Eine letzte Welle aus weiß glühendem Schmerz fegte über Königin Nereida hinweg. Längst war sie zu schwach, um zu schreien. Sogar zu schwach, um Angst zu empfinden. Das Feuer im Kamin kam nicht mehr gegen den fauchenden Sturm an, der durch die Ritzen der Bleiglasfenster pfiff und in den Gängen der Burg heulte. Obwohl die Helferin der Hebamme unermüdlich dicke Holzscheite in die Flammen warf, vermochte sie es nicht, die beißende Kälte zu vertreiben. Tief biss sie sich im Fleisch fest und überzog die Fenster mit Eisblumen. Meterhoch türmte sich der Schnee vor den Mauern auf, selbst das Meer war zu mächtigen Schollen gefroren, die unter dem Funkeln der Sterne schauerlich stöhnten und knackten.
Nersha, der Gott des Frostes und der Stürme, schien höchstselbst über die Geburt des Thronerben zu wachen. Ein gutes Zeichen. Nereida seufzte, als ihr der Atem des Winters das Leben aus den Knochen saugte. Vielleicht, so hoffte sie, um es ihrem Kind zu schenken. Nersha sang sein Lied, lockte und rief, nahm sie in seine kalten Arme und flüsterte von einem ewigen Schlaf.
So gerne hätte sie ihm nachgeben.
So gerne.
Aber das Kind in ihrem Leib wollte mit aller Macht hinaus in die Freiheit. Es verließ ihren Körper, als wäre es ein Schwert, das sie mit scharfer Klinge entzwei teilte. Ein letztes Mal kam ein Stöhnen über die Lippen der Königin, dann waren ihre Kräfte endgültig versiegt. Von nun an lag alles Weitere in den Händen der Götter. Ob sie lebte oder starb. Ob der König sein eigen Fleisch und Blut annahm oder nicht.
Ein kräftiger Schrei erhob sich über das Tosen des Sturms. Den Göttern sei Dank, das Kind war gesund. Der Atem des Winters hatte sein kleines Herz nicht geschwächt und ihm nicht die Seele entrissen, kaum dass es in die Welt hinausgetragen worden war. Vielleicht war Nereidas Hoffnung mehr als nur das. Vielleicht hatte Nersha ihre Gebete erhört und flößte dem Neugeborenen die Kraft des Schnees, der eisbedeckten Berge und der wilden Stürme ein.
Erschöpft von der Geburt, nickte die Königin ein. Als sie ihre Augen wieder öffnete, hatte die Hebamme das Kind bereits gewaschen und in ein weiches Tuch geschlagen.
»War Nersha mir gnädig?«, flüsterte sie matt. »Ist es ein Junge? Habe ich Gereon endlich einen Erben geschenkt? Sybille! Rede mit mir!«
Die Hebamme wandte sich zu ihr um und sah sie an. Schweigend. Verbittert. Alle Erleichterung war mit einem Schlag dahin.
Sie hatte auch dieses Mal versagt.
Kein Junge. Kein Thronerbe.
König Gereons Enttäuschung würde maßlos sein.
Vielleicht würde er sogar … nein! Sie durfte nicht daran denken! Nicht nach allem, was sie durchgestanden hatte. Nicht nach all der Zeit, in der sie das kleine Geschöpf unter ihrem Herzen getragen hatte, und nicht nach der stundenlangen, qualvollen Geburt, in deren Verlauf sie unzählige Gebete und ebenso viele Flüche losgeworden war.
»Gib sie mir«, bettelte Nereida, doch die Hebamme schüttelte den Kopf und drückte das greinende Kind an ihre Brust.
»Ihr wisst, was getan werden muss, Herrin.« Sybille blickte bestürzt zu Boden. »Ihr wisst es genau.«
»Gib sie mir!« Nereida streckte ihre Arme nach dem Neugeborenen aus. Selbst diese kleine Bewegung brachte sie an den Rand der Ohnmacht. Nein, es durfte nicht alles umsonst gewesen sein! So grausam konnten nicht einmal die Götter sein.
»Ich flehe dich an, Sybille«, flüsterte sie mit letzter Kraft. »Lass sie mich wenigstens einmal halten. Du hast selbst Kinder geboren. Du weißt, wie es ist, Mutter zu sein.«
»Ja, das weiß ich, Herrin.« Eine Träne rann über die Wange der alten Frau. Ihre schrumpeligen, fleckigen Hände hielten das Kind so sanft und vorsichtig, als wäre es ihr eigenes. »Aber ich kann sie Euch erst geben, wenn der König seine Entscheidung getroffen hat.« Damit nahm Sibylle einen tiefen Atemzug, straffte ihre Schultern und wandte sich ihrer Helferin zu. »Geh jetzt, Mädchen. Geh und hole den König.«
Der schwarze Mantel der Erschöpfung legte sich um Nereidas Sinne. Sie war zu schwach, um ihr Kind zu beschützen. Zu schwach, um dem Schicksal auch nur das Geringste entgegenzusetzen. Hatte sie nicht alle Regeln befolgt? Hatte sie nicht jeden Tag gebetet, Opfer in den Tempel gebracht, die Segnung der Priester empfangen und alles getan, was man ihr aufgetragen hatte?
Womit hatte sie diese neuerliche Strafe verdient? Welche Schuld lastete auf ihren Schultern, wenn die Götter wieder und wieder schwarze Fäden in den Teppich ihres Schicksals webten?
Begierig darauf, seinen lang ersehnten Erben in den Armen zu halten, hatte der König unmittelbar vor der Tür im Gang gewartet. Das Mädchen war kaum aus dem Raum gehuscht, als auch schon die schweren, scheppernden Schritte eisenbeschlagener Stiefel erklangen. Und dann stand er plötzlich neben Nereidas Bett. Groß, furchteinflößend und zornig. Es waren keine Worte vonnöten, um ihm ihr Versagen vor Augen zu führen. Alles, was er wissen musste, zeichnete sich in den Gesichtern der drei Frauen ab.
»Nein«, hauchte Nereida. »Bitte nimm sie mir nicht. Ich flehe dich an. Nimm mir nicht mein Kind!«
»Schweig!« Gereon musterte sie ohne Mitleid. Seine Miene war eine harte Maske aus Enttäuschung und Frustration. Fordernd wandte er sich zu der Hebamme um und streckte die Arme nach dem Kind aus. »Gib sie her!«
Aus einem ersten Impuls heraus wollte Sybille zurückzucken. Nereida sah, wie die Alte gegen das Unvermeidliche aufbegehrte, wie sie das Neugeborene schützend an sich drückte und in einem Anfall von lebensmüdem Mut zu dem König hoch starrte. Doch dann gewann das, was man ihresgleichen seit Jahrhunderten eingetrichtert hatte.
Gehorche. Stelle nichts infrage.
Höre die Befehle deines Herrn und führe sie aus.
Die Wangen tränennass, die Lippen zu weißen Strichen zusammengepresst, überließ Sybille dem König das Mädchen. Es war so falsch, was hier geschah! So schrecklich falsch! Seit undenklicher Zeit stand das Gesetz in Stein geschrieben, hineingemeißelt von alten, missgelaunten Männern, die glaubten, über Leben und Tod entscheiden zu dürfen.
Wann nahmen die Menschen endlich Vernunft an?
Wann würde das alles endlich aufhören?
Ruppig riss der König seine Tochter an sich. Nereida erwartete, dass das Kind ob der groben Behandlung nur umso lauter schreien würde, stattdessen verstummte sein zartes Stimmchen. Vielleicht war es Grausamkeit, vielleicht auch nur purer Zufall, doch Gereon drehte sich so, dass Nereida zum ersten Mal das Gesicht ihrer Tochter sehen konnte. Eine überwältigende Liebe strömte in ihr Herz. Gewiss hatte es niemals ein schöneres Kind unter den drei Monden gegeben. Seine Haut war weiß wie Schnee, sein flaumiges, noch feuchtes Haar wie gesponnenes Silber. Am herrlichsten aber waren die Augen des Mädchens. Zwei Iriden so eisblau wie die Nordlichter, die seit zehn Nächten den Himmel erhellten und über den Eisschollen tanzten. Selbst Gereon hielt in seinem Zorn inne und starrte verblüfft auf das kleine Geschöpf hinab.
»Bitte«, flehte Nereida. »Lass ihre Füße den Boden berühren. Nimm sie als deine Tochter an.«
»Schweig, Weib!« Gereon warf ihr einen scharfen Blick zu. Einst, vor langer Zeit, hatte er sie anders angesehen. Liebevoll. Sanft. Voller Wärme und Zuneigung. Doch das war längst vorbei. Jetzt, da es zwischen ihnen nur noch Missachtung und Demütigung gab, gefror die Zeit zu dicken Klumpen aus Eis. Sie wurde ebenso scharfkantig und unbarmherzig wie das erstarrte Meer. Nereida glaubte, das Herz müsste ihr in der Brust zerspringen. Wenn Gereon das Kind an die Hebamme weitergab, war sein Tod besiegelt. Man würde es hinaus in die Kälte bringen und jenseits der Wolfsmauer in den Schnee legen, wo es den umherstreifenden Tieren als Futter dienen würde.
Welche Dämonen hatten nur solche Gesetze niedergeschrieben?
Und welche Monster sie über Jahrhunderte hinweg befolgt?
Siehst du es denn nicht?, wollte Nereida schreien. Etwas so Schönes können nur die Götter erschaffen haben. Sie wollen, dass das Kind lebt. Begreife es doch! Töte es und Nersha wird dich strafen.
All diese Worte und noch weitaus mehr brannten auf ihrer Zunge, aber die Regeln verlangten, dass sie still zu sein hatte. Alle Entscheidungsgewalt lag bei ihrem Gatten und sie selbst, die das Kind neun Monate lang unter ihrem Herzen getragen und unter Schmerzen zur Welt gebracht hatte, musste sich seinem Willen fügen.
Lange stand Gereon da und starrte wie ein kalter Gott aus Eis auf seine Tochter hinab. Nereida sah bereits vor sich, wie einer seiner Krieger das Mädchen nahm und es hinaus in die Nacht trug, hinter die Mauer zu den heulenden Wölfen, die alles zerrissen, was man ihnen vorwarf.
Es durfte nicht sein! Niemals! Niemals!
Ein unbeschreiblicher Zorn ballte sich in ihrem Leib zusammen. Er wurde stärker, drängte alle Vernunft beiseite und ließ ihre Glieder vor Anspannung zittern. Schon öffnete Nereida den Mund und wappnete sich gegen die Strafe, die sie ereilen würde, als Gereon das Mädchen langsam gen Boden sinken ließ. Ganz sacht berührten die winzigen nackten Füße den Steinboden, dann hob er es wieder empor und hauchte einen Kuss auf seine Stirn.
»Sie soll den Namen Gemma tragen«, verkündete der König der Grauen Küste. »So wie meine Schwester, die die Götter allzu früh zu sich geholt haben.«
Als er der Hebamme das Kind zurückgab, nahm sein Gesicht einen verwirrten Ausdruck an. Ganz so, als könnte er sich nicht erklären, wie er zu dieser Entscheidung gekommen war. Ohne ein weiteres Wort wandte er Nereida den Rücken zu, marschierte mit klappernden Stiefeln aus dem Raum und warf die Tür hinter sich zu.
Im Dschungel der Aman-Kaja
Die Nacht war so friedlich, als gäbe es den Krieg nicht. Ixchal grub ihre nackten Zehen in den Schlamm des Flussufers und versuchte, ihre Angst zu bezwingen. Lebte Ikbat noch? Kämpfte der König der Aman-Kaja tapfer an der Seite seiner Krieger oder lag er längst in einer Lache seines eigenen Blutes?
Der Gedanke, ihren Mann nicht lebend wiederzusehen, raubte Ixchal die Luft zum Atmen. Sie wollte schreien, weinen und fluchen. Sie wollte sich die Haare ausreißen und ihren Schmerz in den Dschungel hinausbrüllen. Stattdessen stand sie einfach nur da und starrte auf das träge fließende Wasser. Zorn brodelte in ihren Eingeweiden. So viel Zorn, dass sie daran zu ersticken glaubte.
Gaben die Knochenmenschen denn niemals auf? Wurden sie niemals müde, die Gefahren des Flusses zu bezwingen und Dutzende von Booten zu verlieren, nur um sich einen weiteren Kampf zu liefern? Wozu brauchten sie noch mehr Land? Das gesamte östliche Ufer gehörte doch längst ihnen.
Oh, sie war es leid, Tag für Tag neue Rauchsäulen am Horizont aufsteigen zu sehen. Sie war es leid, mit Angst aufzustehen und mit Angst einzuschlafen. Aber der Lauf der Dinge war ebenso unerbittlich wie der Hunger der Knochenmenschen. Sie hatten das östliche Ufer förmlich verschlungen, den Wald niedergebrannt und die Erde aufgerissen. Und jetzt, da es dort drüben nichts mehr zu holen gab, dürsteten sie nach dem Blut und den Eingeweiden ihrer Heimat.
»Tötet sie«, flüsterte Ixchal in das Murmeln des Wassers, als könnte der Fluss ihre Worte zum Schlachtfeld tragen. »Tötet sie alle.«
Der Dschungel antwortete mit seinem ewig gleichen Lied. Nachtvögel sangen, Grillen zirpten und Fischkatzen stießen ihre trillernden Jagdlaute aus. Zahllose Stimmen vermischten sich unter dem Licht der drei Monde, schwollen wie ein Wispern auf und ab und zogen ganz allmählich das Gift aus Ixchals Herzen.
O ja, Krieg war wahrhaft eine Krankheit. Selbst wenn man ihm nur aus der Ferne beiwohnte, veränderte er einen. Ihre Gedanken waren niemals finster gewesen und schon gar nicht hatte sie Menschen den Tod gewünscht. Doch jetzt … jetzt war so viel Hass und Zorn in ihren Gedanken. Zu schwer wog das Gewicht ihrer Sorgen, zu tief steckte die Angst in ihren Knochen. Die Geschmeidigkeit ihrer Schritte verkam zu einem müden Schlurfen, als sie ihren ziellosen Weg wiederaufnahm. Ohne den Krieg hätte sie mit ihrem Mann auf weichen Decken gelegen, nackt, aneinandergeschmiegt, Haut an Haut, Atem an Atem. Sie wären ein sich liebendes Königspaar gewesen, von Mohini dazu auserkoren, das Volk der Aman-Kaja zu bewahren und zu beschützen.
Was, wenn sie heute Nacht schändlich versagten?
Verzweiflung bohrte sich wie ein scharfkantiger Stein in ihr Herz, machte es schwer und kalt und zog es in die Tiefe. Dort, wo sie nicht mehr atmen und nicht mehr leben konnte.
»Hör auf damit«, schalt sie sich selbst. »Hör auf! Hör auf, verflucht!«
Ixchal legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Schönheit der Nacht. Das weiche Licht der Monde glitzerte auf dem Wasser, Bäume raschelten im Wind und breiteten ihre Kronen unter den Sternen aus. Inmitten eines Labyrinths aus Luftwurzeln und Schlingpflanzen taumelten Nachtfalter, Leuchtkäfer und Feuerfliegen umher. Orchideen gruben ihre Wurzeln in die Äste sterbender Bäume und schenkten ihnen im Angesicht des Todes ein prachtvolles Gewand.
So wird der Dschungel auch Ikbats Leib verschlingen, ging es ihr durch den Kopf. Er wird ihn mit Moos und Blüten überziehen und ihn in Erde verwandeln. Dann ist seine Seele überall.
Ixchal lief weiter. Immer weiter. Bis etwas Dunkles im Wasser an ihr vorübertrieb. Zunächst schenkte sie dem Ding kein großes Interesse, denn es geschah oft, dass die Strömung Treibholz und Kadaver mit sich riss. Doch dann bemerkte sie, dass das Gebilde an eine Wiege erinnerte. Ja, es sah ganz nach einem jener Behältnisse aus, in die die Hirschmenschen ihre Kinder zu legen pflegten. Ixchal ging näher an das Ufer heran und versuchte, mehr zu erkennen. Falls es eine Wiege war, so musste sie vollkommen verbrannt sein. Schwarz verkohlte Blumengirlanden, Federgrasbüschel und Kränze aus Schlingpflanzen schmückten das Gebilde und erinnerten an das struppige Fell eines Wasserschweins.
Plötzlich erkannte Ixchal, dass die Wiege nicht allein den Fluss hinuntertrieb. Dutzende von Hornechsen begleiteten ihren Weg, doch keine von ihnen wagte sich näher heran. Denn ein Boto beschützte das sonderbare Treibgut. Kein Geschöpf des Dschungels, nicht einmal die gefräßigsten aller Echsen, wagten sich an die heiligen Flussdelfine. Es war altes, ungebrochenes Gesetz und so selbstverständlich und allumfassend wie der Himmel, das Leben und der Tod.
Nun vergaß Ixchal alles um sich herum. Fasziniert beobachtete sie, wie der Boto das Gebilde in Richtung Ufer bugsierte. Mal stieß er es mit seiner flaschenförmigen Schnauze an, mal drängte er sich mit seinem ganzen Körper dagegen und zwang es gegen die Strömung zu den Baumwurzeln, die wie dicke Schlangen in das Wasser tauchten und dort eine Art Netz bildeten.
Ohne den Delfin aus den Augen zu lassen, kletterte Ixchal über einen umgestürzten Stamm und kämpfte sich durch das Dickicht zum Ufer hinunter. Der Boto schien es nun umso eiliger zu haben. Er verpasste der Wiege einen energischen Stoß, sodass sie zwischen zwei Wurzeln rutschte und sich darin verkeilte. Dann, als wäre mit diesem Kraftakt alles Leben aus ihm gewichen, drehte sich das Tier auf den Rücken, öffnete seine zahnbewehrte Schnauze zu einem stummen Seufzer und wurde von der Strömung zurück auf den Fluss gezogen.
Kein Wesen des Wassers schwamm geschickter und schneller als ein Boto, aber dieses Tier vollführte keinen einzigen Flossenschlag mehr. Leblos trieb es dahin, hinein in die lauernde Horde der Echsen. Selbst jetzt wagten sie es nicht, Mohinis heiligstes Wesen anzugreifen. Unbehelligt glitt der Delfin in die Mitte des Flusses, wo eine starke Strömung ihn mit sich riss. Bestürzt blickte Ixchal dem in der Ferne verschwindenden Leichnam nach. Die Zeiten, in denen ihr Volk an böse Omen geglaubt hatte, gehörten der Vergangenheit an, und doch hatte der Anblick des toten Tieres einen Schatten auf ihre Seele geworfen. Den Schatten einer dunklen, traurigen Zeit, die sich unaufhaltsam näherte.
Verloren die Aman-Kaja den Krieg?
Würde ihr Mann, ihr treuer Gefährte, ihr über alles geliebter König auf dem Schlachtfeld sterben?
Plötzlich drang ein leises, klägliches Wimmern an Ixchals Ohren. War das nicht das Weinen eines Kindes? Kraftlos und zu Tode erschöpft? Und kam es nicht aus dem schwarzen, verbrannten Ding, das der Delfin mit letzter Kraft an das Ufer getragen hatte?
Hastig stürzte Ixchal zum Wasser, watete hinein und zerrte an dem Gebilde. Mit einem widerspenstigen Knirschen gaben die Wurzeln es frei und noch ehe die Hornechsen auf drei Schritt Entfernung herangekommen waren, hatte Ixchal die Wiege bereits auf ihre Arme gehoben und trug sie auf feste Erde.
Unmöglich, dass darin etwas überlebt hatte! Der Gestank nach Asche, Tod und Feuer stieg ihr in die Nase. Kohle schwärzte ihre Finger, als sie an dem Gestrüpp zerrte, das den Blick in das Innere des Gebildes verwehrte. Unter mehreren Decken, die lichterloh gebrannt haben mussten, bewegte sich etwas. Ungläubig fetzte Ixchal die schwarzen Stofffetzen beiseite, entfernte die Überreste von Schlingpflanzen und Blüten und erstarrte.
Ein Kind blickte ihr entgegen. Kein Säugling mehr, vielleicht drei Jahre alt, mit großen, wunderschönen Augen und dichtem schwarzem Haar. Schnell schob Ixchal auch den Rest des verkohlten Stoffes beiseite, bis der kleine nackte Körper gänzlich freigelegt war.
»Aber …«, stieß sie fassungslos hervor. »Aber das kann doch nicht … das ist unmöglich.« Vorsichtig legte sie eine Hand auf den Oberkörper des Jungen. Wie konnte er unversehrt sein, wenn seine Wiege gebrannt hatte? Wenn alles um ihn herum aus Schwärze und Asche bestand?
Dann dachte sie an den Boto und in Ixchal keimte der Gedanke auf, dass göttliche Mächte ihre Hände im Spiel hatten.
»Smaragdgrüne Male«, flüsterte sie und strich mit der Spitze ihres Zeigefingers über die Wange des Jungen. Winzige, leuchtende Sprenkel zierten dort die Haut und zogen sich bis hinauf zu seiner Schläfe. »Das Zeichen königlichen Blutes. Wo kommst du nur her?«
Das Kind verstummte und blickte zu ihr auf, als hätte es seine Furcht mit einem Mal vergessen. Ergriffen von einem tiefen, wehmütigen Glücksgefühl hob Ixchal es auf, drückte es an ihre Brust und spürte, wie kraftvoll das Herz in diesem kleinen Körper schlug. Hatte der Boto etwa sein Leben für den Jungen hingegeben? Hatte er einen toten Leib mit seiner Seele wiederbelebt, so, wie es in manchen Geschichten erzählt wurde?
Falls ja, musste dies der Beginn eines großen Schicksals sein. Denn nur in den ältesten Legenden und in den bedeutsamsten Geschichten griff Mohini in die uralten Gesetze des Lebens und des Sterbens ein.
Ixchal beugte sich vor und küsste die Stirn des Kindes. Was mochte ihm nur geschehen sein? Hatten die Hirschmenschen ihn geopfert? Hatten sie ihn in eine brennende Wiege gelegt und dem Fluss überantwortet, um ihren grausamen Gott zu befriedigen? Oder waren ihm seine Male zum Verhängnis geworden?
Ixchal streichelte den Kopf des Jungen und warf einen Blick auf das östliche Ufer. Dort, über den niedergebrannten Überresten der Wälder, die dem Hunger der Knochenmenschen zum Opfer gefallen waren, leuchtete Tarek. Der ewige Stern. Unveränderlich zog er seine Bahnen am Himmel, ging niemals unter und stand selbst am Tage als blasses Licht über dem Horizont.
»Du sollst seinen Namen tragen«, entschied Ixchal. »Den Namen eines unzerstörbaren Gestirns. Eines Wegweisers, der uns seit Anbeginn der Zeit tröstet und führt.«
Denn eines Tages, das spürte sie mit überwältigender Klarheit, würde er genau das sein. Ein Licht. Ein Wegweiser in dunklen Zeiten, der selbst dann noch standhaft blieb, wenn alle anderen Sterne verlöschten.
»Tarek«, hauchte sie seinen Namen in den Wind, blickte gen Osten und beschloss, dass sie von nun an einen Sohn hatte.