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Epilog


Die Dunkelheit der Nacht senkte sich wie ein Schleier des Vergessens über das Gelände. Ich fühlte Dankbarkeit, weil mir dadurch so manch grausiger Anblick erspart blieb.

Die verbliebenen Schlangenmenschen bauten sich um uns herum auf. Die Gefahr durch die Jäger durfte gebannt sein, aber der Preis dafür drückte die Stimmung unter den Schlangenmenschen. Ohne das Eingreifen ihres Gottes wären die Verluste größer gewesen. Andererseits führten diese Verluste erst dazu, dass Yig eingegriffen hatte. Seine Untertanen schienen mir die Schuld an ihren Verlusten zu geben, aber noch zögerten sie, etwas zu unternehmen. Sie sahen zu Lukasch, erwarteten seine Entscheidung. Bahnte sich hier ein Putsch an?

Vallandar knickte neben mir ein. Ich griff reflexartig zu und bekam ihm um die Hüfte zu fassen. Ich versuchte, ihn zu stützen, aber Schlangenmenschen waren wesentlich schwerer, als ihr Äußeres vermuten ließ. Dabei spürte ich die Feuchtigkeit, die aus seinem Körper drang und seine Kleidung durchnässt hatte. Die Wunde war unter dem dunklen Stoff verborgen, aber sie musste erheblich sein. Ich ließ ihn langsam zu Boden herab und achtete darauf, dass er mir nicht entglitt. Ausgerechnet in diesem Moment schied der einzige Schlangenmensch aus, der auf meiner Seite stehen könnte.

Zwei Mitglieder seines Volkes begannen, seine Wunden zu versorgen. Sie arbeiteten schnell und routiniert. Allein an der Art, wie sie vorgingen, konnte ich erkennen, dass sie Vallandar nicht für einen aussichtslosen Fall hielten. Leider konnten sie ihn kaum bei Bewusstsein halten.

Lukasch übernahm seine Aufgabe als Stellvertreter und trat vor. Sein Gesicht zeigte Bedauern. Dieses Gefühl unterschied sich sehr von dem der anderen überlebenden Schlangenmenschen. In ihren Augen war ich ein Verräter, kaum besser als die Jäger selbst. Meine Bilder hatten ihre Freunde und Verwandten einem tödlichen Schicksal ausgeliefert. Zum Teil konnte ich sie verstehen, denn außer mir gab es niemanden, an dem sie sich noch rächen könnten. Ich hielt mich für unschuldig, denn ich hatte nicht mit Absicht gehandelt, ja nicht einmal fahrlässig. Man hatte mein Werk ausgenutzt. Ein Werk, das in keinerlei kriegerischer Absicht entstanden und eigentlich auch nicht zweckentfremdet werden konnte. Es ging schließlich nicht um Kernspaltung.

„Es tut mir leid, dass es so enden muss“, sagte Lukasch zu mir. „In Anbetracht Ihrer Dienste hätte ich mir ein anderes Ende unserer Zusammenarbeit gewünscht.“

„Na, fragen Sie mich mal“, erwiderte ich giftig. Natürlich hatte ich damit gerechnet, dass es so enden würde, aber als es nun eintrat, fühlte ich trotzdem Enttäuschung. „Euer Gott hat mich verschont, weshalb könnt ihr es nicht tun?“

Die Erwähnung von Yig kam überhaupt nicht gut an. So als stünde es mir nicht zu, ihn überhaupt zu erwähnen. Als der Sinn meiner Worte zu ihnen durchdrang, sahen sie fragend zu Vallandar, der meine Worte mit einem Nicken bestätigte. Dann kippte sein Kopf zur Seite. Mit seiner Unterstützung brauchte ich vorerst nicht mehr zu rechnen.

Die beiden Sanitäter arbeiteten unbeeindruckt weiter. Die Besinnungslosigkeit ihres Patienten kam für sie wohl nicht überraschend.

Ein Klingeln zerriss die angespannte Stille. Lukasch tastete an seine Brusttasche und zog sein Handy hervor. Stirnrunzelnd betrachtete er die Anzeige. Ich hielt das für ein gutes Zeichen und konzentrierte mich auf Lukasch, da er von allen umstehenden Schlangenmenschen noch den friedfertigsten Eindruck machte.

„Woher haben Sie diese Nummer?“, fragte er und sah dabei mich an. Schließlich stellte er den Lautsprecher an, und wir vernahmen laut und deutlich die Stimme von Zappa. Keiner war davon überraschter als ich.

„Ich besitze Videoaufnahmen von eurer Riesenschlange und auch von euch anderen, mit und ohne Maske. In HD übrigens. Kopien werden gerade überall verteilt. Selbst wenn unsere Bundeskanzlerin und der amerikanische Präsident welche von euch sind, werdet ihr nicht alle einsammeln können. Ich habe genug Fotos, um damit euer Leben zu verfilmen. Glaubt mir, wenn ihr wollt, dass euer Schlangendasein ein Geheimnis bleibt, dann legt ihr euch besser nicht mit mir an, sondern tut, was ich sage. Das erste, was ich sage, Bedingung Numero Uno lautet: Finger weg von Silas Czerny!“

Ich hätte Zappa in diesem Moment küssen können. Nie wieder wollte ich mich über ihn beschweren.

Lukasch sah sich in alle Richtungen um, als könne er meinen Freund irgendwo ausmachen. Ich ging davon aus, dass sich Zappa bereits mit den Aufnahmen auf dem Weg in Sicherheit befand.

„Mein Vorschlag lautet“, fuhr Zappa fort. „Ihr vergesst uns und wir vergessen euch.“

Lukasch sah zu mir herüber. „Kann man ihm trauen?“, fragte er mich.

„Mehr als euch. Er steht zu seinem Wort. Wie sieht es mit Ihnen aus?“

„Haben wir denn eine Wahl?“

„Ich hoffe nicht.“

Lukasch sah zu seinen Leuten. Viele von ihnen machten den Eindruck, als wollten sie mich vorsichtshalber erschießen und dann abwarten, wie es sich weiter entwickelte.

Ich setzte nach. „Zappa wird sich in jede Richtung absichern. Verschwörungen sind sein Hobby, deshalb wird er auch nichts dem Zufall überlassen. Wir werden euer Geheimnis wahren, wenn ihr garantiert, dass wir uns nie wiedersehen.“

„Ich kann Ihnen nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Es wird immer Brüder und Schwestern geben, die sich nur sicher fühlen, wenn Sie tot und alle Beweise vernichtet sind.“

„Dann sollte es in Ihrem Interesse sein, unser Leben zu schützen, denn nur, solange wir leben, bleiben die Sachen unter Verschluss. Sie können sich ja für ein Outing entscheiden und an die Öffentlichkeit gehen. Dann bräuchten Sie uns auch nicht mehr zum Schweigen zu bringen.“

Ich hoffte, dass Zappa wirklich alle Vorkehrungen getroffen hatte, um uns abzusichern. Mein Angebot an Lukasch war ernst gemeint, ich wollte sicher nicht durch Talkshows tingeln und von seinem Schlangengott erzählen. Bei Zappa war ich mir da nicht so sicher. Er konnte Geheimnisse schlecht für sich behalten.

Ich hoffte aber auch, dass Vallandar, sobald es ihm besser ging, die Hardliner in seinen Reihen besänftigen konnte, die nach einer radikalen und endgültigen Lösung verlangten.

Lukasch nahm mir für alle hörbar das Versprechen ab, niemals wieder ein Bild unter Drogeneinfluss zu malen. Ich gab es ihm ohne Zögern. Die Einhaltung lag auch in meinem Interesse, denn die Entwöhnung von OpenMind würde bereits den zweiten Entzug meines Lebens bedeuten, auf einen dritten wollte ich gerne verzichten.

„Wenn Sie uns nun entschuldigen würden, wir haben eine Menge Beweise zu beseitigen“, sagte Lukasch und drehte sich um. Die Entscheidung stand fest. Aus dem Waldstück näherten sich die Fahrzeuge der Schlangenmenschen.

„Könnten Sie mich in der Stadt absetzen?“, fragte ich.

„Sonst noch was?“, gab er über seine Schulter hinweg zurück.

Ich wollte den Bogen lieber nicht überspannen. Außerdem waren die Schlangenmenschen, von denen mich der größte Teil wohl lieber tot sehen wollte, garantiert nicht die beste Gesellschaft für den Heimweg.

Vallandar war immer noch ohne Bewusstsein, von ihm konnte ich mich nicht verabschieden. Die beiden, die ihn versorgten, hatten bereits verkündet, dass er durchkommen würde.

Ich machte mich zu Fuß auf den Heimweg. Wieder einmal. Um mich herum luden Schlangenmenschen die Leichen ihrer gefallenen Brüder und Schwestern in die Lieferwagen und vernichteten alle Hinweise auf ­OpenMind. Sie warfen Brandsätze in die Überreste der Fabrik und auf die Wracks der Lieferwagen, die mit der Droge beladen wurden.

Als ich den Waldrand erreichte, sprangen die ersten Motoren wieder an und fast zeitgleich verließen wir das Schlachtfeld. In der Ferne hörte ich die ersten Sirenen. Trotz der abgelegenen Lage musste jemand die Explosion und die Schüsse gehört haben. Nun rückten die Behörden an, um nach dem Rechten zu sehen.

Ich versuchte mir auszumalen, was sich die Polizei aus den vorhandenen Spuren zusammenreimen würde. Lukaschs Leute hatten auch jene Leichen eingeladen, die aussahen, als seien sie von einem riesigen Raubtier halbiert worden. Je weniger Zweifel an einer eindeutigen Geschichte aufkommen konnten, umso besser. Wenn alles nach Plan lief, fanden die Beamten am Tatort nur tote Drogendealer mit Gewehren, deren Kugeln in den Leichen von Drogensüchtigen steckten. Trotz einiger Ungereimtheiten könnte man die Geschichte glaubhaft als Drogenkrieg verkaufen.

Die ersten Blaulichter aus Richtung Frankfurt tauchten in der Ferne auf. Ich spazierte in entgegengesetzter Richtung davon. Der Mond bot genug Helligkeit, um den Radweg zu erkennen, auf dem ich lief.

Zwanzig Minuten später hielt ein Auto neben mir und die Beifahrertür wurde aufgestoßen. Ich nahm Platz und nickte Zappa im Schein der Innenbeleuchtung zu. „Dafür hast du was gut bei mir“, sagte ich und schlug die Tür zu, damit das Licht erlosch und mir sein selbstzufriedenes Grinsen erspart blieb.

Wir fuhren eine Weile ziellos durch die Nacht, während Zappa mich in alle Details einweihte. Wie er mir gefolgt war, meine Befreiung plante, mich aus den Augen verlor, durch Zufall wiederfand und schließlich eine Riesenschlange filmte. Erst die Aufnahme brachte ihn auf die Idee, wie er mich freipressen konnte, und da er zuvor schon mit Lukasch am Telefon gesprochen hatte, besaß er sogar dessen Nummer.

Ich gönnte ihm diesen Triumph, lobte seine Kalt­blütigkeit, angesichts eines Monsters die Handykamera zu zücken und draufzuhalten. Außerdem pries ich seine Loyalität, Freundschaft, Verlässlichkeit und seinen Mut. Alles Dinge, die ich sonst nicht oft mit ihm in Zusammenhang brachte.

Nachdem sich das Gespräch lange genug um ihn gedreht hatte, erzählte er mir, dass Hubertus, auf der Suche nach mir, ebenfalls bei ihm angerufen habe. Er hatte Zappa begeistert mitgeteilt, dass die Polizei in einem Versteck eine Sammlung meiner Bilder gefunden hatte, die ich während der Gefangenschaft gemalt hatte. Es waren zwölf Gemälde, die in der einen Woche entstanden waren. Hubertus musste bei der Verkündung kurz in Schnappatmung verfallen sein. Ein Dutzend Werke, die er für eine Menge Geld verkaufen konnte. Er hatte bereits potenzielle Käufer in der Hinterhand, die er nur anrufen musste.

Wir kehrten in einem großen Bogen nach Frankfurt zurück und näherten uns der Stadt von Norden aus. Auch wenn immer noch die Bedrohung durch einzelne Schlangenmenschen bestand, die mich trotz allem lieber als Mitwisser beseitigen wollten, sah ich doch einer passablen Zukunft entgegen. Mit dem Geld für die Bilder könnten Zappa und ich sogar eine Weile untertauchen. An einem Ort, an dem es keine Schlangen gab, egal in welcher Form und Größe.

Die Geschichte der Schlangenmenschen musste ich für mich behalten, das war kein leeres Gerede gewesen. Ich tat dies nicht nur, um ihr Geheimnis zu schützen, sondern auch um meiner selbst willen. Nicht vor Lukasch und seinen Leuten, sondern vor allem vor dem Rest der Welt. Andernfalls hätte sich mein Leben in ein Tollhaus verwandelt, weil mich jeder Verschwörungstheoretiker plötzlich für seinen Geistesbruder hielt und den Kontakt suchte. Ich wollte nicht zum Anziehungspunkt für alle Reptiloidengläubige auf diesem Planeten werden. Diese Geschichte wollte ich mit ins Grab nehmen. Doch immer wieder musste ich an die Worte des Schlangengottes Yig denken, über meine außergewöhnliche Kontaktfähigkeit, die ich besaß. Ich hoffte, dass nie jemand Gebrauch davon machen wollte.

Andreas Zwengel
Kinder des Yig



In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 Das Amulett von William Meikle

2102 Götter des Grauens von Roman Sander (Hrsg.)

2103 Das Mysterium dunkler Träume von Andreas Ackermann

2104 Stolzenstein von Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl

2105 Kinder des Yig von Andreas Zwengel

2106 Der dunkle Fremde von W. H. Pugmire



Andreas Zwengel


Kinder des Yig




Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2019 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kleudgen
Titelbild: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Vignette: Jörg Neidhardt
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-425-1

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



Prolog


Der Himmel über mir war ausgefüllt von einem monströsen Leib. Ein Anblick, der alle Maßstäbe sprengte. Es schien mir unfassbar, dass etwas so Großes sich so schnell bewegen konnte. Mein Schicksal und das aller Menschen um mich herum schien besiegelt. Die Zahl der Leichen war längst nicht mehr überschaubar, und nun sollte es mich treffen. Nach all den Qualen, dem ertragenen Leid. Nur wegen meiner Bilder, die Unglück über so viele gebracht hatten.

Der groteske Körper, der sich über mir erhob, nahm Farben an, wie ich sie nicht einmal auf meiner Farb­palette zusammenzumischen vermochte. So stellte ich mir radioaktive Neonfarbe vor. Gleißende Helligkeit erfüllte mein Sichtfeld und blendete mich durch die geschlossenen Augenlider. Ich drehte mich zur Seite, versuchte mich durch schmale Augenschlitze zu orientieren und erhaschte einen Blick auf Schuppenhaut, ölig und glänzend. Ich wünschte so sehr, ich könnte alles ungeschehen machen. Aber an welchem Punkt hätte ich es noch verhindern können? Welcher war der Moment, an dem ich die falsche Entscheidung traf? Oder hatte ich überhaupt nicht die Möglichkeit gehabt, einen anderen Weg einzuschlagen? Sollte dies tatsächlich das Ende sein?

Aber der Reihe nach ...



Kapitel 1


Vom Fenster meines Ateliers aus, das sich in einem ehemaligen Bürogebäude befand, konnte ich über ganz Frankfurt blicken. Ich musste damals eine Menge Geld für diese Aussicht hinblättern, aber jeder Cent hatte sich gelohnt. Ich hatte mir die oberste Etage gesichert, bevor sie mir irgendein neureiches Arschloch wegschnappen konnte. Obwohl die Beschreibung zu dieser Zeit auf auch mich zugetroffen hätte.

Hubertus, mein Agent, hatte bis zuletzt versucht, mir meinen Umzug hierher auszureden. Ich konnte ihn gut verstehen, er hatte keine Lust, ständig den weiten Weg von seinem Büro im Ostend bis hier nach Griesheim machen zu müssen, wenn er meine neuesten Bilder sehen wollte. Oder um mir, wie er sich ausdrückte, gehörig in den Hintern zu treten, wenn ich die Malerei mal wieder zu sehr schleifen ließ.

Aber noch mehr als die Entfernung regte ihn meine Arbeitsweise auf. Es gibt Künstler, die gelegentlich eine kreative Blockade haben oder einfach vor ihrer Leinwand sitzen und darauf warten, dass sie die Muße küsst. Zu meinen besten Zeiten kannte ich nichts von all dem, meine Inspiration war ständig präsent. Ich lieferte meine Bilder bei Hubertus ab, er stellte sie aus und verkaufte sie. Dann begann alles wieder von vorne. Ich war eine kleine ­Fabrik, die nur noch produzierte, ohne darüber nachzudenken, weil das Publikum ständig nach mehr verlangte. ­Welcher Künstler arbeitete denn ausschließlich für sich selbst? Gut, es gab immer noch die alte Erregung, wenn man ein Bild fertig hatte und feststellte, dass es gut war. Aber was geschah dann? Man warf es den Wölfen zum Fraß vor, die sich darüber hermachten, es interpretierten und zerredeten. Anschließend ging man wieder an die Arbeit, damit ihr Hunger nicht zu groß wurde. Manchmal habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, nur noch für mich zu arbeiten. Ich würde meine Bilder nirgendwo ausstellen, sondern sie nur ansehen und nach ein paar Tagen verbrennen, damit sie nur noch in meinem Kopf existierten. Eine schöne Vorstellung, nur zahlte niemand dafür. Ich schämte mich nicht für diesen Gedanken. Wie jeder andere Mensch brauchte auch ich Geld zum Leben und wie jeder andere Künstler, wollte auch ich für meine Arbeit bezahlt werden.

Die Wände meiner Wohnung waren angefüllt mit den Zeugnissen meines Schaffens. Ich hatte vergrößerte Covers von Büchern, Musikalben, Hörspielen und Film-DVDs aufgehängt, auf denen meine Bilder ganz oder in Ausschnitten verwendet worden waren. Meine großen Erfolge lagen bereits fünf Jahre zurück und bei einem Siebenundzwanzigjährigen wirkte das irgendwie merkwürdig. Dass ich in so jungen Jahren Berühmtheit erlangt hatte, lag an einer zweijährigen, drogenbeflügelten Schaffensphase, in der ich mehr Bilder schuf, als manch andere Künstler in ihrem Lebenswerk vorzuweisen hatten. Allerdings hatte mich diese Lebensphase auch beinahe das Leben gekostet, weil ich über die Malerei leider das Essen und das Schlafen vergaß.

Die Drogen und der Schlafmangel trieben meinen Körper an seine Grenzen. Ich lag nachts wach, und wenn ich morgens aufstehen wollte, drückte mich eine graue Macht auf die Matratze herab. Den Tag über schleppte ich mich todmüde herum, konnte aber nicht einschlafen. Gegen Abend fiel ich dann meist in einen Schlaf, der eher einer Bewusstlosigkeit ähnelte und höchstens zwei oder drei Stunden anhielt, bevor das Spiel wieder von vorne begann. Ich hatte in dieser Zeit Augenringe, die aussahen wie mit Mascara gezeichnet. Ich verlor eine Menge Gewicht, aber leider an Stellen, die mich nur noch kränker aussehen ließen. Mit zweiundzwanzig war ich ein erfolgreicher Maler und ein Drogensüchtiger gewesen. Zwei entgegengesetzte Enden dessen, was Eltern von der Zukunft ihrer Kinder erwarteten können. Jetzt, fünf Jahre später, war ich beides nicht mehr.

Von dem Geld für meine Bilder war mir nicht viel geblieben. Vieles war durch meine Nase gewandert, einiges sogar in meine Venen. Glücklicherweise hatte ich die Wohnung gekauft, bevor mir das Geld für die Miete fehlen konnte und ich auf der Straße landete. Natürlich hätte ich sie damals verkaufen können, um an Geld zu kommen, aber das war mir viel zu aufwendig. Dank meiner Trägheit besaß ich heute noch ein Dach über dem Kopf, und ich legte auch nicht mehr so viel Wert darauf, als ernst zu nehmender Künstler gesehen zu werden.

Mein Agent ermutigte mich, auf jede erdenkliche Weise Geld zu verdienen, um meine Kreditwürdigkeit zu erhalten. Aus diesem Grund füllten halb fertige ­Auftragsarbeiten meine Wohnung, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, sie zu beenden. Es war abscheulich und seelenzermürbend. Ich sah flüchtig auf die leuchtend weiße Leinwand ganz hinten im Raum, die früher in mir das Bedürfnis erweckt hätte, ihre Leere zu überdecken, bis die letzte weiße Stelle verschwunden war. Heute konnte ich mich kaum noch dazu aufraffen, den Pinsel in die Hand zu nehmen.

Hubertus beherrschte meinen WhatsApp-Eingang. Ob es eine App dafür gab, im Zwanzig-Sekunden-Takt Nachrichten an eine Adresse zu verschicken? Auf der Mobilbox befand sich eine weitere Sprachnachricht meines Agenten. Er redete in einem Tonfall, bei dem man förmlich hörte, wie er mit den Augen rollte. „Ich weiß, du bist Künstler, und schnöder Mammon ist nur für Leute unterhalb deiner Existenzebene von Belang, aber um es mal salopp zu formulieren: Du bist vollkommen pleite. Wenn du kein Geld verdienst, verdiene auch ich keins und zufällig mag ich Geld. Sehr gerne sogar. Meine Frau mag Geld und meine Kinder ebenfalls. Wenn ich ihnen kein Geld geben kann, dann mögen sie mich nicht mehr. Also steig von deinem hohen Ross, komm die Stufen von deinem Elfenbeinturm herunter und mach dich an die Arbeit. Ich habe einen Auftrag in Aussicht, der uns beide für eine Weile glücklich machen könnte. Du sollst für einen reichen Exzentriker eine neue Version eines der Gemälde malen. Der Kerl hat den schönsten Satz gesagt, den die deutsche Sprache zu bieten hat: Geld spielt keine Rolle. Hast du das verstanden, Silas? Geld spielt keine Rolle. Wunderschön. Also melde dich, du Mistkerl!“

So oder ähnlich klangen alle seine Nachrichten. Man konnte Hubertus wirklich nicht vorwerfen, dass er um den heißen Brei redete und seine wahren Beweggründe verschleierte. Ich fand, diese Direktheit stellte eine seiner sympathischsten Eigenschaften dar. In Gedanken machte ich mir eine Notiz, die Sprechzeit der Anrufer auf meiner Sprachbox zu reduzieren.

Des Geldes wegen hatte ich mich einmal an einem Cartoon­wettbewerb versucht, der ebenfalls unter dem Motto Geld spielt keine Rolle ausgeschrieben wurde. Ich zeichnete eine Geldrolle vor einer Castingjury mit der Bildunterschrift: Also von mir gibt es ein Nein. Keine Ahnung, ob ich damit eine Chance gehabt hätte. Ich werde es nie erfahren, denn ich verpasste den Einsendeschluss.

Mein Handy klingelte. Vorsichtshalber blickte ich auf die angezeigte Nummer, bevor ich ranging. Mein Freund Zappa bot an, sich ins Nachtleben zu stürzen. Ich warf einen Blick auf die Arbeiten, die dringend erledigt werden mussten, und sagte zu.

Eine Viertelstunde später öffnete ich die Wohnungstür, um das nervtötende Dauerklingeln abzustellen und Zappa hereinzulassen. Grußlos schlurfte er an mir vorüber, direkt auf den Kühlschrank zu. Er betrachtete meine Wohnung nur als Verlängerung seiner eigenen.

Zappa hieß eigentlich Frank. Der Spitzname entstand, nachdem er sein Äußeres dem des legendären Frank Zappa angepasst hatte. Glaube ich. Möglicherweise lief es auch andersherum und er ließ Haare und Bart erst wachsen, nachdem sich der Spitzname durchgesetzt hatte.

„Wohin führst du mich heute Abend aus, Darling?“, fragte ich.

Zappa hob kurz den Kopf über die offene Kühlschranktür, um mit den Schultern zu zucken. Sprechen konnte er mit vollem Mund nicht. Auf dem Höhepunkt meines Erfolges lebten wir beide gut von den Gewinnen. Zappa nahm es, wie es kam. Wenn teurer Wodka auf den Tisch kam, trank er den ebenso wie den billigsten Fusel aus dem Discounter. Hatte jemand eine Line gezogen, stellte er sich sofort in die Schlange. Waren keine Drogen verfügbar, akzeptierte er das ohne Murren. Er erwartete nichts von anderen, freute sich, wenn es etwas gab, und teilte selbst aus, wenn er etwas verteilen konnte. Er ließ sich einfach treiben und vom Zufall überraschen. Zukunftspläne machte er niemals. Wenn es einem gelang, ­Zappas Persönlichkeit zu akzeptieren, konnte man durchaus Spaß mit ihm haben.

Mein Telefon begann wieder zu klingeln, und Zappa wies mit dem Kinn auf den Störenfried. „Willst du nicht rangehen?“, fragte er kauend.

Ich schüttelte den Kopf. „Das ist sicher Hubertus. Er will mir wegen irgendwelcher Abgabetermine auf die Nerven gehen.“

Das Klingeln endete und setzte sich kurz darauf auf meinem Handy fort. Ich ging ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Diesmal endete das Klingeln schneller, offenbar hatte mein Agent endlich verstanden, dass ich nicht mit ihm reden wollte. Beziehungsweise keine Lust hatte, mir seine Vorträge und Appelle anzuhören.

Als ich mich umdrehte, stand Zappa in der Tür und streckte mir mein Handy entgegen. „Für dich.“

Das war einer dieser Moment, in denen Zappa einen fassungslos machte. Ohne jedes Gespür für die Situation tat er mit unglaublicher Zielsicherheit genau das Falsche. Seufzend nahm ich das Handy entgegen. „Wer ruft denn um diese gottlose Zeit an?“, meldete ich mich.

„Herr Czerny?“

Überrascht stellte ich fest, dass es sich nicht um ­Hubertus handelte. „Ja“, bestätigte ich und hörte ein erleichtertes Seufzen am anderen Ende der Leitung.

„Sie glauben gar nicht, wie erleichtert ich bin, Sie endlich erreicht zu haben.“

„Ach ja?“

„Mein Name ist Gernroth, ich möchte Sie gerne engagieren, um ein Bild zu malen.“

„Was Sie nicht sagen.“ Das war also dieser liquide Exzentriker, den mein Agent mir angekündigt hatte. Noch war ich nicht besonders interessiert, obwohl es mich überraschte, dass sich jemand solche Mühe gab, mich zu engagieren.

„Ich habe Ihre Arbeit gesehen, Sie wissen schon, dieses Porträt, das Sie von der Sängerin angefertigt haben, die sich umgebracht hat. Ich möchte ...“

Ich legte auf.

„Wer war es?“, fragte Zappa.

„Falsch verbunden.“

Zappa merkte, dass etwas nicht stimmte, sagte aber nichts. Bei seltenen Gelegenheiten besaß er eine äußerst sensible Antenne für die Stimmung seiner Mitmenschen und wusste, wann es besser war, den anderen in Ruhe zu lassen. Die meiste Zeit benahm er sich allerdings so sensibel und empathisch wie ein Stück Holz.

Während ich meine Schuhe zuschnürte, schweiften meine Gedanken fünf Jahre in die Vergangenheit zurück. Zu Sybille, an die der Anrufer meine Erinnerung geweckt hatte. Man sagt, die größten Gefühle im Leben seien Liebe und Hass, und ich glaube, ich erkannte Sybilles Liebe an dem Tag, als sie mich bat, sie zu erschießen. Dabei hatte unsere Beziehung auf rein geschäftlicher Basis begonnen und niemand hatte erwartet, dass sie sich so entwickeln würde, wie es letztlich geschehen war.

Sybille machte damals gerade Karriere als Sängerin und hatte mit ihrem ersten Album einen Achtungserfolg gehabt. Sie sah phantastisch aus und konnte, im Gegensatz zu den Photoshop-Schönheiten, die regelmäßig die Charts stürmten, auch noch singen. Sie wollte von mir ein Bild für das Cover ihres zweiten Albums und ließ nicht locker. Eigentlich war das noch eine Untertreibung, denn sie verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Ein merkwürdiges Gefühl, wenn man von einem Star gestalkt wird. Eigentlich müsste es dafür einen eigenen Ausdruck geben. Aber das kam wohl zu selten vor, als dass sich jemand die Mühe machte, dafür einen Begriff zu prägen. Irgendwann stellte ich sie zur Rede und fragte sie, warum sie sich nicht an ein Grafikbüro wandte, das ihr sicher weiterhelfen konnte. Aber seit sie in meiner Ausstellung gewesen war, hatte sie es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, dass ich dieses Bild malen würde. Ich erklärte ihr, dass ich keine Auftragsarbeiten übernahm und keine Lust hatte, mich unter Zeitdruck setzen zu lassen, doch es half nichts. Sie war dickköpfig wie ein Maulesel und sogar bereit, dafür mit mir ins Bett zu gehen. Nicht, dass es eine Frau unzumutbare Überwindung kosten würde, mit mir zu schlafen, aber ich war doch überrascht, dass sie so weit zu gehen bereit war. Lange Rede, kurzer Sinn, ich ließ mich schließlich breitschlagen, das Bild zu malen. Ohne die ausgesetzte Belohnung in Anspruch zu nehmen, denn ich besaß einen gewissen Stolz. Damit ich nicht zu edelmütig und enthaltsam erscheine, muss ich gestehen, dass ich auf dem Zenit meines Erfolges in dieser Hinsicht keinen Mangel litt. Ich beschränkte mich also auf Geld als Bezahlung, was es für Hubertus auch leichter machte, seine fünfzehn Prozent abzuziehen.

Sybille räumte mir die bestmöglichen Bedingungen ein, ich hatte so viel Zeit, wie ich wollte, und bekam eine wirklich ansehnliche Summe gezahlt. Als das Album endlich erschien, wurde ich sogar in zwei wohlwollenden Kritiken erwähnt, die aber auch laut darüber nachdachten, was einen halbwegs etablierten Künstler wie mich dazu veranlasst haben könnte, mich für diesen Auftrag herzugeben. Das Wort mit drei Buchstaben wurde nicht offen genannt, aber es strahlte deutlich zwischen den ­Zeilen hervor. Jedenfalls wurde das Album ein Erfolg und mein Bild hing vervielfältigt überall in den Geschäften und an Plakatwänden. Ein merkwürdiges Gefühl und nicht unbedingt ein gutes. Es brachte mir deutlich mehr Aufmerksamkeit, als gewünscht.

Etwa ein Vierteljahr später knallte ihr ein Arzt, und zwar ein besonders einfühlsamer Vertreter seiner Zunft, brutal seine Diagnose an den Kopf. Krebs. Ihr Körper war damals schon derart mit Metastasen durchsetzt, dass Chemo­therapie oder andere Behandlungen nutzlos wären, und noch am selben Abend flehte sie mich an, sie zu erlösen. Als sie den schweren sechsschüssigen Colt aus der Tasche zog und zwischen uns auf den Tisch legte, wusste ich, dass sie es ernst meinte. Sie sagte, ich sei der Einzige, den sie darum bitten könne. Ich nahm ihr die Waffe ab, versuchte, sie zu beruhigen, und von ihrem Vorhaben abzubringen, aber sie rannte einfach davon. Das war das letzte Mal, dass ich sie lebend zu sehen bekam. Zwei Wochen später erfuhr ich von ihrem Selbstmord aus der Zeitung. Sybille hatte sich in einem kleinen Hotel in die Badewanne gelegt und ihre Pulsadern geöffnet. Wahrscheinlich die angenehmste Art, wenn man entschlossen war, sein Leben zu beenden, und es allein machen musste. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass sie nicht lange gelitten hatte, und mochte nicht daran denken, dass ich ihr die letzten Tage durch meine Unterstützung hätte erleichtern können.

Nach der Beerdigung wollte ich nur weg aus Deutschland, denn ich hielt es nicht mehr aus. Durch den ­Selbstmord waren die Plattenverkäufe ihres Albums noch einmal in die Höhe geschnellt, und überall hing das Porträt, das ich von ihr gemalt hatte. Es war, als würde mich ihr Gesicht auf Schritt und Tritt verfolgen, bis ­hinein in meine Träume. Mein Agent versuchte, mich davon zu überzeugen, dass dieser Boom nicht lange anhalten würde. Er meinte, ich würde es mit der Zeit vergessen können. Das war leichter gesagt als getan, und ich brauchte noch einige Monate, bis ich einigermaßen damit fertig geworden war. Es war schon seltsam, aber ich spürte meine Liebe für sie erst, als sie schon tot war. Vorher hatte ich mir nie richtig darüber Gedanken gemacht, was ich für sie empfand, und erst als es zu spät war, wusste ich es endlich.

„Wie sieht’s aus? Ich kriege Durst und du hast keine Bier mehr“, verkündete Zappa und leerte die letzte Flasche aus meinem Kühlschrank.

Ich erhob mich und nickte bereitwillig. Es wurde Zeit, auf andere Gedanken zu kommen.