Der Smaragddrache

Der Smaragddrache

Gemmas Reise

Britta Strauss

Drachenmond Verlag

»Manchmal brauchen wir zwei Dinge im Leben: Hoffnung und Kraft.

Die Hoffnung, dass alles irgendwann besser wird, und die Kraft, bis dahin durchzuhalten.«


Dieses Buch widme ich allen Wegweisern, Kämpfern und Lichtbringern, die selbst dann noch standhaft bleiben, wenn alle anderen Sterne verlöschen.

Inhalt

Prolog

1. Der Ruf des Drachen

2. Im Tempel der Mohini

3. Jenseits des Opalsees

4. Ein Herz aus Smaragd

5. Im Schein der Winterfeuer

6. Malakats Geschichten

7. Aufbruch

8. Tareks Rückkehr

9. Töte sie alle

10. Der Geist des Waldes

11. Ein letztes Mal

12. Hinter dem Horizont

13. Nadirs Botenvogel

14. Die Augen des Drachen

15. Im Wald der Gottesanbeterinnen

16. Das Einhorn

17. Der Geist des Drachenmädchens

18. Gemmas Verzweiflung

19. Südwinde

20. Antares’ Hexe

21. In der Wüste

22. Die Burg des Blauen Mondes

23. Das Ei des Basilisken

24. Der Spiegel des Schicksals

25. Tarakai

26. Die Prüfung der Mohini

27. Im Reich der Geister

28. Gemma und Tarek

29. Am Anfang aller Dinge

30. Der König der Aman-Kaja

31. Das Geschenk des Flussdelfins

32. Dschungelflüstern

33. Blutrotes Wasser

34. Der Schneezahn

35. Ylerias Falle

36. Mogoa

37. Im Kerker

38. Der Geist und die Hexe

39. Das Ende der Freiheit

40. Drachenzorn

41. Für immer gebunden

42. Licht und Dunkelheit

43. Die finsterste Nacht

44. Ylerias Lüge

45. Zwischen zwei Welten

46. Gefangen im Netz

47. Nachtjasmin

48. Der Flammenkristall

49. Gemmas Schlaf

50. Rachedurst

Über die Autorin

Prolog

Die Burg der Grauen Küste

Eine letzte Welle aus weiß glühendem Schmerz fegte über Königin Nereida hinweg. Längst war sie zu schwach, um zu schreien. Sogar zu schwach, um Angst zu empfinden. Das Feuer im Kamin kam nicht mehr gegen den fauchenden Sturm an, der durch die Ritzen der Bleiglasfenster pfiff und in den Gängen der Burg heulte. Obwohl die Helferin der Hebamme unermüdlich dicke Holzscheite in die Flammen warf, vermochte sie es nicht, die beißende Kälte zu vertreiben. Tief biss sie sich im Fleisch fest und überzog die Fenster mit Eisblumen. Meterhoch türmte sich der Schnee vor den Mauern auf, selbst das Meer war zu mächtigen Schollen gefroren, die unter dem Funkeln der Sterne schauerlich stöhnten und knackten.

Nersha, der Gott des Frostes und der Stürme, schien höchstselbst über die Geburt des Thronerben zu wachen. Ein gutes Zeichen. Nereida seufzte, als ihr der Atem des Winters das Leben aus den Knochen saugte. Vielleicht, so hoffte sie, um es ihrem Kind zu schenken. Nersha sang sein Lied, lockte und rief, nahm sie in seine kalten Arme und flüsterte von einem ewigen Schlaf.

So gerne hätte sie ihm nachgeben.

So gerne.

Aber das Kind in ihrem Leib wollte mit aller Macht hinaus in die Freiheit. Es verließ ihren Körper, als wäre es ein Schwert, das sie mit scharfer Klinge entzwei teilte. Ein letztes Mal kam ein Stöhnen über die Lippen der Königin, dann waren ihre Kräfte endgültig versiegt. Von nun an lag alles Weitere in den Händen der Götter. Ob sie lebte oder starb. Ob der König sein eigen Fleisch und Blut annahm oder nicht.

Ein kräftiger Schrei erhob sich über das Tosen des Sturms. Den Göttern sei Dank, das Kind war gesund. Der Atem des Winters hatte sein kleines Herz nicht geschwächt und ihm nicht die Seele entrissen, kaum dass es in die Welt hinausgetragen worden war. Vielleicht war Nereidas Hoffnung mehr als nur das. Vielleicht hatte Nersha ihre Gebete erhört und flößte dem Neugeborenen die Kraft des Schnees, der eisbedeckten Berge und der wilden Stürme ein.

Erschöpft von der Geburt, nickte die Königin ein. Als sie ihre Augen wieder öffnete, hatte die Hebamme das Kind bereits gewaschen und in ein weiches Tuch geschlagen.

»War Nersha mir gnädig?«, flüsterte sie matt. »Ist es ein Junge? Habe ich Gereon endlich einen Erben geschenkt? Sybille! Rede mit mir!«

Die Hebamme wandte sich zu ihr um und sah sie an. Schweigend. Verbittert. Alle Erleichterung war mit einem Schlag dahin.

Sie hatte auch dieses Mal versagt.

Kein Junge. Kein Thronerbe.

König Gereons Enttäuschung würde maßlos sein.

Vielleicht würde er sogar … nein! Sie durfte nicht daran denken! Nicht nach allem, was sie durchgestanden hatte. Nicht nach all der Zeit, in der sie das kleine Geschöpf unter ihrem Herzen getragen hatte, und nicht nach der stundenlangen, qualvollen Geburt, in deren Verlauf sie unzählige Gebete und ebenso viele Flüche losgeworden war.

»Gib sie mir«, bettelte Nereida, doch die Hebamme schüttelte den Kopf und drückte das greinende Kind an ihre Brust.

»Ihr wisst, was getan werden muss, Herrin.« Sybille blickte bestürzt zu Boden. »Ihr wisst es genau.«

»Gib sie mir!« Nereida streckte ihre Arme nach dem Neugeborenen aus. Selbst diese kleine Bewegung brachte sie an den Rand der Ohnmacht. Nein, es durfte nicht alles umsonst gewesen sein! So grausam konnten nicht einmal die Götter sein.

»Ich flehe dich an, Sybille«, flüsterte sie mit letzter Kraft. »Lass sie mich wenigstens einmal halten. Du hast selbst Kinder geboren. Du weißt, wie es ist, Mutter zu sein.«

»Ja, das weiß ich, Herrin.« Eine Träne rann über die Wange der alten Frau. Ihre schrumpeligen, fleckigen Hände hielten das Kind so sanft und vorsichtig, als wäre es ihr eigenes. »Aber ich kann sie Euch erst geben, wenn der König seine Entscheidung getroffen hat.« Damit nahm Sibylle einen tiefen Atemzug, straffte ihre Schultern und wandte sich ihrer Helferin zu. »Geh jetzt, Mädchen. Geh und hole den König.«

Der schwarze Mantel der Erschöpfung legte sich um Nereidas Sinne. Sie war zu schwach, um ihr Kind zu beschützen. Zu schwach, um dem Schicksal auch nur das Geringste entgegenzusetzen. Hatte sie nicht alle Regeln befolgt? Hatte sie nicht jeden Tag gebetet, Opfer in den Tempel gebracht, die Segnung der Priester empfangen und alles getan, was man ihr aufgetragen hatte?

Womit hatte sie diese neuerliche Strafe verdient? Welche Schuld lastete auf ihren Schultern, wenn die Götter wieder und wieder schwarze Fäden in den Teppich ihres Schicksals webten?

Begierig darauf, seinen lang ersehnten Erben in den Armen zu halten, hatte der König unmittelbar vor der Tür im Gang gewartet. Das Mädchen war kaum aus dem Raum gehuscht, als auch schon die schweren, scheppernden Schritte eisenbeschlagener Stiefel erklangen. Und dann stand er plötzlich neben Nereidas Bett. Groß, furchteinflößend und zornig. Es waren keine Worte vonnöten, um ihm ihr Versagen vor Augen zu führen. Alles, was er wissen musste, zeichnete sich in den Gesichtern der drei Frauen ab.

»Nein«, hauchte Nereida. »Bitte nimm sie mir nicht. Ich flehe dich an. Nimm mir nicht mein Kind!«

»Schweig!« Gereon musterte sie ohne Mitleid. Seine Miene war eine harte Maske aus Enttäuschung und Frustration. Fordernd wandte er sich zu der Hebamme um und streckte die Arme nach dem Kind aus. »Gib sie her!«

Aus einem ersten Impuls heraus wollte Sybille zurückzucken. Nereida sah, wie die Alte gegen das Unvermeidliche aufbegehrte, wie sie das Neugeborene schützend an sich drückte und in einem Anfall von lebensmüdem Mut zu dem König hoch starrte. Doch dann gewann das, was man ihresgleichen seit Jahrhunderten eingetrichtert hatte.

Gehorche. Stelle nichts infrage.

Höre die Befehle deines Herrn und führe sie aus.

Die Wangen tränennass, die Lippen zu weißen Strichen zusammengepresst, überließ Sybille dem König das Mädchen. Es war so falsch, was hier geschah! So schrecklich falsch! Seit undenklicher Zeit stand das Gesetz in Stein geschrieben, hineingemeißelt von alten, missgelaunten Männern, die glaubten, über Leben und Tod entscheiden zu dürfen.

Wann nahmen die Menschen endlich Vernunft an?

Wann würde das alles endlich aufhören?

Ruppig riss der König seine Tochter an sich. Nereida erwartete, dass das Kind ob der groben Behandlung nur umso lauter schreien würde, stattdessen verstummte sein zartes Stimmchen. Vielleicht war es Grausamkeit, vielleicht auch nur purer Zufall, doch Gereon drehte sich so, dass Nereida zum ersten Mal das Gesicht ihrer Tochter sehen konnte. Eine überwältigende Liebe strömte in ihr Herz. Gewiss hatte es niemals ein schöneres Kind unter den drei Monden gegeben. Seine Haut war weiß wie Schnee, sein flaumiges, noch feuchtes Haar wie gesponnenes Silber. Am herrlichsten aber waren die Augen des Mädchens. Zwei Iriden so eisblau wie die Nordlichter, die seit zehn Nächten den Himmel erhellten und über den Eisschollen tanzten. Selbst Gereon hielt in seinem Zorn inne und starrte verblüfft auf das kleine Geschöpf hinab.

»Bitte«, flehte Nereida. »Lass ihre Füße den Boden berühren. Nimm sie als deine Tochter an.«

»Schweig, Weib!« Gereon warf ihr einen scharfen Blick zu. Einst, vor langer Zeit, hatte er sie anders angesehen. Liebevoll. Sanft. Voller Wärme und Zuneigung. Doch das war längst vorbei. Jetzt, da es zwischen ihnen nur noch Missachtung und Demütigung gab, gefror die Zeit zu dicken Klumpen aus Eis. Sie wurde ebenso scharfkantig und unbarmherzig wie das erstarrte Meer. Nereida glaubte, das Herz müsste ihr in der Brust zerspringen. Wenn Gereon das Kind an die Hebamme weitergab, war sein Tod besiegelt. Man würde es hinaus in die Kälte bringen und jenseits der Wolfsmauer in den Schnee legen, wo es den umherstreifenden Tieren als Futter dienen würde.

Welche Dämonen hatten nur solche Gesetze niedergeschrieben?

Und welche Monster sie über Jahrhunderte hinweg befolgt?

Siehst du es denn nicht?, wollte Nereida schreien. Etwas so Schönes können nur die Götter erschaffen haben. Sie wollen, dass das Kind lebt. Begreife es doch! Töte es und Nersha wird dich strafen.

All diese Worte und noch weitaus mehr brannten auf ihrer Zunge, aber die Regeln verlangten, dass sie still zu sein hatte. Alle Entscheidungsgewalt lag bei ihrem Gatten und sie selbst, die das Kind neun Monate lang unter ihrem Herzen getragen und unter Schmerzen zur Welt gebracht hatte, musste sich seinem Willen fügen.

Lange stand Gereon da und starrte wie ein kalter Gott aus Eis auf seine Tochter hinab. Nereida sah bereits vor sich, wie einer seiner Krieger das Mädchen nahm und es hinaus in die Nacht trug, hinter die Mauer zu den heulenden Wölfen, die alles zerrissen, was man ihnen vorwarf.

Es durfte nicht sein! Niemals! Niemals!

Ein unbeschreiblicher Zorn ballte sich in ihrem Leib zusammen. Er wurde stärker, drängte alle Vernunft beiseite und ließ ihre Glieder vor Anspannung zittern. Schon öffnete Nereida den Mund und wappnete sich gegen die Strafe, die sie ereilen würde, als Gereon das Mädchen langsam gen Boden sinken ließ. Ganz sacht berührten die winzigen nackten Füße den Steinboden, dann hob er es wieder empor und hauchte einen Kuss auf seine Stirn.

»Sie soll den Namen Gemma tragen«, verkündete der König der Grauen Küste. »So wie meine Schwester, die die Götter allzu früh zu sich geholt haben.«

Als er der Hebamme das Kind zurückgab, nahm sein Gesicht einen verwirrten Ausdruck an. Ganz so, als könnte er sich nicht erklären, wie er zu dieser Entscheidung gekommen war. Ohne ein weiteres Wort wandte er Nereida den Rücken zu, marschierte mit klappernden Stiefeln aus dem Raum und warf die Tür hinter sich zu.


Im Dschungel der Aman-Kaja

Die Nacht war so friedlich, als gäbe es den Krieg nicht. Ixchal grub ihre nackten Zehen in den Schlamm des Flussufers und versuchte, ihre Angst zu bezwingen. Lebte Ikbat noch? Kämpfte der König der Aman-Kaja tapfer an der Seite seiner Krieger oder lag er längst in einer Lache seines eigenen Blutes?

Der Gedanke, ihren Mann nicht lebend wiederzusehen, raubte Ixchal die Luft zum Atmen. Sie wollte schreien, weinen und fluchen. Sie wollte sich die Haare ausreißen und ihren Schmerz in den Dschungel hinausbrüllen. Stattdessen stand sie einfach nur da und starrte auf das träge fließende Wasser. Zorn brodelte in ihren Eingeweiden. So viel Zorn, dass sie daran zu ersticken glaubte.

Gaben die Knochenmenschen denn niemals auf? Wurden sie niemals müde, die Gefahren des Flusses zu bezwingen und Dutzende von Booten zu verlieren, nur um sich einen weiteren Kampf zu liefern? Wozu brauchten sie noch mehr Land? Das gesamte östliche Ufer gehörte doch längst ihnen.

Oh, sie war es leid, Tag für Tag neue Rauchsäulen am Horizont aufsteigen zu sehen. Sie war es leid, mit Angst aufzustehen und mit Angst einzuschlafen. Aber der Lauf der Dinge war ebenso unerbittlich wie der Hunger der Knochenmenschen. Sie hatten das östliche Ufer förmlich verschlungen, den Wald niedergebrannt und die Erde aufgerissen. Und jetzt, da es dort drüben nichts mehr zu holen gab, dürsteten sie nach dem Blut und den Eingeweiden ihrer Heimat.

»Tötet sie«, flüsterte Ixchal in das Murmeln des Wassers, als könnte der Fluss ihre Worte zum Schlachtfeld tragen. »Tötet sie alle.«

Der Dschungel antwortete mit seinem ewig gleichen Lied. Nachtvögel sangen, Grillen zirpten und Fischkatzen stießen ihre trillernden Jagdlaute aus. Zahllose Stimmen vermischten sich unter dem Licht der drei Monde, schwollen wie ein Wispern auf und ab und zogen ganz allmählich das Gift aus Ixchals Herzen.

O ja, Krieg war wahrhaft eine Krankheit. Selbst wenn man ihm nur aus der Ferne beiwohnte, veränderte er einen. Ihre Gedanken waren niemals finster gewesen und schon gar nicht hatte sie Menschen den Tod gewünscht. Doch jetzt … jetzt war so viel Hass und Zorn in ihren Gedanken. Zu schwer wog das Gewicht ihrer Sorgen, zu tief steckte die Angst in ihren Knochen. Die Geschmeidigkeit ihrer Schritte verkam zu einem müden Schlurfen, als sie ihren ziellosen Weg wiederaufnahm. Ohne den Krieg hätte sie mit ihrem Mann auf weichen Decken gelegen, nackt, aneinandergeschmiegt, Haut an Haut, Atem an Atem. Sie wären ein sich liebendes Königspaar gewesen, von Mohini dazu auserkoren, das Volk der Aman-Kaja zu bewahren und zu beschützen.

Was, wenn sie heute Nacht schändlich versagten?

Verzweiflung bohrte sich wie ein scharfkantiger Stein in ihr Herz, machte es schwer und kalt und zog es in die Tiefe. Dort, wo sie nicht mehr atmen und nicht mehr leben konnte.

»Hör auf damit«, schalt sie sich selbst. »Hör auf! Hör auf, verflucht!«

Ixchal legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Schönheit der Nacht. Das weiche Licht der Monde glitzerte auf dem Wasser, Bäume raschelten im Wind und breiteten ihre Kronen unter den Sternen aus. Inmitten eines Labyrinths aus Luftwurzeln und Schlingpflanzen taumelten Nachtfalter, Leuchtkäfer und Feuerfliegen umher. Orchideen gruben ihre Wurzeln in die Äste sterbender Bäume und schenkten ihnen im Angesicht des Todes ein prachtvolles Gewand.

So wird der Dschungel auch Ikbats Leib verschlingen, ging es ihr durch den Kopf. Er wird ihn mit Moos und Blüten überziehen und ihn in Erde verwandeln. Dann ist seine Seele überall.

Ixchal lief weiter. Immer weiter. Bis etwas Dunkles im Wasser an ihr vorübertrieb. Zunächst schenkte sie dem Ding kein großes Interesse, denn es geschah oft, dass die Strömung Treibholz und Kadaver mit sich riss. Doch dann bemerkte sie, dass das Gebilde an eine Wiege erinnerte. Ja, es sah ganz nach einem jener Behältnisse aus, in die die Hirschmenschen ihre Kinder zu legen pflegten. Ixchal ging näher an das Ufer heran und versuchte, mehr zu erkennen. Falls es eine Wiege war, so musste sie vollkommen verbrannt sein. Schwarz verkohlte Blumengirlanden, Federgrasbüschel und Kränze aus Schlingpflanzen schmückten das Gebilde und erinnerten an das struppige Fell eines Wasserschweins.

Plötzlich erkannte Ixchal, dass die Wiege nicht allein den Fluss hinuntertrieb. Dutzende von Hornechsen begleiteten ihren Weg, doch keine von ihnen wagte sich näher heran. Denn ein Boto beschützte das sonderbare Treibgut. Kein Geschöpf des Dschungels, nicht einmal die gefräßigsten aller Echsen, wagten sich an die heiligen Flussdelfine. Es war altes, ungebrochenes Gesetz und so selbstverständlich und allumfassend wie der Himmel, das Leben und der Tod.

Nun vergaß Ixchal alles um sich herum. Fasziniert beobachtete sie, wie der Boto das Gebilde in Richtung Ufer bugsierte. Mal stieß er es mit seiner flaschenförmigen Schnauze an, mal drängte er sich mit seinem ganzen Körper dagegen und zwang es gegen die Strömung zu den Baumwurzeln, die wie dicke Schlangen in das Wasser tauchten und dort eine Art Netz bildeten.

Ohne den Delfin aus den Augen zu lassen, kletterte Ixchal über einen umgestürzten Stamm und kämpfte sich durch das Dickicht zum Ufer hinunter. Der Boto schien es nun umso eiliger zu haben. Er verpasste der Wiege einen energischen Stoß, sodass sie zwischen zwei Wurzeln rutschte und sich darin verkeilte. Dann, als wäre mit diesem Kraftakt alles Leben aus ihm gewichen, drehte sich das Tier auf den Rücken, öffnete seine zahnbewehrte Schnauze zu einem stummen Seufzer und wurde von der Strömung zurück auf den Fluss gezogen.

Kein Wesen des Wassers schwamm geschickter und schneller als ein Boto, aber dieses Tier vollführte keinen einzigen Flossenschlag mehr. Leblos trieb es dahin, hinein in die lauernde Horde der Echsen. Selbst jetzt wagten sie es nicht, Mohinis heiligstes Wesen anzugreifen. Unbehelligt glitt der Delfin in die Mitte des Flusses, wo eine starke Strömung ihn mit sich riss. Bestürzt blickte Ixchal dem in der Ferne verschwindenden Leichnam nach. Die Zeiten, in denen ihr Volk an böse Omen geglaubt hatte, gehörten der Vergangenheit an, und doch hatte der Anblick des toten Tieres einen Schatten auf ihre Seele geworfen. Den Schatten einer dunklen, traurigen Zeit, die sich unaufhaltsam näherte.

Verloren die Aman-Kaja den Krieg?

Würde ihr Mann, ihr treuer Gefährte, ihr über alles geliebter König auf dem Schlachtfeld sterben?

Plötzlich drang ein leises, klägliches Wimmern an Ixchals Ohren. War das nicht das Weinen eines Kindes? Kraftlos und zu Tode erschöpft? Und kam es nicht aus dem schwarzen, verbrannten Ding, das der Delfin mit letzter Kraft an das Ufer getragen hatte?

Hastig stürzte Ixchal zum Wasser, watete hinein und zerrte an dem Gebilde. Mit einem widerspenstigen Knirschen gaben die Wurzeln es frei und noch ehe die Hornechsen auf drei Schritt Entfernung herangekommen waren, hatte Ixchal die Wiege bereits auf ihre Arme gehoben und trug sie auf feste Erde.

Unmöglich, dass darin etwas überlebt hatte! Der Gestank nach Asche, Tod und Feuer stieg ihr in die Nase. Kohle schwärzte ihre Finger, als sie an dem Gestrüpp zerrte, das den Blick in das Innere des Gebildes verwehrte. Unter mehreren Decken, die lichterloh gebrannt haben mussten, bewegte sich etwas. Ungläubig fetzte Ixchal die schwarzen Stofffetzen beiseite, entfernte die Überreste von Schlingpflanzen und Blüten und erstarrte.

Ein Kind blickte ihr entgegen. Kein Säugling mehr, vielleicht drei Jahre alt, mit großen, wunderschönen Augen und dichtem schwarzem Haar. Schnell schob Ixchal auch den Rest des verkohlten Stoffes beiseite, bis der kleine nackte Körper gänzlich freigelegt war.

»Aber …«, stieß sie fassungslos hervor. »Aber das kann doch nicht … das ist unmöglich.« Vorsichtig legte sie eine Hand auf den Oberkörper des Jungen. Wie konnte er unversehrt sein, wenn seine Wiege gebrannt hatte? Wenn alles um ihn herum aus Schwärze und Asche bestand?

Dann dachte sie an den Boto und in Ixchal keimte der Gedanke auf, dass göttliche Mächte ihre Hände im Spiel hatten.

»Smaragdgrüne Male«, flüsterte sie und strich mit der Spitze ihres Zeigefingers über die Wange des Jungen. Winzige, leuchtende Sprenkel zierten dort die Haut und zogen sich bis hinauf zu seiner Schläfe. »Das Zeichen königlichen Blutes. Wo kommst du nur her?«

Das Kind verstummte und blickte zu ihr auf, als hätte es seine Furcht mit einem Mal vergessen. Ergriffen von einem tiefen, wehmütigen Glücksgefühl hob Ixchal es auf, drückte es an ihre Brust und spürte, wie kraftvoll das Herz in diesem kleinen Körper schlug. Hatte der Boto etwa sein Leben für den Jungen hingegeben? Hatte er einen toten Leib mit seiner Seele wiederbelebt, so, wie es in manchen Geschichten erzählt wurde?

Falls ja, musste dies der Beginn eines großen Schicksals sein. Denn nur in den ältesten Legenden und in den bedeutsamsten Geschichten griff Mohini in die uralten Gesetze des Lebens und des Sterbens ein.

Ixchal beugte sich vor und küsste die Stirn des Kindes. Was mochte ihm nur geschehen sein? Hatten die Hirschmenschen ihn geopfert? Hatten sie ihn in eine brennende Wiege gelegt und dem Fluss überantwortet, um ihren grausamen Gott zu befriedigen? Oder waren ihm seine Male zum Verhängnis geworden?

Ixchal streichelte den Kopf des Jungen und warf einen Blick auf das östliche Ufer. Dort, über den niedergebrannten Überresten der Wälder, die dem Hunger der Knochenmenschen zum Opfer gefallen waren, leuchtete Tarek. Der ewige Stern. Unveränderlich zog er seine Bahnen am Himmel, ging niemals unter und stand selbst am Tage als blasses Licht über dem Horizont.

»Du sollst seinen Namen tragen«, entschied Ixchal. »Den Namen eines unzerstörbaren Gestirns. Eines Wegweisers, der uns seit Anbeginn der Zeit tröstet und führt.«

Denn eines Tages, das spürte sie mit überwältigender Klarheit, würde er genau das sein. Ein Licht. Ein Wegweiser in dunklen Zeiten, der selbst dann noch standhaft blieb, wenn alle anderen Sterne verlöschten.

»Tarek«, hauchte sie seinen Namen in den Wind, blickte gen Osten und beschloss, dass sie von nun an einen Sohn hatte.

Kapitel 1

Der Ruf des Drachen

Tarek

Achtzehn Jahre später

Auf dem schwarzen Obsidian der Schwertklinge war das Blut nahezu unsichtbar. Es tropfte nicht mehr von der scharfen Spitze, zäh und glänzend wie flüssiger Rubin, sondern überzog das Vulkanglas mit einer nach Tod stinkenden Kruste. Ich war mir sicher, diesen Geruch niemals wieder loszuwerden. Meine ruhelosen Gedanken waren angefüllt mit Schmerz, verzerrten Gesichtern, aufgerissenen Augen, zerhacktem Fleisch und brechenden Knochen. Wie viele Männer hatte ich in meinem ersten Krieg getötet?

Zwei Dutzend? Drei Dutzend?

Oder viel, viel mehr?

Ich wollte nicht daran denken. Niemals wieder.

Es musste sein, ging mir die Stimme meiner Mutter Ixchal durch den Kopf. Sie haben die letzte Grenze überschritten. Sie haben den Großen Fluss entweiht und mussten sterben. Alle miteinander. Damit wir leben können.

Ja, es hatte sein müssen. Denn wenn niemand die Knochenmenschen aufhielt, würden sie die Welt verschlingen. Alles Leben, vom größten bis zum kleinsten Wesen, würde ihrem Hunger zum Opfer fallen. Und doch fühlte es sich falsch an, im Zorn zu töten. Es war, als würde man mit jedem Herzen, das man durchbohrte, und mit jeder Kehle, die man aufschlitzte, ein Stück von sich selbst verlieren. Als würde man innerlich erstarren, während man sein Schwert in lebendiges Fleisch stieß. Dabei hatte es mir zwischendurch sogar Freude bereitet. Und gerade dieses fremdartige Gefühl von Macht und Rachedurst war es, das mich am meisten entsetzte.

Ich ließ das Schwert fallen, legte den Kopf in den Nacken und atmete die kühle Nachtluft ein. Es war vorbei. Vorerst. Alles Kommende lag in den Händen der Götter. Müde entledigte ich mich meines Bogens und des Köchers, zog die blutgetränkte Rüstung aus Hornechsenhaut aus und stellte mich nackt in das Licht des Marmormondes.

Früher hatte ich diese Nächte geliebt. Vierzig Tage lang würde der riesige Himmelskörper über die Welt wandern, ehe er ebenso lange wieder hinter dem Horizont verschwand. Ich wäre in seinem hellen Schein durch den Dschungel gestreift, hätte in einer Quelle ein Bad genommen und auf einem weichen, mit Moos bewachsenen Ast geschlafen. Doch jetzt würde mich der Anblick des schönsten aller Monde stets an den Krieg erinnern.

Eine Zeit lang gelang es mir dennoch, meine Gedanken vom nächtlichen Dschungel besänftigen zu lassen. Endlos erstreckte sich der Wald zu Füßen des Palastes von Itznamná über Berge und Täler, atmete Nebelfetzen aus und füllte die blaue Nacht mit unzähligen Stimmen.

Doch allzu schnell kehrte es zurück. Das Wissen, dass der errungene Sieg kein wirklicher Sieg war.

Jetzt, da die Knochenmenschen das andere Ufer des Flusses mit ihren gierigen Fingern berührt hatten, würde ihr Hunger noch größer werden – und ihr Verlangen nach Vergeltung. Bisher hatten wir uns darauf beschränkt, die Feinde auf vielerlei Arten abzuschrecken und vom Ufer fernzuhalten. Doch an diesem Tag, der mit einem blutigen Sonnenaufgang herangebrochen und in einem Berg aus Leichen geendet war, hatte jegliche Gnade ein Ende gefunden. Von nun an, das spürte ich bis tief in die Knochen hinein, würde es nur noch schlimmer werden.

Im untersten Stockwerk des Palastes lärmten die siegreichen Krieger und jene Frauen, die ihnen die Nacht versüßen würden. Draußen im Wald jedoch erhoben sich die Jubelrufe des Volkes in den sternenklaren Nachthimmel, vermischten sich mit dem Singen der Zikaden, dem Trillern der jagenden Mondkatzen und den wehmütigen Rufen eines Shyama-Büffels, der durch die nahen Sümpfe zog und vielleicht spürte, dass seine Welt dem Untergang geweiht war.

»Tarek!« Mein Freund O’bat schlug den Vorhang vor dem Eingang zurück und kam ins Zimmer getrampelt. »Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Es ist mein Ernst.« Ich machte mir nicht einmal die Mühe, mich zu ihm umzudrehen. »Mir ist nicht nach Feiern zumute. Verschwinde und lass mich in Ruhe.«

O’bat grunzte verständnislos. »Ich höre wohl nicht recht! Ein Dutzend Diamanttäubchen wartet darauf, dich zu umgurren. Ich habe ihnen in den herrlichsten Worten geschildert, wie du …«

»Verschwinde!«

»Du bist ein Trottel!«

»Von mir aus.«

O’bat brummte einen Fluch, stampfte einmal mit dem Fuß auf und trat, vermutlich verbunden mit einer abwinkenden Geste, den Rückzug an. Von nun an würde ich mir ein Dutzend Mondläufe lang anhören müssen, was für ein prüder Dummkopf ich war. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit würde er meine Männlichkeit anzweifeln, Scherze über gewisse Körperstellen reißen und mich mit einem Ausdruck mitleidiger Herablassung betrachten. Sei es drum. Ich war immer noch der Prinz dieses Palastes, in jeglicher Hinsicht mein eigener Herr und niemandem zur Rechenschaft verpflichtet.

Schon gar nicht diesem froschhirnigen Großmaul.

Ich trottete zu meinem Lager und kippte wie ein Stein hintenüber, als hätte mich der Schlag einer Keule getroffen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang hatten wir gekämpft, gesiegt und getötet. Ohne jedes Innehalten. Das Letzte, wonach mir jetzt der Sinn stand, waren vergorene Juna-Trauben, grölende Männer und lüsterne Priesterinnen, die bissiger wurden als Mondkatzen, wenn sie ihren Willen nicht bekamen. Natürlich verstand O’bat die Welt nicht mehr. Welcher junge Mann im Höhepunkt seiner Kraft zog das Alleinsein den Berührungen einer schönen Frau vor? Dabei hätte er es besser wissen müssen. Wie oft hatte ich ihm meine Gründe erläutert? Wie oft hatte ich ihm die Konsequenzen einer lauschigen Nacht mit einer der Priesterinnen geschildert? Er hatte gut reden. Ihn würde man niemals in das königliche Grün kleiden, auf einen Thron setzen und zu einer schnellen Heirat drängen. Auf seinen Schultern würde niemals das Schicksal eines ganzen Volkes lasten. Aber selbst wenn ich so frei gewesen wäre wie mein Freund – wie könnte ich lachen und feiern, wenn meine Gedanken mit Tod ausgefüllt waren? Wenn noch immer das Blut unserer Feinde an meinem Körper klebte und die Schreie der Sterbenden in meinen Ohren gellten?

Morgen würde man die Leichen der Gefallenen verbrennen und ihre Asche in den Großen Fluss streuen. Und doch brandete Jubel durch die Nacht. Jubel über einen Sieg, der in Wahrheit das genaue Gegenteil war.

Still lag ich da und starrte an die von Sternwinden überwucherte Decke, ehe meine Gedanken endlich schwammig wurden. Einen kostbaren friedlichen Augenblick lang schwebte ich zwischen Schlaf und Wachen. Besudelt und nackt auf schwarzen Pantherfellen ausgestreckt, die Muskeln steif vom Töten, das Haar noch immer von grünen Federn und Blutklumpen durchsetzt. Aber kaum war ich ganz in den Tiefen des Schlafes versunken, zerrte mich ein Ruf wieder in die Wirklichkeit zurück.

Nein, kein Ruf.

Es war ein Schrei.

Er entstammte keines Menschen Kehle. Und es war auch kein gewöhnliches Tier, das seinen Schmerz in die Nacht hinaus brüllte.

Dieses Grollen, so tief und machtvoll wie der Herzschlag der Erde, ließ den Dschungel und den Himmel erzittern. Es vibrierte in meinem Körper, in meiner Seele und in den Bodenplatten aus grün geädertem Mondstein. Es ließ Wolken aus Vögeln und Fledermäusen aufflattern, brachte die Sterne zum Klirren und säte eine unbeschreibliche Angst in das Herz eines jeden Wesens, das ihn vernahm.

Der Smaragddrache starb.

Und ich wusste, wem sein letzter Ruf galt. Ebenso, wie ich meinen eigenen Namen und das Schicksal meiner Geburtssterne wusste.

Ungläubig lag ich da und rührte mich nicht, während der Schrei des Drachens verstummte und die Welt gefror, als würde ihr Lauf von nun an für immer enden. Kein Laut drang mehr aus dem Dschungel. Jedes Tier, selbst die sonst unaufhörlich singenden Zikaden, ruhten still.

Vielleicht hatte ich mich nur geirrt. Vielleicht war dieses Gefühl, das mich plötzlich mit solcher Heftigkeit packte und gefangen hielt, nur meiner Furcht geschuldet.

Doch je länger ich dalag und nichts tat, umso lauter wurde der Ruf des sterbenden Drachens. Denn jetzt, da er für den Rest der Welt verstummt war, kroch er direkt in meinen Kopf.

Komm, befahl er mir ohne Worte. Komm und beende es.

Abrupt fuhr ich hoch. Träumte ich nur? Schlief ich noch immer? Draußen im Dschungel herrschte eine unnatürliche Stille. Groß und prächtig leuchtete der Marmormond am Himmel, die Sterne funkelten so gleichgültig wie in jeder Nacht und ein lauer Wind zupfte an den Baumwipfeln.

Komm, drängte der Ruf ein zweites Mal. Komm schnell.

Ich blinzelte, stand auf und trat auf die Terrasse. Der Wunsch des Drachen musste erfüllt werden. Es gab keinen anderen Weg. Sein Ruf war ein unabwendbarer Befehl der Göttin, dem ich bedingungslos zu folgen hatte. Von nun an zählte mein Wille nicht mehr.

Aber warum ich? Warum ausgerechnet ich, obwohl ich mir niemals gewünscht hatte, den Ruf zu hören?

Ich fuhr herum, als plötzlich der Vorhang vor dem Eingang zurückgeworfen wurde. Ixchal stürmte herein, einen Umhang aus grünen Quetzal-Federn in den Händen, gefolgt von meinem Vater Ikbat und drei Priesterinnen der Mohini. Die Frauen, die gerade noch kichernd und schnurrend aus dem Krieg heimgekehrte Männer verwöhnt hatten, waren wieder zu ernsten, demütigen Dienerinnen der Muttergöttin geworden. Sie starrten mich an, als wäre ich auf einem Stern reitend vom Himmel herabgestiegen.

»Tarek«, flüsterte meine Mutter und da wurde mir klar, dass ich mich nicht in einem Traum befand. Ich war hellwach. Ebenso wie jeder andere Mensch in diesem Raum.

Der Beschützer des Waldes und des Himmels starb. Und er hatte nicht etwa einen der jungen Männer ausgewählt, die ihre unsterbliche Seele verkauft hätten, um den Ruf zu vernehmen.

Nein, er wollte mich.

Das musste ein Irrtum sein.

»Ich weiß«, sagte Ixchal, trat vor mich und bedeckte meinen Körper, indem sie mir den Umhang um die Schultern legte. »Aber du hast keine Wahl. Du trägst die Male des Smaragdes und damit fließt königliches Blut durch deine Adern.«

»Warum ich? Warum nicht Khalik, Damomar oder O’bat? Sie sind die geborenen Kämpfer. Nicht ich.«

»Denkst du, der Drache wählt jenen aus, der am besten töten kann?« Mein Vater lächelte traurig, legte eine Hand auf Ixchals Schulter und seufzte. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie tapfer du dich geschlagen hast. Jeder weiß, dass das Herz des Dschungels in deiner Brust schlägt und dass du nach einem gewonnenen Krieg allein in dein Zimmer gehst, anstatt dich mit Juna-Wein und Priesterinnen zu vergnügen, ist in meinen Augen keine Schwäche, sondern das Zeichen einer alten Seele.«

Beide schlossen einen Moment lang die Augen und wirkten, als kämpften sie gegen aufsteigende Tränen. Vermutlich wurde ihnen erst jetzt klar, was der Ruf des Drachen bedeutete.

»Einer Seele«, führte Ixchal den Gedanken meines Vaters leise fort, »die der Beschützer des Waldes und des Himmels als würdig empfindet.«

»Ich bin nicht würdig!«, brach es aus mir heraus, denn mehr als alles andere fühlte ich mich schmutzig, erschöpft und elend. »Ich bin vieles, aber nicht der Nachfolger des Drachen.«

Meine Eltern lächelten nur sanft.

»Ach, Tarek«, seufzte Ixchal. »Die wirklich Starken erkennen ihre eigene Stärke nicht. Sie halten sich sogar oft für schwach. O’bat kämpft wie ein wütender Büffel, aber er ist auch genauso dumm. Damomar hat das Mundwerk einer Brüllkröte und das Herz eines Grashüpfers. Und was Khalik betrifft … nun ja, wenn du ihm die Wahl zwischen einer willigen Priesterin und seiner Pflicht lässt, wird er immer die Priesterin wählen.«

Ich nahm einen tiefen Atemzug. »Ihr wisst, was es bedeutet, wenn ich den letzten Willen des Drachen erfülle.«

»O ja, das wissen wir.« Ixchal strich mit der Spitze ihres Zeigefingers über die smaragdgrün schillernden Sprenkel, die sich über meine Brust zogen und auch einen Teil des Rückens bedeckten. Sie waren das uralte Zeichen der Königsfamilie. Das Mal der Edlen und Auserwählten. »Es bedeutet, dass sich das Schicksal deiner Geburtssterne erfüllt. Seit dich deine wahren Eltern dem Fluss überantwortet haben, ist nichts aus Zufall geschehen.«

»Aber warum jetzt schon? Ich habe weder eine Frau gewählt noch die Prüfungen der Mohini bestanden. Ich bin immer noch mehr Junge als Mann.«

»Du bist schon längst kein Junge mehr.« Der Blick meines Vaters wurde streng. »Du hast bewiesen, dass in dir nicht nur das Herz eines Kämpfers steckt, sondern auch das eines wahren Freundes. Du hast es bewiesen, indem du deine Feinde ehrenvoll und nicht grausam getötet hast. Du hast es bewiesen, indem du das Leben deiner Gefährten vor dein eigenes gestellt hast. Und du hast es bewiesen, indem du dich heute zurückgezogen hast, anstatt etwas zu feiern, das keiner Feier würdig ist.«

In einer hilflosen Geste des Aufbegehrens senkte ich den Kopf. »Aber ich will das Herz des Drachens nicht.«

»Eben deshalb wirst du es bekommen.« Ixchals Hand presste sich fordernd gegen meinen Rücken und schob mich vorwärts. »Priesterinnen? Bereitet ihn auf seine Reise vor. Ich weiß, dass die Zeit drängt, aber mein Sohn soll alle Segnungen erhalten, die ihr ihm geben könnt.«

Kapitel 2

Im Tempel der Mohini

Meine Sinne hüllten sich in Nebel, als die Frauen mich leise wie Geister umflatterten und durch lange, von Lianen und Schlingpflanzen überwucherte Gänge führten. Plötzlich fühlte sich der Palast wie ein fremdartiger Ort an. Zu viele Augen starrten mich an. Zu viel Neid zeichnete sich in den Mienen jener ab, die die Bürde der Verantwortung weitaus lieber getragen hätten als ich.

Dummköpfe! Hatten sie denn niemals darüber nachgedacht, was es bedeutete, auserwählt zu werden? Waren sie so blind? So besessen von Ruhm und Ehre, dass sie die Wahrheit dahinter nicht sahen?

Je näher wir dem heiligen Teich kamen, umso drückender wurden die Düfte, die in trägen Schwaden durch die Gänge waberten. Bald verwandelten sie sich in jenen undurchdringlichen, den Atem erstickenden Nebel, der einem das Gefühl gab, im Nichts zu versinken. Es war ein Gefühl, das viele nicht ertrugen. Oft geschah es, dass die Priesterinnen ihre besinnungslosen Begleiter in das Heiligtum tragen mussten, wo sie erst nach einem tiefen, von wirren Träumen ausgefüllten Schlaf wieder zu sich kamen.

Ich aber liebte das Gefühl, das mich inmitten der Dämpfe überkam. Beim ersten Mal, als ich im heiligen Teich der Mohini meinen festen Platz in der königlichen Familie erhalten hatte, war ich im Nebel von Furcht gepackt worden. Doch schon nach wenigen Schritten war mir die Leichtigkeit und das träumerische Schweben in die Knochen gefahren. Ich wünschte mir, der Gang möge nie ein Ende nehmen. Alle Erinnerungen an den Krieg verblassten. Vergangenheit und Zukunft waren fern. Es gab nur mich und ein warmes, einschläferndes Raunen, das mir versprach, dass alles gut werden würde.

Doch auch diesmal lichtete sich der Dunst allzu schnell und mit ihm der Schleier, der sich um meine Sinne gelegt hatte. Vor mir tat sich das Rund aus schneeweißen Säulen auf, die den heiligen Teich wie stille Wächter umrahmten. Vor unfassbar langer Zeit hatten die Baumeister der Aman-Kaja den Tempel in den Berg aus Mondstein hineingeschlagen. Manche behaupteten, den Teich habe es damals schon gegeben, verborgen im Herzen des Berges. Andere glaubten zu wissen, dass Mohini selbst dem ersten König und der ersten Königin diese Quelle geschenkt hatte.

Ein grünes Licht ohne Ursprung beleuchtete das Wasser und den sanften Nebel darüber. Als die Priesterinnen mich über eine breite Treppe in den Teich führten, wurde dieser Schein unvermittelt heller, pulsierte im Rhythmus eines schlagenden Herzens und passte sich der Farbe meiner Male an.

»Mohini segnet dich«, säuselte die älteste Priesterin, zog den Umhang von meinen Schultern und reichte ihn an eine ihrer Schwestern weiter. »Die große Mutter der Schöpfung wird ihre drei Hände über dich halten. Bestehend aus Geburt, Leben und Tod.«

»Geburt, Leben und Tod«, wiederholten die jüngeren Priesterinnen wie aus einem Mund, stiegen in das Wasser und gossen aus goldenen Kannen Öl in ihre Hände. Dann umringten sie mich wie weißseidene Falter, murmelten Beschwörungen, wiegten sich mit halb geschlossenen Augen und bedeckten meinen Körper mit der Essenz der Göttin, während eine der Priesterinnen mit hingebungsvoller Miene die blutbesudelten Federn aus meinem Haar zupfte und sie im Wasser reinigte.

Doch weder die sanften Berührungen noch die einschläfernden Stimmen vermochten es, meine Gedanken zu beruhigen. Der Ruf des Drachen war verklungen, nicht jedoch das Gefühl, das er mir in den Kopf gepflanzt hatte. Es blieb keine Zeit mehr. Der Beschützer des Waldes und des Himmels lag im Sterben und wenn ich zu spät kam, war alles verloren.

»Warum hat er uns nicht eher geholfen?«, fragte ich die selig lächelnden Priesterinnen, die keinen Hehl daraus machten, wie gerne sie ihrer Aufgabe nachkamen. »Als er sich das letzte Mal unserem Volk gezeigt hat, war mein Vater noch nicht einmal geboren.«

Die älteste Priesterin verstummte und blickte zu mir auf, während ihre Schwestern weitersangen, mit den Händen das leuchtende Wasser schöpften und es mir über den Kopf gossen. »Die Geburt eines Smaragddrachen, sein Leben und sein Tod bewegen sich in so viel größeren Bahnen als das flüchtige menschliche Leben.« Sinnierend strich die Älteste mit ihren Spinnenfingern über die Sprenkel auf meiner Brust. »Unser Beschützer ist alt und schwach geworden. Vielleicht war es eine Krankheit, die ihn lähmte. Vielleicht befand er sich im Schlaf der Heilung, der letztendlich nicht stark genug war. Viele tausend Jahre lang stand er uns zur Seite. Verurteile ihn nicht für ein kurzes Menschenleben, in dem er uns nicht vor Unglück bewahren konnte.«

Ich blinzelte und schwankte. Allmählich wurden meine Augenlider doch noch schwer von all dem Murmeln, Singen und Flüstern. Benommen musterte ich die Netze der Tempelspinnen, die zwischen den Säulen aufgespannt waren: Kunstwerke aus smaragdgrüner Seide, auf eine grauenhafte Weise schön und so verwirrend wie gesponnene Fieberträume. Als wären die Tiere von meinem Blick aufgeweckt worden, begannen sie plötzlich, die komplizierte Struktur ihrer Schöpfungen zu verändern. Flink huschten sie über die Netze, gaben ein leises Sirren von sich und spannen neue Stränge, während sie andere zerrissen.

Die Priesterinnen lächelten noch zuversichtlicher, doch das musste nicht zwangsläufig etwas Gutes bedeuten. Ebenso wie die Göttin konnten auch ihre Dienerinnen im furchtbarsten aller Schicksale etwas Schönes entdecken, das einem höheren Zweck diente.

»Schon jetzt ist sein Herz aus Smaragd«, schmollte eine der Frauen, die gerade an einer äußerst empfindlichen Stelle versucht hatte, mir eine Regung zu entlocken. »Es ist ganz kalt und hart.«

»Nein«, erwiderte die Älteste. »Du bist nur nicht diejenige, der es bestimmt ist, sein Feuer anzufachen.«

Eine der anderen Priesterinnen schnaubte. »Selbst die Lenden eines Greises brennen heißer als seine. Was für eine Verschwendung bei solch einem Mann.«

»Ja«, brummte eine dritte. »Sogar der hässliche, steinalte Quetzal-Fänger hat es sich nicht nehmen lassen, sabbernd wie ein brünstiger Büffel durch unsere Lager zu kriechen. Und du, Prinz Tarek, würdigst uns keines Blickes.«

»Das ist auch gut so«, erwiderte die Älteste streng. »Jetzt hört auf zu plappern und sputet euch. Die Zeit rennt uns davon.«

Plötzlich von Eile gepackt, zerrten mich die Frauen aus dem Wasser, trockneten meinen Leib mit weichen Tüchern, schütteten noch ein paar Beschwörungen über mir aus und malten mit grüner und schwarzer Farbe magische Symbole auf meine Stirn, die Brust und die Arme.

Die Älteste brachte meine Jagdkleidung und beharrte darauf, dass ich mich nicht etwa selbst anzog, sondern es ihnen überließ. Bei jedem Kleidungsstück, das sie mir anlegten, murmelten sie weitere Gebete, wiegten sich hin und her und begannen zu zittern, als verlangte ihnen die Zwiesprache mit der Göttin mehr Kraft ab, als ihre menschlichen Körper hergeben wollten. Zarte Finger verknoteten die Schnüre des Wamses aus weich gegerbter Leguanhaut, zurrten die Beinlinge am Riemen des Schurzes fest und zogen die Schäfte der Stiefel zurecht, die mich vor Schlangenbissen schützen sollten. Zuletzt banden sie mein nasses Haar zurück und knoteten wieder jene grünen Federn hinein, die sie mir gerade erst ausgezupft hatten.

Eine Ewigkeit schien währenddessen zu verstreichen.

Als die Älteste endlich mit den Waffen und einem Proviantbeutel herbeigeeilt kam, hatte ich längst die Geduld verloren. Kurzerhand riss ich ihr den Gürtel mit den Dolchen aus der Hand und schnallte ihn mir selbst um, überprüfte das Obsidianschwert in seiner Scheide aus Jade, legte Bogen, Köcher und Beutel um meine Schultern und fuhr zu der Ältesten herum.

»Wo finde ich den Smaragddrachen?«

»Im Namenlosen Land«, antwortete sie. »Hinter dem Opalsee.«

»Was?« Überrascht riss ich die Augen auf. »Das ist unerreichbar weit entfernt. Wie stellst du dir das vor? Soll ich zu Fuß über das Säurewasser gehen?«

»Nein.« Die Priesterin schüttelte tadelnd den Kopf. »Du reitest auf dem Rücken des Manqu. Er wird dich innerhalb von zwei Tagen über den See tragen.«

Wieder blinzelte ich ungläubig. »Der Manqu? Mohinis Drache?«

»Natürlich. Schließlich war es die Göttin selbst, die dich auserwählt hat. Er wird dir gehorchen, wie er einst mir gehorcht hat.«

Ehe ich eine weitere Frage stellen konnte, wurde ich aus dem Tempel hinaus und zurück in den Nebel gedrängt. Wir gingen rasch, das Gefühl des seligen Nichts währte nur kurz. Kaum verließen wir den magischen Teil des Palastes, umringte uns eine lärmende Menschenmenge. Zu Hunderten drängten sich die Bewohner des Palastes in den Gängen, murmelten und tuschelten und begafften mich wie staunende Kinder. Niemand richtete das Wort an mich. Nicht einmal Ixchal.

In diesem Augenblick spürte ich zum ersten Mal die Last der Verantwortung auf meinen Schultern. Sie nahm mir die Luft zum Atmen und kroch in meine Muskeln, doch ich ging hoch erhobenen Kopfes, aufrecht gehalten von einem verzweifelten Stolz und dem Willen, mein Schicksal anzunehmen. Zerfressen von Neid brodelte O’bat vor sich hin. Damomar sah mit wütender Fassungslosigkeit seine Hoffnungen dahinschwinden, selbst vom Smaragddrachen auserwählt zu werden. Khalik erblickte ich nirgendwo, vermutlich hatte er sich in die hinterste Reihe zurückgezogen oder war der Verabschiedung gänzlich ferngeblieben.