Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Vorwort

Demokratie und Wirtschaftswunder

Blühende Landschaften
Die Bundesrepublik, eine unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte
Herrscher am Rhein
Architekt der Republik
„Die Lage war sehr gefährlich“
Adenauer-Sekretärin Anneliese Poppinga erinnert sich
Verteilte Macht
Bonn und das Grundgesetz
Fresswelle nach der Fettlücke
Warum das Wirtschaftswunder kein Wunder war
Auferstanden mit Millionen
Wie Daimler-Benz im Krieg für die Zukunft plante
Heimkehr ohne Heim
Wie Kriegsgefangene litten
„Über 80 Prozent für die Todesstrafe“
Demoskopische Einblicke
Amnesie und Amnestie
Warum viele NS-Täter nicht bestraft wurden
Der Mann, der die Nazis jagte
Fritz Bauer, eine Art Held
Von der schnellen Truppe
Anfänge der Bundeswehr
Der Traum vom billigen Strom
Das erste Atomkraftwerk
„Heraus aus der Nato“
SED-Chef Ulbricht in Fahrt
Schlaf der Gerechten
So begann der Mauerbau
Oktopus in Würselen
„Gastarbeiter“ als Kunden

Leben in einer neuen Zeit

Fremd unter Landsleuten
Die schwierige Ankunft der Vertriebenen
„Entwurzelte im Land der Täter“
Erinnerungen von Rachel Salamander, aufgewachsen als „Displaced person“
Unchristlicher Streit
Protestanten gegen Katholiken, und umgekehrt
Aufbruch ins Gestern
Frauen mussten viel, aber durften wenig
Die Sorgen des Hauses Krupp
Wer ermordete Rosemarie Nitribitt?
„Der Endsieg“
Das Wunder von Bern
Luftbrücke nach Mallorca
Die Anfänge des Charter-Tourismus

Kultureller Wandel

Sehnsucht nach dem Happy End
Gemütlich und abwaschbar: deutsche Alltagskultur
Sagen, was kommt
Fernsehansagerin gesucht
Unter Halbstarken
Als der Rock 'n' Roll kam
Das Brot der frühen Jahre
Schriftsteller und Architekten suchten neue Wege
Wirrwarr in Rosarot
Viel Bewegung im Design
Saubere Leinwand
Der bundesdeutsche Film und sein erster Skandal
Cola gegen Kommunisten
Billy Wilders Berlin-Satire „Eins, zwei, drei“
Vorboten der Revolte
Schon in den Fünfzigern gärte es im Land
„Ich will Macht“
Adenauers letzte Jahre
Salut am Ufer
Abschied vom Gründungskanzler

Anhang

Impressum
Einleitung

Vorwort

Im Nachhinein lässt sich fast alles erklären, und trotzdem bleibt der Eindruck, dass in den Jahren nach dem Krieg etwas Wunderbares passiert ist: Aus den Trümmern der NS-Diktatur entstand im Westen Deutschlands ein Staat, der friedlicher, stabiler und wohlhabender wurde als alle seine Vorgänger. Großen Anteil an dieser Erfolgsgeschichte hatte ein Mann, der bereits 73 Jahre alt war, als er den Amtseid als erster Bundeskanzler der neuen Republik ablegte: Konrad Adenauer.  
Wie kein anderer Deutscher hat er von 1949 an das Land geprägt. In den Adenauer-Jahren ist die Bundesrepublik im Kern so geworden, wie wir sie heute noch kennen: verankert im Bündnis der westlichen Demokratien und pro-europäisch, marktwirtschaftlich und sozialstaatlich, reich und manchmal arrogant. Als der Christdemokrat vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert daheim in Rhöndorf starb, stand dem Land zwar ein tief greifender gesellschaftlicher Wandel bevor. Aber das politische Fundament war gelegt. Weder die 68er-Bewegung noch die sozialdemokratischen Regierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt konnten oder wollten daran etwas ändern. 
Eine einfache Persönlichkeit war Adenauer nicht, häufig handelte er autoritär, fast autokratisch. Bei den Westdeutschen kam das gut an, mehrheitlich legten sie Wert auf Ordnung, Sauberkeit und eine starke, patriarchalische Hand. Dass Adenauer ein großes Herz für ehemalige Nazis zeigte, schadete seiner Popularität gewiss nicht. Die dunklen Seiten seines Charakters bekam auch Wirtschaftsminister Ludwig Erhard zu spüren. Nach allen Regeln der Intrige versuchte Adenauer, seinen Parteifreund als Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers zu verhindern – vergebens. Erhards Zeit als Regierungschef blieb dann eine Episode, anders als seine Ministerjahre. Für den wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Krieg sorgte auch eine gute Portion Glück, ohne das weder Erhards ökonomische Leitsätze noch der US-amerikanische Marshallplan so richtig gegriffen hätten. 
Zu den besten Geschichten aus dem SPIEGEL und anderen Heften des Verlages, die zum Thema hier versammelt sind, gehören auch Beiträge von Hellmuth Karasek (1934 bis 2015) und Jürgen Leinemann (1937 bis 2013), zwei großen Autoren des deutschen Journalismus. Als Zeitzeugen und kritische Reporter haben sie das muffige Gesicht der Fünfzigerjahre beschrieben (Karasek im Artikel „Sehnsucht nach dem Happy End“ über die Alltagskultur der Aufbaujahre), aber auch den heraufziehenden Generationenkonflikt (Leinemann im Artikel „Der Endsieg“ über die Fußball-WM 1954). 
Wir wünschen Ihnen eine fesselnde Lektüre.



Dietmar Pieper
Demokratie und Wirtschaftswunder • Kapitel I

Blühende Landschaften

Unter der Führung des Patriarchen Konrad Adenauer gelang der jungen Bundesrepublik ein politisches und wirtschaftliches Wunder: Aus den Trümmern der Diktatur entstand einer der liberalsten Staaten Europas. Von Klaus Wiegrefe
Die Gründung des erfolgreichsten deutschen Staates aller Zeiten erfolgt in einem umgebauten Turnsaal. Eine schwarz-rot-goldene Fahne sowie die Flaggen der Länder verbreiten ein wenig Pathos. Die Frauen erscheinen in Kostümen, die Männer in dunklen Anzügen, denen allerdings anzusehen ist, dass sie zumeist aus der Vorkriegszeit stammen.
Im letzten Augenblick muss noch das Programm geändert werden. Carlo Schmid von der SPD hat dem Organisten beim Proben zugehört. Der brave Musiker intoniert das Kaiserquartett von Joseph Haydn, die Melodie des Deutschlandliedes. Schmid findet die Hymne mit dem doppeldeutigen Text der ersten Strophe („Deutschland, Deutschland über alles“) nicht geeignet für den feierlichen Anlass; schließlich haben die Alliierten das Stück verboten, weil es auch im „Dritten Reich“ Hymne war. Man einigt sich auf ein Werk von Georg Friedrich Händel.
Es ist 16.07 Uhr, als ein hochgewachsener älterer Herr namens Konrad Adenauer die Sitzung des Parlamentarischen Rats in der Pädagogischen Akademie zu Bonn eröffnet. Der Versammlungspräsident ist viele Jahre Kölner Oberbürgermeister gewesen und hat zur Feier des Tages ein Tintenfass und eine silberne Ratsherrenglocke aus seiner Heimatstadt entliehen, damit er nicht – wie sonst – mit einer CDU-Kreisparteitagsklingel bimmeln muss.
Fast neun Monate haben die Abgeordneten über die 146 Artikel des Grundgesetzes beraten, wie die Verfassung des neuen Staates genannt wird. Nun ruft Adenauer die anwesenden 68 Damen und Herren einzeln nach vorn, damit sie den Gesetzestext unterschreiben. Anschließend signieren auch die Ministerpräsidenten der Länder und die Landtagspräsidenten das Dokument.
Dann singen die Volksvertreter das alte Burschenschaftslied: „Ich hab mich ergeben, mit Herz und mit Hand, dir Land voll Lieb und Leben, mein deutsches Vaterland.“
Man schreibt den 23. Mai 1949, und mit Ablauf dieses Tages erblickt die Bundesrepublik Deutschland das Licht der Welt.
Groß sind die Hoffnungen nicht, die auf der zweiten deutschen Demokratie ruhen. Das Land zerstört, fast jeder sechste Deutsche durch Krieg, Holocaust und Vertreibung umgekommen, und stundenlang verbreitet der Rundfunk die Suchmeldungen des Roten Kreuzes. Männer mit gelben Blindenarmbinden oder beinamputierte Kriegsversehrte in abgenähten Hosen mühen sich durch die Ruinenlandschaften der zerbombten Städte, in denen Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten ausharren.
Als umso bemerkenswerter empfinden die Zeitgenossen den rasanten Wandel, der schon bald einsetzt und die kühnsten Hoffnungen übertrifft. Von einem „Wunder“ ist später die Rede, denn anders können sich viele nicht erklären, wie aus dem verwüsteten Weststaat in einer halben Generation eine angesehene Mittelmacht mit blühenden Landschaften wird.
Die Westdeutschen verdoppeln zwischen 1950 und 1959 das Bruttosozialprodukt. Sie verzehnfachen ihren Exportüberschuss und steigen zur weltweit erfolgreichsten Handelsmacht nach den USA auf. In vielen Städten sind Großbaustellen zu besichtigen, wie der ehemalige amerikanische Diplomat Charles Thayer 1957 beobachtet: „In ganz Deutschland ragen Kräne in den Himmel und sind von früh bis spät in Bewegung, nachts im Glanz gigantischer Scheinwerfer, bei Regen und Schnee, und bauen und bauen auf.“
Und dann die Politik, auch sie wirkt wie ein Wunder. Trotz Millionen ehemaliger Nazis, Hunderttausender Mörder, ungezählter Schreibtischtäter etabliert sich in wenigen Jahren eine stabile Demokratie, von Adenauer, inzwischen zum Kanzler gewählt, fest im Westen verankert. Kein Chaos, sondern eine funktionstüchtige Regierung, loyale Beamte, hohe Wahlbeteiligungen, klare Mehrheiten.
Auf solche Gründerjahre hätten Zeitgenossen und Nachwachsende stolz sein können. Doch das fiel schwer, denn auf der Ära von Währungsreform und Westbindung lag zugleich eine bleierne Schwere.
Was für Widersprüche. Arbeitskräfte sind Mitte der Fünfziger knapp, und Frauen stellen ein Drittel der Beschäftigten – aber die Verheirateten unter ihnen benötigen die Erlaubnis des Ehemanns, um arbeiten zu dürfen. Die Bundesrepublik vereinbart mit Israel Wiedergutmachung, und im Kanzleramt zieht Hans Globke die Strippen, der den Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen mitverfasst hat. Adenauer trifft sich mit dem Herrscher des kommunistischen Weltimperiums Nikita Chruschtschow in Moskau, um die letzten deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion nach Hause zu holen. Gleichzeitig riskieren in Hamburg, München oder Düsseldorf die Sympathisanten von Marx und Lenin Hausdurchsuchungen, ihren Job, sogar Haftstrafen.
Das neue Deutschland – ein zwischen Aufbruch und Beharrung zerrissenes Land. In Kassel wird die Documenta ins Leben gerufen; auf der Weltausstellung in Brüssel 1958 präsentiert die westdeutsche Avantgarde leichte Architektur und elegantes Design. Hingegen dominieren Gelsenkirchener Barock und Tütenlampen im „Wohnlokus mit germanischem Hockergrab“, wie die kleinen Neubauwohnungen mit Sitzbadewanne verspottet werden.
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Und überall die Angst vor dem Unkontrollierbaren, dem Randständigen, der Minderheit. Beinahe jedes zehnte Kind ist unehelich. Aber wer etwa seinem Sohn erlaubt, mit der Freundin im Elternhaus zu nächtigen, riskiert bis zu fünf Jahre Haft – das sieht der Paragraf über schwere Kuppelei vor. Auch Homosexuelle müssen aufpassen, dass sie nicht im Gefängnis landen.
Die Intellektuellen verachten die frühe Bundesrepublik. „Wir hatten die – von Gott geschenkte – Chance, ein Modell zu sein“, trauert 1961 der Schriftsteller Wolfgang Weyrauch. Und so empfindet es bald auch die nachwachsende Intelligenz der 68er, die den Älteren „Restauration“ vorwirft – ein Label, das lange haftet.
Inzwischen sind die 68er und ihr zeitweilig den Diskurs bestimmendes Geschichtsbild allerdings selbst in die Jahre gekommen. Ihr Konflikt mit den Vätern hat sich längst erledigt, auch Kalter Krieg und deutsche Teilung sind Geschichte, und so verändert sich die Perspektive.
Vorbei die Wortführerschaft derjenigen, die in der frühen Bundesrepublik nur das Fortwirken ehemaliger Nazis sehen oder sie als Kind der Alliierten verächtlich machen. Heute gehen Zeithistoriker der Frage nach, warum ausgerechnet die Bundesrepublik zu einem der liberalsten Staaten Europas geworden ist. Schließlich weisen alle Forschungen der vergangenen Jahrzehnte darauf hin, dass sich viel mehr Deutsche mit den Nazis eingelassen haben als früher angenommen.
Seine Entstehung verdankt der widersprüchliche Wunderstaat dem Elend, in dem seine Bewohner nach 1945 hausen. Die Felder sind verwüstet, der Handel liegt danieder. Einige Scheiben Brot, vielleicht ein Tupfer Margarine, zwei kleine Kartoffeln, etwas Milchsuppe – oft muss das reichen, um über den Tag zu kommen.
Auf Hamsterfahrten zu den Bauern im Umland tauschen die Menschen Pelze, Besteck oder Schmuck gegen Mehl, Kartoffeln oder Eier. Viele haben jeglichen Besitz im Krieg verloren – schon bald gibt es erste Hungertote. Und würden Briten und Amerikaner nicht mit umfangreichen Lieferungen helfen, gäbe es eine Katastrophe.
Die Westalliierten haben das Problem kommen sehen. Weder die vor dem Bankrott stehenden Briten noch die Amerikaner wollen ihren Steuerzahlern allerdings zumuten, wenige Monate nach der Befreiung der Konzentrationslager von Bergen-Belsen oder Dachau die Deutschen zu alimentieren. Sie sollen aber auch nicht krepieren.
US-Präsident Harry Truman und der britische Premierminister Clement Attlee einigen sich deshalb mit dem sowjetischen Diktator Josef Stalin auf der Konferenz von Potsdam im Sommer 1945, Deutschland als „wirtschaftliche Einheit“ zu behandeln: Stalin soll Lebensmittel aus den ehemaligen Kornkammern des Reichs in Ostdeutschland in die Westzonen liefern und im Gegenzug demontierte Industrieanlagen, etwa aus dem Ruhrgebiet, erhalten.
Doch der Kremldiktator ignoriert die Vereinbarung, und damit stehen die Amerikaner vor der Alternative, den Feind von einst dauerhaft zu beliefern – oder den Wiederaufbau zu betreiben. Es sei „bedauerlich, aber unvermeidbar“, notiert im Mai 1946 der stellvertretende US-Außenminister Dean Acheson, dass man die westlichen Zonen zusammenführen müsse. Die amerikanischen und die britischen Besatzungsgebiete verschmelzen ein knappes Dreivierteljahr später zum „Vereinigten Wirtschaftsgebiet“, der sogenannten Bizone.
Die Besatzer präsentieren ihren Schritt als provisorische Maßnahme; intern gehen viele in Washington und London freilich schon von der Teilung des besiegten Landes aus, auch wenn der endgültige Bruch erst ein Jahr später erfolgt. Der Kalte Krieg zeichnet sich ab, und Briten wie Amerikaner wollen unbedingt vermeiden, dass Stalin ganz Deutschland seinem Imperium einverleibt. Der britische Außenminister Ernest Bevin notiert 1946 besorgt: „Die russische Gefahr ist inzwischen genauso groß, möglicherweise sogar noch größer als die Gefahr eines wiedererstarkten Deutschlands.“
Zu diesem Zeitpunkt haben die Westalliierten bereits erste Länder und sogenannte Provinzen gebildet, zumeist nach historischen Vorbildern. Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe waren schon im Kaiserreich Bundesstaaten, später vereinigen sie sich mit dem Land Hannover zu Niedersachsen; Hessen und Baden sind teilidentisch mit den gleichnamigen Staaten der Weimarer Republik. Fast alle Nordländer sind zu klein. Aber die Niedersachsen haben am armen Schleswig-Holstein kein Interesse, und Hamburg und Bremen fürchten, bei einem Zusammengehen würden Landwirtschaftsinteressen dominieren. So bleibt die Kleinstaaterei erhalten.
Der Einfluss von London, Washington und Paris erweist sich als begrenzt, denn die Vertreter der westlichen Demokratien setzen zumeist auf Überzeugung. Es gelingt ihnen daher weder, das Berufsbeamtentum einzuschränken noch das Juristenmonopol aufzubrechen.
Bei den Medien, immerhin, sind sie erfolgreich. Sie sorgen dafür, dass der Rundfunk – damals Leitmedium – unabhängig bleibt. Fast alle wichtigen Blätter dieses Landes beginnen als „Lizenzzeitungen“, auch der SPIEGEL. Sorgfältig überprüfen die Presseoffiziere die Lizenznehmer. Die Entnazifizierung ist vor allem den Amerikanern ein Anliegen.
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Die alliierten, später deutschen Spruchkammern und Gerichte fällen über 3,6 Millionen Urteile. Am Anfang werden für kleinere Vergehen teilweise drakonische Strafen verhängt, die schwerwiegenden Fälle hingegen zurückgestellt. Da der Verfolgungselan später – mit dem Ausbruch des Kalten Krieges – erlischt, gehen viele hochrangige Nazis straffrei aus.
Und doch ist die Entnazifizierung kein vollkommener Fehlschlag. Der Historiker Norbert Frei hat zu Recht darauf verwiesen, dass für einen – dem Nationalsozialismus verbundenen – Generaldirektor oder Oberlandesgerichtspräsidenten die Inhaftierung nach Kriegsende „eine brutale soziale und politische Deklassierung“ darstellt. Die meisten halten sich nach einer solchen Erfahrung politisch zurück.
Die ersten demokratischen Gehversuche nach zwölf Jahren Diktatur – sie erfolgen in den Landtagen in Hannover, Düsseldorf oder München. Die Alliierten können dabei auf erfahrene Demokraten zurückgreifen: die Männer und Frauen von Weimar. Es sind Politiker, die noch im Kaiserreich geboren und geprägt wurden, wie der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer (bis 1933 Kölner Oberbürgermeister), der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher (bis 1933 Reichstagsabgeordneter), der spätere Bundespräsident Theodor Heuss (bis 1933 Reichstagsabgeordneter), die den Neuanfang symbolisieren.
Ein „außerordentlicher Lernprozess“ (Historiker Konrad Jarausch) beginnt, der von den Alliierten eingeleitet und von den Deutschen aufgenommen wird. Bereits bei den Parteigründungen zeigt sich der Wille, die Chance zu nutzen. Die Wiedergeburt der traditionsreichen SPD ist zwar keine Überraschung. 1946 hat sie wieder über 700 000 Mitglieder. Aber erstmals bildet sich im Land der Religionskriege eine christliche überkonfessionelle Volkspartei: die CDU. Und Adenauer gelingt es, aus den vielen Strömungen eine schlagkräftige Organisation zu formen.
Schon die ersten Kommunal- und Landtagswahlen 1946/47 lassen ahnen, dass es ein weiteres Mirakulum geben wird: das Wahlwunder, wie Historiker das Verhalten der Deutschen an der Urne genannt haben.
Zwar entscheiden die Alliierten über die Zulassungen der Parteien, und wer zu weit rechts steht, hat keine Chance. Doch niemand zwingt 70 Prozent der Bevölkerung dazu, sich zu beteiligen und dann nicht etwa massenhaft ungültig zu stimmen, sondern mit durchschnittlich jeweils gut 35 Prozent für SPD und CDU/CSU zu votieren; FDP und KPD erhalten ungefähr 9 Prozent.
Es ist der Schock der totalen Niederlage, der die Deutschen zwar noch nicht zu Demokraten macht, die meisten jedoch gegen den Nationalsozialismus immunisiert. Historiker wie der Brite Ian Kershaw schätzen, dass in den Nachkriegsjahren lediglich zehn Prozent der Bevölkerung überzeugte Nazis waren. Der Opportunismus der vielen Mitläufer im „Dritten Reich“ erweist sich als Vorteil: Man beugt sich auch den neuen Herren.
Die westlichen Alliierten fürchten daher weniger einen zweiten Hitler, sondern vielmehr, dass sich ihre Schützlinge für Stalin begeistern könnten. Die Lebensmittelversorgung ist in der Sowjetischen Besatzungszone nämlich nicht schlechter als im Westen. Und während die SED mit Stalins Hilfe eine Diktatur errichtet (SED-Chef Walter Ulbricht: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand behalten“), präsentiert sich der Kremlherrscher als Anwalt der deutschen Einheit. Amerikaner und Briten müssen hingegen handeln, wenn sie ihren Einflussbereich stabilisieren wollen.
In der Bizone funktioniert zunächst nichts wie geplant. Die Verwaltung ist über Minden (Wirtschaft), Bad Homburg (Finanzen), Frankfurt am Main (Post- und Fernmeldewesen), Stuttgart (Ernährung und Landwirtschaft) und Bielefeld (Verkehr) verstreut. Wer etwas produziert, verkauft es lieber auf dem Schwarzmarkt, als es zu festgesetzten Preisen abzuliefern. Denn die Währung ist ruiniert, weil den Milliarden Reichsmark, die im Umlauf sind, nur ein reduziertes Warenangebot gegenübersteht.
An Verbesserungsvorschlägen aus alliierter oder deutscher Feder mangelt es nicht. Allein über 250 Entwürfe zu einer Währungsreform liegen vor. Besonders populär sind planwirtschaftliche Erwägungen mit einer Vorliebe für die Enteignung von Industriebetrieben und Banken – eine Spätfolge der Weltwirtschaftskrise. Die SPD macht sich dafür stark. Sie stellt fünf Ministerpräsidenten und sogar in allen Ländern der Bizone die Wirtschaftsminister. Selbst in der CDU gibt es einen linken Flügel, der einen christlich geprägten Sozialismus will.
Die Amerikaner spielen auf Zeit. Sie hoffen, dass der Wiederaufbau an Dynamik gewinnt und damit alle Vorbehalte gegen den Kapitalismus ausgeräumt werden. Militärgouverneur Lucius D. Clay interveniert gegen den Sozialisierungsartikel in der hessischen Verfassung und blockiert das Gesetz zur Vergesellschaftung des Kohlenbergbaus in Nordrhein-Westfalen unter dem Vorwand, man dürfe einem zukünftigen Gesetzgeber bei der Gestaltung der Wirtschaftsordnung nicht vorgreifen. Die Taktik geht auf.
Am 5. Juni 1947 verkündet US-Außenminister George Marshall in der Harvard University sein legendäres Hilfsprogramm für Europa. Die psychologische Wirkung ist enorm, denn der Marshallplan signalisiert eine Wende in der amerikanischen Deutschlandpolitik. Auf einmal haben die Besiegten wieder eine Perspektive: den Anschluss an das amerikanische Wohlstandsimperium.
Die Demontage von Industrieanlagen wird nun deutlich reduziert (und endet 1951). Clay treibt mit großem Elan die Reform der Bizone voran. Diese wirkt mit „Wirtschaftsrat“ (Parlament), „Länderrat“ (Länderkammer), „Verwaltungsrat“ (Regierung), „Bank deutscher Länder“ (Zentralbank) bereits wie eine provisorische Bundesrepublik. Frankfurt am Main wird zur inoffiziellen Hauptstadt der Bizone.
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Die Sanierung der Währung ist Voraussetzung für die Beteiligung am Marshallplan. Im Oktober 1947 lassen die Amerikaner in New York und Washington Geldscheine im Dollardesign mit der Aufschrift „Deutsche Mark“ drucken. Nur bei den technischen Details dürfen deutsche Berater mitwirken.
Am 20. Juni 1948 erhält jeder, vom Baby bis zum Greis, 40 Deutsche Mark – eine Art Begrüßungsgeld für die schöne neue Warenwelt. Durch eine drastische Abwertung der Bank- und Sparguthaben wird der riesige Kaufkraftüberhang vernichtet. Das Geld ist auf einmal wieder etwas wert, die Mark löst die Zigarette als Währung ab.
Zum Erfolg wird die Währungsreform, weil Ludwig Erhard – als Direktor für Wirtschaft eine Art Wirtschaftsminister der Bizone – zugleich einen Großteil der Preise freigibt. Produzieren und Verkaufen lohnen sich wieder. Und da viele Ladenbesitzer zuvor Waren gehortet haben, sind am Tag der Währungsreform die Auslagen gefüllt – für die Menschentrauben vor den Schaufenstern ein Ereignis, das sich in die kollektive Erinnerung tief eingeprägt hat. Ab sofort gilt eine neue Zeitrechnung: „vor der Währung“ und „nach der Währung“.
Der rundlich-gemütliche Erhard wird später zur Ikone des Wirtschaftswunders. Das Ausmaß seiner Verdienste ist allerdings umstritten. Italien, Japan und Österreich erzielen in den Fünfzigerjahren ähnliche Wachstumsraten. Und so richtig zieht die Konjunktur auch erst mit dem einmaligen Boom der Weltwirtschaft an, der sich 1950 einstellt.
Zugute kommt den Deutschen, dass die teils hochmodernen Industrieanlagen aus der Nazizeit den Krieg weitgehend unbeschädigt überstanden haben. Außerdem erweisen sich die Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen als Motor der Entwicklung. Die oft gut ausgebildeten Pommern, Schlesier oder Ostpreußen packen an.
Der Aufschwung bringt den Westdeutschen volle Teller; die Lebensmittelkarten werden 1950 abgeschafft. Schlachtplatten, Schweinshaxen und Buttercremetorten sorgen dafür, dass schon bald die Anzüge nicht mehr um ausgemergelte Körper schlottern. Die Durchschnittsgröße von Stuttgarter Volksschülern nimmt in wenigen Jahren um bis zu zehn Zentimeter zu. „Darf es etwas mehr sein?“, lautet die neue Standardfrage von Verkäuferinnen.
Zur Bilanz des Marshallplans gehört allerdings auch, dass er die Teilung des Landes vertieft. Denn um die Hilfsleistungen umzusetzen, brauchen die Amerikaner eine deutsche Regierung. Die Tendenz zur Weststaatsgründung wird noch dadurch verstärkt, dass Stalin den Kommunisten in den osteuropäischen Ländern mit großer Brutalität an die Macht verhilft.
Im Juli 1948 autorisieren die Alliierten die Ministerpräsidenten, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Zur Überraschung der Sieger sind die Besiegten nicht begeistert. Den Deutschen bleibe bald nichts anderes mehr übrig, „als durch Verweigerung der Mitarbeit wenigstens ihre Ehre vor der Nachwelt zu retten“, schimpft Adenauer, der die Sieger verdächtigt, sich auf Dauer den Zugriff auf den deutschen Außenhandel vorbehalten zu wollen.
Andere sorgen sich um die Brüder und Schwestern im Osten; auf eine Staats-gründung im Westen, so Lorenz Bock, Ministerpräsident von Württemberg-Hohenzollern, würden die Russen „sofort mit einem Oststaat antworten ... und damit wäre das rechtlich vollzogen, was zurzeit schon geschehen ist, nämlich die Teilung Deutschlands“.
US-General Clay ist verärgert: Da sei man bereit, den Deutschen Vollmachten zu geben, und die erklärten, „diese Vollmachten gar nicht in Anspruch nehmen zu wollen“. Auf Dauer können die Ministerpräsidenten ihre ablehnende Position allerdings nicht halten, zumal sich Stalin einmal mehr als lausiger Stratege erweist. Er will die Bundesrepublik verhindern und verhängt im Sommer 1948 über Westberlin eine Blockade – eine der größten Fehlentscheidungen des Kalten Krieges.
Washington (und London) richten eine Luftbrücke ein, die 322 Tage dauern wird. Mit 200 000 Flügen bringen sie 1,4 Millionen Tonnen Fracht aus ihren Zonen in den Westteil der ehemaligen Reichshauptstadt. Es ist eines der größten Transportunternehmen der Weltgeschichte.
Unter diesem Eindruck kommen am 1. September 1948 die Verfassungsväter der Bundesrepublik erstmals zusammen, im Lichthof des Bonner Naturkundemuseums Koenig. Es sind je 27 Abgeordnete von SPD und CDU/CSU, 5 Liberale sowie je 2 Kommunisten, Vertreter des katholischen Zentrums und der Deutschen Partei. Die Landtage haben sie gewählt.
Repräsentativ ist das Gremium nicht; dafür sind die Mitglieder zu alt (im Durchschnitt 56 Jahre), zu männlich (nur vier Frauen), zu gebildet (zwei Drittel Akademiker), zu wohlhabend (kein einziger Arbeiter).
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Zwischen ausgestopften Giraffen und Mammutskeletten, die notdürftig abgehängt sind, verschleiern die Abgeordneten mit allerlei Wortakrobatik ihr Tun. Statt von einer Verfassung spricht die Runde von einem „Grundgesetz“ – eine Erfindung des Hamburger Bürgermeisters Max Brauer. Man nennt sich „Parlamentarischer Rat“ und nicht verfassunggebende Versammlung. Und das Ziel ist offiziell auch nicht die Gründung eines dauerhaften Staates, sondern eines „Provisoriums“, das bei der nächsten Gelegenheit zugunsten der deutschen Einheit entsorgt werden soll.
Am Ende der Beratungen entsteht die Bundesrepublik Deutschland, ausgestattet mit dem vielfach bewunderten Grundgesetz, das später in Südafrika, Spanien oder Griechenland Nachahmer findet.
Die Abgeordneten – durch die Erfahrungen mit Hitler klug geworden – bauen in den Text einige ziemlich komplizierte Hürden ein, um eine erneute Diktatur zu verhindern.
Die Grundrechte, die Demokratie, der Rechtsstaat, die Gewaltenteilung – nicht einmal einstimmig dürfen die Volksvertreter sie abschaffen. „Mut zur Intoleranz“ sei gegenüber denen gefordert, „die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen“, erklärt Carlo Schmid von der SPD, die wohl überragende Figur im Parlamentarischen Rat.
Eine tiefe Skepsis gegenüber dem Souverän durchzieht das Grundgesetz. Volksentscheide sind nicht vorgesehen, das Bundesverfassungsgericht kann radikale Parteien verbieten, und die wichtigste politische Figur, den Kanzler, darf man nur indirekt wählen.
Am 8. Mai 1949 verabschiedet der Parlamentarische Rat den Verfassungsersatz. Bis auf insgesamt zwölf Vertreter von CSU, KPD, Deutscher Partei (DP) und Zentrum stimmen alle Abgeordneten dafür.
Den Christsozialen und der DP ist der Bund zu stark, wie die Bundesländer ihnen zu schwach sind. Die Katholiken vom Zentrum lehnen ab, weil sie die Konfessionsschulen vermissen, und die Kommunisten sind grundsätzlich gegen die Entstehung der Bundesrepublik. Für Adenauer hingegen ist es „der erste frohe Tag seit dem Jahre 1933“.
Für die junge Bundesrepublik erweist sich das Grundgesetz als ideale Konstruktion, weil es eine starke und stabile Regierung ermöglicht.
Die Jüngeren haben Demokratie und Parlamentarismus nie kennengelernt, und die Älteren verbinden damit die chaotischen Zustände am Ende der Weimarer Republik. Und viele sind noch dem untergegangenen System verhaftet: Während der Beratungen des Parlamentarischen Rates erklären 57 Prozent der Deutschen, der Nationalsozialismus sei eine gute Idee gewesen, nur leider schlecht ausgeführt worden. Politik gilt ihnen nun als schmutziges Geschäft, betrieben von selbstsüchtigen Parteien.
Adenauers wohl größtes Verdienst besteht darin, dass er den Gegenbeweis antritt.
1949 halten viele den 73-jährigen Rheinländer für einen angehenden Politrentner. Paradoxerweise hilft ihm sein Alter beim Aufstieg. Denn er kann sich glaubwürdig als Übergangskandidat präsentieren; am Ende regiert er länger als Adolf Hitler mit seinem „Tausendjährigen Reich“.
Den ersten Bundestagswahlkampf gewinnt die Union knapp, weil die SPD gegen die Marktwirtschaft und auch noch gegen die Kirchen zu Felde zieht. Einen Kanzlerkandidaten haben die Christdemokraten allerdings nicht – bis Adenauer eine Woche nach dem Wählervotum die Granden seiner Partei nach Rhöndorf zum Frühstück lädt, in seine am Berghang gelegene Villa mit dem herrlichen Blick über das Rheintal.
Der junge CSU-Politiker Franz Josef Strauß spottet später, das Buffet sei „von einer Reichhaltigkeit“ gewesen, wie er es „auf Privatkosten Adenauers weder vorher noch nachher“ jemals erlebt habe.
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Der Gastgeber charmiert, argumentiert, wirbt. Am Ende steht die Entscheidung, ihn als Kanzler einer schwarz-gelben Koalition (einschließlich der Deutschen Partei) zu nominieren.
Für die Bundesrepublik ist diese Entscheidung ein Glücksfall. Eine Koalition mit der SPD, wie sie in den meisten Bundesländern regiert, wäre ebenfalls möglich gewesen. Zur Westintegration der Bundesrepublik, vielleicht sogar zum Wirtschaftswunder wäre es dann erst viel später, wenn überhaupt, gekommen. Denn die Sozialdemokraten unter Schumacher befürworten einen neutralen Kurs Bonns und korrigieren dies erst 1960.
Adenauer hingegen ist schon 1946 davon überzeugt, dass die Zukunft in einem Westbündnis gegen die „asiatische Diktatur“ Stalins zu finden sei. Und dieses Ziel verfolgt er mit Geschick, Hartnäckigkeit und großer Raffinesse.
Dem Christdemokraten wird bis heute vorgeworfen, die Deutschen im Osten abgeschrieben zu haben. Und in der Tat fängt für den Rheinländer jenseits der Elbe Asien an, wie er einmal bemerkt. Doch seine grundsätzliche Einschätzung erweist sich als treffend: „Wir müssen die Freiheit der Bundesrepublik erhalten, bis einmal, wann, weiß ich nicht, die Verhältnisse in Russland sich ändern.“ Jahrzehnte später wird es so kommen.
Das größte Pfund des Kommunistenfressers Adenauer beim Handel mit den Alliierten über einen selbstständigen unabhängigen Staat ist ein möglicher Wehrbeitrag der Westdeutschen zur Nato. 1949 bietet er den Amerikanern, die ihrerseits das Aufstellen einer deutschen Armee erwägen, Soldaten an. Im Gegenzug verlangt er die Souveränität der westdeutschen Republik.
Als der Koreakrieg 1950 beginnt, wird man sich bald einig. Innenpolitisch ist es ein riskantes Spiel, denn die meisten Deutschen lehnen eine Wiederbewaffnung ab. Aber am Ende setzt sich Adenauer durch.
Den zögerlichen europäischen Nachbarn, die nach zwei Weltkriegen von deutschen Soldaten genug haben, malt er ein Schreckensszenario: „Wenn ich einmal nicht mehr da bin, weiß ich nicht, was aus Deutschland werden soll. Glauben Sie mir, die Gefahr des deutschen Nationalismus ist viel größer, als man denkt“, sucht er im Foyer eines Londoner Hotels den Luxemburger Ministerpräsidenten Joseph Bech und den belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak zu ängstigen, damit sie der Westintegration der Deutschen zustimmen. An einem durch eine Säule verdeckten Nebentisch sitzt der damalige SPIEGEL-Redakteur Lothar Rühl und notiert die Worte.
Am 5. Mai 1955 wird die Bundesrepublik souverän, tags darauf tritt sie der Nato bei. Im Herbst erhalten die ersten Freiwilligen der Bundeswehr ihre Ernennungsurkunden.
„Mit seiner Politik hat Adenauer für Deutschland alles an Vorteilen herausgeschlagen, was man sich nur vorstellen kann“, zollt ihm später der Adenauer-Freund und französische Staatspräsident Charles de Gaulle Respekt.
Wohl kein Bundeskanzler verfügt über eine derartige Machtfülle wie der erste Regierungschef. Als sein eigener Außenminister (bis 1955) hält Adenauer den Kontakt zu den Alliierten. Er schneidet Ressorts zu und benennt Minister, wie es ihm passt. Und da die CDU sich als Kanzlerwahlverein versteht, muss er weder aus Partei noch Fraktion Widerstand fürchten.
Adenauer sei kein Lehrmeister der Demokratie gewesen, hat Peter Graf Kielmansegg bemerkt, und es fällt nicht schwer, dafür Belege zu finden. Der Kanzler schurigelt seine Minister wie Dezernenten; er verachtet das Parlament und versucht, das ZDF als regierungsnahen Sender zu installieren (was am Bundesverfassungsgericht 1961 scheitert).
Und doch spricht manches dafür, dass der autoritäre Führungsstil „die Demokratie nicht verhindert, sondern die Rahmenbedingungen für ihre Verwirklichung geschaffen“ hat, wie der Politologe Kurt Sontheimer schreibt. Denn Adenauer demonstriert seinen skeptischen – Hitler, dem Kaiser oder Bismarck nachtrauernden – Landsleuten, dass Demokratie und Autorität einander nicht ausschließen.
Und er bündelt die konservativen Kräfte mit demagogischer Verve: Der Wähler, so behauptet er schon im ersten Wahlkampf, müsse sich zwischen „Christentum“ oder „Sozialismus“ entscheiden; gern bezeichnet Adenauer die Sozialdemokraten als „heidnische Brüder“ der Kommunisten.
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Nach und nach saugt die Union die kleinen Parteien im konservativen Spektrum auf. 1953 sind sechs Gruppierungen im Bundestag vertreten, 1961 noch CDU/ CSU, FDP und SPD. Die Bundesrepublik wird durch die Existenz nur einer großen Partei rechts der Mitte enorm stabilisiert.
Auch die Sozialdemokraten lassen sich von der verbreiteten Kommunistenfurcht anstecken, obwohl die KPD keineswegs jene Supertruppe Stalin-ergebener Fanatiker ist, als welche die SED-Propaganda sie hinstellt.
Doch die gezielt geschürte Angst vor Stalins westlichen Ablegern hat juristisch weitreichende Folgen: 1951 beschließt das Parlament das erste Strafrechtsänderungsgesetz, ein Schandfleck in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte. Mit den 37 Gummiparagrafen lässt sich jeder verhaften, der auch nur Plakate klebt. Und nicht nur Kommunisten sind betroffen. Über 100 000 Ermittlungsverfahren werden eingeleitet, Tausende Urteile gefällt. Solche Zahlen, urteilt 1965 der spätere FDP-Innenminister Werner Maihofer, „machten einem ausgewachsenen Polizeistaat alle Ehre“.
Das Misstrauen ist groß, die Kontrolle auch. Wer die drögen Zeitungen aus der DDR beziehen möchte, braucht eine Sondererlaubnis, Privatbriefe werden auf politische Inhalte durchgesehen. Protest gegen die Wiederbewaffnung kann den Job kosten.
Die westdeutschen Politiker fürchten die Wühlarbeit der SED, obwohl sich die soziale Lage langsam bessert. Die Arbeitslosenquote geht von 11 Prozent (1950) auf 2,6 (1959) und später sogar 0,7 (1965) zurück; sechs Millionen Neubauwohnungen werden aus dem Boden gestampft, in denen über 16 Millionen Menschen ein Unterkommen finden. Ein New Yorker Reisebüro wirbt 1953 für eine Deutschlandtour mit der Begründung, jetzt sei die letzte Gelegenheit, „die Ruinen zu besichtigen“.
Sogar die knapp acht Millionen völlig mittellosen Vertriebenen in der Bundesrepublik (Stand: 1950) – erheblich weniger Menschen lebten damals in der Schweiz – werden integriert und lassen sich integrieren. Eine große Leistung, auch wenn noch Anfang der Sechzigerjahre Ostdeutsche in Auffanglagern leben müssen. Das 20. Jahrhundert ist weltweit das Jahrhundert der Vertreibungen, aber nirgendwo ist die Eingliederung der Opfer so gelungen wie hier.
Dem Wirtschaftswunder sei Dank.
Dass angepackt wird, ist nicht nur ein Klischee. Der Schriftsteller Paul Schallück notiert 1954: „Werfen wir einen Blick auf unser Land: Da wimmelt und brodelt es, da wird geschafft, geleistet, da ist in Staub- und Schweißwolken die deutsche Tüchtigkeit am Werk. Hämmern, Rattern, Gebrodel bei Tag und Nacht. Welch Schauspiel!“
Sechstagewoche, zwei Wochen Urlaub im Jahr, stundenlange Anfahrt zur Arbeitsstätte – die Verhältnisse rufen dennoch kaum Empörung hervor, denn Leistung wird den Nachkriegsdeutschen mit ihrem gebrochenen Nationalbewusstsein zum religiös aufgeladenen Ersatz für Volk und Vaterland.
Wir sind wieder wer – das sagen einige (auch Ludwig Erhard) und denken viele. Sie verklären den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 als „Wunder von Bern“; bei der Siegesfeier singen die Schlachtenbummler „Deutschland, Deutschland über alles“.
Die Deutschen wollen vergessen, was vor 1945 gewesen war. Und Adenauer macht es ihnen leicht. Ob Richter, Professoren, Manager, Ärzte, Diplomaten, Offiziere – im neuen Deutschland wird nicht allzu viel nachgefragt.
Auch Kritiker erkennen inzwischen an, dass die Integration von 8,5 Millionen NSDAP-Mitgliedern (Stand: 1945) eine Voraussetzung für die Befriedung des Landes war. Aber erfordert der innere Friede, einen Altnazi wie Theodor Oberländer zum Vertriebenenminister zu berufen, die führenden Beamten des Auswärtigen Amtes zu zwei Dritteln aus ehemaligen Parteigenossen zu rekrutieren oder jahrelang beinahe vollständig auf die Verfolgung von NS-Verbrechern zu verzichten?
„Arbeit ersetzt die Trauerarbeit“, bringt später Christian Graf von Krockow den Sachverhalt auf eine Kurzformel.
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Doch mit der Plackerei wird nicht nur Altes verdrängt, sondern auch Neues geschaffen. Am Beginn der Gründerjahre leben viele Menschen wie im Kaiserreich. Sie fahren mit Pferdewagen über Pflastersteine, einmal in der Woche kommt in den Landstädten der Jauchewagen, um die Kübel aus den Plumpsklos abzutransportieren. Die Frauen schrubben die Wäsche im Zuber, und jeder Fünfte verdient sein Geld auf dem Bauernhof.