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Arthur Conan Doyle

Das Geheimnis von Cloomber Hall

Ein illustriertes Kriminaldrama

Arthur Conan Doyle

Das Geheimnis von Cloomber Hall

Ein illustriertes Kriminaldrama

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Max Kleinschmidt
Illustrationen: Edouard-Auguste Carrier
EV: Ph. Reclam jun., Leipzig, 1922 (207 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962815-99-8

null-papier.de/649

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Nach­wort

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Erstes Kapitel

Ich, Ja­mes Fo­ther­gill West, stud. jur. auf der St. An­drews-Uni­ver­si­tät zu Edin­burg, will in fol­gen­den Zei­len eine wah­re Ge­schich­te in mög­lichst kur­z­er und bün­di­ger Form er­zäh­len, ohne durch eine ge­küns­tel­te Rei­hen­fol­ge der ver­schie­de­nen Er­eig­nis­se den Ein­druck der­sel­ben zu er­hö­hen. Es sol­len viel­mehr die­je­ni­gen, wel­che au­ßer mir noch von den frag­li­chen Be­ge­ben­hei­ten un­ter­rich­tet sind, mei­nem Be­rich­te bei­stim­men kön­nen, ohne zu fin­den, dass ich auch nur in den ge­ring­fü­gigs­ten Ein­zel­hei­ten von der stren­gen, un­ge­schmink­ten Wahr­heit ab­ge­wi­chen bin. Zu die­sem Zweck wer­de ich die no­ta­ri­ell be­glau­big­ten Aus­sa­gen ei­nes ge­wis­sen Is­rael Sta­kes, ehe­ma­li­gen Kut­schers von Cloom­ber Hall, und des Herrn John Eas­ter­ling, Edin­burg – jetzt prak­ti­scher Arzt in Stan­va­er, Wig­towns­hi­re – auf­füh­ren und einen wört­li­chen Aus­zug aus dem Ta­ge­buch des Ge­ne­ral­ma­jors John Bert­hier Hea­ther­sto­ne hin­zu­fü­gen. Die­ser Aus­zug be­trifft Er­eig­nis­se, die sich ge­gen das Ende des ers­ten Af­gha­nen­krie­ges im Herbs­te 1841 zu­tru­gen mit ei­ner de­tail­lie­ren Be­schrei­bung des Schar­müt­zels im Tera­da-Pas­se und des To­des ei­nes ge­wis­sen Ghoo­lab Shah. Im üb­ri­gen stüt­ze ich mich auf die Aus­sa­gen von Au­gen­zeu­gen, wel­che durch ih­ren in­ti­men Ver­kehr mit dem Ge­ne­ral­ma­jor J. B. Hea­ther­sto­ne im­stan­de wa­ren, ihn und was mit ihm zu­sam­men­hing, zu be­ur­tei­len.

Mein Va­ter, John Hun­ter West, war ein be­kann­ter Ori­en­ta­list, und sein Wort ist jetzt noch von großem An­se­hen un­ter sei­nen eng­li­schen so­wohl wie kon­ti­nen­ta­len Kol­le­gen. Er war es, der zu­erst gleich Sir Wil­liam Jo­nes die Auf­merk­sam­keit der ge­lehr­ten Welt auf die herr­li­chen Er­zeug­nis­se der neu­per­si­schen Li­te­ra­tur lenk­te, und sei­ne Über­set­zun­gen von Ha­fis und Fe­ri­ded­din At­tar tru­gen ihm den wärms­ten Bei­fall sol­cher Au­to­ri­tä­ten auf dem Ge­bie­te kri­ti­scher Phi­lo­lo­gie, wie des Barons von Ham­mer-Purg­stall und an­de­rer, ein. Ja, in der Ja­nu­ar­num­mer der Ori­en­ta­li­schen Zeit­schrift 1861 wur­de er als »der be­rühm­te und sehr ge­lehr­te Mr. Hun­ter West, Edin­burg« be­zeich­net, wel­che No­tiz er aus­schnitt und mit ver­zeih­li­cher Ei­tel­keit un­ter den kost­bars­ten Schät­zen sei­nes Fa­mi­li­en­ar­chivs auf­be­wahr­te.

John Hunter West

Er hat­te sich ur­sprüng­lich der ju­ris­ti­schen Lauf­bahn ge­wid­met, aber sei­ne ge­lehr­ten Pas­sio­nen nah­men so viel Zeit in An­spruch, dass ihm nur we­nig Frist für sei­ne Pra­xis üb­rig blieb. Wenn sei­ne Kli­en­ten ihn in sei­nem Büro in Cam­bers-Street auf­such­ten, glänz­te er meis­tens durch sei­ne Ab­we­sen­heit; da­für konn­te man ihn ge­wöhn­lich un­ter stau­bi­gen Pa­pie­ren be­gra­ben in der »Ad­vo­ca­tes Li­bra­ry« oder der »Phi­lo­so­phi­cal In­sti­tu­ti­on« fin­den, wo ihn das Tau­sen­de von Jah­ren alte Ge­setz­buch des Manu weit mehr fes­sel­te, als die ver­zwick­ten schot­ti­schen Pan­dek­ten des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts.

Es war da­her kaum zu ver­wun­dern, dass er zur sel­ben Zeit, als er den Ze­nit sei­ner Berühmt­heit er­reicht hat­te, auch auf dem Bo­den sei­nes Sä­ckels an­ge­langt war. Da sich in je­ner Zeit noch kei­ne Pro­fes­sur für Sans­krit in Schott­land be­fand und die Nach­fra­ge nach den Pro­duk­ten sei­ner Geis­te­stä­tig­keit eine sehr ge­rin­ge war, hät­ten wir uns wahr­schein­lich in ein Stil­le­ben zu­rück­zie­hen müs­sen, in wel­chem die Apho­ris­men und Sprü­che des Fir­du­si, Omar Chi­an und an­de­rer uns für den Man­gel an nahr­haf­te­rer Diät viel­leicht ent­schä­digt hät­ten. Aber durch die un­er­war­te­te Frei­ge­big­keit sei­nes Stief­bru­ders Wil­liam Fa­rin­to­sh, des Guts­herrn von Brank­so­me, Wig­towns­hi­re, wur­den wir plötz­lich al­ler Sor­gen ent­ho­ben.

Der letz­te­re war der Ei­gen­tü­mer ei­nes großen Rit­ter­gu­tes, des­sen Er­gie­big­keit un­glück­li­cher­wei­se zu sei­ner un­ge­heu­ren Aus­deh­nung in kei­nem Ver­hält­nis stand; es war ohne al­len Zwei­fel der ödes­te und kahls­te Teil ei­ner au­ßer­ge­wöhn­lich öden und kah­len Pro­vinz. Da er aber als ein­ge­fleisch­ter Jung­ge­sel­le kei­ne großen Aus­ga­ben hat­te, so war er im­stan­de ge­we­sen, durch den Ver­kauf ei­ner be­son­de­ren Art von Last­pfer­den, die er auf den aus­ge­dehn­ten Hei­de­flä­chen züch­te­te, und mit Hil­fe des Pacht­zin­ses von sei­nen ver­ein­zel­ten Meie­rei­en nicht nur stan­des­ge­mäß zu le­ben, son­dern auch noch ein hüb­sches Kon­to zu sei­nen Guns­ten auf der Bank an­zu­le­gen.

So­lan­ge wir noch ver­hält­nis­mä­ßig wohl­ha­bend wa­ren, hat­ten wir we­nig von un­se­rem Ver­wand­ten ge­hört; aber ge­ra­de jetzt, als Mat­thäi am letz­ten war, kam wie ein Evan­ge­li­um sein Brief, der uns sei­ner Sym­pa­thie und, was be­deu­tend wich­ti­ger, sei­ner werk­tä­ti­gen Hil­fe ver­si­cher­te. Wir er­fuh­ren, dass Mr. Wil­liams Lun­gen schon seit ge­rau­mer Zeit an­ge­grif­fen sei­en, und dass Dr. Eas­ter­ling, der schon er­wähn­te Arzt in Stan­va­er, ihm ener­gisch ge­ra­ten habe, die kur­ze Span­ne Zeit, die ihm viel­leicht noch zu­ge­mes­sen war, in ei­nem wär­me­ren Kli­ma zu ver­le­ben. Er hat­te sich des­halb ent­schlos­sen, nach dem Sü­den Ita­li­ens auf­zu­bre­chen, und er­such­te mei­nen Va­ter, sich wäh­rend sei­ner Ab­we­sen­heit des Gu­tes an­zu­neh­men und für ein Ge­halt, das uns al­ler Sor­gen über­hob, als sein Ver­wal­ter tä­tig zu sein.

Ich brau­che kaum zu sa­gen, dass wir nicht lan­ge zö­ger­ten, sein freund­li­ches Aner­bie­ten an­zu­neh­men. Mein Va­ter reis­te schon am sel­ben Abend nach Wig­town ab, wäh­rend mei­ne Schwes­ter Esther und ich – mei­ne Mut­ter war schon vor ei­ni­gen Jah­ren ge­stor­ben – mit zwei Kar­tof­fel­sä­cken voll ge­lehr­ter Bü­cher und et­was Haus­ge­rät in ei­ni­gen Ta­gen nach­folg­ten.

Zweites Kapitel

Ein eng­li­scher Guts­be­sit­zer wür­de si­cher­lich beim An­blick un­se­rer neu­en Hei­mat Brank­so­me die Nase ge­rümpft ha­ben; aber uns er­schi­en sie wie ein Palast im Ge­gen­satz zu den dump­fen, en­gen Zim­mern, in de­nen wir bis­her ge­haust hat­ten. Das Ge­bäu­de war weit­schwei­fig und nied­rig, mit ro­tem Zie­gel­da­che, But­zen­schei­ben und ei­ner An­zahl von Zim­mern mit ver­räu­cher­ten De­cken und Ei­chen­ge­tä­fel. Vor dem Hau­se lag ein Ra­sen­platz, um­säumt von ei­ni­gen dün­nen, schlecht­ge­wach­se­nen Bir­ken, die durch den ewi­gen sal­zi­gen Sprüh­re­gen, den der ei­si­ge Nord­west­wind von der See her­über­trug, ver­küm­mert wa­ren.

Land­ein­wärts lag der zu dem Gute ge­hö­ri­ge Wei­ler Brank­so­me-Bere – höchs­tens ein Dut­zend klei­ner Höfe, in de­nen arme Fi­scher wohn­ten, die in dem Guts­herrn ih­ren na­tür­li­chen Be­schüt­zer er­blick­ten. Im Wes­ten er­streck­te sich der brei­te gel­be Strand und die Iri­sche See, wäh­rend sich in al­len an­de­ren Rich­tun­gen un­ab­seh­ba­re, grau­sig ein­sa­me Moo­re, grau­grün im Vor­der­grun­de und pur­pur­far­ben in der Ent­fer­nung, aus­dehn­ten. Kahl und ein­sam war es an der Küs­te hier. Man­che lan­ge Mei­le konn­te man wan­dern, ohne ein le­ben­des We­sen zu se­hen, au­ßer viel­leicht den wei­ßen, schwer be­flü­gel­ten Mö­wen, die ein­an­der mit schril­len, trau­ri­gen Stim­men zu­rie­fen.

Das ein­zi­ge Zei­chen, dass Men­schen hier ge­haust, war, wenn man ein­mal über Brank­so­me hin­aus war, der wei­ße Turm von Cloom­ber Hall, der wie der Ge­denk­stein ei­nes Hü­nen­gra­bes über die ihn um­ge­ben­den Fich­ten und Lär­chen em­por­rag­te.

Ein rei­cher Son­der­ling aus Glas­gow, ein Men­schen­feind, hat­te sich die­ses große Haus ge­baut, aber zur Zeit un­se­rer An­kunft hat­te es schon lan­ge, lan­ge Jah­re leer ge­stan­den, und es schau­te mit sei­nen wet­ter­zer­rüt­te­ten Mau­ern und lee­ren, dunklen Fens­tern gar geis­ter­haft über die Bö­schung des Ufers hin­aus. Leer und un­be­nutzt, diente es jetzt nur noch den Fi­schern als ein Wahr­zei­chen, da die­se durch Er­fah­rung ge­lernt hat­ten, dass sie leicht ih­ren Weg durch die ge­fähr­li­chen Fel­sen­bän­ke, auf de­ren za­cki­gen Rücken schon manch gu­tes Schiff zer­schellt war, fin­den konn­ten, wenn sie den Schorn­stein un­se­res Hau­ses und den wei­ßen Turm von Cloom­ber in ei­ner Li­nie be­hiel­ten.

Auf die­sen wil­den Fleck Erde hat­te uns das Schick­sal ver­schla­gen; aber sei­ne Ein­sam­keit hat­te kei­ne Schre­cken für uns. Im Ge­gen­teil, nach der ent­ner­ven­den fie­be­ri­schen Tä­tig­keit und Un­ru­he in ei­ner großen Stadt und be­son­ders der schwie­ri­gen Auf­ga­be, mit un­se­rem klei­nen Ein­kom­men eine un­ser wür­di­ge Stel­lung zu be­haup­ten, war uns die be­sänf­ti­gen­de, groß­ar­ti­ge Ruhe auf den un­ab­seh­ba­ren Hei­den und die kräf­ti­ge, stäh­len­de See­luft höchst will­kom­men. Wir wa­ren hier we­nigs­tens von der läs­ti­gen Neu­gier und dem Ge­schwätz der Nach­barn be­freit. Mit ei­nem Phae­ton und zwei Po­nys, die der Guts­herr zu­rück­ge­las­sen hat­te, mach­ten mein Va­ter und ich un­se­re täg­li­che Run­de auf dem Gute und ver­rich­te­ten die vie­ler­lei klei­nen Ge­schäf­te, die ei­nem Ver­wal­ter zu­fal­len. Un­se­re sanf­te Esther be­sorg­te den Haus­halt und er­hell­te das düs­te­re, alte Haus mit dem Son­nen­schein ih­rer arg- und sorg­lo­sen Ju­gend.

So ver­ging die Zeit ru­hig und ein­för­mig, bis ein un­er­war­te­tes Er­eig­nis sich zu­trug, das die ge­heim­nis­vol­len Vor­gän­ge, den Kern­punkt mei­ner Er­zäh­lung, gleich­sam vor­aus­kün­de­te. Es war mei­ne Ge­wohn­heit ge­wor­den, all­abend­lich in des Guts­herrn klei­ner Jol­le auf das ru­hi­ge Meer hin­aus­zu­ru­dern und ein paar Weiß­fi­sche für un­ser be­schei­de­nes Nacht­mahl zu fan­gen. Ei­nes Abends war mei­ne Schwes­ter mit hin­aus­ge­fah­ren und saß mit ih­rem Bu­che im Stern der Jol­le, wäh­rend ich vorn mei­ne An­gel aus­ge­wor­fen hat­te.

Die Son­ne war hin­ter der schrof­fen iri­schen Küs­te ver­sun­ken, aber noch be­zeich­ne­te eine gold­über­flu­te­te Mas­se von Wol­ken ihre Schlum­m­er­statt. Die Was­ser wa­ren, so weit der Blick reich­te, von feu­ri­gen Pur­pur­strei­fen um­säumt, und ent­zückt war ich auf­ge­stan­den, um das groß­ar­ti­ge, so alte und doch so ewig neue Pa­n­ora­ma wie­der zu be­wun­dern. Da zupf­te mich mei­ne Schwes­ter mit ei­nem Aus­ruf ängst­li­cher Über­ra­schung am Är­mel.

»Sieh doch nur, John«, rief sie, »da ist ja ein Licht im Turm von Cloom­ber Hall!«

»Sieh doch nur, John«

Ich wand­te mich has­tig um und schau­te ganz über­rascht nach dem wei­ßen Turm, der hoch über die ihn um­gür­ten­den Bäu­me hin­aus­rag­te. Als ich hin­sah, konn­te ich hin­ter ei­nem der Fens­ter einen Licht­schein wahr­neh­men, wel­cher plötz­lich wie­der ver­schwand, um nach kur­z­er Zeit in ei­nem hö­he­ren Stock­wer­ke aufs neue sicht­bar zu wer­den. Dort fla­cker­te er eine Zeit lang, ver­schwand wie­der und er­schi­en dann nach­ein­an­der in den bei­den un­te­ren Eta­gen, bis die Bäu­me ihn un­se­ren Bli­cken ver­bar­gen. Au­gen­schein­lich hat­te je­mand mit ei­ner Lam­pe oder Ker­ze die Turm­trep­pe er­stie­gen und war dann wie­der in das ei­gent­li­che Haus zu­rück­ge­kehrt.

»Wer in al­ler Welt kann das nur sein?« rief ich aus, mehr im Selbst­ge­spräch als zu Esther. Konn­te ich doch an ih­rem ver­dutz­ten Ge­sicht se­hen, dass ihr die Sa­che eben­so rät­sel­haft vor­kam wie mir. »Vi­el­leicht ha­ben sich ein paar Leu­te aus Brank­so­me den al­ten Kas­ten ein­mal an­se­hen wol­len!«

Mei­ne Schwes­ter schüt­tel­te den Kopf.

»Kei­ner von ih­nen wür­de sich dem Ge­bäu­de auch nur auf zwan­zig Schritt zu nä­hern wa­gen!« sag­te sie. »Au­ßer­dem, John, hat der Agent in Wig­town die Schlüs­sel, so­dass un­se­re Leu­te, wä­ren sie auch noch so neu­gie­rig, nicht hin­ein­ge­lan­gen könn­ten.«

Als ich an das schwe­re Tor dach­te und an die mas­si­ven Fens­ter­la­den, die das un­te­re Stock­werk von Cloom­ber ge­gen neu­gie­ri­ge Ein­dring­lin­ge ver­wahr­ten, konn­te ich nicht um­hin, die Rich­tig­keit die­ser Be­mer­kung an­zu­er­ken­nen. Der Ein­dring­ling muss­te also ent­we­der sei­nen Ein­gang ge­walt­tä­tig be­werk­stel­ligt, oder sich ir­gend­wie die Schlüs­sel ver­schafft ha­ben. Das Ge­heim­nis­vol­le der Sa­che reiz­te mich, und ich ru­der­te so schnell wie mög­lich dem Lan­de zu, um den nächt­li­chen Gast selbst zu se­hen und mich – wenn mög­lich – über sei­ne Ab­sich­ten zu ori­en­tie­ren.

Mei­ne Schwes­ter in Brank­so­me zu­rück­las­send, rief ich einen al­ten See­mann, na­mens Seth Ja­me­son, der frü­her auf ei­nem Kriegs­schif­fe ge­dient hat­te und viel­leicht ei­ner der stärks­ten Män­ner im Dor­fe war, zu mir und ging mit ihm über das Moor hin­über dem Schlos­se zu.

Über das Moor

Als wir uns dem letz­te­ren nä­her­ten und ich Seth mei­ne Ab­sicht mit­teil­te, wur­den sei­ne Schrit­te stän­dig klei­ner, bis er schließ­lich ganz halt­mach­te.

»Mit dem Hau­se da ist’s nicht recht ge­heu­er«, sag­te er wich­tig. »Der Ei­gen­tü­mer selbst wagt sich bis auf ’ne gute Mei­le nicht her­an.«

»Mag sein, Seth, aber dort ist je­mand, der sich nicht vor Geis­tern zu fürch­ten scheint«, er­wi­der­te ich, nach dem großen, wei­ßen Ge­bäu­de deu­tend, das eben durch den Ne­bel sicht­bar ward.

Das Licht, das ich vom Mee­re her be­ob­ach­tet hat­te, be­weg­te sich hin und her vor den un­te­ren Fens­tern, de­ren Lä­den ge­öff­net wa­ren. Ein zwei­tes schwä­che­res Licht folg­te dem an­de­ren ein paar Schrit­te ent­fernt. Au­gen­schein­lich hiel­ten zwei Per­so­nen, eine mit ei­ner La­ter­ne, die an­de­re mit ei­ner Ker­ze oder ei­nem Sturm­licht, sorg­fäl­ti­ge Rund­schau im Hau­se.

»Was mich nicht brennt, das blas ich nicht«, mein­te Ja­me­son hart­nä­ckig, ohne sich vom Fleck zu rüh­ren. »Was geht’s mich an, wenn sich ir­gend­ein Spuk oder Alp in Cloom­ber ein­nis­ten will? Da­mit ist nicht gut Kir­schen es­sen!«

»Aber zum Hen­ker!« rief ich. »Sie glau­ben doch wohl nicht, dass ein Spuk hier in ei­ner Kut­sche vor­fah­ren wird? Was sind denn das für Lich­ter dort am Ende der Al­lee?«

»Wa­gen­lam­pen, ohne Zwei­fel!« er­wi­der­te mein Beglei­ter er­leich­tert auf­at­mend. »Wol­len doch mal se­hen, wo­her sie kom­men!«

Es war jetzt völ­lig dun­kel ge­wor­den, und nur ein leuch­ten­der Strei­fen tief im Wes­ten war von dem feu­ri­gen Schau­spiel, das ich vor ei­ner Stun­de be­wun­dert hat­te, üb­rig­ge­blie­ben.

Wir stol­per­ten schwer­fäl­lig über das Moor und ge­lang­ten schließ­lich auf die nach Wig­town füh­ren­de Land­stra­ße, da, wo zwei hohe Ste­in­säu­len den An­fang der Schlos­sal­lee be­zeich­ne­ten. Ein großer Jagd­wa­gen stand vor dem Ein­gang.

»Jetzt weiß ich schon Be­scheid!« rief Ja­me­son, das ver­las­se­ne Ge­fährt ge­nau be­trach­tend. »Das Ge­spann ken­ne ich gut. Es ge­hört Herrn Mc. Neil, dem Ver­wal­ter aus Wig­town, der die Schlüs­sel hat.«

»Dann kön­nen wir ihn am Ende auch so­gleich spre­chen, da wir doch nun ein­mal hier sind. Wenn ich mich nicht irre, kom­men sie eben.«

Wäh­rend ich die letz­ten Wor­te sprach, hör­ten wir eine Tür schwer­fäl­lig zu­schla­gen, und nach ei­ni­gen Mi­nu­ten ka­men zwei Män­ner, der eine eckig und lang, der an­de­re kurz und ge­drun­gen, durch die Dun­kel­heit auf uns zu. In eif­ri­gem Ge­spräch be­grif­fen, sa­hen sie uns nicht, bis sie den Tor­weg pas­sier­ten.

»Gu­ten Abend, Herr Mc. Neil«, sag­te ich, vor­tre­tend und den Ver­wal­ter, den ich ober­fläch­lich kann­te, be­grü­ßend.

Der klei­ne Mann kehr­te mir sein Ge­sicht zu, und ich sah, dass ich mich nicht ge­täuscht hat­te; sein Beglei­ter je­doch fuhr has­tig zu­rück und ver­riet die hef­tigs­te Er­re­gung.

»Was soll das hei­ßen, Mc. Neil?« würg­te er mit er­stick­ter Stim­me her­aus. »Ist das Ihr Ver­spre­chen? Was be­deu­tet dies?«

»Ru­hig Blut, Herr Ge­ne­ral, nur ru­hig Blut!« ant­wor­te­te der fet­te, klei­ne Agent be­schwich­ti­gend, als ob er zu ei­nem Kin­de sprä­che. »Dies ist nur der jun­ge Herr Fo­ther­gill West aus Brank­so­me. Es ist mir frei­lich nicht recht klar, wes­halb er ge­ra­de heu­te Abend hier ist. Da Sie aber so­wie­so Nach­barn sein wer­den, las­sen Sie mich die Ge­le­gen­heit be­nut­zen, Sie gleich mit­ein­an­der be­kannt zu ma­chen: Herr West – Herr Ge­ne­ral Hea­ther­sto­ne. Der Herr Ge­ne­ral ist der zu­künf­ti­ge Päch­ter von Cloom­ber Hall.«

Ich hielt dem Ge­ne­ral mei­ne Hand hin, die er zö­gernd, halb wi­der­stre­bend, er­griff.

»Ich kam her­über«, er­klär­te ich, »weil ich Licht hin­ter den Fens­tern schei­nen sah und fürch­te­te, dass am Ende hier et­was nicht in Ord­nung sei. Ich freue mich jetzt, es ge­tan zu ha­ben, da es mir Ge­le­gen­heit ge­bo­ten hat, Ihre wer­te Be­kannt­schaft zu ma­chen, Herr Ge­ne­ral!«

Wäh­rend ich sprach, be­merk­te ich, dass der neue Be­woh­ner von Cloom­ber Hall mich ge­nau be­ob­ach­te­te. Als ich schwieg, streck­te er sei­nen lan­gen zit­tern­den Arm aus und dreh­te die Wa­gen­la­ter­ne so, dass das Licht voll auf mein Ge­sicht fiel.

»Gütiger Himmel, Mc. Neil«

»Gü­ti­ger Him­mel, Mc. Neil«, rief er wie vor­hin, »der Kerl ist ja so braun wie Scho­ko­la­de! Das ist doch kein Eng­län­der! Sind Sie ein Eng­län­der, mein Herr?«

»Ich bin ein ge­bo­re­ner Schot­te!« er­wi­der­te ich. nur durch die große Auf­re­gung mei­nes neu­en Freun­des ver­hin­dert, in La­chen aus­zu­bre­chen.

»Ein Schot­te also?« sag­te er, wie von ei­nem Alp be­freit. »Na, das ist heut­zu­ta­ge das­sel­be. Sie wer­den mir’s nicht übel­neh­men, Herr West. Ich bin ner­vös, ver­teu­felt ner­vös! Vor­wärts, Mc. Neil, wir müs­sen in ei­ner Stun­de wie­der in Wig­town sein. Gute Nacht, mei­ne Her­ren, gute Nacht!«

Bei­de spran­gen in das Ge­fährt, der Ver­wal­ter knall­te mit sei­ner Peit­sche, und der Wa­gen roll­te durch die Dun­kel­heit da­von, glän­zen­de Licht­ke­gel nach bei­den Sei­ten wer­fend, bis das Geras­sel der Rä­der end­lich in der Fer­ne ver­hall­te.

»Nun was denkst du von un­se­rem neu­en Nach­bar, Ja­me­son?« frag­te ich, um das lan­ge Still­schwei­gen zu bre­chen.

»Wahr­haf­tig, Herr West, mir scheint’s, als ob er recht hät­te. Er ist ver­dammt ner­vös. – Vi­el­leicht hat er ein schlech­tes Ge­wis­sen!«

»Eine schlech­te Le­ber eher!« er­wi­der­te ich. »Er sieht aus, als ob er sei­ner Ge­sund­heit übel mit­ge­spielt hät­te. Aber es wird jetzt kalt, mein Jun­ge, und es ist die höchs­te Zeit, dass wir nach Hau­se kom­men.«

Ich wünsch­te mei­nem Beglei­ter gute Nacht und trab­te über das Hei­de­land nach Brank­so­me zu, von wo­her mir schon von wei­tem das gast­li­che Licht des Wohn­zim­mers ent­ge­gen­strahl­te.

Drittes Kapitel

Wie sich leicht den­ken lässt, rief die Neu­ig­keit, dass das Schloss wie­der be­wohnt wer­den soll­te, große Auf­re­gung im Dor­fe her­vor, und zahl­los wa­ren die Hy­po­the­sen und Ver­mu­tun­gen, die von den Klatsch­ba­sen männ­li­chen und weib­li­chen Ge­schlechts auf­ge­stellt wur­den, wes­halb die Hea­ther­sto­nes sich ge­ra­de die­sen welt­ab­ge­le­ge­nen Win­kel zum Wohn­platz er­wählt hät­ten. Dass die letz­te­ren nicht etwa für eine kur­ze Zeit hier zu ver­wei­len ge­dach­ten, wur­de bald klar; denn Scha­ren von Hand­wer­kern ka­men von Wig­town her­über, und des Häm­merns, Sä­gens, Klap­perns war kein Ende von Ta­ge­s­an­bruch bis spät in die Nacht hin­ein. Mit über­ra­schen­der Schnel­lig­keit ver­schwan­den die Spu­ren, die Wind und Wet­ter an den Wän­den hin­ter­las­sen hat­ten, und ehe man sich ’s ver­sah, stand das alte Haus wie­der frisch und freund­lich da, als ob es eben erst er­baut wäre. Man konn­te se­hen, dass es dem Ge­ne­ral auf Geld nicht an­kam und dass Not si­cher nicht der Grund sei­ner Flucht aus der großen Welt war.

»Es ist mög­lich, dass er ein Ge­lehr­ter ist«, sag­te mein Va­ter ei­nes Mor­gens beim Früh­stück, »und dass er sich die­sen wild­ein­sa­men Fleck Erde aus­ge­sucht hat, um ir­gend­ein ma­gnum opus zu be­en­di­gen. In dem Fal­le wür­de ich ihm mit Ver­gnü­gen mei­ne Biblio­thek zur Ver­fü­gung stel­len.«

Esther und ich muss­ten uns das La­chen ver­bei­ßen, als er in solch groß­ar­ti­ger Wei­se von sei­nen zwei Kar­tof­fel­sä­cken mit Bü­chern sprach.

»Wohl mög­lich«, er­wi­der­te ich, »aber wäh­rend un­se­res kur­z­en In­ter­views mach­te er kaum den Ein­druck ei­nes Li­te­ra­ten auf mich. Mir kommt es eher vor, als ob er ir­gend­ei­ner chro­ni­schen Krank­heit hal­ber von sei­nem Arz­te hier­her ge­schickt wäre. Wenn du sei­ne wild­star­ren­den Au­gen und ner­vös zu­cken­den Fin­ger ge­se­hen hät­test, wür­dest du sel­ber zu­ge­ben, dass er der Er­ho­lung im höchs­ten Gra­de be­dürf­tig ist!« –

»Mich soll nur wun­dern, ob er eine Frau und Fa­mi­lie hat«, mein­te mei­ne Schwes­ter. – »Arme See­len! Wie ent­setz­lich ein­sam wer­den sie sein! Es gibt ja au­ßer uns im Um­krei­se von sie­ben Mei­len und mehr kei­ne Fa­mi­lie hier, mit der sie ver­keh­ren könn­ten!«

»Ge­ne­ral Hea­ther­sto­ne ist ein be­rühm­ter Of­fi­zier!« warf mein Va­ter ein.

»Nanu, Papa; was weißt du denn von ihm?«

»Ja, seht ihr«, lach­te mein Va­ter, »da wit­zelt ihr über mei­ne Biblio­thek, und doch kann die zu­wei­len sehr nütz­lich sein.« Er lang­te ein rot ein­ge­bun­de­nes Fo­lio von sei­nem Bü­cher­brett her­un­ter und blät­ter­te dar­in her­um. »Dies ist das ost­in­di­sche Ar­mee­re­gis­ter für die letz­ten drei Jah­re«, er­klär­te er, »und hier ha­ben wir den Herrn, den wir su­chen. J. B. Hea­ther­sto­ne, Oberst a. D. der ost­in­di­schen Ar­mee, ein­und­vier­zigs­tes ben­ga­li­sches Re­gi­ment zu Fuß, als Ge­ne­ral­ma­jor pen­sio­niert. Er­stür­mung von Ghuz­nee, Ver­tei­di­gung von Jel­lala­bad, So­bra­su 1848, Se­poy-Auf­stand und Ein­nah­me von Oudh. Fünf­mal in of­fi­zi­el­len Te­le­gram­men er­wähnt. – Wir ha­ben gu­ten Grund, auf un­se­ren neu­en Nach­barn stolz zu sein, den­ke ich.«

»Es steht nicht dar­in, ob er ver­hei­ra­tet ist, nicht wahr?« frag­te Esther.

»Nein!« schmun­zel­te mein Va­ter, über sei­nen ei­ge­nen Hu­mor ent­zückt und be­hag­lich mit dem Kop­fe wa­ckelnd. »Ich kann es un­ter der Ru­brik ›Wag­hal­si­ge Un­ter­neh­mun­gen‹ nicht fin­den, ob­wohl es ei­gent­lich dort­hin ge­hört.«

Alle un­se­re dies­be­züg­li­chen Zwei­fel wur­den je­doch bald zer­streut, denn als ich an dem­sel­ben Tage, an wel­chem die Aus­bes­se­rung und Aus­stat­tung des al­ten Schlos­ses be­en­det war, zu­fäl­lig Ge­le­gen­heit hat­te, nach Wig­town zu rei­ten, traf ich auf dem Wege den Ge­ne­ral, der mit sei­ner Fa­mi­lie nach Cloom­ber fuhr. Eine ält­li­che Dame von ab­ge­zehr­tem und kränk­li­chem Aus­se­hen saß an sei­ner Sei­te, und bei­den ge­gen­über ne­ben ei­nem jun­gen Bur­schen von un­ge­fähr mei­nem Al­ter ein Mäd­chen, das ein paar Jah­re jün­ger zu sein schi­en. Ich grüß­te und woll­te ge­ra­de vor­bei­rei­ten, als der Ge­ne­ral sei­nen Kut­scher hal­ten ließ und mir sei­ne Hand ent­ge­gen­streck­te. Ich konn­te jetzt se­hen, dass sein Ant­litz, ob­wohl es hart und fins­ter war, doch auch freund­li­che Züge auf­zu­wei­sen hat­te.

»Wie geht’s, Herr West?« rief er. »Ich muss mich noch we­gen mei­nes bar­schen Be­neh­mens von neu­lich abend ent­schul­di­gen. Sie wer­den es aber ei­nem al­ten Sol­da­ten, der sein gan­zes Le­ben lang im Ge­schirr zu­ge­bracht hat, wohl nicht übel­neh­men. Sie müs­sen je­den­falls zu­ge­ben, dass Sie für einen Schot­ten eine sehr dunkle Ge­sichts­far­be ha­ben!«

»Wir ha­ben spa­ni­sches Blut in un­se­ren Adern«, er­wi­der­te ich, ob­wohl es mir un­er­klär­lich war, wes­halb er auf die­sen Punkt zu­rück­kam.

»Das ist wahr­schein­lich die Ur­sa­che«, be­merk­te er, um dann zu sei­ner Frau ge­wen­det fort­zu­fah­ren: »Mei­ne Liebs­te, darf ich dir Herrn Fo­ther­gill West vor­stel­len? Dies ist mein Sohn und mei­ne Toch­ter. Wir sind hier­her ge­kom­men, um Ruhe zu fin­den, Herr West, voll­kom­me­ne Ruhe!«

»Ei­nen bes­se­ren Platz hät­ten Sie sich dazu nicht aus­su­chen kön­nen«, sag­te ich.

»Mei­nen Sie?« ant­wor­te­te er. »Ich glau­be selbst, dass es hier sehr ru­hig und ein­sam ist. Man kann wohl nachts hier man­chen Weg ma­chen, ohne eine Men­schen­see­le an­zu­tref­fen, nicht wahr?«

»Wohl mög­lich«, ent­geg­ne­te ich, »es gibt we­nig Nacht­wand­ler hier.«

»Und Sie ha­ben nicht viel von Va­ga­bun­den und der­glei­chen Ge­sin­del zu lei­den?«

»Ich fin­de es ziem­lich kalt hier«, un­ter­brach Frau Hea­ther­sto­ne ih­ren Gat­ten frös­telnd, in­dem sie ih­ren mit See­hunds­fell ge­füt­ter­ten Man­tel fes­ter um sich zog. »Und au­ßer­dem hal­ten wir Herrn West auf!«

»Das ist wahr, Schatz, du hast recht! Vor­wärts, Kut­scher! Gott be­foh­len, Herr West!«

Der Wa­gen ras­sel­te da­von, dem Schlos­se zu, und ich trab­te nach­denk­lich wei­ter nach der klei­nen Land­stadt.

Als ich die High Street hin­aufritt, kam Herr Mc. Neil aus sei­nem Büro ge­lau­fen und wink­te mir zu, an­zu­hal­ten.

»Unsere neuen Pächter sind hinübergezogen«

»Un­se­re neu­en Päch­ter sind hin­über­ge­zo­gen«, sag­te er, »heu­te Mor­gen fuh­ren sie fort.«

»Ich weiß«, ant­wor­te­te ich, »ich traf sie auf dem Wege.«

Als ich mir den klei­nen Ver­wal­ter nä­her an­sah, be­merk­te ich, dass sein Ge­sicht ge­rötet war und dass er au­gen­schein­lich ein Glas über den Durst ge­trun­ken hat­te.

»Mit sol­chen Leu­ten las­sen sich noch Ge­schäf­te ma­chen«, lach­te er, »da ver­steht man ein­an­der. Wie viel soll ich’s ma­chen? fragt der Ge­ne­ral, nimmt ein Scheck­for­mu­lar aus sei­ner Brief­ta­sche und legt es auf den Tisch. Zwei­hun­dert Pfund, sage ich, da­bei fällt dann für mich noch ein klei­nes Dis­kon­to ab.«

»Ich dach­te, der Ei­gen­tü­mer be­zahlt Ih­nen das?« be­merk­te ich.

»Nun frei­lich. Aber dop­pelt hält bes­ser! Er füllt also den Scheck aus und wirft ihn mir auf den Tisch, als ob es eine Brief­mar­ke wäre. Das nen­ne ich Ge­schäft zwi­schen ehr­li­chen Leu­ten! Wol­len Sie nicht einen Au­gen­blick ein­tre­ten und einen Trop­fen zu sich neh­men?«

»Dan­ke sehr!« sag­te ich. »Ich habe Ge­schäf­te zu be­sor­gen!«

»Recht so! Das Ge­schäft muss im­mer vor­ge­hen. Früh­mor­gens soll­te man über­haupt nichts trin­ken. Es be­kommt ei­nem nicht. Ich selbst trin­ke mor­gens nie et­was, au­ßer viel­leicht einen Trop­fen vor dem Früh­stück, um mir Ap­pe­tit zu ma­chen, und einen oder zwei nach­her, der Ver­dau­ung we­gen. Ich glau­be selbst, dass ich viel­leicht in die­ser Sa­che ein we­nig zu pe­ni­bel bin, aber bes­ser ist bes­ser. Was den­ken Sie denn von Ihrem neu­en Nach­bar, Herr West?«

»Ich habe noch kei­ne Ge­le­gen­heit ge­habt, ihn ge­nau­er ken­nen zu ler­nen«, ent­geg­ne­te ich.

Herr Mc. Neil deu­te­te mit dem Mit­tel­fin­ger auf sei­ne Stirn.

»Wol­len Sie wis­sen, was ich von ihm den­ke?« frag­te er ver­trau­lich. »Ver­rückt ist er! Was wür­den Sie zum Bei­spiel als ein Zei­chen von Ver­rückt­heit an­se­hen, Herr West?«

»Ei­nem Wig­tow­ner Hau­s­agen­ten einen lee­ren Scheck an­zu­bie­ten«, sag­te ich.

»Spaß­vo­gel Sie! Aber ernst­haft! Wenn je­mand Sie frag­te, wie viel Mei­len es bis zum nächs­ten Ha­fen sei­en, ob dort Schif­fe aus dem Ori­ent hin­kämen, ob sich hier Va­ga­bun­den um­her­trei­ben und ob es ge­gen den Miets­kon­trakt sei, eine hohe Mau­er um das Grund­stück aus­zu­füh­ren – wo­für wür­den Sie einen sol­chen Men­schen hal­ten?«

»Für sehr ex­zen­trisch je­den­falls!« ant­wor­te­te ich, und Herr Mc. Neil blin­zel­te mir viel­sa­gend zu.

»Wenn der Mann dort wäre, wo­hin er ge­hört, brauch­te er sich kein Kopf­zer­bre­chen we­gen der ho­hen Mau­er zu ma­chen.«

»Und wo ist das?« frag­te ich.

»Im Wig­tow­ner Ir­ren­hau­se!« rief der klei­ne Mann, laut auf­la­chend über sei­nen ei­ge­nen Witz, und ich ritt wei­ter.

Die An­kunft der neu­en Fa­mi­lie in Cloom­ber Hall rief kei­ne be­mer­kens­wer­te Än­de­rung in der Ein­för­mig­keit un­se­res Stil­le­bens her­vor. An­statt an den ein­fa­chen Ver­gnü­gun­gen, die das Land­le­ben dar­bot, teil­zu­neh­men oder, wie wir ge­hofft, sich für un­se­re Be­mü­hun­gen zu in­ter­es­sie­ren, das Los der ar­men Fi­scher und Kät­ner im Dor­fe zu ver­bes­sern, schie­nen sie im Ge­gen­teil alle An­nä­he­rung ängst­lich zu mei­den und sich kaum aus dem Tore des Gu­tes hin­aus­zu­wa­gen.

Es wur­de auch bald klar, dass des Agen­ten Be­haup­tung hin­sicht­lich der Um­zäu­nung des Grund­stücks nicht grund­los ge­we­sen war, denn eine gan­ze Schar von Ar­bei­tern be­gann auf ein­mal rast­los dar­an­zu­ge­hen, die­ses mit ei­nem ho­hen Sta­ket zu um­ge­ben.

Die Umzäunung des Grundstücks

Als es fer­tig und mit schar­fen Ei­sen­spit­zen ver­se­hen war, war Cloom­ber-Park, au­ßer für einen un­ge­wöhn­lich ge­wand­ten und wag­hal­si­gen Klet­te­rer, un­nah­bar. Es war, als ob bei dem al­ten Sol­da­ten das Krieg­füh­ren zu ei­ner fi­xen Idee ge­wor­den wäre, so­dass er es auch in Frie­dens­zei­ten nicht las­sen konn­te.

Er ging so­gar noch wei­ter. Das Schloss wur­de ver­pro­vi­an­tiert, als ob ihm eine lang­wie­ri­ge Be­la­ge­rung be­vor­stän­de, und Beg­bic, der größ­te Vik­tua­li­en­händ­ler in Wig­town, er­zähl­te mir selbst, dass der Ge­ne­ral hun­der­te von Dut­zen­den al­ler mög­li­chen Kon­ser­ven bei ihm be­stellt hät­te.

Man kann sich leicht den­ken, dass die­se Vor­fäl­le nicht ohne Ein­druck auf das aber­gläu­bi­sche Land­volk blie­ben. Im gan­zen Krei­se bil­de­ten die neu­en Be­woh­ner von Cloom­ber Hall das Ta­ges­ge­spräch. Aber der ein­zi­ge Schluss, zu dem die Leu­te kom­men konn­ten, war die un­ter die­sen Um­stän­den sehr na­he­lie­gen­de An­nah­me, dass ent­we­der der alte Ge­ne­ral und sei­ne gan­ze Sipp­schaft ver­rückt sei­en, oder dass er ir­gend­ein ent­setz­li­ches Ver­bre­chen be­gan­gen und sich hier­her vor sei­nen Ver­fol­gern ge­flüch­tet habe.

Es ist wahr, dass der Ge­ne­ral sich bei un­se­rem ers­ten Zu­sam­men­tref­fen wie ein Geis­tes­ge­stör­ter be­nom­men hat­te, aber nie­mand hät­te ver­nünf­ti­ger sein kön­nen, als er sich bei un­se­rer zwei­ten Be­geg­nung zeig­te. Au­ßer­dem führ­ten sei­ne Frau und Kin­der ganz die­sel­be ab­ge­schlos­se­ne Le­bens­wei­se; der Grund konn­te des­halb nicht in sei­ner ge­stör­ten Ge­sund­heit lie­gen.

Die Theo­rie, dass er ein Jus­tiz­flücht­ling sei, war noch un­halt­ba­rer. Wig­towns­hi­re war zwar ein­sam ge­nug, aber doch nicht so welt­ab­ge­le­gen, dass ein weit­be­kann­ter Of­fi­zier hier spur­los zu ver­schwin­den hof­fen konn­te.

Ein Mann, der die Öf­fent­lich­keit scheu­te, wür­de sich auch nicht in der Wei­se, wie der Ge­ne­ral es ge­tan zum Ta­ges­ge­spräch ge­macht ha­ben. Im großen und gan­zen war ich ge­neigt, an­zu­neh­men, dass des Rät­sels Lö­sung in ei­ner krank­haf­ten Sucht nach Ein­sam­keit zu su­chen sei. Wir er­fuh­ren bald an uns selbst, bis zu wel­chem Gra­de die Fa­mi­lie von die­ser Sucht nach voll­kom­me­ner Ein­sam­keit be­ses­sen war.

Mein Va­ter war ei­nes Mor­gens mit dem Schat­ten ei­nes großen Ent­schlus­ses auf sei­ner Stirn zum Vor­schein ge­kom­men.

»Du musst heu­te dein rosa Kleid an­zie­hen, Esther«, sag­te er, »und du, John, musst dich auch et­was her­aus­ma­chen; wir wer­den heu­te Nach­mit­tag zu­sam­men nach Cloom­ber fah­ren, um dem Ge­ne­ral und sei­ner Ge­mah­lin einen Be­such ab­zu­stat­ten.«

»Du musst heute dein rosa Kleid anziehen, Esther«

»Hur­ra, wir ge­hen nach Cloom­ber!« rief Esther, fröh­lich in die Hän­de klat­schend.

»Ich bin hier«, sag­te mein Va­ter wür­de­voll, »nicht nur der Ver­wal­ter des Guts­herrn, son­dern auch sein Ver­wand­ter. Und als sol­cher bin ich über­zeugt, dass wir sei­nem Wil­len ge­mäß han­deln, wenn wir die­sem Frem­den alle Freund­lich­kei­ten, die in un­se­ren Kräf­ten ste­hen, er­wei­sen. Ge­gen­wär­tig müs­sen sie sich ein­sam und freund­los vor­kom­men. Denn wie spricht der große Fir­du­si: ›Ei­nes Man­nes köst­li­cher Schmuck sind sei­ne Freun­de!‹«

Mei­ne Schwes­ter und ich wuss­ten aus Er­fah­rung, dass, wenn un­ser Va­ter erst an­fing, sei­ne Ent­schlüs­se mit Zi­ta­ten aus sei­nen per­si­schen Dich­tern zu be­grün­den, nichts mehr dar­an zu än­dern war.

Und so sa­hen wir denn auch rich­tig nach­mit­tags den Phae­ton vor der Tür, mit Va­ter in sei­nem zweit­bes­ten Rock und ei­nem Paar neu­er wild­le­der­ner Hand­schu­he auf dem Kut­scher­bock.

»Ein­stei­gen, mei­ne Lie­ben!« rief er, lus­tig mit der Peit­sche knal­lend. »Wir wol­len doch dem Ge­ne­ral ein­mal zei­gen, dass er kei­nen Grund hat, sich sei­ner Nach­barn zu schä­men!«

Aber ach, Hoch­mut kommt doch im­mer vor dem Fall!

Es stand nicht in den Ster­nen ge­schrie­ben, dass un­se­re wohl­ge­pfleg­ten Po­nys und un­ser blitz­blan­kes Ge­schirr den Be­woh­nern von Cloom­ber Hall heu­te im­po­nie­ren soll­ten.

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