

»Rand hat es mir bereits erzählt«, fiel Winners ihr ins Wort. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer Dave nach dem Leben trachten sollte.«

Das Desinfektionsmittel brannte in der Wunde, und Dave schlug stöhnend die Augen auf. Verwirrt schaute er sich im Zimmer um, und als sein Blick auf Mary fiel, lächelte er schwach.

»Was ist denn passiert? Jemand hat auf mich geschossen.« Er schaute Rosty fragend an.

»Irgendein Kerl hat vom Kamm aus versucht, dir den Kopf abzuschießen«, sagte Rosty grinsend.

Dave nickte schwach, und dann heftete sich sein Blick auf Winners, der ihn schweigend betrachtete.

»Sind Sie der Arzt?«, fragte Dave.

»Nein, Dave. Das ist Ted Winners, mein Mann«, sagte Mary. »Ich wollte dich mit dieser Neuigkeit überraschen, und...« Sie brach ratlos ab und schaute Dave ängstlich an.

»Na, die Überraschung ist dir gelungen.« Er streckte Winners die Hand entgegen, und sie tauschten einen Händedruck. Ein Lächeln zuckte in Daves Mundwinkeln. »Du hast das beste Mädchen der Welt bekommen, Winners«, sagte er einfach.

»Das weiß ich.« Winners legte den Arm um Marys Schulter. Sie schmiegte sich eng an ihn und schaute auf Dave hinunter.

Rosty ließ sich keine Regung in Daves Gesicht entgehen.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Mary.

»Gut, morgen werde ich schon wieder auf den Beinen sein. Wie war das eigentlich?«

»Er ist tot und liegt draußen auf seinem Pferd«, antwortete Winners. »Rand hat ihm die Suppe ordentlich versalzen.« Er lachte und entblößte makellose Zähne.

»Wer war es? Kennt ihn niemand von euch?«

»Ich werde ihn mir gleich mal ansehen«, sagte Winners. »Dabei kann ich auch gleich eure Pferde versorgen.«

»Soll ich...«, begann Rosty, aber Winners machte nur eine abwehrende Handbewegung.

»Ich werde unseren Freund in den Werkzeugschuppen bringen. Bleiben Sie ruhig hier, Rand.«

Nachdem er den Raum verlassen hatte, schaute Dave seine Schwester an.

»Du kleiner Teufel - warum hast du mir nichts davon verraten?«

»Du solltest doch nicht gleich alles auf einmal erfahren«, erwiderte sie mit einem verlegenen Lächeln. »Kannst du bis zum Belt gehen? Ich glaube, du solltest dich jetzt erst mal gründlich ausschlafen. Alles weitere können wir morgen besprechen.«

Dave nickte, und Rosty stützte ihn, während sie über den Korridor gingen. Mary öffnete die Tür zu einem Schlafzimmer, das außer einem weißen Bett noch ein Feldbett und eine breite Kommode enthielt.

»Es ist alles unverändert geblieben, Dave«, sagte Mary.

Sie schlug die Bettdecke zurück und schüttelte das Kopfkissen auf. Dave schaute sich inzwischen im Zimmer um.

»Mr. Rand, das Nebenzimmer steht zu Ihrer Verfügung, falls Sie nicht lieber hier auf dem Feldbett schlafen wollen. Unser Schlafzimmer liegt gleich gegenüber, so dass wir es jederzeit hören, wenn Dave etwas brauchen sollte.«

»Du meinst wohl, dass ich unmittelbar vor dem Tode stehe«, neckte Dave.

Mary gab ihm lachend einen Kuss, bot ihnen eine gute Nacht und verließ den Raum. Dave schaute sich nachdenklich um.

»Das ist schon etwas anderes als die verdammten Gefängniszellen, was, Rosty? Ich glaube, es wird dir hier gefallen.«

Rosty setzte sich auf das Feldbett, zog seinen Tabakbeutel hervor und drehte sich langsam eine Zigarette. Er wich Daves Blicken aus.

»Ja, das ist etwas ganz anderes«, -wiederholte Dave, indem er sich auf das Bett setzte.

Rosty zündete seine Zigarette an, nahm ein paar Züge - und erst dann richtete er den Blick auf Dave.

»Morgen werde ich weiterreiten, Freund«, verkündete er ruhig.

Dave starrte ihn verblüfft an.

»Was ist denn los?«, fragte er nach einer Weile. »Hängt das vielleicht mit Marys Worten zusammen, dass wir pleite sind?«

Rosty schlug den Blick nieder.

»Nein, ich glaube, es liegt wohl daran, dass ich noch nicht recht zur Ruhe kommen kann. Ich muss erst noch ein paar Sättel durchwetzen, ehe ich in den Corral einbiege.«

»Und mich willst du hier im Stich lassen, ohne an die verdammten Siedler, den Minenbesitzer, den Sheriff und den Mann zu denken, der hier im Hinterhalt auf mich gelauert hat?«, fragte Dave.

Rostys Gesicht rötete sich.

»Du brauchst mich nicht. Ich kann dir nicht helfen und wäre dir nur überall im Weg.«

»Na schön, du rothaariger Tramp«, brummte Dave. »Dann werden wir morgen gemeinsam weiterziehen.«

»Du willst Mary hier in dieser Klemme stecken lassen?«, fragte Rosty ungläubig. »So gemein könntest du doch gar nicht sein.«

»Wenn du gehst, dann gehe ich mit«, erwiderte Dave fest.

Rosty schaute ihn an und strich sich nachdenklich mit der Hand übers Kinn.

»Jetzt hör mich mal an. Ich gehe, weil ich es nicht verantworten könnte, euch hier zur Last zu fallen, wo es euch ohnehin schon an allen Ecken und Enden fehlt. Ich würde gern bleiben und arbeiten, aber meine Arbeit bringt dir nichts ein, und du würdest dich nur darüber ärgern, dass du mir keinen Lohn zahlen kannst.«

»Zum Teil hast du recht«, räumte Dave ein. »Aber du musst uns doch zumindest eine Chance geben. Ohne Hilfe und Unterstützung kann ich diese Ranch nicht wieder in Schwung bringen. Noch haben wir nichts verloren, und eines Tages wird hier alles wieder so sein, wie es früher war: zehn Cowboys, ein Koch und ein Schmied. Wie aber soll ich das schaffen, wenn du mich einfach im 5tich lässt?«

»Du schaffst es allein«, brummte Rosty hartnäckig.

»Vielleicht, aber wenn du gehst, gehe ich auch«, sagte Dave. »Wir haben unsere Pläne gemeinsam geschmiedet, und wenn du mich jetzt im Stich lassen willst, dann kann ich auch Mary im Stich lassen.«

»Das wirst du nicht tun!«, knurrte Rosty. Er trat an Daves Bett und drückte ihn in die Kissen zurück. »Halt deine Füße hoch, damit ich dir die Stiefel ausziehen kann. Beug dich ja nicht vor, sonst läuft dein bisschen Verstand noch zu dem kleinen Loch in deinem Kopf heraus. Soll ich die Wunde noch einmal frisch verbinden?«

»Wenn du unbedingt den barmherzigen Samariter spielen willst.«

»Fahr zum Teufel!«

Rosty zog sich nachdenklich aus.

»Aus welchem Grund mag der Kerl wohl auf dich geschossen haben?«

Keine Antwort. Als er sich auf richtete und die Lampe auslöschte, sah er, dass Dave bereits eingeschlafen war.

 

 

 

 

4.

 

 

Dave Turner und Rosty Rand standen bei Sonnenaufgang auf. Daves Gesicht wirkte noch ein bisschen blass, aber er schien den nächtlichen Zwischenfall gut überstanden zu haben. Nachdem sie im großen Küchenherd ein Feuer entzündet hatten, gingen sie auf den Hof hinaus, um sich ein wenig umzusehen.

Das Haus selbst machte einen recht soliden Eindruck. Außer dem geräumigen Wohnzimmer und der Küche enthielt es ein Speisezimmer und vier Schlafzimmer. Der Hof verlief in einer flachen Neigung bis zum etwa hundert Meter entfernten Bach.

Das Küchenhaus war leer, und an den blinden Fenstern hingen Spinnengewebe. Der Verputz des Schlafhauses war stellenweise abgefallen, so dass die roten Mauersteine durchschimmerten. Die Corralzäune wiesen große Löcher auf, und die Scheune, deren Tor schief in den Angeln hing, drohte jeden Augenblick einzustürzen.

»Es sieht aus, als wäre hier jemand ausgezogen«, knurrte Dave.

»Ja, hier gibt es eine Menge Arbeit«, stimmte Rosty ihm zu.

Sie wandten sich dem Corralzaun zu und warfen einen Blick auf die Pferde. Es war insgesamt etwa ein Dutzend, und die Tiere machten einen stark vernachlässigten Eindruck.

»Welches Pferd stammt eigentlich von unserem nächtlichen Freund?«, fragte Dave.

»Der Rappe mit der weißen Blesse. Wir wollen uns mal das Brandzeichen ansehen.«

Sie fingen den Rappen ein und suchten nach einem Brandzeichen.