Andersens Märchen Update 1.1

Die kleine Meerjungfrau weint nicht um ihren Prinzen


Anthologie


Hrsg. C. Erpenbech




Machandel Verlag

Charlotte Erpenbeck

Neustadtstr.7, 49740 Haselünne

Bildquelle cover: nuanz/shutterstock.com

2018

ISBN 978-3-95959-133-1

Weitere Märchen-Anthologien und Romane

Dieses Buch ist Teil der Reihe "Märchen-Updates". Die einzelnen Bände dieser adaptierten Märchen für Erwachsene erscheinen in jährlichem Rythmus. Gedruckt sind bislang sieben Bände erschienen.


Bislang als Ebook-Anthologien in der Reihe "moderne Märchen" verfügbar:


Antho-Grimm1.1

Würden Sie Aschenputtel auf der Straße erkennen? Die Gebrüder Grimm hätten vermutlich ein Problem damit. Die modernen Aschenputtel zeigen Ecken und Kanten, mit denen die Grimms nie gerechnet hätten.
In diesem Buch finden Sie viele wohlbekannte Märchen in neuem Outfit. Rausgeholt aus der Mottenkiste, abgeklopft, zurechtgezupft, mit frischem Duft versehen und ganz allgemein auf Vordermann gebracht, damit sie auch in unserer Zeit wieder Gehör finden. Ein wenig verändert haben sie sich dabei schon. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie Aschenputtel immer und unter allen Umständen erkennen?
Testen Sie es mit dieser Sammlung alter Märchen in neuen Kleidern.


Antho-Grimm1.2

Sex, Crime und viel, viel Fantasie - das sind Zutaten für einen Blockbuster. Das sind aber auch die Zutaten für Märchen. Die Sammlung der Gebrüder Grimm macht da keine Ausnahme. Sie glauben das nicht? Kann es sein, dass Sie nur die harmlosen, bereinigten Versionen moderner Kinderbücher kennen?
Dann lesen Sie dieses Buch. Hier finden Sie die Märchen so. wie sie heute geschrieben werden. So, wie sie auch bei den Gebrüdern Grimm stehen würden, hätten die nur 200 Jahre spöäter gelebt. Möglicherweise sind die Lieblinge Ihrer Kinderzeit nicht ganz so nett und tugendhaft, wie Sie sie in Erinnerung haben. Möglicherweise ist es gar nicht der Wolf, der böse ist. Möglicherweise ist die Großmutter auch nicht die nette alte Dame, die häkelt und Plätzchen backt und auf Rotkäppchen wartet. Möglicherweise.
Aber das finden Sie nur heraus, wenn Sie dieses Buch lesen.


Dazu diese beiden Minibuch-Anthologien:


Antho-Grimm1.3

Es ist keine besonders gute Idee, als Angestellte von Frau Holle bei der Arbeit zu schlampen.
Es ist auch keine gute Idee, ein Versprechen zu brechen.
Und es ist ganz sicher keine gute Idee, einer Fee einen Wunsch zu verweigern.
Sie möchten wissen, warum?
Lesen Sie es in diesen sechs Märchen-Adaptionen bekannter Grimm-Märchen!


Minibuch3-Antho-Andersen1.2

Meerjungfrauen auf Abwegen und andere Katastrophen.
Davon berichten diese fünf mehr (oder weniger) märchenhaften Kurzgeschichten. Denn egal, ob über oder unter Wasser, auch Seejungfrauen sind echte Frauen!


Außerdem eine Anthologie in Zusammenarbeit mit der

Selfpublisher-Gruppe der Märchenspinnerei:


Antho-Maerchenspinnerei

Ein echtes Happy End ist harte Arbeit.
Die gute Fee Bridget weiß genau, an welchen Faktoren sie schrauben muss, um dem Königssohn zu seiner Traumhochzeit zu verhelfen. Schwieriger hat es da schon Arife, die als Muslima trotz ihrer herausragenden Leistungen nicht ins Schwimmteam darf, damit sie nicht aus Versehen mit deutschen Jungs in Berührung kommt. Während knallharte Mafiosi um unschuldige Kinder handeln und Prinzessinnen in der Suppenküche aushelfen, verschläft Dornröschen fast ihren Märchenprinzen und König Drosselbart fängt sogar einen Krieg an, um seine Schmach zu tilgen.
In dreizehn Kurzgeschichten verweben die Märchenspinnerinnen altbekannte Märchen mit zeitgenössischen Problemen und füllen fantasievolle Welten mit neuem Leben.


Und, nicht zuletzt, auch Märchen-Romane und Novellen:


Falk-blutrote-Schuhe

Ballett ist ihr Leben. Zielstrebig arbeitet die junge Tänzerin Kati daran, sich zur Primaballerina zu vervollkommnen. Dafür trägt sie die blutroten Ballettschuhe, die ihr auf fast magische Weise zu helfen scheinen, das Beste aus sich herauszuholen. Dafür schindet sie sich, dafür verausgabt sie sich, dafür gibt sie vieles andere in ihrem Leben auf.
Doch wenn dein Traum dir jedes Opfer wert ist, wenn du sogar deine Seele dafür hingeben würdest, wer schützt dich dann vor dir selbst?
Zum Glück gibt es den charmanten Pianisten Cristan, der Kati versteht und sie unterstützt.
Was sie allerdings nicht weiß: Cristan arbeitet für den Teufel!


Schneider-Rabenschwester


Vom eigenen Vater verflucht, können Prinz Melvin de Valderna und seine Brüder nur noch im Land jenseits der gläsernen Berge in menschlicher Gestalt leben. Wann immer sie in ihre Heimat zurückkehren, müssen sie als Raben ihr Dasein fristen. Dennoch riskieren sie ihr Leben, um den König vor einer Invasion zu warnen.
Dadurch erfährt Prinzessin Sheena nach 15 Jahren, dass sie Brüder hat. Zusammen mit Ileen, Cousine und Verlobte Melvins, beschließt sie, loszuziehen und ihre Brüder von der Verwünschung zu erlösen.
Zwei Prinzessinnen alleine unterwegs, das allerdings ist eine Herausforderung für das Schicksal und ein sicheres Rezept für Schwierigkeiten. Ganz zu schweigen von der Magierin, die Sheenas Brüder für sich beansprucht.



Lindorm-Herzenswuensche

Neugierig, wie Prinzessin Suleika nun einmal ist, findet sie beim Stöbern in der Schatzkammer ihrer Mutter Sheherezade ausgerechnet die Wunderlampe. Und natürlich setzt sie auch prompt den Dschinn darin frei. Der erklärt, dass er ihr zwar jede Menge gewöhnliche Wünsche erfüllen kann, aber nur drei Herzenswünsche für die Dauer ihres ganzen Lebens.
Nach Kinderart äußert Suleika ihren ersten Herzenswunsch spontan – ohne zu ahnen, was sie damit anrichtet.
Für eine Weile schwört Suleika darauf der Wunderlampe ab, doch als sie zur Frau heranwächst, bringt das Leben neue Sehnsüchte mit sich, für die der Dschinn der ideale Ausweg scheint. Bleibt nur die Frage, ob Suleika inzwischen gelernt hat, ihre Wünsche mit mehr Weitsicht zu äußern.

1001 Nacht lang erzählte die todgeweihte Sheherezade ihre Geschichten, bis der Sultan sie verschonte. Mira Lindorm spinnt das Garn nun weiter und beschreibt in "Herzenswünsche kommen teuer" die möglichen Folgen der 1002 Nacht. Ein Thema so zeitlos aktuell wie der Zauber der arabischen Sagenwelt: Egoistische Wünsche, kurzsichtig verwirklicht - ein prima Rezept für Schwierigkeiten.
Band 10 aus der Reihe der Märchenspinner



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Vorwort

Andersen

Hans Christian Andersen (1805-1875)

Der Norweger Hans Christian Andersen hat eines der wahrscheinlich bekanntesten Märchenbücher verfasst. Im Gegensatz zu den Brüdern Grimm waren es keine gesammelten Volksmärchen, auch wenn die Märchen und Sagen, die Andersen zu Hause und auf seinen Reisen kennenlernte, mit Sicherheit eine Basis für diese Märchen schufen. Andersen schuf Kunstmärchen, heute würden wir sagen, er schrieb Fantasy. Nur dass dieser Begriff zu seiner Zeit, im Biedermeier, noch nicht existierte.

Das dank Disney wohl bekannteste Andersen-Märchen „Die kleine Meerjungfrau“ hat diesem Buch seinen Titel gegeben und ist in drei Variationen in der Anthologie vertreten.

Die Autoren dieser Anthologie sind der Frage nachgegangen, wie Andersens Märchen wohl aussehen würden, hätte man sie heute geschrieben. Herausgekommen ist eine Sammlung von Kurzgeschchten, deren märchenhafter Ursprung manchmal gut getarnt ist.

Überraschenderweise haben viele Autoren Märchen-Adaptionen mit stark norddeutschen Motiven geschaffen. Vielleicht passen Themen, die den Norden, die See und eine gewisse Schwermut zeigen, besonders gut zu Andersen. Seine eigene Meerjungfrau war ja auch nicht bunt und niedlich, sondern eher tragisch.

Aber Sie finden natürlich auch Geschichten hier, die im Süden spielen, Geschichten, in denen fröhlicher Humor aufblitzt, und Geschichten, die das ursprüngliche Märchen lediglich mit einem schillernden neuen Textkleid versehen haben.

Im Namen aller Autorinnen und Autoren wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen!


Charlotte Erpenbeck

(Hrsg.)

Nicht Fisch, nicht Frau

Regina Schleheck

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Ich war Herrin über eine Fülle an Fischen. Nicht nur die Flossentiere, die ganze Fauna und Flora der Großen Sirte hatte man mir anvertraut.

Alles habe ich geopfert, mich instrumentalisieren lassen, missbrauchen, aufreiben zwischen zwei Systemen zu Lande und zu Wasser, wie sie patriarchalischer nicht sein könnten! Erst im Nachhinein ist mir klar geworden, wie raffiniert die Herren das alles eingefädelt hatten, wie sie mich als Bauernopfer ihrer Machtspielchen missbraucht haben. Dabei hätte ich bei genauerem Hinsehen von Anfang an misstrauisch sein sollen. Man muss den Menschen in die Augen sehen! Ich hatte nur Augen für Mumus Tross, seine prächtigen Gewänder, die reich geschmückte Barkasse, mit der er die Lagune vor Al Khums durchstreifte. Alles an dem Mann war Berechnung. Wenn ich ihm nur hätte in die Augen sehen können, als das Boot über mich hinweg glitt – aber da war die Ray Ban vor!

Er hatte sich über Bord gelehnt, den Blick scheinbar sinnend ins Meer gerichtet. Dabei muss er die ganze Zeit nach mir ausgespäht haben! Mein Vater hatte ihm genau gesagt, wo er mich finden würde. Mumu wollte die 6. US-Flotte außen vor halten, und dazu brauchte er Verbündete. Wen konnte er Mächtigeren finden als den Meereskönig himself? Der wiederum hatte kein Interesse an kriegerischen Auseinandersetzungen vor den größten ölexportierenden Städten des Nahen Ostens. Surt, Ras Lanuf und Marsa-el-Brega sind die größten Umschlagplätze des Landes und durch riesige Pipelines mit dem Landesinneren verbunden. Nach der Explosion der „Deepwater Horizon“ im April 2010 hätte Papa wohl alles unternommen, um sein Reich vor ähnlichen Katastrophen zu bewahren. Da die Gegend meiner Obhut unterstand, war ich das Unterpfand. Angeblich soll es ein Eheversprechen gegeben haben. Hallo? Ein Menschenprinz und eine Meerjungfrau – wie soll das gehen? Ein Stück weit kann ich meinen Vater ja verstehen. Er handelte aus ökologischen, nicht ökonomischen Motiven. Trotzdem – noch lange kein Grund mich zu verschachern! Gut, er hat sehr schnell gemerkt, auf wen er sich da eingelassen hatte. Aber da war schon alles zu spät. Für mich zumindest.

Man hatte einiges getan, um meinen Marktwert für den arabischen Autokraten zu steigern. Das Äquivalent zur Infibulation der afrikanischen Völker entlang des Äquators heißt bei uns Austerisation. Meine Großmutter klemmte mir in einer schmerzhaften Prozedur acht große Austern an den Schwanz. Ein Kranz weißer Lilien in den Haaren kündete von meiner Jungfräulichkeit. Dann ließen sie mich an meinem fünfzehnten Geburtstag an die Wasseroberfläche aufsteigen, just in jene Bucht, wo das prinzliche Boot cruiste. Ich war geblendet von der Sonne, von dem vielen Gold, und nicht zuletzt muss man mir zugutehalten, dass der hohe Sauerstoffgehalt und der geringe Wasserdruck so dicht an der Oberfläche mein Blut in Wallung brachten. Das perlende Getränk, das man mir später zur Hochzeit verabreichte, hatte im Übrigen einen ganz ähnlichen Effekt.

Damals in der Lagune, als ich zur Feier meines Geburtstags, der mich aus der Kindheit in die Katastrophe katapultierte, an die Oberfläche stieg, erlebte ich einen Höhenrausch, der nicht nur meine Wahrnehmung, sondern auch meine Handlungsweise folgenschwer beeinträchtigte. Nach allem, was meine Großmutter meinen Schwestern und mir über die Liebe erzählt hatte, hielt ich das Schwindelgefühl für Schwärmerei und reagierte ohne Sinn und Verstand, als der Prinz auf einmal seufzte und über Bord kippte. Heute weiß ich: alles Fake! In seinem Pool durfte ich später bewundern, wie er Köpper, Hechtsprünge und Arschbomben praktizierte, umkreischt von seinen Haremsdamen, die sich in der Chlorkloake ebenso lasziv suhlten wie in seinen seidenen Pfühlen.

Ich reagierte, wie es wohl meinem Melusinen-Naturell entsprach. Seinesgleichen nennt es menschlich. Aber ich schwöre: An seinem Hof habe ich kein vergleichbares Verhalten beobachten können. Die Menschen warten nur auf einen Moment der Schwäche, um einander die Augen aushacken zu können. Ich fing den vermeintlich verunglückten Prinzen unter Wasser auf und trug ihn an die Oberfläche. Während er den Ohnmächtigen mimte und die Bootsleute taten, als hätten sie von seinem Abgang nichts bemerkt, beförderte ich ihn ans Ufer und mich in mein Verderben.

Sie hatten alles inszeniert, um ihn ins rechte Licht zu rücken. Im Nachhinein verstehe ich besser, wie nötig er es hatte. Sein Nimbus beruhte auf Seilschaften, Staatsterrorismus, Erpressung, Geschäftemacherei und Volksverdummung. Die Aktion „Kleine Seejungfrau“ sollte gleich mehrere Zwecke erfüllen. Er hatte einen Superdeal mit meinem Vater geschlossen, aber sobald dieser seinen Teil erfüllt und mich ausgeliefert hatte, war Papa in Mumus Hand, ich eine willkommene Geisel, um den König der Meere zu erpressen.

Das Ufer hatte der Prinz sperren lassen, aber kaum hatte ich ihn an den Strand gezogen, sprangen gleich mehrere Teams der staatlichen Sendeanstalten herbei und filmten für eine Live-Übertragung, wie Prinz Muammar Muhammad Abdassalam Abu Minyar im seichten Wasser unvermittelt zu neuem Leben erwachte, aufsprang, sich zu mir herunterbeugte, mich unter den Achseln packte und ins Trockene zerrte, wo ich hilflos zappelnd liegenblieb. Was für ein Fang! Seine Leute kamen, schmissen mich in eine mit Salzwasser gefüllte Öltonne, die sie auf einem Pickup bereitgestellt hatten, und dann ging's im Konvoi ab zum Palast nach Tripolis. In jedem Kaff wurde angehalten, die Leibwächter schossen Freudensalven in die Luft, Menschenmengen strömten herbei, der Prinz posierte, Kameras wurden ins Ölfass gehalten, Blitzlichter blendeten mich, Frauen kreischten, Kinder johlten – und weiter ging's.

Im Palast erhielt ich ein eigenes Salzwasserbecken – im Hammam seines Harems. Der ganze Palast war in Aufruhr. Wie ich dem Geschwätz seiner Damen entnehmen konnte, trug meine Ankunft allerdings nur zum Teil zu der allgemeinen Aufregung bei. Immerhin hechelten sie meinen Fall genüsslich durch, wodurch mir im Nachhinein klar wurde, auf was für ein abgekartetes Spiel mein Vater sich mit dem Prinzen eingelassen hatte.

Ich vermute, den meisten der Frauen war es nicht anders ergangen als mir. Sie waren samt und sonders Töchter irgendwelcher Stammesfürsten, Unterpfand in Mumus Machtpoker. Aber statt sich zu solidarisieren, fielen sie über jeden Neuzugang her, als neideten sie einander den Opferstatus. Ich genoss immerhin einen gewissen Exotinnenbonus. Außerdem mussten sie in meinem Fall nicht befürchten, dass ich dem Prinzen einen weiteren Stammhalter schenken würde. Am Vorabend war jedoch eine kongolesische Prinzessin eingetroffen, für die der Despot eine Hochzeitsfeier anberaumt hatte, die drei Tage andauerte und in deren Verlauf sämtliche Haremsdamen – ich inbegriffen – mit Strömen von perlenden Getränken bedacht wurden, um anschließend der Defloration beizuwohnen. Ich nehme an, es war selbst für ein Monster wie Muammar kein reines Vergnügen, vor Angst und Schmerz schreiende blutjunge Mädchen zu vergewaltigen. Weshalb er sich an seinen zahlreichen Nebenfrauen und mit allerhand Aphrodisiaka – unter anderem den Austern, mit denen Großmutter meine Jungfräulichkeit hatte sichern wollen – aufgeilte und schließlich das von den Haremsdamen an Händen und Füßen fixierte Mädchen bestieg. Die Ray Ban setzte er selbst dabei nicht ab. So benommen ich war: In dem Moment war ich ganz froh, dass ich nicht Fisch, nicht Frau war.

Ich weiß nicht, wie viele Wochen ich im Palast zubrachte. Meeresbewohner haben einen anderen Zeitbegriff als Menschen. Wir orientieren uns am Mond, nicht an Zahlenkreisen mit tickenden Zeigern. Den Mond bekam ich in meinem Gefängnis nicht zu Gesicht. Ich gehörte dem Harem an, aber war doch keine von Mumus Frauen. Alle, die wir in dem Harem lebten, waren mehr oder weniger abgeschnitten von der Außenwelt. Umso begieriger wurde alles bekakelt, was in die Abgeschiedenheit der Frauengemächer sickerte. Demnach war draußen allerhand los. Proteste, zunehmender Aufruhr, schließlich bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Seilschaften rissen. Immer öfter hörten wir Schießereien in der Nähe des Palastes. Eines Abends – die Frauen raunten sich zu, dass es der 19. Oktober 2011 sei, und wunderten sich, dass an diesem nichtssagenden Datum so viel los war – gab es bis spät in die Nacht hinein Unruhen. Frühmorgens wurde ich von lautem Geschrei geweckt. Mehrere Leibwächter waren in den Harem eingedrungen. Aber auch wenn die Haremsdamen in höchsten Tönen kreischten, galt das Interesse der Männer ausschließlich mir. Sie rissen mich aus meinem Becken und schleppten mich durch Flure und Gänge bis zu einem Hinterhof, in dem ein Konvoi von Geländewagen stand. Wieder wurde ich in eine Tonne verfrachtet, dann ging es los in Richtung Sirte, wie ich den Kommandos entnahm.

Während der Fahrt hatte ich Gelegenheit, mir über meine Lage Gedanken zu machen. Es musste einen Grund geben, warum ausgerechnet ich ausgewählt worden war, den Herrscher auf seiner Flucht – um nichts anders konnte es sich bei diesem überstürzten Aufbruch handeln – zu begleiten. Und es gab nur eine einleuchtende Antwort: der Prinz plante die Flucht übers Meer, über die Große Sirte. Er wusste genau, dass mein Vater ihn, sobald er sich in sein Hoheitsgebiet wagte, mit Mann und Maus untergehen lassen würde, weshalb er mich als Sicherheitspfand brauchte.

Er erreichte das Meer nicht mehr. Kurz vorher wurde der Konvoi von einer Rebelleneinheit gestoppt. Als die Schießerei begann, hörte ich Mumu einige Befehle bellen, seine Soldaten zerrten den Kanister, in dem ich saß, so unsanft von der Ladefläche, dass das Wasser sich über die Straße ergoss und ich unsanft auf dem Asphalt landete. Sie schleiften mich in ein großes Abflussrohr gleich neben der Straße. Dort hockte Muammar al Ghaddafi mit gezücktem Messer im wahrsten Sinne des Wortes in der Scheiße. Zum ersten Mal sah ich mich mit ihm Auge in Auge. Seine Sonnenbrille war weg, das blanke Entsetzen stand ihm im Gesicht. Er hielt mir das Messer an die Kehle und flüsterte heiser: „Du und ich, wir tauchen jetzt durch diesen Abflusskanal zum Meer. Du schaffst mich in Sicherheit, sonst bringe ich dich um!“

Ich muss gestehen, es war mir ein Vergnügen. Ich bin gerne für ihn gestorben und habe keine Träne vergossen. Nicht um ihn, nicht um mich. Ich habe mich im Gegenteil an seiner Verzweiflung geweidet, als ich meinen Sirenengesang anstimmte, der jedem Rebellen im Umkreis von drei Kilometern verraten musste, dass hier jemand in die Röhre guckte. Noch bevor mir sein Messer in die Kehle fuhr, hörte die ich Stimmen näher kommen. Es tat nicht weh. Kein bisschen. Ich spürte, wie mein Leib unter seinem Griff ganz leicht und luftig und zu Schaum wurde, während grobe Hände nach dem Prinzen griffen und ihn aus dem Kanal rissen. Es war das letzte, was ich von ihm sah, bevor ich mich freudig dem Meer entgegentreiben ließ, um zu werden, was mir bestimmt war:

Nicht Fisch, nicht Frau.

Eine Fee der Lüfte.

Der Drache und die Schwäne

Claudia Wahnschaffe

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Wir lebten in einer großen Villa am Stadtrand. Meine Eltern, meine elf älteren Brüder und ich. Für uns Kinder war das Leben ein abenteuerliches Spiel, ohne Verpflichtungen, ohne einen Gedanken daran, was morgen sein würde.

Dann starb unsere Mutter, und nichts war mehr, wie es gewesen war.

Es dauerte nicht lange, bis Vater eine neue Frau mit nach Hause brachte. Sie hatte ihre eigenen Pläne, in denen die Kinder ihrer Vorgängerin keinen Platz hatten. Das war für meine Brüder das Ende von Hotel Mama.

Ich war damals 12 Jahre alt. Unsere Stiefmutter überredete Vater, mich in ein Internat zu schicken. Dort lernte ich, mich zu prügeln, ausgiebig zu fluchen, und alle Tricks, um eine regelmäßige Beschulung zu vermeiden. Ich färbte mir die kurz geschorenen Haare schwarz und ließ mich an einigen sehr gewagten Stellen tätowieren. Der Name Elisa wurde zum Synonym für übertretene Schulregeln, und ich war stolz darauf.


Mit 19 Jahren kehrte ich zum ersten Mal nach Hause zurück. Die Villa hatte sich verändert. Der Efeubewuchs war verschwunden und die Fassade erstrahlte in einem makellosen Weiß. Der Garten, in dessen verwunschenen, überwucherten Ecken wir stundenlang gespielt hatten, gliederte sich in symmetrische Baumreihen und Blumenarrangements. Nur Ricki, unser Hund, war noch da. Er stürmte kläffend auf mich zu und umkreiste mich schwanzwedelnd, bis ich mich seiner erbarmte und ihn ausgiebig kraulte.

„Du bist also wieder zurück.“

Ich hatte nicht bemerkt, dass meine Stiefmutter aus dem Haus gekommen war. Langsam richtete ich mich auf und begegnete kühl ihrem Blick. Für diese erste Begegnung mit ihr und Papa hatte ich mich sorgfältig zurechtgemacht. Die schwarzen Haare hatte ich mit einer roten Locke, die mir in die Stirn hing, aufgepeppt. Die Ohrmuschel hinunter zogen sich Ringstecker dicht an dicht. In der Nasenwand glitzerte ein Piercing. Das schwarze Oberteil war weit ausgeschnitten und der schwarze Minirock ging knapp über den Po. Die zerrissenen Strümpfe endeten in derben Stiefeln. Meine Stiefmutter musterte mich von oben bis unten. Es verunsicherte mich, in ihren Augen so etwas wie Triumph zu lesen, aber ich ließ mir nichts anmerken.

„Komm herein, Elisa. Dein Vater erwartet dich.“

Sie führte mich ins Haus und zum Zimmer meines Vaters. Hier hatte sich nichts verändert. Noch immer bedeckten deckenhohe Regale mit Büchern die Wände. Auf den bloßen Dielen lag der alte, abgewetzte Teppich.

„Elisa ist zurück“, kündigte meine Stiefmutter mich an.

Vater, der lesend in seinem Lehnstuhl gesessen hatte, legte das Buch beiseite und sprang auf. Ich sah sein erwartungsvolles Gesicht, das bei meinem Anblick in sich zusammenfiel. „Lieber Himmel, Elisa!“

„Ich lass euch dann mal allein.“

Ich beachtete meine Stiefmutter nicht, die leise die Tür hinter sich schloss. Ich sah nur meinen Vater, in dessen Miene deutliche Enttäuschung geschrieben stand.

„Nun, Elisa, es ist schön, dass du wieder da bist.“

„Ist es das? Ich bin sicher, die alte Hexe sieht das anders.“

„Elisa, bitte. Rede nicht so von deiner Stiefmutter. Sie hat immer das Beste für dich und deine Brüder gewollt.“

„Sie hat das Beste von uns gewollt - unser Heim. Deshalb hat sie uns systematisch vor die Tür gesetzt. Aber dich hat das nicht interessiert, solange du deine Ruhe hattest.“

„Elisa, wirklich! Ich erkenne dich kaum wieder. Du hattest immer ein solch sanftes Naturell.“

„Deine Prinzessin ist im Exil umgekommen. Sie kehrt nicht zurück. Du wirst dich mit dieser Kröte hier zufriedengeben müssen.“

„Du bist überreizt und müde von der Reise. Wenn du dich erst wieder hier eingelebt hast, wirst du vieles anders sehen.“

Obwohl ich seine Worte deutlich hörte, konnte ich es einfach nicht glauben. Er weigerte sich beharrlich zu verstehen. Stattdessen kleidete er alles in eine Harmonie, die längst nicht mehr existierte. Ich hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, und wählte den einzigen Weg, der mir blieb, um mir Luft zu verschaffen. Ich fluchte, bis selbst mein Vater hochrot im Gesicht war.

„Das reicht jetzt, Elisa. Du wirst dich sofort entschuldigen.“

„Fick dich, Alter.“

„Hinaus! Verschwinde! Du bist nicht mehr meine Tochter.“

Blindlings ergriff ich die Flucht. Wenn ich noch länger in diesem Haus blieb, würde ich platzen.


Ich weiß nicht mehr, wie lange ich ziellos durch die Straßen gelaufen bin. Am Anfang bekam ich nicht viel mit, weil ich mir die Seele aus dem Leib heulte. Dann fielen mir meine Brüder wieder ein, und ich verlor mich in Erinnerungen an die sorglose Zeit, die wir verbracht hatten.

Als ich schließlich meine Umgebung wieder wahrnahm, war es dunkel geworden, und ich stand auf der Brücke über den Fluss. Neben mir rasten in ununterbrochener Folge Autos über die Schnellstraße. So plötzlich, wie ihr Lärm mich umschloss, wurde mir klar, dass ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte. Ich beugte mich über das Geländer und sah am anderen Ufer Feuerschein, in dessen flackerndem Licht sich Menschen bewegten. Wie es aussah, hatte ich den Ort gefunden, der Obdachlosen eine Heimat bot.

Ich ging einen Trampelpfad den Abhang hinunter zum Ufer. Der Platz war sandig und trocken. Die Feuer brannten in verbeulten Tonnen und waren dicht umlagert. Niemand beachtete mich und ich blieb unsicher stehen.

„Elisa?“ Die Stimme klang so dünn, dass ich im ersten Moment glaubte, mich verhört zu haben. „Elisa!“ Da war es wieder und mein Herz begann zu klopfen. Langsam wandte ich mich um, halb voller Erwartung, halb voller Furcht. Vor mir stand ein junger Mann, in dessen herben Zügen ich bekanntes entdeckte. Nach und nach gesellten sich andere zu ihm, bis elf Männer vor mir standen. Ich hatte meine Brüder wiedergefunden.


Wir redeten die halbe Nacht. Das heißt, ich redete. Meine Brüder ließen Flaschen mit Bier und eine Dose mit Pillen kreisen und ich bekam einen fairen Anteil davon ab. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich eingeschlafen bin, aber ich erwachte, weil mir kalt war. Mühsam blinzelnd öffnete ich die Augen und sah einen Schwan neben mir stehen. Die Helligkeit war zu viel für meine Pupillen. Ich kniff die Lider wieder zu und rieb sie gründlich. Vorsichtig wagte ich einen zweiten Versuch. Diesmal blieben die Lider oben, aber einen Schwan sah ich nicht mehr. Ein Produkt meiner Fantasie, kombiniert mit den Pillen und dem Bier des gestrigen Abends. Mühsam rappelte ich mich auf und sah mich um. Nicht nur der Schwan war verschwunden. Auch von meinen Brüdern war keine Spur zu sehen.


Lustlos und hungrig hing ich den ganzen Tag unter der Brücke ab. Ich hatte keine Ahnung, was ich sonst tun sollte. Hier blieb mir die Hoffnung, dass meine Brüder zurückkommen würden. Die Schatten wurden bereits dunkler und die ersten Feuer flackerten, als ich sie vom Wasser her näher kommen sah. Ich war unendlich erleichtert, funkelte sie aber trotzdem wütend an. „Wo wart ihr?“

„Komm schon, Prinzessin. Sei uns nicht böse. Wir mussten arbeiten.“

„Arbeiten? Ihr?“

„Ja, klar. Wir ziehen mit so ‘ner Schauspieltruppe rum. Ziemlich cooles Stück, weißt du. Viel Action, reiten, fechten. Wir dachten, du hättest Lust mitzumachen.“

„Ich? Warum?“

„Unser Hauptdarsteller ist heute vom Pferd gefallen und hat sich den Arm gebrochen. Du könntest für ihn einspringen. Du hast doch erzählt, dass du auf deiner Schule reiten und fechten gelernt hast.“

Hatte ich. Der einzige Unterricht dort, der von irgendeinem Wert gewesen war.

„Wie sieht‘s aus?“ Meine Brüder sahen mich erwartungsvoll an.

„Ja, warum nicht. Wenn es dort was zu essen gibt.“


Wir stiegen zur Schnellstraße hinauf und folgten ihr zu einem großen Gelände vor der Stadt. Dort waren Marktstände aufgebaut und auf einer Bühne, die von Fackeln beleuchtet wurde, spielten ein paar Typen auf Dudelsäcken und Trommeln.

Meine Brüder führten mich zu einer Wagengruppe, die etwas abseits stand. Die drei Gestalten, die dort um das Lagerfeuer saßen, sahen ziemlich abgefahren aus. Ein alter Mann mit einem strengen, schmalen Gesicht und schlohweißem langen Haar. Der Anzug, den er trug, war vermutlich in den 1780er Jahren echt angesagt gewesen. Die Frau hatte ein puppenhaft starres und übertrieben geschminktes Gesicht. Ich hätte nicht sagen können, ob sie jung oder alt war. Sie trug ein langes Kleid mit geschnürtem Oberteil und weit geschnittenen Ärmeln. Der junge Mann mit dem Gipsverband war offensichtlich der verunglückte Hauptdarsteller. Er trug Schwarz, was seine wächserne Blässe betonte. In den gleichfalls schwarzen Augen, mit denen er uns musterte, spiegelte sich der Schein des Feuers, sodass sie zu glühen schienen.

„Meister.“ Mein ältester Bruder trat vor. „Das ist Elisa.“

Der alte Mann stand auf und musterte mich mit kaltem Blick. „Du kannst reiten und fechten?“

„Klar, kann ich.“

„Es wäre besser für dich, wenn das der Wahrheit entspricht. Wir packen morgen früh zusammen und ziehen weiter.“ Damit setzte er sich wieder und starrte ins Feuer.

Meine Brüder wandten sich zum Gehen und zogen mich mit. Sie führten mich zu einem großen Zelt, und wir setzten uns davor.

„Die drei wirken ziemlich gruselig.“ Ich sah meine Brüder einen nach dem anderen an, aber keiner erwiderte den Blick.

„Man gewöhnt sich dran“, murmelte schließlich der Älteste.

Nach einem Moment des Schweigens hob der jüngste meiner Brüder den Blick. „Wir müssen es ihr sagen.“

Allgemeines Nicken und betretenes Schweigen folgte der Ankündigung.

„Ihr müsst mir was sagen?“ hakte ich nach.

„Naja, der Meister ist ein – Zauberer. Wir waren ziemlich am Arsch, und da haben wir einen Deal mit ihm gemacht. Er versorgt uns mit genug Kohle und nachts, in unserer menschlichen Gestalt, können wir machen, was wir wollen. Aber tagsüber verwandeln wir uns in Schwäne und stehen ihm zu Diensten.“

„Zauberer? Schwäne? Wie viele von den Pillen von gestern Abend habt ihr heute schon genommen?“

Mein ältester Bruder verdrehte die Augen. „Ich wusste, dass sie uns nicht glaubt.“

„Ich würde die Geschichte auch keinem glauben.“ Der Jüngste lächelte schief. „Aber morgen früh wirst du es sehen. Und sag nicht, wir hätten dich nicht gewarnt.“

Plötzlich fiel mir meine Vision von heute Morgen wieder ein. Mir wurde heiß und kalt. Während ich noch gedanklich auf der Geschichte herumkaute, zogen sich meine Brüder in das Zelt zurück.

„Komm“, der Jüngste winkte vom Eingang her. „Hier ist noch eine Matte für dich frei.“

„Ihr meint das wirklich ernst, oder?“

„Warte bis morgen, dann siehst du es mit eigenen Augen.“


Schlaflos wartete ich die ganze Nacht und im ersten Licht des Tages sah ich elf Schwäne über dem Festplatz kreisen und davonfliegen. Nachdem ich meine Kinnlade wieder unter Kontrolle hatte, stellte ich den alten Mann zur Rede. Auf meine ultimative Forderung, den Zauber von meinen Brüdern zu nehmen, starrte er mich mit seinen Fischaugen von oben herab an.

„Ich lasse mir von einer kleinen Schlampe wie dir sicher keine Vorschriften machen. Die Herren und ich haben eine Vereinbarung, die ich für meinen Teil einhalte. Ich nehme an, du kannst Auto fahren?“

Ich war so verblüfft, dass ich nickte.

„Fein. Du fährst den Jeep mit dem Hänger für das Pferd. Unser verhinderter Akteur begleitet dich und wird dir deine Rolle erklären.“

Damit ließ er mich stehen.


Am Abend erreichten wir ein Gelände, welches dem, das wir am Morgen verlassen hatten, zum Verwechseln ähnlich sah. Bühne und Stände waren im Aufbau. Man wies uns einen Platz inmitten des Chaos zu. Als es dunkel wurde, kehrten meine Brüder zurück. Wortlos verließen wir das Lager und wanderten durch die unbekannte Stadt. Auf einem verlassenen Spielplatz hockten wir uns auf Bänke.

„Nun hast du es mit eigenen Augen gesehen.“

„Ja. Aber irgendetwas muss man doch tun können, damit ihr davon erlöst werdet.“

„Nein, nichts.“ Mein ältester Bruder zuckte mit den Schultern.

„Er sagte, es müsste eine Jungfrau für uns kämpfen“, sinnierte der jüngste meiner Brüder.

„Ich gebe es ungern zu, aber da habt ihr jetzt eine unter euch. Die Jungs in diesem Internat waren solche Luschen!“

„Vergiss es. Du wirst dich nicht mit dem Meister anlegen. Das ist viel zu gefährlich.“

„Das ist meine Sache.“

„Ist es nicht. Du bist unsere Schwester, wir werden auf dich aufpassen.“

Sieht eher so aus, als müsste jemand auf euch aufpassen. Aber diesen Gedanken sprach ich nicht aus. Ich würde abwarten und eine Lösung finden.


Schon am Nachmittag es folgenden Tages war die erste Vorstellung. Für meine Rolle verwandelte ich mich – in einen edlen Prinzen. Auf meinem kurzen Haar trug ich eine Kappe, unter der die rote Strähne festgesteckt war. Die Handlung des Dramas war denkbar einfach. Ein Drache entführt die puppengesichtige Prinzessin und der Prinz reitet aus, um sie zu retten. Ganz großes Kino. Der verhinderte Prinz hatte mir auf der Fahrt meine Rolle erklärt, aber die echten Hingucker des Stücks diskret verschwiegen. So war ich nicht auf das Erscheinungsbild des Drachen vorbereitet, der so verdammt echt war, dass mir beinahe mein pathetisches Schwert aus der Hand gefallen wäre. Zum Glück eilten meine Brüder, die Schwäne, dem Prinzen in seinem verzweifelten Kampf mit dem Drachen zu Hilfe. Ihr manchmal sehr gewagter Formationsflug über den Köpfen der Zuschauer war einfach grandios. Schließlich versetzte ich dem Drachen den entscheidenden Schlag, und die Prinzessin war gerettet. Der Applaus toste, während die Schwäne eine letzte Runde flogen und verschwanden.

Ich brachte das Pferd zu seinem provisorischen Stall und begann abzusatteln. Hinter der Holzwand des Verschlags hörte ich Stimmen. Die eine gehörte dem Meister, die andere, tief und rau, war mir unbekannt.

„Was willst du?“ Die Stimme des Meisters klang ungehalten, aber weniger hochnäsig als üblich.

„Interessante Vorstellung. Hast du jetzt angefangen Schwäne zu dressieren?“

„Das geht dich gar nichts an.“

„Glaub nicht, dass ich fertig mit dir bin. Du wirst mir nicht entkommen.“

Tiefe Stille folgte. Trotzdem war ich sicher, dass beide noch dort standen. Endlich holte jemand zischend Atem. „Verschwinde!“ Die Stimme des Meisters klang gepresst.

Ein leises Lachen antwortete. „Einen schönen Tag.“

Schritte verklangen, aber ich blieb reglos stehen, bis auch der Meister davon ging.


Nachdem das Pferd versorgt war und ich wieder wie mein normales Selbst aussah, schlenderte ich über den Markt. Das Gespräch, das ich belauscht hatte, ging mir nicht aus dem Kopf. Offensichtlich gab es da jemanden, der selbst den Meister einzuschüchtern vermochte.

„Das ist reines Silber, Holde. Seht es Euch nur an.“ Das war die Stimme des Fremden, die klang, als hätte er gestern Abend ein paar Gläser Whiskey zu viel getrunken. Am Stand vor mir war Schmuck ausgestellt. Eine junge Frau stand davor und betrachtete den Ring an ihrem Finger. Langsam schlenderte ich näher und beugte mich über die Auslage. Dabei versuchte ich, unauffällig einen Blick auf den Standbesitzer zu erhaschen. Er mochte Mitte zwanzig sein. Mir gefiel sein raues Aussehen, das zu seiner Stimme passte. Die Frau kaufte den Ring und ging weiter.

„Nun, gefallen dir die Amulette, Holde?“

„Amulette?“ Ich bemerkte erst jetzt, dass die Kettenanhänger vor mir verschiedene Runen trugen.

„Dieser hier, zum Beispiel, schützt den Träger vor Hexen.“

Ich konnte mir ein bitteres Schnauben nicht verkneifen. „Dafür ist es definitiv zu spät.“

Vom Nachbarstand her wehte der Geruch von Gebratenem herüber und mein Magen knurrte vernehmlich.

„Hast du Hunger, Holde?“

„Ja.“ Seit dem kargen Frühstück hatte ich nichts Essbares mehr gesehen. „Hast’e ma‘ ’nen Euro?“ Einen Versuch war es wert.

Er grinste nur. „Dafür bekommst du da drüben nichts. Ich kenne ihn. Aber ich habe gerade einen Eintopf auf dem Feuer. Ich lade dich zu einem Teller ein – oder auch zweien.“ Wieder dieses Grinsen, das mich unwillkürlich lächeln ließ.

Wenn es dir nichts ausmacht.

„Setz dich“, er wies auf einen Campingtisch und Stühle neben seinem Stand. „Es ist nett, nicht allein zu essen.“

Er verschwand in seinem Zelt und ich setzte mich. Es dauerte nicht lange, bis er mit Teller n und Besteck wieder herauskam. Schließlich brachte er einen Topf, aus dem er dampfenden Fleischeintopf mit Gemüse auffüllte. Ich widmete mich ohne viele Umstände meinem Teller. Nichts im Internat hatte jemals so gut geschmeckt.

Satt und zufrieden lehnte ich mich zurück. Erst jetzt bemerkte ich, dass er mich ansah.

„Warum ist es zu spät für das Amulett?“, fragte er plötzlich.

„Naja, weißt du, eigentlich bin ich eine holde Prinzessin mit makellosem Antlitz und langen, blonden Haaren. Dass ich jetzt wie eine Schlampe aussehe, liegt an dem Fluch einer bösen Hexe.“

„Nun, die hat dann ganze Arbeit geleistet.“

„Verbindlichsten Dank.“

Er grinste und ich merkte, dass ich mehr Vertrauen zu ihm fasste, als gut für mich war. „Warum kannst du Amulette herstellen, die gegen Hexen schützen?“

„Das ist eine alte Kunst, die in meiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben wird. Früher konnte man gut davon leben. Aber heute? Wer glaubt schon noch an Hexen und Zauberer?“

Ich hatte das Gefühl, dass seine Worte kein Scherz waren. Hatte der Meister deshalb Respekt vor ihm? „Nur wer sie selbst gesehen hat, glaubt an sie. Könnte ich den Fluch der Hexe brechen?“

„Du selbst? Nein. Ein Fluch muss immer von einem anderen gebrochen werden. Bei einer Prinzessin kommt selbstverständlich nur ein Prinz infrage.“

„Ein Prinz? Da fangen die Probleme doch schon an. Was muss er tun?“

„Er muss das Gegenmittel finden und es einsetzen.“

Ich verzog das Gesicht. „Geht das ein bisschen genauer?“

„Die beste Lösung ist es in der Regel, die Hexe dazu zu bringen, einen Gegenzauber zu wirken. Das ist allerdings auch der gefährlichste Weg.“

Ich seufzte. Da hatte er sicherlich recht.


Gut gelaunt wie schon lange nicht mehr, kehrte ich zu unserem Zelt zurück.

„Was hattest du bei diesem Kerl zu suchen?“ Der Meister trat aus den Schatten neben der Bühne.

„Dieser Kerl heißt Mike und er hat mir eine Mahlzeit angeboten. Hier bekomme ich schließlich nichts.“

„Du wirst nicht wieder mit ihm sprechen.“

„Ich spreche, mit wem ich will.“

„Solange du zu meiner Truppe gehörst, spielst du nach meinen Regeln.“

„Ich kann auch wieder gehen.“

„Nein, kannst du nicht. Wir haben eine Vereinbarung und du tust gut daran, sie einzuhalten. Es würde dir nicht gefallen, wenn ich zu anderen Mitteln greifen würde, um dich zu überzeugen.“ Sein kalter Blick verursachte mir eine Gänsehaut. Wenn ich meinen Brüdern helfen wollte, war es besser, die Gefügige zu spielen. Also senkte ich den Kopf und nickte.

Als ich wieder aufblickte, war er verschwunden.

„Er ist gefährlich. Du solltest ihn nicht provozieren.“ Hinter mir stand die Prinzessin und musterte mich abschätzend. „Schon gar nicht, wenn du deinen Brüdern helfen willst.“

„Wie könnte ich ihnen helfen?“

„Der Atem des Drachen kann den Zauber auslöschen. Er wird sie aber auch verbrennen. Es sei denn, du schützt sie hiermit.“ Die Prinzessin zog zwei Handteller große Scheiben aus der Tasche. Sie waren oval geformt und schillerten grün und golden. Jede war an einem Band befestigt.

„Du musst für jeden von ihnen eine Schuppe des Drachen finden. Auf dem Markt gibt es einen Schmied, der die Löcher für das Band hineinstanzen kann. Wenn sie diese Schuppen tragen, kann das Feuer sie nicht berühren.“

„Wo kann ich sie finden?“

„Er verliert bei jeder Vorstellung ein paar. Du musst sie unter der Bühne suchen. Aber lass dich nicht erwischen. Er würde wissen, was du vorhast.“

„Ich danke dir. Es ist sehr freundlich von dir, uns zu helfen.“

Die Prinzessin lächelte. Ihr starres Gesicht schien nicht mehr ganz so maskenhaft.

„Hier“, sie drückte mir die beiden Schuppen in die Hand. „Das ist schon mal ein Anfang.“

Ich war völlig verblüfft. Doch bevor ich ein Wort des Dankes finden konnte, drehte sie sich um und ging davon.


Die Vorstellung am nächsten Tag war ein voller Erfolg. Dieses Mal war ich besser vorbereitet auf den Anblick des Drachen und den Auftritt der Schwäne. Das gab mir Zeit, einen Blick auf das raunende Publikum zu werfen, das vor dem Drachen zurückwich und völlig verzaubert auf die Schwäne über seinen Köpfen starrte. Ja, alles echt, hätte ich ihnen gern gesagt. Wahrscheinlich hätten sie dem ebenso viel Glauben geschenkt wie meine Lehrer meinen Beteuerungen: Ich war’s nicht.

Nachdem sich die Zuschauer zerstreut hatten, brachte ich das Pferd in die Box und versorgte es. Dann schlich ich wieder zur Bühne zurück. Unterwegs sah ich den Meister, der von zwei Fremden in ein Gespräch verwickelt wurde. Erleichtert huschte ich weiter. Unter dem Holzgerüst der Bühne war es dämmrig. Nur durch die Ritzen zwischen den Brettern fiel Licht. Vorsichtig tastete ich durch das Gras, bis mir das Feuerzeug in meiner Tasche einfiel. In dem flackernden Licht der Flamme sah ich es Grün und Golden glitzern. Ich sammelte vier Schuppen ein, bevor ich die Suche aufgab und mich auf den Weg zum Schmied machte.

Der Typ hatte die Statur einer stattlichen Schrankwand und sah mit seinem vernarbten Gesicht und den zotteligen, langen Haaren nicht eben vertrauenerweckend aus. Auf meine höfliche Frage knurrte er nur: Gib her. Mit erstaunlichem Geschick in seinen Pranken stanzte er die Löcher in die Schuppen und gab sie mir zurück.

„Was willst du dafür haben?“

Er zuckte mit den Achseln. „Hast du noch mehr davon?“

„Vielleicht.“

„Wenn du sie verkaufen kannst, gib mir etwas davon.“

Ich grinste, und er grinste zurück. „Danke.“

Rasch ging ich davon. Ich war nur ein paar Schritte gekommen, da hörte ich eine Stimme hinter mir: „Elisa.“

Mike. Ich ging schneller und verfluchte mein Pech.

„Elisa. Warte doch.“

Ich hatte gehofft, ihm einfach aus dem Weg gehen zu können. „Was?“

Er sah mich unsicher an. „Ich dachte, du hättest Lust auf ein gutes Essen.“

„Nein, Mann. Verpiss dich.“

Der Gesichtsausdruck von verblüffter Kränkung tat weh. Ich wandte mich ab und rannte fast davon.


In dieser Nacht zog ich mit meinen Brüdern durch die verlassenen Straßen der fremden Stadt. Wir soffen und kifften und vergaßen für eine Weile die Realität.

Das rächte sich am nächsten Morgen mit sägenden Kopfschmerzen und einem flauen Gefühl im Magen. Ich nehme an, dass Schwäne keinen Kater kennen, denn die Flugnummer meiner Brüder klappte wie immer perfekt. Nur ich spielte lausig. Nach dem letzten Applaus wollte ich mich unauffällig verdrücken, aber ich war nicht schnell genug.

„Was sollte das heute?“ Der Meister blockierte meinen Weg.

„Mann, mir ist nicht gut. Lass mich zufrieden.“

„Junges Fräulein, deine Befindlichkeiten sind mir ziemlich egal. Die Leute greifen nur tief genug in ihre Tasche, wenn ihnen die Vorstellung gefällt. Ich erwarte deshalb von allen Darstellern, dass sie mit aller Kraft daran arbeiten, sie zufrieden zu stellen.“

Ich verdrehte die Augen und stöhnte.

Er packte mein Handgelenk und presste es schmerzhaft. „Du wirst nie wieder eine so schlechte Vorstellung liefern.“

„Meister?“ Der verletzte Prinz tauchte plötzlich auf.

„Was?“

„Es gibt da ein Problem.“ Er wies vage hinter sich.

Mit einem Schnauben ließ der Meister mich los und stürmte davon. Der Prinz grinste mich schüchtern an und zwinkerte mit einem Auge, bevor er ihm folgte.

Ernüchtert und innerlich zitternd vor Wut kroch ich unter die Bühne. Das Glück war mir hold. Ich fand die fehlenden fünf Schuppen.


Es wurde bereits dunkel, als ich von meinem Besuch beim Schmied zurückkam. Auf dem Weg zu unserem Zelt kam ich an der Pferdebox vorbei und hörte Mikes Stimme.

„Dieses Mal habe ich das richtige Mittel gefunden.“

„Was macht dich so sicher? Du hast es schon so oft verfehlt.“ Die selbstsicheren Worte des Meisters klangen angestrengt.

„Glaub mir, dieses Mal wirst du sterben.“

Sterben? Was, zum Henker, redete er da? Ich schnappte mir die bereits entzündete Laterne, die am Wohnwagen hing, und drang in die Schatten neben dem Stall vor. Das Licht enthüllte eine bizarre Szene. Mike zielte mit einer Armbrust auf den Meister, der reglos dastand.

„Was wird das denn hier für eine Nummer?“

Die beiden Männer blinzelten in das Licht, und ich schob mich rasch zwischen sie.

Zu meiner Erleichterung senkte Mike die Armbrust. „Was tust du hier?“

„Ich bin der Prinz, der die Prinzessin rettet. Hast du das nicht erkannt?“

Mike starrte mich an. Die Schlussfolgerungen, die er zog, waren in seinem Gesicht abzulesen. Es brach mir das Herz. Ich wünschte, es ihm erklären zu können. Aber ich musste schweigen.

„Verzieh dich einfach zu deinen nutzlosen Amuletten.“

Mike sah mich voller Verachtung an, drehte sich um und ging. Ich brauchte den Meister nicht anzusehen, um zu wissen, dass er triumphierend grinste.


In dieser Nacht kehrten meine Brüder früh von ihrem nächtlichen Ausflug zurück und rollten sich in ihre Decken. Ohne sie zu wecken, hängte ich jedem von ihnen eine Drachenschuppe um den Hals. Die Show konnte beginnen.


Bei der Vorstellung am nächsten Tag gab ich mein Bestes, um den Meister in der Gewissheit zu wiegen, dass er mich unter Kontrolle hatte. Endlich war es soweit, dass der furchtlose Prinz den grausigen Drachen attackierte, um die holde Prinzessin zu retten. Der Moment war gekommen, an dem ich alles auf eine Karte setzen musste. Das Schwert in meiner Hand war von meinem Freund, dem Schmied, sorgfältig geschliffen worden. Ich umklammerte den Knauf, holte tief Luft und stürmte los. Der Drache richtete sich drohend auf und schlug mit den Flügeln. Gleichzeitig präsentierte er mir die schuppengepanzerte Brust. Diesmal aber zielte ich tiefer, auf die lederne Haut des Bauchansatzes. Das frisch geschärfte Schwert drang tief ein. Mit einem Schwall hellgelber Flüssigkeit zog ich es wieder heraus. Der Drache brüllte, aber nicht in gespieltem Schmerz. Ein Flügelschlag fegte mich von den Füßen, und dann spürte ich eine harte Klaue, die sich über meiner Hüfte schloss. Ich blickte direkt in zwei Reihen viel zu langer Zähne. Gleichzeitig sah ich etwas Weißes aus den Augenwinkeln. Die Schwäne waren gekommen. Meine Brüder griffen den Drachen an, der sich mit fauchenden Feuerstößen revanchierte. Das Gewicht auf meiner Hüfte brach mir fast das Rückgrat und die Krallen bohrten sich schmerzhaft in mein Fleisch. Ich hieb mit dem Schwert nach dem Bein des Drachen, erreichte damit aber nur, dass die Krallen fester zupackten. Ich war kurz davor, in eine andere Welt abzudriften. Plötzlich spürte ich ein Zucken, das durch den ganzen Drachenkörper lief. Ein letzter Feuerstoß explodierte über mir und ging in einen Schrei über, der in jedem einzelnen Knochen meines Körpers widerhallte. Bösartigkeit und Zorn lagen darin und das Wissen darum, verloren zu haben. Ganz plötzlich erschlaffte die Kraft der Krallen und der ungeheure Druck auf meine Hüfte ließ nach. Dafür tobten Schmerzen in jeder Ecke meines Körpers, und der letzte Vorhang fiel.


„… ungefähr ein Jahr in Schwanengestalt.“ Die Stimme meines Bruders holte mich zurück in die bewusste Welt. Ich riss die Augen auf und sah meine Brüder im hellen Sonnenlicht um mich versammelt. Mein Kopf lag im Schoß des Jüngsten, der mich halb besorgt, halb erleichtert ansah.

„Alle da?“ Meine Stimme war nur ein heiseres Krächzen, aber er hatte verstanden und nickte.

„Nur den Meister hat’s erwischt.“ Mein Bruder wies zur Bühne, neben der ein Krankenwagen stand.

„Vermutlich werden sie Herzversagen in den Totenschein schreiben.“ Mikes Stimme.

Ich fuhr hoch. Er hockte neben meinen Brüdern, eine Armbrust neben sich. Sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich.

„Was?“ fauchte ich schließlich, weil ich das Schweigen nicht ertrug.

„Ich dachte, ich hätte dich erlöst.“

„Nein, Mann, das war der falsche Zauberer.“ Ich musterte ihn hoffnungsvoll. „Aber du könntest es noch mal versuchen.“

Mike grinste. „Wie du wünschst, Holde.“

Das Feuerzeug reloaded

Sylvia Werth

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Audiolog 35, Hospitalschiff Eobhar, Pilotin Nhola


Notlandung. Schiff getarnt, aber schwer beschädigt. Atmosphäre verseucht mit Oxidaten, gerade noch atembar. Musste den Schwefeldeterminator einsetzen.

Kapitän Rhutjo tot, die meisten Besatzungsmitglieder ebenso. Die wenigen Überlebenden schwer verletzt und im Kälteschlaf. Ich selbst habe nur ein paar Schrammen, aber was nützt mir das? Ich bin Pilotin, wie soll ich das Schiff wieder flott kriegen?

Hier schleicht ein Eingeborener rum. Vielleicht kann ich den für die Reparaturen gebrauchen.


Audiolog 35 Ende


Der dumpfe Ruf eines Uhu-Männchens riss Bruno Renger aus seinem Dämmerschlaf. Herzhaft gähnend blinzelte er in die untergehende Sonne dieses ungewöhnlich kühlen Sommertages. Die knorrigen Baumstämme des Hagensteiner Forsts wirkten wie Schattenrisse ausgehungerter Vampire, die auf die Dunkelheit warteten, um dann über das Königreich Nepara herzufallen. Bruno schauderte. Ein deutliches Knurren in der Magengegend verlieh seinem Wunsch, die Hauptstadt Pagam noch vor Sonnenuntergang zu erreichen, hörbar Nachdruck.

Träge quälte er sich auf die Füße. Der lange Feldzug gegen die Mongolen hatte ihn ausgezehrt. Kleine Staubwolken stoben zu allen Seiten, als er seine alte Soldatenuniform ausklopfte und glatt strich. Eine Hand am abgenutzten Säbel setzte er seinen Fußmarsch fort. Die Geschichten über Hexen und andere teuflische Wesen in dieser Gegend versuchte er dabei zu verdrängen.