Verfluchte

Mahnmale

und

Gedenkstätten

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Anthologie

 

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Die Namen und Handlungen sind frei erfunden.

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www.verlag-der-schatten.de

Erste Auflage 2018

© Coverbilder: Fotolia t0m15, Juhku

Covergestaltung: Verlag der Schatten

© Bilder: Bettina Ickelsheimer-Förster (Steinplatten, Grab mit Säulen), Mona Ickelsheimer (Zeichnung Kreuz), Stefanie Bernhardt Photography: www.stefanie-bernhardt.de (Kreuz), Stefan-Xp (Pestkreuze), Wolfgang Moroder (Kreuzweg), BT-IF (Keltenlabyrinth), Oliver Borchers (Steinkreuz), Nora Olsen (Gräberbaum), Volkmar Nedorn (Zeichnung Engel) Fotolia Angelika Bentin (Hintergrund Zeichnung Kreuz), Denis Rozhnovsky (Hintergrund Zeichnung Kreuz), dudlajzov (Turm), Martin Debus (Grabstein), Pierre (Statue Monster), Tina (Statue), Martina Berg (Grabsteine), Metod (Statue Hollstein), osap1111 (Insel), Viacheslav (Canyon), Christopher Eyton (Kamin), hanneliese (Statue Engel)

Lektorat: Verlag der Schatten

 

© Verlag der Schatten, 74594 Kressberg-Mariäkappel

printed in Germany

ISBN: 978-3-946381-54-9

 

 

 

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Verlassen stehen sie da. Niemand hat sie seit Jahren beachtet.
Kein Mensch kümmert sich mehr darum.


Die Steine sind verwittert, die Inschriften oft kaum mehr lesbar. Gras, Moos, wild aufgegangene Bäumchen oder Sträucher verdecken sie beinahe …


Doch nicht nur von der Welt fast vergessene Mahnmale und Gedenkstätten bergen die verschiedensten Geheimnisse. Auch hinter Grabsteinen stecken oft mysteriöse bis gruselige Geschichten. Und manchmal ist sogar ein uralter Turm, eine Schlucht oder eine Zeichnung im Stein etwas anderes, als es zu sein scheint.


Neugierig geworden? Dann folgt uns einfach und betrachtet die einzelnen Mahnmale oder Gedenkstätten. Lasst euch überraschen, welche Mysterien die Geschichten jeweils aufdecken werden.

 

Ein gruseliges Lesevergnügen wünscht

das Team vom Verlag der Schatten

 

Inhalt

 

Roland Mörchen: Gefangener des Turms

Nicola Hölderle: Wand’rer flieh!

Andreas Dörr: Zeitgrab

Mark Christjani: Bannwald

Nele Sickel: Schattenspiel

Eugene Hatwas: Die dunklen Künstler

Oliver Henzler: Am Ende des Kreuzwegs

Dennis Kohl: Hollstein

Michael Rapp: Keltenlabyrinth

Tanja Mandelt: Die Insel

Oliver Borchers: Annas Kreuz

Gabriel Maier: Das Grab von Big John McKenzie

Nora Olsen: Der Baum der Gräber

Bernhard Finger: Die Rückkehr

Bettina Ickelsheimer-Förster: Die Totensammler

 

 

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Roland Mörchen: Gefangener des Turms

 

»Das ist also der sagenhafte Turm, über den du dein Buch schreibst.« Adrian richtete seinen Blick nach oben. Der Bau sah unscheinbar aus. Einen Turm aus alter Zeit wie diesen gab es Dutzende im Land.

»Es stimmt, was ich dir erzählt habe«, sagte Ernest. »Der Eingang wurde zugemauert, damit niemand den Turm besteigen kann.«

»Wahrscheinlich ist das alte Ding baufällig«, erwiderte Adrian.

»Das ist ja so eigenartig an diesem Ding. Der Turm steht da, als sei der Bau eben erst vollendet worden. Keine Verwitterung, keine Risse, einfach gar nichts.«

»Wer’s glaubt.«

»Mehrere Experten haben es unabhängig voneinander bestätigt. Ein Zweifel ist ausgeschlossen.«

»Aus welchem Jahr soll dieses Monument stammen?«

»Fürst Ismar von Hagenrupp ließ es 1054 erbauen.«

»Und er soll wirklich seine Frau darin eingemauert haben?«

»So ist es verbürgt. Sie war zu jung für den alten Knacker und hat ihn nach Strich und Faden betrogen. Als der Fürst davon Wind bekam, mauerte er die Ehebrecherin irgendwo in der dicken Turmwand ein – lebendig.«

»Ach, solche Schauergeschichten gibt es hundertfach, genau wie diese Türme.«

»Wie erklärst du dir dann, dass der Turm nicht verwittert?«

»Sag du es mir!«

»Das Blut der jungen Frau fließt in den Mauern, es erhält den Turm.«

Adrian musste laut auflachen.

Ernest fuhr jedoch unbeirrt fort: »Nachdem Ismar von Hagenrupp gestorben war, interessierten sich einige Edelleute für den Turm. Aber jeder, der die Wendeltreppe bestieg, kam zwar oben auf der Plattform an, aber nie wieder aus dem Turm heraus. Bald fürchtete sich die Bevölkerung vor dem Fluch, der auf diesem Gebäude bis heute liegt, sodass ein Mönch namens Pankraz den Eingang zumauern ließ.«

»Warum hat er den Turm nicht einfach niedergebrannt?«

»Weil er den Zorn des toten Fürsten fürchtete.«

»Und warum reißt ihn heute niemand ein?«

»Er steht unter Denkmalschutz.«

»Weißt du, was ich glaube? Dass deine Fantasie mit dir durchgeht.«

»Ach ja? Vor drei Jahren kam ein Geschichtsforscher her, um den Eingang aufzubrechen und den Turm zu besteigen.«

»Na und?«

»Man hat nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört.«

»Jetzt reicht’s aber! Ich hol einen Hammer aus dem Kofferraum meines Autos. Du sollst sehen, dass ich den Turm mopsfidel wieder verlassen werde.«

Vom Turm herab krächzte eine Krähe.

 

Mit kräftigen Schlägen bearbeitete Adrian den Stein. Das Mauerwerk, das den Eingang erneut verschloss, war erstaunlich widerstandsfähig. Adrian kam ins Schwitzen, während Ernest vergeblich versuchte, den Freund umzustimmen. Endlich gelang es Adrian, ein Loch in die Mauer zu hauen, das groß genug für ihn war. Ernest bemühte sich, ihn festzuhalten, doch der Freund schüttelte ihn ab und schlüpfte durch die Öffnung in den Turm.

Der Treppenaufgang war ziemlich eng und bot für mehr als eine Person wenig Platz. Die steinernen Stufen hallten unter Adrians Schritten. In gewissen Abständen befanden sich kleine Öffnungen – wie Schießscharten – in der Mauer, die immerhin etwas Licht in diese Dunkelheit brachten. Adrian zählte die Stufen: Eins, zwei, drei, vier … Bei hundertsiebzig machte er eine Verschnaufpause. Ein wenig unheimlich war ihm schon, wie er sich eingestehen musste. Nichts regte sich, alles blieb mucksmäuschenstill. Besonders irritierte ein teils süßlicher, teils modriger Geruch, der nicht den Mauern entströmte, sondern überall in der Luft zu liegen schien. Wenn er sich noch lange in diesem Turm aufhielt, würde ihm bestimmt übel werden. Auf der Plattform konnte er frische Luft schnappen. Also ging er weiter. Hunderteinundsiebzig, hundertzweiundsiebzig, hundertdreiundsiebzig … Er zählte genau dreihundertzweiundfünfzig Stufen. Mehr als geglaubt.

Über ihm befand sich eine Luke aus Holz, die sich leicht öffnen ließ. Sie war weder morsch, noch knarrte sie. Sobald er das helle Tageslicht sah und die frische Luft in seine Lungen sog, fühlte er sich wie befreit.

Unten erstreckte sich der Wald. Dort hinten lag das Dorf. Sogar die angrenzenden Berge waren deutlich zu erkennen.

Adrian schaute hinunter. Da stand Ernest. Von hier oben sah er ziemlich geschrumpft aus. Er stimmte ein Jubelgeschrei an und fuchtelte wild mit den Armen.

Ernest winkte zurück und machte Zeichen, er solle schleunigst herunterkommen.

Adrian ließ seinen Blick noch einmal über die Gegend schweifen, dann begann er mit dem Abstieg.

Der Gestank war stärker geworden. Das fiel ihm sofort auf. Er musste würgen, fingerte nach seinem Taschentuch und presste es auf Mund und Nase.

Adrian nahm hier und da zwei Stufen der Wendeltreppe auf einmal, während er sich linker Hand an der Mauer abstützte, um nicht zu stolpern.

Immer schneller hastete er nach unten, ohne den Ausgang zu erreichen. Wie lange rannte er nun schon so? Wie viele Stufen hatte er übersprungen?

Nur nicht die Nerven verlieren, ermahnte er sich selbst. Doch der Mut schwand, die Angst kroch in seine Glieder. Er hatte das Gefühl, schon eine Ewigkeit diese Treppe hinunterzurennen. Sollte er am Ausgang vorbeigelaufen sein? Befand er sich womöglich längst im unterirdischen Teil des Turms? Als er durch das Loch in der Mauer kroch, hatte er flüchtig gesehen, dass da auch Stufen nach unten führten.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Treppe wieder hinaufzusteigen.

Adrian fühlte sich erschöpft, und die Übelkeit setzte ihm zu. Er verlor jedes Empfinden für die Zeit. Es dauerte so lang, unendlich lang.

Als er sich zum erneuten Aufstieg entschloss, begann er instinktiv, die Stufen zu zählen. Seine Schritte wurden langsamer, die Beine schwerer. Dreihundertneunundvierzig, dreihundertfünfzig, dreihunderteinundfünfzig, dreihundertzweiundfünfzig …

Da war kein Ausgang gewesen, und die Treppe führte noch immer weiter hinauf. Bei vierhundertsechzehn war immer noch kein Ende in Sicht.

Adrian setzte sich erschöpft auf eine Stufe. Er verstand nicht, was da vor sich ging. Er weinte hemmungslos, musste sich übergeben und schrie um Hilfe.

Endlich versuchte er sich zu beruhigen. Das ist ein Trick, dachte er. Na klar, Ernest hatte ihn bestimmt hereingelegt. Nur wie stellte er es an, dass man weder unten noch wieder oben ankam?

Zitternd stand er auf und lief hinab. Bei vierhundertdreiundzwanzig Stufen hörte er zu zählen auf. Er konnte die Treppe kaum noch sehen, weil es dunkler geworden war. Er meinte aber, Stimmen jammern zu hören, und legte sein Ohr ans Mauerwerk.

Er zuckte zurück. Die Stimmen kamen wahrhaftig aus dem Gestein! Ganz deutlich unterschied er die Klage einer Frau von wimmernden Männerstimmen.

Adrian bebte vor Angst am ganzen Körper. Fast schien er wahnsinnig zu werden.

Die Öffnungen, die wie Schießscharten aussehen …, fuhr es ihm durch den Sinn. Natürlich, warum hatte er nicht daran gedacht? Von wegen Stimmen! Der Wind pfiff durch die Öffnungen. Wo war doch gleich die nächste? Er hastete weiter die Stufen hinab, bis er eine fand, und schaute hindurch.

Draußen war alles dunkel. Er hörte nur das Rauschen des Windes in den Baumkronen, die ihm ganz nah schienen.

Aber das konnte doch nicht sein! Adrian musste sich seiner Schätzung nach in Bodennähe befinden und nicht auf der Höhe der Baumkronen.

Er rief nach Ernest, schrie den Namen des Freundes entsetzt in die Nacht hinaus.

Keine Antwort.

Weinend rannte er die Stufen weiter hinab. Er wäre in der Finsternis beinahe gestolpert und hätte sich den Hals brechen können. Das Jammern in den Mauern schwoll an, und an der nächsten Öffnung schrie er sich die Seele aus dem Leib.

 

Als Adrian nicht aus dem Turm zurückkam, näherte sich Ernest vorsichtig dem Eingang. Doch all sein Rufen nach dem Freund nützte nichts.

Ernest lauschte, hörte aber weder Schritte noch sonst etwas, was auf Leben hingedeutet hätte. Da er selbst den Turm nicht zu besteigen wagte, alarmierte er die Behörden und nahm die Helfer auf dem Parkplatz in Empfang. Ein einzelner Mann erklärte sich nicht zur Suche nach dem verschollenen Adrian bereit. Aber Truppen rückten an, die eine Menschenkette von unten bis auf die Plattform bildeten. Genau hundertneunundneunzig Personen waren nötig, mehr Stufen gab es nicht. Adrian blieb verschwunden.

Nur über das Erbrochene wunderte man sich. Die Hoffnung, Adrian könnte während Ernests kurzer Abwesenheit den Ausgang gefunden haben, erwies sich als irrig.

 

 

Roland Mörchen, geboren in Nordrhein-Westfalen, studierte Theologie und war Fachzeitschriftenredakteur sowie Theaterdramaturg. Seine Autorentätigkeit umfasst Artikel über Film, Musik und Literatur in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, DVD-Booklets, Filmliteratur, Kinderbücher, einen Kriminalroman und Gedichte. Außerdem schreibt er Theaterstücke, meist mit einem Co-Autor. Er lebt in Hildesheim, wo er auch Lehraufträge an der Universität wahrnimmt.

 

 

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Nicola Hölderle: Wand’rer flieh!

 

26. Juli 1979

 

Der Tag war ein derart perfekter Sommertag, dass er schon einem Klischee glich. Ein vergissmeinnichtblauer Himmel, über den ein paar kleine Federwölkchen strichen. Zirpende Grillen in blühenden Wiesen. Schwalben auf der Jagd.

Petra allerdings sehnte sich nach dem Geruch von Sonnencreme und Chlor, nach einem Erdbeereis und, ja, auch nach Alex’ braun gebrannten Schultern. Leider saß sie gerade nicht auf ihrem türkisfarbenen Lieblingsbadetuch im Freibad, sondern in der Familienkutsche. Auch wenn sie schon seit einer Viertelstunde ihren Kopf aus dem geöffneten Fenster streckte wie ein hechelnder Hund, schwitzte sie wie verrückt.

Sie spürte, wie sich der klebrige Oberarm ihres kleinen Bruders von ihrem eigenen löste – ein echt ekliges Gefühl.

Die beiden teilten sich die Rückbank mit Oma Else. Die roch immer ein wenig nach ungelüfteter Kleidung, und man hielt besser Abstand von ihr, weil sie dazu neigte, einem in die Wange zu kneifen, bis es wehtat. Deshalb war Jan Petra auch so nah auf die Pelle gerückt, wie er konnte.

Petra seufzte. Wie langweilig und ätzend konnte der Tag eigentlich werden?

Erst wollte ihr Vater unbedingt eine örtliche Sehenswürdigkeit besuchen. Anschließend ging es jedoch nicht wenigstens weiter mit einem Eisbecher. Nein, nach der Kultur kam der Besuch bei Oma Elses Schwester Frieda, die in einem muffigen alten Haus wohnte und bei der es nur bitteren Bohnenkaffee zu trinken gab oder heiße Milch mit extra dicker Haut darauf. Petra schüttelte sich.

»Machst du bitte das Fenster zu, Petra?«, bat Oma Else. »Ich vertrage die Zugluft nicht.«

Petra rollte mit den Augen, aber in Richtung des Fensters, damit niemand es sehen konnte, dann kurbelte sie die Fensterscheibe hoch.

»In etwa fünf Minuten sind wir da«, kündigte ihr Vater an. »Es wird euch gefallen!«

Petra hegte ernsthaft Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Bemerkung. Unzählige Tagestouren zu vermeintlich kulturellen Höhepunkten der baden-württembergischen Landschaft hatten sie eines Besseren belehrt.

Römische Gutshöfe, die sich dann als unspektakuläre Steinmäuerchen entpuppten. Standbilder von bärtigen alten Herren, die irgendwann irgendeine Schlacht gewonnen hatten. Knöchelchen unter Glasstürzen von anderen alten Herren, die irgendwann irgendetwas Heiliges getan hatten …

Jan drehte sich auf dem Sitz herum, um dem Auto zuzuwinken, das hinter ihnen herfuhr, wegen der kurvigen Landstraße aber nicht überholen konnte, und boxte sie dabei unabsichtlich mit dem Ellbogen in die Rippen.

»Pass doch auf, Hirni!«, schimpfte Petra.

»PETRA!«, kam es unisono tadelnd vom Fahrer- und Beifahrersitz. Auch Oma Else hatte schon missbilligend die Lippen zusammengepresst, also schluckte Petra das »Aber …« herunter, das ihr über die Lippen wollte, und sah stattdessen wieder aus dem Fenster. Der Tag könnte so schön sein, sinnierte sie. Sie könnte jetzt mit Heike und Barbara auf der Wiese im Freibad sitzen, und vielleicht würde Alex ihr sogar den Rücken eincremen und … Was war das?

Das Auto beschrieb einen größeren Bogen und fuhr auf einen Wanderparkplatz. Ringsherum waren blühende Wiesen und ein angrenzendes Waldstück, in der Ferne lagen waldbewachsene Berge.

Ein paar Meter vom Parkplatz entfernt standen vier hölzerne Kreuze, eines davon größer als die anderen und mit einem zweiten Querbalken versehen, sowie ein alter Bildstock.

»Alle Mann aussteigen, wir sind da!«, verkündete ihr Vater.

Oma Else, Jan, Petra und ihre Mutter plumpsten mehr oder weniger aus dem stickigen Auto, und während die Erwachsenen sich noch reckten, auf den Zehen auf und ab wippten und ihre zerdrückte Kleidung glatt strichen, rannte Jan schon auf die Kreuze zu.

»Was steht da?«, fragte er und deutete auf eine kleine Hinweistafel.

»Blöd, wenn man noch nicht lesen kann, stimmt’s?«, antwortete Petra und genoss für einen kurzen Moment die Genugtuung, dann stieg ihr Vater aus, trat kopfschüttelnd näher und erklärte: »Vor dir siehst du die Pestkreuze zu Emmingen ab Egg, Jan. Sie wurden vor einigen hundert Jahren aufgestellt, als im Dreißigjährigen Krieg hier in der Gegend die Pest wütete.«

Jan hob die Brauen. »Warum? Und was ist das, die Pest?«

»Eine schlimme Krankheit, an der damals ganz viele Menschen gestorben sind«, erklärte die Mutter.

»Wie die Masern?«, fragte Jan.

Petra trat näher an die Kreuze heran. Auf einem stand in verwitterter altmodischer Schrift: »Wand’rer flieh! Hier haust die Pest!«. Trotz der sommerlichen Hitze spürte Petra, wie eine leichte Gänsehaut ihren Arm überzog.

Die Mutter lachte. »Nein, Schätzchen, nicht wie die Masern, viel schlimmer. Und glücklicherweise gibt es die Pest heute nicht mehr.«

Jan hüpfte von einem Bein auf das andere. »Wie die Dinosaurier?«

»Ja, genau wie die Dinosaurier.«

Petra las das Hinweisschild. »Wusstet ihr, dass diese Kreuze damals aufgestellt wurden, um Besucher der Gemeinde zu warnen?«, fragte sie.

Ihr Vater nickte. »Emmingen hatte ursprünglich fünfhundert Einwohner, aber nur ein knappes Viertel davon hat die Pest überlebt. Und das in bitterster Armut. Es finden heute noch jedes Jahr kirchliche Prozessionen statt, um an die schlimme Zeit zu erinnern.«

Die Mutter hakte sich bei ihm unter. »Was du nicht alles weißt …«, sagte sie. Der Vater lächelte.

Petra trat einen Schritt zurück und sah sich die Kreuze genauer an. Sie erschienen ihr düster und bedrohlich, trotz des fröhlichen Sommertages. Dunkel und schweigsam erhoben sie sich gegen den blauen Himmel. Petra fröstelte. »Können wir bitte gehen?«, fragte sie.

Auch Oma Else sah auf die Uhr. »Wenn wir rechtzeitig bei Frieda zum Kaffee sein wollen, sollten wir jetzt aufbrechen«, bemerkte sie.

Der Vater schaute lächelnd die Mutter an und raunte: »Ja, wer würde Tante Friedas ausgezeichneten Kaffee verpassen wollen?« Dann straffte er sich und rief: »Lasst uns gehen!«

Petra warf noch einen letzten Blick hinter sich, bevor sie ins Auto einstieg. Ein Tagesausflug zu den Pestkreuzen und Großtante Friedas »Kaffee des Todes«. Konnte es denn noch schlimmer kommen? Ja, Alex könnte gerade Barbara den Rücken eincremen …

Petras Gedanken verloren sich, während sie in der Hitze des Autos langsam wegdämmerte.

 

31. Oktober 1986

 

Jonathan strich sich die zerzausten Haare aus der Stirn. »Irgendwie hatte ich im ›Hades‹ auch schon mehr Spaß«, klagte er. »Die Leute da werden immer öder.«

Petra lachte. »Das sagst du doch bloß, weil Ullerich heute nicht da war«, neckte sie ihn, während sie in den dritten Gang schaltete.

»Nenn ihn nicht so, du weißt, ich mag das nicht«, beschwerte sich Jonathan.

Petra grinste. »Solange wir nicht wissen, ob er Erich oder Ulrich heißt, nenne ich ihn weiter Ullerich«, beharrte sie.

Jonathan seufzte. »Er ist so süß, ganz egal, wie er heißt.«

»Da muss ich dir recht geben«, stimmte Petra zu, während sie den VW Golf durch die Dunkelheit steuerte.

Jonathan warf ihr einen Seitenblick zu und nestelte an seinem langen roten Mantel. »Und was ist mit diesem Christoph?«, fragte er.

Petra rollte mit den Augen. »Ach der! Treibt sich seit Neuestem mit einer aus der Fachschaft herum. Groß, blond, dicke Möpse …«

Jonathan kicherte, dann wurde er wieder ernst. »Ich bleibe dabei: heute nur Langweiler im ›Hades‹

»Irgendwie schon«, fand Petra. »Zu viele Psychs und Rockabillys für meinen Geschmack. Was ist aus dem guten alten Wave geworden? Überall nur noch merkwürdige Tollen und Petticoats, bah!« Sie schüttelte sich.

»Ja, die Jugend von heute …«, sinnierte Jonathan. »Kein Style mehr. Hören wahrscheinlich alle Shakin’ Stevens und den toten Mann aus Memphis.«

Petra prustete los.

Kurze Zeit später fuhren sie durch einen kleinen Ort, der gespenstisch verlassen wirkte. Nur aus wenigen Fenstern sah man einen Lichtschein auf die Straße fallen, was vielleicht auch daran lag, dass es bereits nach Mitternacht war.

Petra spähte durch die Windschutzscheibe. »Na, hier steppt auch nicht gerade der Bär«, bemerkte sie. »Da ist selbst in unserem Kuhdorf mehr los.« Sie betätigte den Scheibenwischer, weil es zu nieseln anfing, dann sah sie Jonathan an. »Hättest du Lust auf ein kleines Abenteuer?«, fragte sie.

Ihr Freund nickte. »Klar, warum nicht? Wenn du mich jetzt nach Hause fährst, lege ich sowieso bloß die Sisters of Mercy auf und werde deprimiert. Stelle mir vor, wie ein anderer dem Süßen die blonden Haare durchwühlt …«

Petra grinste und setzte den Blinker. »Prima, das wird dir gefallen. Ich war vor Jahren schon mal da. War echt gruselig.«

Jonathan zuckte mit den Schultern. »Solange es kein Friedhof ist …«

Petra schüttelte den Kopf. »Viel besser als das«, versprach sie. »Viel besser.«

Einige Minuten später fuhren sie auf einen verlassenen Wanderparkplatz.

»Gestatten: Die Pestkreuze!«, verkündete Petra.

Jonathan hob die Augenbrauen. »Ernsthaft?«, fragte er.

Sie nickte und deutete aus dem Fenster. »Um das hier zu genießen, müssen wir aber aussteigen«, sagte sie und öffnete die Autotür.

Jonathan zögerte einen Moment, dann folgte er ihr. »Du weißt schon, dass wir gerade jedes einzelne Horrorfilmklischee erfüllen?«, gab er zu bedenken.

Petra zog sich lachend die Kapuze ihres schwarzen Mantels über den Kopf und ging voraus.

Ihr Freund tat es ihr gleich und folgte ihr dann. »Wir verlassen an einem einsamen, unheimlichen Ort unser sicheres warmes Auto. Keiner weiß, wo wir sind, und vermutlich …«

»Pst!«, unterbrach ihn Petra und legte einen Finger an die Lippen.

Jonathan sah sich um. »Was denn? Hier ist doch niemand?«, wandte er ein.

Ganz leise hörte man Wasser von den entlaubten Bäumen tropfen. Ein schwacher, kalter Wind strich durch das dürre Herbstgras. Direkt hinter den Pestkreuzen stand ein bleicher, überraschend heller Halbmond am Himmel. Auf den umliegenden Wiesen waren vereinzelte Nebelstreifen zu sehen.

Jonathan zog fröstelnd die Schultern hoch. »Herrje«, sagte er, »das ist ja wie beim ›Erlkönig‹

Petra nickte. »Vor ungefähr tausend Jahren war ich in den Sommerferien mal mit meiner Familie hier«, erzählte sie. »Im Dreißigjährigen Krieg gab es wohl in den Dörfern in der Nähe eine Pestepidemie. Lies, was da steht!«

Jonathan nahm sein Feuerzeug zur Hand. Im flackernden Licht des kleinen Flämmchens las er vor: »Wand’rer flieh! Hier haust die Pest!« Er hob eine Augenbraue und sagte: »Das ist echt unheimlich, weißt du?«

Petra drehte sich um. Hinter ihnen lag der dunkle, stille Wald. Der Nebel auf den Wiesen schien dichter zu werden.

»Das muss furchtbar gewesen sein damals«, sinnierte Jonathan. »Der Krieg, der Hunger, die Seuche … Kein Wunder, dass die Menschen dachten, sie werden von Gott bestraft.« Er beugte sich hinab zum Fuß des Doppelkreuzes. »Und was ist das hier?«

Irgendjemand hatte dort einen kleinen Blumenstrauß abgelegt. Neben den verblichenen, halb verrotteten Herbstastern lagen ein verschrumpelter Apfel und ein Kanten Brot, auf dem Ameisen herumkrochen.

»Da hat wohl jemand sein Vesper vergessen«, vermutete Jonathan.

»Mein Vater hat uns irgendwann erzählt, dass die Kreuze den Punkt markierten, bis zu dem man sich dem Dorf gefahrlos nähern konnte. Damit die Kranken nicht auch noch kläglich verhungern mussten, hat man hier Nahrung für sie hingelegt«, berichtete Petra.

»Jetzt hast du es geschafft«, murmelte Jonathan und zog den Mantel enger um sich. »Ich bin noch deprimierter als vor einer Stunde.«

Petra starrte plötzlich auf einen Punkt hinter seiner Schulter. »Ähm, Jon … Ich will dir wirklich keine Angst machen, aber ich glaube, dahinten am Waldrand steht jemand«, sagte sie.

»Jaja, schon gut. Du hattest deinen Spaß«, antwortete er und hob erneut eine Augenbraue. »Ich bin tatsächlich gebührend verängstigt.«

Petra schüttelte den Kopf und fasste Jonathans Arm. »Dreh dich langsam um«, sagte sie. »Dahinten steht jemand und beobachtet uns.«

Ihr Freund schnaubte. »Also, weißt du …«, begann er, aber dann siegte seine Neugier, und er drehte sich langsam um. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er den Waldrand ab.

Dort war tatsächlich ein dichter Schatten, der ungefähr die Form eines Menschen hatte. Und neben diesem erschien plötzlich noch einer.

»Die sind zu zweit«, hauchte Jonathan.

Der Nebel schien noch etwas dichter zu werden.

»Wir gehen jetzt langsam zum Auto«, wisperte Petra, »und dann machen wir, dass wir hier wegkommen.«

Jonathan nickte, aber er rührte sich nicht.

»Jetzt komm schon!«, raunte Petra. »Lass uns abhauen!«

»Ich kann mich nicht mehr bewegen«, flüsterte Jonathan. »Schockstarre«.

Petra zog ihn am Arm. »Hör auf mit dem Quatsch, komm!«, quetschte sie zwischen den Zähnen hervor, aber ihr Freund blieb wie angewurzelt stehen. »Jon, im Ernst, wenn du jetzt nicht deinen Hintern in Bewegung setzt, lass ich dich hier und fahr allein los!«, herrschte sie ihn an.

Einer der beiden Schatten begann sich in ihre Richtung zu bewegen.

»Na toll, jetzt haben sie uns bemerkt«, raunte Jonathan.

Der zweite Schatten folgte dem ersten. Sie glitten aus dem Dunkel der Bäume und begannen sich auf die Kreuze zuzubewegen.

Petra kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was da auf sie zukam, aber wegen des Nebels und der Dunkelheit konnte sie noch immer nur zwei vage menschenähnliche Schatten ausmachen. Sie packte ihren Autoschlüssel fester.

»Großer Gott!«, raunte Jonathan, als der erste Schatten sie erreichte.

Was sich dort am Fuß des Kreuzes niederkniete und versuchte den verschrumpelten Apfel und das alte Brot an sich zu nehmen, war früher wohl ein Mensch gewesen. Jetzt war es nur ein Schemen in zerlumpter Kleidung, barfuß und nahezu kahlköpfig. Am Hals der Kreatur waren dicke, schwarze Beulen zu sehen. Sie schien verzweifelt darum bemüht, sich das Brot in den zahnlosen Mund zu stopfen, und schwankte dabei vor und zurück. Das zweite Wesen glitt näher. Es trug ein verschlissenes Kleid aus ungefärbtem Leinen und war wie der erste Schemen barfuß. Der Oktoberwind zerzauste der Kreatur das dünne, rückenlange graue Haar und legte dabei auch an ihrem Hals schwarze Beulen frei. Sie bückte sich zum Fuß des Kreuzes hinab und schien mit der Hand über die verwelkten Blumen zu streichen, dann drehte sie den Kopf und blickte in Petras und Jonathans Richtung. Die Augen des Wesens waren komplett schwarz und unergründlich wie ein tiefer See bei Nacht. Das Gesicht war voller Runzeln und Falten, und obwohl es gänzlich ausdruckslos schien, hob die Gestalt nun anscheinend bittend die Hände.

Jonathan rührte sich noch immer nicht von der Stelle, zitterte aber mittlerweile wie Espenlaub. »Was machen wir jetzt?«, flüsterte er.

Petra blickte die beiden Wesen an, das eine, das noch immer verzweifelt schien wegen seines unstillbaren Hungers, das andere, dessen unausgesprochenen Wunsch sie nicht ergründen konnte, dann riss sie sich von dem Anblick los, griff nach Jonathans Hand und schrie: »LAUF!«

Das löste die Starre. Sie sprinteten zum Auto, warfen sich hinein, und Petra fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz auf die Straße. Sie sah erst in den Rückspiegel, als die Kreuze hinter ihnen im Nebel verschwunden waren.

Auf der Heimfahrt sprach keiner ein Wort.

Einige Tage später rief Jonathan Petra an. Er klang furchtbar.

»Meine Lymphknoten sind geschwollen«, klagte er. »Wahrscheinlich werde ich richtig krank. Wusstest du eigentlich, dass die Pest über Rattenflöhe übertragen wird?«

Petra lachte. »Jon, du bist ein solcher Hypochonder. Wahrscheinlich hast du dich einfach nur erkältet, als wir neulich nachts unterwegs waren. Oder wie meine Oma sagen würde: ›Kind, das kommt davon, wenn man sich verschwitzt in den kalten Wind stellt!‹.«

Jonathan hustete. »Ich meine es ernst. Wir wissen doch gar nicht, was diese … Dinger von uns wollten.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, entgegnete Petra.

»Du weißt ganz genau, was ich meine«, insistierte Jonathan. »Diese … Geister von diesen armen Menschen, oder was immer sie waren, die dort an diesen Kreuzen herumwaberten.«

Petra wechselte den Telefonhörer in die andere Hand. »Ich für meinen Teil habe nur Nebel und Schatten gesehen. Den Rest haben wir uns eingebildet, weil es dort draußen unheimlich war und wir zu viele Gruselfilme gesehen haben.«

»Was für eine Schnapsidee, dorthin zu fahren«, maulte Jonathan. »Und dann noch in der Nacht auf Allerheiligen. Kein Wunder, dass die …«

»Ich lege jetzt auf, Jon. Kurier dich aus, und wenn dein Fieber abgeklungen ist, kannst du mich wieder anrufen«, unterbrach ihn Petra und legte auf, Jons protestierendes »Nein, warte!« noch im Ohr.

 

Wie sich herausstellte, hatte sich Jonathan nicht nur eine einfache Erkältung eingefangen.

Seine Mutter, sonst üblicherweise kurz angebunden, wenn Petra anrief, weil sie die junge Frau nicht für den passenden Umgang für ihren Sohn hielt, war so besorgt, dass sie ausführlich Auskunft gab. »Er muss stark dosierte Antibiotika nehmen«, berichtete sie. »Und sein Fieber ist so schrecklich hoch. Er glüht geradezu. Seine Blicke irren durch den Raum, und er murmelt immer wieder etwas von Kreuzen. Kannst du dir darauf einen Reim machen?«

Petra verneinte. »Das kommt wahrscheinlich vom Fieber«, versuchte sie Jonathans Mutter zu beruhigen. »Ich bin sicher, er ist bald wieder fit.«

»Das hoffe ich«, antwortete Jonathans Mutter zweifelnd. »Pass gut auf dich auf, Petra«, sagte sie, dann legte sie auf.

Langsam und nachdenklich legte die junge Frau den Hörer auf die Gabel und sah zum Fenster hinaus. Draußen fegte ein kräftiger Novemberwind die letzten Blätter von den Bäumen. Regentropfen rannen die Fensterscheibe hinunter. Kein Wetter, um sich freiwillig draußen aufzuhalten.

»Mensch Jon, das mache ich echt nur für dich«, murmelte sie, dann zog sie sich Schuhe und Regenjacke über und machte sich auf den Weg.

 

Gute zwei Stunden später war das Wetter nicht wirklich freundlicher geworden. Auf der Fahrt nach Emmingen ab Egg schien es Petra gar, als gehe der stetige Regen langsam in Graupel über. Sie spähte angestrengt durch die Windschutzscheibe und hoffte, ihre abgefahrenen Autoreifen ließen sie nicht ausgerechnet heute im Stich. Im Radio lief der übliche Discofox-Mist, deshalb drückte sie die Kassette in den Kassettenrekorder. Laut »A question of time« von Depeche Mode mitsingend fuhr sie die kurvenreiche Straße entlang, bis sie den Wanderparkplatz erreichte.

Bevor sie ausstieg, griff sie auf den Beifahrersitz und nahm an sich, was sie mitgebracht hatte.

Mittlerweile hatte die Abenddämmerung eingesetzt, und der Regen hatte nachgelassen. In der Ferne hinter dunklen, tief hängenden Wolken, zeigte sich sogar noch ein Hauch von dunkelorangerotem Sonnenuntergang. Der Wind allerdings war schneidend kalt, und Petra bedauerte, dass sie nicht an einen Schal gedacht hatte. Sie zog die Schultern hoch, so weit sie konnte, und lief zu den Pestkreuzen.

Dort angekommen ging sie in die Hocke. Mit klammen Händen legte sie ein Körbchen ab, das mit Obst, einem kleinen Laib Brot und einer Räuchersalami gefüllt war. »Hoffentlich sieht mich keiner«, murmelte sie vor sich hin, während sie eine Vase mit roten und gelben Gerbera vor das Doppelkreuz stellte. Dann erhob sie sich und drehte sich langsam in Richtung Waldrand. Dort standen nur die Bäume, dunkel und still. Sie drehte sich wieder zu den Kreuzen um und senkte den Kopf. »Das ist für euch«, flüsterte sie. »Ich bin nicht sonderlich gut im Beten«, fuhr sie fort, »aber ich wünsche euch Frieden.« Sie verneigte sich kurz, dann ging sie zum Auto zurück und fuhr davon.

Kurze Zeit später kam der Nebel und hüllte die Gaben ein.

 

Einige Tage nach Petras Ausflug rief Jonathan an. »If there’s something strange in the …?«, begann er, dann hustete er wie ein alter Kettenhund. »Na, wen rufst du dann an?«

»Die ›Ghostbusters‹!«, antwortete Petra und lachte. »Hey, Jon, schön vor dir zu hören«, sagte sie dann. »Du klingst, als gehe es dir ein bisschen besser.«

»Mhm«, bestätigte Jonathan. »Fieber ist weg, hab wieder Hunger und kann echt keinen Husten- und Bronchialtee mehr sehen.« Sein Kichern ging sofort wieder in einen Hustenanfall über.

Petra lächelte.

»Muss mich noch ein paar Tage schonen. Kommst du vorbei? Wenn ich noch eine Folge ›Denver Clan‹ mit meiner Mama angucken muss, schreie ich.«

»Aber klar doch. Soll ich irgendwas mitbringen?«

»Alison. Bring Alison Moyet mit«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Mach ich.«

»Und Petra?«

»Ja?«

»Danke.«

Sie stutzte kurz, dann sagte sie: »Gern geschehen.«

 

 

Nicola Hölderle, geboren 1969, lebt mit ihrer Familie in Konstanz am Bodensee. Nach ihrer juristischen Ausbildung ist sie seit 1997 als Journalistin, Bloggerin und freie Autorin tätig. Sie liebt Bücher, Filme und Serien aus den Sparten Urban Fantasy, Horror und Mittelalter. Seit ihrer frühen Jugend schreibt sie selbst Geschichten, gerne mit Schwarzem Humor unterlegt, und ist ein großer Fan von Morticia Addams.

 

 

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Andreas Dörr: Zeitgrab

 

Ich war genau für zwei Minuten Vater eines Sohnes. Er starb in den Armen meiner Frau, die erschöpft von der Geburt und geschwächt auf dem Krankenhausbett lag. Das war nun ein halbes Jahr her.

Vor zwei Monaten beging meine Frau Selbstmord. Auch sie konnte ich nicht retten.

Obwohl mir jeder sagte, ich hätte beide nicht vom Sterben abhalten können, gab ich mir die Schuld. Erklären konnte ich es bis heute nicht, aber das Gefühl war da. Ließ mich seit Monaten nicht in Ruhe und quälte mich jeden Tag. Aus diesem Grund habe ich auch unsere gemeinsame Wohnung verkauft und bin in diese Stadt gezogen, die ich nun seit drei Wochen meine Heimat nennen durfte.

Heimat, welch komisches Wort, dachte ich, während meine Füße über den Waldweg schlenderten. Es war ein schöner, sonniger Frühlingstag. Nicht warm, aber auch nicht kalt. Einer jener Tage, an denen die Sonne den Raureif von den Wiesen taute und dort, wo sie nicht hinkam, dem Reif seinen Frieden ließ, sodass er nicht vernichtet wurde von den Strahlen des Feuerballs am Himmel. Ein schöner Anblick zwischen Schatten und Licht.

Ich blieb kurz stehen und betrachtete die ersten Knospen an einem Strauch neben mir. »Das Leben findet immer einen Weg«, sagte meine Frau oft zu mir. Welche Ironie doch in diesen Worten steckt, wenn man bedenkt, dass ihr Leben keinen Weg gefunden hatte, aus ihrer Trauer herauszukommen. Ich dachte darüber nach und berührte die Knospen. Dabei verspürte ich große Lust, sie einfach zu zerquetschen.

Erschrocken zwang ich mich zum Weitergehen. Ich musste diese Gedanken aus meiner Welt verbannen, denn ich hatte langsam das Gefühl, dass sie die Überhand über mich und über mein Leben bekamen. Ich wollte das nicht. Das war nicht meine Art, gehörte nicht zu meinen Wesenszügen. Ich war ein friedfertiger Mensch, der keiner Fliege, nicht einmal einer Spinne, etwas antun konnte.

Sophie, meine verstorbene Frau, war da ganz anders gewesen. Impulsiv in vielen Dingen und gnadenlos, wenn eine Spinne im Zimmer gesichtet wurde. Den Pantoffel genommen und drauf! »Ein Glas hätte es auch getan«, sagte ich in diesen Momenten immer zu ihr. Ein Glas drübergestülpt, ein Blatt Papier druntergeschoben und raus in die Freiheit, das war meine Art, mit diesen Dingen fertigzuwerden. Man muss nicht zerstören, was von der Natur zum Leben erweckt wurde. Ich schaute sie dann immer vorwurfsvoll an und sagte: »Aha, ich dachte, das Leben findet immer einen Weg. Aber Spinnen willst du sofort töten!« Sie grinste dann jedes Mal und meinte: »Bei Spinnen mache ich eine Ausnahme. Ich weiß nicht, was Gott sich dabei gedacht hat, als er sie schuf.« Ansonsten hatte sie Respekt vor dem Leben auf dieser Erde. Nur Spinnen, die konnte sie definitiv nicht leiden. Und ich … Ich merkte, dass ich immer aggressiver wurde. Die Achtung vor dem Leben ging mir verloren. Meine behütete und wertvolle Achtung. Vielleicht war genau die der Grund, wieso ich mir die Schuld am Tod meines Sohnes und an dem meiner Frau gab. Weil ich nichts tun konnte! Da war kein Glas, das ich drüberstülpen konnte. Es gab keine Möglichkeit zur Rettung. Es wurde mit dem Pantoffel zugeschlagen!

Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken, sondern den Tag genießen und den Spaziergang.

Ungefähr dreißig Meter von meinem jetzigen Standort entfernt machte der Weg, auf dem ich mich befand, eine scharfe Biegung nach rechts. Von dort hörte ich Hundegebell. Dann sah ich eine junge Frau mit ihrem Hund um die Kurve kommen. Als sie mich sah, rief sie ihren Hund zu sich und leinte ihn an, bevor sie näher kam. Ich lächelte und sagte: »Guten Tag.« Sie blickte mich zunächst auch freundlich an, doch ihr Blick wurde immer irritierter. Ich lächelte sie weiterhin an und schaute ihr in die Augen dabei. Allerdings wurde mir die Situation von Sekunde zu Sekunde unangenehmer. Die junge Dame war vielleicht Ende zwanzig und hatte langes blondes Haar, das sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Sie sah hübsch aus, aber ihr Blick beunruhigte mich. Sie sah mich an, als sei ich im Begriff, sie zu bedrohen, ihr etwas anzutun. Ihren Hund zog sie immer näher zu sich heran, und als wir fast auf einer Höhe waren, schaute sie mich erschrocken und mit Furcht im Blick an. Dann sah sie schnell auf den Boden und beschleunigte ihren Schritt. Fast rannte sie sogar. Ich blieb stehen, drehte mich um und schaute ihr nach. Als sie rund zehn Meter von mir entfernt war, wandte sie sich ebenfalls um und erschrak erneut. Wahrscheinlich weil sie sah, dass ich ebenfalls stehen geblieben war, um ihr nachzuschauen. Ihr Hund zeigte sich von all dem unbeirrt. Sie wandte sich wieder ab, beschleunigte erneut ihren Schritt und ließ mich verdutzt und irritiert zurück. Ich blieb noch ein paar Minuten stehen und dachte darüber nach, konnte mir ihre Reaktion aber definitiv nicht erklären. Es war gerade so, als hätte sie Angst vor mir. Aber wieso? Ich kannte sie doch gar nicht, hatte sie noch nie in meinem Leben gesehen. Vielleicht erinnere ich sie an jemanden. Ja, das dürfte eine Erklärung sein. Immer noch verwirrt drehte ich mich um und ging weiter meines Weges. In meinem Gehirn arbeitete es jedoch. Ich kramte in meinem Verstand und versuchte herauszufinden, ob ich die junge Dame von irgendwoher kannte, aber ihr Gesicht begann schon langsam vor meinem inneren Auge zu verschwimmen und andere Gedanken kamen zurück.

An der Biegung bemerkte ich, dass sich auf der linken Seite ein zertrampelter kleiner Pfad befand. Er sah nicht so aus, als würde er oft genutzt werden, aber man erkannte, dass er irgendwohin führen musste. Meine Neugier war geweckt. Und vielleicht hatte die junge Frau ihn ja vor ein paar Minuten benutzt? Ich beschloss spontan, meiner Neugier nachzugeben, und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Ich hatte also noch ein paar Stunden, bis es dunkel werden würde.

Der Weg war gut durchtreten, aber nicht so, als würde jeden Tag jemand hier gehen.

Ich war ungefähr eine Viertelstunde unterwegs, als der Weg an einer kleinen Lichtung endete. Sie war nicht groß, vielleicht drei oder vier Meter im Durchmesser und kreisrund. Sie sah irgendwie künstlich angelegt aus, aber ich konnte mich auch täuschen. Das Gras war nicht sehr hoch, und es kam mir gepflegt vor. So, als würde es von Zeit zu Zeit gemäht werden. Meine Stirn runzelte sich, und ich war wirklich verblüfft. »Wer um alles in der Welt mäht mitten im Wald eine Rasenfläche, die nicht größer ist als mein Badezimmer«, sagte ich halblaut und blickte mich um. Nur der Weg, den ich gegangen war, führte hierher und wieder von hier weg. Ich bückte mich und fuhr mit der Hand über das Gras. Es war noch feucht.

Dann entdeckte ich den Stein, der sich in der Mitte der kreisrunden Fläche befand. Ich ging auf ihn zu. Es war kein gewöhnlicher Stein. Das merkte ich schnell. Er war rechteckig, circa sechzig Zentimeter hoch, dreißig Zentimeter breit und dunkel. Mir war schnell klar, dass er nicht natürlichen Ursprungs war und hier aufgestellt wurde. Außerdem erinnerte er mich an einen Grabstein.

Ich ging darum herum und sah frische Blumen auf der anderen Seite des Steins am Boden liegen. Ich hatte mich nicht getäuscht. Es war definitiv ein Grabstein, denn auf dieser Seite standen ein Name und ein Datum. Als ich die Buchstaben entziffert hatte, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter und ich hielt mir eine Hand vor den Mund. Das Atmen fiel mir schwer und ich schüttelte den Kopf, während ich »Großer Gott« flüsterte. Den Namen auf dem Grabstein kannte ich sehr gut. Es war mein eigener!

»LUCAS BLEICH« stand auf dem Stein. Es war kein Geburtsdatum zu erkennen, nur ein Sterbedatum. 17.05.2012. Also war dieser Mensch, der hier lag, fünf Jahre tot.

Nachdem ich mich vom ersten Schock erholt hatte und mir einredete, dass Zufälle nun mal geschehen können, betrachtete ich die frischen Blumen, die vor dem Stein lagen. Sie waren trocken, nicht feucht wie das Gras um sie herum. Das bedeutete, dass sie erst vor Kurzem hier abgelegt wurden. Mir kam die junge Frau wieder in den Sinn, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie die Blumen hierhergelegt hatte. Meine Neugier stieg ins Unermessliche. Der Name auf dem Stein, ihre Reaktion. Das kam mir alles seltsam vor. Unheimlich. Nun, ich lebe ja noch, dachte ich scherzhaft und musste grinsen bei dem Gedanken. Dennoch schaute ich immer wieder auf den Namen auf dem Stein. Es war bizarr, nahezu grotesk. Wer war dieser Lucas Bleich? Warum lag sein Grab hier versteckt im Wald? Fragen, die ich der Dame stellen musste, wenn ich recht haben sollte und sie was damit zu tun hatte.

Meine linke Hand wanderte über den Stein. Ich fuhr mit meinem Finger den Schriftzug nach. Seltsam, seinen eigenen Namen auf einem Grabstein zu lesen. Wieso stand aber nur der Name darauf und das Datum des Todes? Wieso nicht das Geburtsdatum? Machte man das nicht normalerweise so? Geburts- und Todesdatum? Je länger ich hier verweilte und darüber nachdachte, desto mehr Fragen kamen mir in den Sinn. Also beschloss ich, den Ort zu verlassen und den Heimweg anzutreten. Ich wollte vor der Dunkelheit zu Hause sein. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich bereits länger hier war, als es mir vorkam. Es war Viertel nach fünf. Die Dämmerung setzte langsam ein, und es wurde kälter.

Ich ging den Pfad wieder zurück, und nach einer guten Viertelstunde war ich auf dem Waldweg, von dem ich gekommen war. Die Strahlen der Sonne hatten mittlerweile Mühe, durch die immer dichter werdenden Wolken zu kommen. Meine Schritte wurden schneller und ich war froh, als ich gegen kurz vor sechs die Tür zu meiner Wohnung aufsperren konnte. Ich setzte mich, nachdem ich mir eine Tasse Tee aufgebrüht hatte, in den Sessel am Fenster und blickte auf den Wald hinaus, der unmittelbar an das Haus im Westen grenzte. Der Grabstein wollte mir nicht aus dem Kopf. Die Frau wollte mir nicht aus dem Kopf.

Die Sonne war längst untergegangen, und die Bäume waren nur noch schemenhaft zu erkennen. Die Tasse Tee hatte ich ausgetrunken. Ich merkte, wie mir langsam die Augen zufielen. Die Müdigkeit umschlang mich wie eine sanfte Decke nach einem kalten Tag, und bald war ich mehr in einem Traum als in der dunklen Realität meines Lebens.

 

Der Vollmond schien auf eine von Nebel umhüllte Lichtung. Die Stille der Nacht umgab mich. Da hörte ich in der Ferne das Heulen eines Hundes, das jedoch schnell näher kam. Gelbe Augen schauten mich jäh durch das Dickicht an, und etwas Schwarzes und Bedrohliches legte sich über meine Sinne. Ich vernahm Schritte, die immer näher kamen. Dann huschten Schatten vor meinen Augen vorbei. Vor Angst ging ich ein paar Schritte nach vorn, bis mein Fuß gegen etwas stieß. Ich schaute nach unten. Es war ein Stein. Ein Grabstein. Mein Name stand darauf. Ich atmete schwer, und vor mir sah ich das Gesicht der Frau aus dem Wald. Sie stand plötzlich vor mir und grinste mich grimassenhaft an. Ihre Augen waren dunkel und wurden von Sekunde zu Sekunde immer heller, bis sie gelb und grotesk leuchteten. Dann begann die Frau zu lachen. Erst war nur ein leises Kichern zu hören, dann wurde das Kichern zu einem wilden, lauten Lachen. Sie öffnete weit den Mund und warf ihren Kopf in den Nacken. Dann verstummte das Lachen, und ich vernahm aus ihrer Kehle etwas, das sich nach Babygeschrei anhörte …

 

Ich wurde schreiend wach, und mein Oberkörper schnellte nach vorn. Kurz darauf atmete ich erleichtert, nur einen Albtraum gehabt zu haben, auf.

In meiner Wohnung war es düster. Nur der Schein des Mondes, der majestätisch und kühl über dem Wald stand, fiel hinein. Ich erhob mich aus dem Sessel, wollte die Rollläden herablassen und dann ins Bett. Als ich am Fenster war, welches zur Straße zeigte, sah ich auf der gegenüberliegenden Seite jemanden stehen. Er war schwarz gekleidet, und ich hatte das Gefühl, dass er zu mir nach oben schaute. Ich kniff die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können, aber es gelang mir nicht. Die Gestalt hatte einen langen Mantel an und eine Kapuze auf dem Kopf. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, nur ihre Figur. Sie war schmal. Und je länger ich hinschaute, umso mehr kam in mir der Verdacht auf, dass es sich um eine Frau handelte. Aber wieso schaute sie hoch zu mir? Konnte es sich um die junge Frau aus dem Wald handeln?

Ich beschloss nach unten zu gehen, zog meine Schuhe an, schlüpfte in meine Jacke, steckte die Haustürschlüssel ein und rannte die drei Stockwerke nach unten. Dann ging ich zu der Stelle, an der ich die Gestalt stehen gesehen hatte. Aber dort war niemand mehr. Meine Blicke schweiften hastig nach links und nach rechts, um vielleicht noch ausfindig zu machen, wo die Person hingelaufen war, doch die Gestalt in Schwarz war verschwunden. »Verdammt«, sagte ich leise und ärgerte mich, nicht schneller gewesen zu sein.

Ich wollte gerade in meine Wohnung zurück, als ich auf dem Boden etwas Weißes liegen sah. Ich bückte mich und hob es auf. Es war ein zusammengefalteter Zettel. In blauer Handschrift las ich darauf meinen Namen: »Lucas Bleich«. Mit zittrigen Händen faltete ich ihn auseinander, und im fahlen Licht des Mondes las ich: »Morgen, 15:00 Uhr am Grabstein. Sei pünktlich. Bitte!«. Ich spürte eine leichte Gänsehaut im Nacken und schüttelte verständnislos den Kopf. Erneut schaute ich mich nach allen Seiten um. Ich war allein auf der Straße. Allein mit dem Mond und der Frage, was das alles zu bedeuten hatte.

Als ich wieder in meiner Wohnung war, setzte ich mich an den Küchentisch und betrachtete den Zettel genauer. Die Botschaft war auf einem normalen Blatt Papier geschrieben. Druckerpapier. DIN A4. Die Handschrift war schwungvoll. Sehr leserlich. Definitiv von einer Frau. Ein Mann würde so nicht schreiben. Auch der Text ließ darauf schließen. »Sei pünktlich. Bitte!« Bitte hätte ein Mann nie geschrieben.

Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, beschloss ich ins Bett zu gehen. Da ich aber so verdammt neugierig war, was mich morgen um 15:00 Uhr erwarten würde, lag ich noch ungefähr eine Stunde wach und stand immer wieder auf, um nach draußen zu schauen. Vielleicht war die Gestalt ja zurückgekehrt? Irgendwann war ich zu müde und schlief ein.

Die Nacht war durchwachsen von wiederkehrenden Träumen von Grabsteinen und dunklen Gestalten, die mich umgaben, an mir zerrten und versuchten mich in die Dunkelheit zu ziehen. Gegen 8:00 Uhr am Morgen wurde ich wach und hatte Kopfschmerzen. Ich lag in meinem Bett und meine Gedanken kreisten um den Zettel, den ich gestern Abend gefunden hatte. Noch sieben Stunden, bis meine Fragen hoffentlich beantwortet werden würden.

Ich beschloss aufzustehen und erst einmal zu duschen. Danach kochte ich mir eine Tasse wohltuenden Kaffees und setzte mich wieder in meinen Sessel am Fenster. Ich nippte an meinem Heißgetränk und hielt den Zettel, den ich bereits tausendmal gelesen hatte, in meiner Hand. Ich soll also pünktlich sein, dachte ich ironisch. »Das musst du mir nicht extra sagen, das bin ich hundertprozentig«, sagte ich halblaut und blickte dabei hinaus auf den Wald. Der Himmel war stark bewölkt, und es sah nach Regen aus. Obwohl der Wetterbericht etwas anderes versprach, hing der Himmel voller schwarzer Wolken und es wehte ein ungemütlicher Wind. Meine Kopfschmerzen wurden durch den Kaffee besser. Diese Macht hatte er immer bei mir, und ich kam um eine Tablette herum. Ich schluckte nicht gern Medikamente und wirklich auch nur dann, wenn es sich nicht vermeiden ließ.

Über eine Stunde dachte ich wieder über die Frau nach und über den Grabstein mit meinem Namen darauf, schaute wiederholt nervös auf die Uhr und konnte es nicht abwarten, bis es 15:00 Uhr war. Die restliche Zeit bis dahin verbrachte ich mit Lesen und damit, Bewerbungen zu schreiben, da ich versuchte mich auch arbeitstechnisch neu zu orientieren, nicht nur privat. Ich schaute dabei aber unaufhörlich auf die Uhr, und gegen zwei Uhr nachmittags beschloss ich, mich anzuziehen und langsam loszugehen.

Ein warmer Wind empfing mich draußen. Von Regen weit und breit keine Spur. Die Wolken hatten sich verzogen, und vom blauen Himmel strahlte fröhlich, hell und friedlich die Sonne herab. Es versprach ein wirklich wundervoller Nachmittag zu werden.

Das ist mir gestern gar nicht aufgefallen