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Gerhard Fritsch

Man darf nicht leben, wie man will

Tagebücher

Herausgegeben und mit einem Vorwort
von Klaus Kastberger

Transkription und Kommentar:
Stefan Alker-Windbichler

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Salzburg – Wien

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Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:
978 3 7017 4609 5

ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1405 7

Inhalt

Im Alleingang: Gerhard Fritsch

Gerhard Fritsch Tagebücher 1956–1964

Heft I

Juni 1956 – Jänner 1957 Juni 1957

Heft II

Jänner 1959

Heft III

Juni – November 1961

Heft IV

Mai – Oktober 1963 Mai / Juni 1964

Editorische Notiz

Stefan Alker-Windbichler Kommentar

Notiz zum Kommentar

Tagebücher-Personenregister

Klaus Kastberger

Im Alleingang: Gerhard Fritsch

Wenn die Theorien klar sind, wird die Praxis dunkel.

(G. F. TAGEBUCH, 25. OKTOBER 1963)

Gerhard Fritsch hätte zu einem der hervorragenden Repräsentanten der österreichischen Literatur nach 1945 werden können. Erklärungen dafür, warum er es mit seinen Büchern nicht dahin brachte, wurden in den letzten Jahrzehnten mehrfach vorgetragen und liegen relativ offen zu Tage. Aber es gibt auch Gründe, die verborgener sind und bis heute eher versteckt.

Die Tagebücher von Gerhard Fritsch, die hier zum ersten Mal in ihrem Gesamtzusammenhang veröffentlicht werden, geben Einblicke in diese Gemengelage und eröffnen damit auch einen unmittelbaren Zugang zur privaten Welt des Autors. Das mag Anstoß erregen, muss es aber nicht. Denn nichts von dem, was Gerhard Fritsch in diesen Aufzeichnungen über sich selbst, seine Ängste und Sorgen, Skrupel und Zweifel, Begehrlichkeiten und Wünsche sagt, bleibt privat. Stets ist, was er im Tagebuch schreibt, auf die Ausdrucksmöglichkeiten seines eigenen literarischen Schreibens bezogen. Das Tagebuch von Gerhard Fritsch ist die Folie seiner Literatur. Hier spielt der Autor durch, was später für ihn dort möglich werden sollte. Es geht um die Gesamt-Existenz des Autors, gebündelt in der Frage: Wie schaffe ich es, über mich selbst sprechend zu werden?

Was wissen wir über Gerhard Fritsch? Er hat Selbstmord begangen. Am 22. März 1969 fand man ihn in Wien, erhängt in Frauenkleidern, hieß es. Später tauchten andere und wohl auch plausiblere Erklärungen auf. Es sei gar kein Selbstmord gewesen (auch ein Abschiedsbrief fehlt), sondern ein Unfall bei einem autoerotischen Würgeritual, das Fritsch offenbar wiederholt praktizierte.

Was weiß man noch? Seine beiden Romane Moos auf den Steinen (1956) und Fasching (1967) werden von einigen zum Besten gezählt, was die österreichische Literatur nach 1945 hervorgebracht hat. Beiden Büchern waren aber kaum nachhaltige Wirkungen beschieden. Moos auf den Steinen schildert das Schicksal eines verfallenen österreichischen Schlösschens. Die Tochter des Besitzers, eines ehemaligen k. u.k. Majors, wird von zwei Verehrern umschwärmt. Der eine will aus dem Gebäude ein modernes Kulturzentrum machen, das zur neuen, demokratisch geprägten Umgebung und zur Realität der Zweiten Republik passt, der andere (ihr Favorit) schwelgt mit ihr lieber in den Seelenlandschaften der Vergangenheit und nimmt dabei wie sie den Verfall der Liegenschaft billigend in Kauf. Tragischerweise stirbt er aber bei einem Unfall. Bei Erscheinen hatte das Buch relativ großen Erfolg, vor allem auch deshalb, weil es als Ausdruck einer konservativ-restaurativen Strömung gelesen werden konnte. Moos auf den Steinen passte perfekt in einen Topos, den der Triestiner Germanist Claudio Magris in einer Studie, die er wenig später, nämlich im Jahr 1963, veröffentlichte, auf den Begriff des »habsburgischen Mythos« brachte. Gemeint ist damit eine zentrale Verfangenheit der österreichischen Literatur in der großen feudalen Vergangenheit des Landes bei einer gleichzeitig statuierten Unfähigkeit, sich mit der Gegenwart adäquat auseinanderzusetzen.

Mit dem Buch Fasching begegnete dem Publikum dann, elf Jahre später, in Gerhard Fritsch ein vermeintlich vollkommen anderer Autor. So, als hätte er die Seiten gewechselt, setzte er sich in diesem Buch nun plötzlich mit der unmittelbaren Vergangenheit Österreichs auseinander und tat dies zudem in einer Form, die eher der literarischen Moderne als den restaurativen Erzählformen der Zwischenkriegszeit zuzurechnen ist. Fasching ist die Geschichte eines Deserteurs des Zweiten Weltkriegs, der von den Bewohnern einer Kleinstadt verborgen wird, indem man ihn in Frauenkleider steckt. Der Mann geht auf die Avancen des Ortskommandanten ein, der ihn tatsächlich für eine Frau hält, entwaffnet ihn damit in doppelter Weise und rettet so die Stadt vor der bereits angeordneten Zerstörung. Nach dem Krieg kommt der ehemalige Deserteur in den Ort zurück, und es wiederholt sich an ihm sein Schicksal. Er wird zur »Faschingsprinzessin« gewählt und in jene Grube gesteckt, in der er den Nationalsozialismus überlebte. Das zeitgenössische Publikum und die Kritik vermochten mit dem Buch Fasching nicht allzu viel anzufangen. Mehrmals jedoch wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten von prominenten Vertretern des österreichischen Literaturbetriebes darauf hingewiesen, dass es sich bei Fasching um eines der zentralen Bücher der österreichischen Literatur handelt, eingepasst in eine Linie schonungsloser Aufklärung, die von Hans Lebert bis zu Elfriede Jelinek führt.

Was wissen wir noch? Gerhard Fritsch war einer der bedeutsamsten Literaturfunktionäre des Landes, ja, an seiner Person prägte sich der Typus des Literaturfunktionärs, wie wir ihn kennen bzw. wie es ihn heute in einer solchen Summe von Verantwortlichkeiten kaum mehr gibt, überhaupt erst aus. Fritsch war Redakteur renommierter Literaturzeitschriften, von Lynkeus über Wort in der Zeit, Literatur und Kritik bis hin zu den protokollen. Er war Mitherausgeber wichtiger Sammelbände, Beiträger und Textzulieferer für offizielle Feierstunden der Republik (wie zum Beispiel mit seiner Textcollage Groß ist das Erbe zum »Tag der Fahne« 1960), Rezensent, Verlagsgutachter, Publizist und in all diesen Funktionen mit dem staatlich geförderten Literaturbetrieb, der sich in den 1950er und 1960er Jahren konstituierte, in fast all seinen Ziselierungen verwachsen.

Von 1951 bis 1958 hatte Fritsch eine feste Anstellung als Bibliothekar bei den Wiener Städtischen Büchereien. In dieser Funktion betreute er die Wiener Bücherbriefe, eine Zeitschrift mit Rezensionsteil, die vor dem Hintergrund sozialdemokratischer Bildungspolitik das »gute« Buch propagierte. In Kampagnen gegen den sogenannten »Schmutz und Schund«, die vor allem eine Literatur der sexuellen Übertretung meinten, war Fritsch auf diese Weise dienstlich eingebunden. Hans Weigel, eine der einflussreichsten Figuren dieser Zeit, war gemeinsam mit Rudolf Felmayer und Christine Busta daran beteiligt gewesen, Fritsch jene Anstellung bei der Stadt Wien zu verschaffen. Nicht ohne Hintergedanken, denn so sollten aufstrebende junge Intellektuelle dem kommunistischen Einfluss entzogen werden, was bis zur Unterzeichnung des Staatsvertrages im Jahr 1955 eine reale Gefahr darstellte. Gerhard Fritsch war im Jänner 1950 der Kommunistischen Partei Österreichs beigetreten, publizierte in der von ihr finanzierten Tageszeitung Der Abend und verließ die Partei unmittelbar vor seinem Eintritt in den Dienst der Stadt Wien Ende des Jahres 1950 wieder. Zwei Jahre später trat er in die SPÖ ein, was – wie sein Tagebuch zeigt – auch pragmatische Gründe hatte wie beispielsweise einen leichteren Zugang zu einer neuen Wohnung (vgl. den Eintrag vom 30.11.1956). Seine Aufzeichnungen zeigen zudem, dass er sich innerlich zusehends dem Katholizismus zuwandte.

Weitere biographische Fakten: Gerhard Fritsch wurde am 28. März 1924 in Wien geboren. Der Vater war Mittelschullehrer und wie die Mutter aus Nordböhmen zugezogen. Im Zweiten Weltkrieg war Fritsch als Funker einer deutschen Fliegerstaffel dienstverpflichtet, mit Einsätzen in Norwegen, Finnland und an der Ostfront. Nach Kriegsende kam er mit seiner ersten Ehefrau, die aus Litauen stammte, nach Österreich zurück. Die Frau und der gemeinsame Sohn Georg lebten von da an bei Fritschs Eltern in Gföhl im Waldviertel. Fritsch selbst studierte in Wien Geschichte und Germanistik, schloss eine Dissertation mit dem Titel Die Industrielandschaft in der deutschen Lyrik ab, reichte sie aber nicht ein und legte keine Rigorosen ab. In der Lyrik, die er in dieser Zeit schrieb und in Zeitschriften sowie gesammelt in dem Buch Zwischen Kirkenes und Bari (1952) publizierte, thematisierte er Erfahrungen auch aus der Kriegszeit so, als würde es sich dabei um allgemein verfügbare, kollektive Erinnerungen handeln und als wären davon alle gleichermaßen betroffen. In vollem Einklang mit Vorstellungen von soldatischer Schweigepflicht und notwendiger Festigkeit des eigenen Körperpanzers (den man haben musste, um all das überhaupt zu überstehen) findet individuelles Erleben darin an den entscheidenden Punkten keinen Ausdruck. Auch alles Sexuelle bleibt ausgespart und ist mit einem Redeverbot versehen, das so tief sitzt, dass man nicht einmal das Verbot selbst verbalisieren darf.

Die familiären Verhältnisse: Gerhard Fritsch war insgesamt dreimal verheiratet und hatte vier Kinder, eines davon wurde erst nach seinem Tod geboren. Aus dieser Situation erwuchsen ihm Unterhaltspflichten, die er sehr ernst nahm und die sein Leben zwischen Brotberuf, eigenem literarischen Arbeiten und den Belastungen der vielfältigen emotionalen Bindungen immer wieder zu einer Hetzerei nach Geld machten. Im Tagebuch ist auch darüber etwas zu erfahren, insgesamt aber macht diese doch eher homöopathisch vorgebrachte Klage über die Imponderabilien der täglichen Tretmühle nur einen der unbedeutendsten Teile des Textdokuments aus.

Insgesamt sind die Tagebücher von Gerhard Fritsch ein vierfacher Versuch, ein Tagebuch zu führen und damit ins Schreiben über sich selbst zu kommen. Der handschriftliche Text ist in vier großformatige Schulhefte eingetragen. Das erste dieser Hefte versammelt Aufzeichnungen von Juni 1956 bis Jänner 1957 und findet sich am Ende um eine einseitige Notiz erweitert, die von Juni 1957 stammt. Als Fritsch zu schreiben begann, war soeben Moos auf den Steinen erschienen, aber das Tagebuch kümmert das nur wenig. An einer Stelle ist davon die Rede, dass Hermann Hakel zu Fritsch ins Büro kommt, um ihm die Unzulänglichkeit dieses Buches auseinanderzusetzen. Kein Wunder, denn mit dem literarischen Kreis um Hakel ist es durch Fritschs Hinwendung zu Hans Weigel zur Entfremdung gekommen. An einer anderen Stelle bilanziert Fritsch die Rezensionen, die man ihm zugesandt hat. Das literarische Ego des Autors bläht sich aber auch hier kaum auf.

Es geht um etwas anderes in diesem ersten Ansatz zum Tagebuch. Die Aufzeichnungen sollen »intim« und eine Konfession des Autors vor dem Autor selbst sein, alle anderen Leser spart Fritsch von dem Text dezidiert aus. »Tagebücher mit Hinblick auf die Nachwelt? Ich will zuerst einmal mir selber bekennen – und damit wird schon provoziert«, schreibt er am 6.7.1956. Was aber gibt es zu bekennen? Dass Gerhard Fritsch in Kaffeehäusern Illustrierte durchblättert und dabei besonders von den Kleidern der Damen angetan ist. Der »Gummibusen« von Sophia Loren erscheint ihm dabei als das Symbol einer Zeit, »die mit ihrer Pubertät nicht mehr fertig wird« (13.6.1956). Weiters: Dass Fritsch sich danach sehnt, selbst Frauenkleider zu tragen. Die eigene Ehefrau, seine zweite, Annemarie (»Mirli«), mit der er von 1951 bis 1958 verheiratet ist, ist eingeweiht. Offenkundig hat, um das Geheimnis mit ihr zu teilen, ein gemeinsames Erlebnis im Fasching 1951 in Ottakring eine Rolle gespielt (6.7.1956).

Mit Annemarie teilt Fritsch das Vorhaben, sich im September (also gut ein halbes Jahr nach Beginn der Aufzeichnungen) ein neues Kleid zu kaufen. Fritsch trägt die Frauenkleider auch wirklich, nicht in der Öffentlichkeit, aber beim Schreiben, nicht allein seiner literarischen Texte, sondern des Abends auch bei Routinearbeiten. Außerdem schreibt er Dinge, die er nicht schreiben sollte und die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind. Sogenannte TV- (Fritschs Abkürzung für »Transvestismus«) oder Helmut- oder H-Stories, die nach der Hauptfigur einiger dieser Geschichten, einem gewissen Helmut Berger (nicht zu verwechseln mit dem 1944 geborenen Schauspieler), benannt sind.

Die Arbeit an geheimen Texten, die so verborgen sind, dass sich von ihnen auch in dem derzeit zugänglichen Nachlass Gerhard Fritschs kaum eine Spur findet, produziert schlechtes Gewissen, denn eigentlich sollte der Autor seiner Ansicht nach längst mit dem Nachfolgeroman zu Moos auf den Steinen beschäftigt sein. Es werden dort aber im Laufe des Jahres nur wenige Seiten geschrieben, während die TV-Stories anwachsen und ihr jeweiliger Gesamtumfang genau bilanziert wird. Wie die Geschichten ausgesehen haben mögen, ist aus den Einzelerwähnungen im Tagebuch nur sehr ansatzweise zu erschließen. Nur ein einziges Textbruchstück hat sich erhalten. Es trägt die Überschrift »Neue Fassung der H. Story« (Nachlass Gerhard Fritsch, Gruppe 1.2.4, Wienbibliothek im Rathaus) und entwirft ein Handlungsgerüst, in dem es darum geht, dass ein gewisser H. bei einer Tante im Dienst steht. Gemeinsam arbeiten sie in der Wohnung der Tante als Zulieferer für ein Handarbeitsgeschäft. Er trägt dabei weibliche Kleidung und befriedigt damit ein Begehren, das er seit der Matura hat. Die Tante tyrannisiert ihn, er stiehlt ihr Geld und fährt nach Salzburg, um sich dort eine Stellung als Landarbeiter oder bei einem Kraftwerksbau zu suchen. Schon in seiner ersten Nacht in der fremden Stadt macht er Bekanntschaft mit einem eleganten Herrn, der ihm sexuelle Avancen macht. Panikartig fährt er zurück nach Wien, versöhnt sich tränenreich mit der Tante und verspricht ihr fortan Gehorsam.

Mit einem Begriff, den es damals noch nicht gegeben hat, würde man Gerhard Fritsch heute als einen heterosexuellen Cross-Dresser oder als einen transvestitischen Fetischisten bezeichnen. Homosexuelle Begierden spielen im Tagebuch keine Rolle. An einer Stelle treibt Fritsch die Klage darüber, dass für ihn ein Outing nicht möglich ist, auf die Spitze, indem er die Situation, in der er steckt, direkt verbalisiert: »Man darf nicht leben, wie man will«, trägt er am 17.6.1956 als definitive Erkenntnis in das Tagebuch ein. Fünf Tage später fragt er sich, wie es wohl wäre, einmal vier Wochen lang »völlig TV« zu leben, »allein oder beschützt?«.

Die Konfession vor sich selbst, die den ersten Teil des Tagebuches auch stilistisch prägt und ihm gegenüber den restlichen, viel ruhiger geformten Teilen einen hochemotionalen und geradezu atemlosen Charakter gibt, führte zu keiner Veränderung in Fritschs Leben. Zu klein war der Spielraum, den es dafür im Österreich der 1950er und 1960er Jahre gab. Das Bekenntnis des Tagebuches transformiert aber das literarische Schreiben des Autors. Die österreichische Germanistik und allen voran Stefan Alker hat den mühevollen textgenetischen Weg hin zum Roman Fasching in allen Details beschrieben. Für die unmittelbaren Nachfolgeprojekte zu Moos auf den Steinen, die Romane Die Schlinge des Jägers und Wild und bitter die Hoffnung, fand Fritsch keinen Verlag. Das Projekt Mondphasen blieb Fragment. Mit einer ersten wirklichen Vorstufe zu Fasching, dem Roman Der Spießrutenlauf, erging es dem Autor nicht besser. 1962 lehnte der Otto-Müller-Verlag eine Veröffentlichung des Textes ab, was zum Bruch mit diesem Verlag führte, dem Fritsch jahrzehntelang eng verbunden war. Über die Zwischenstufe Denkmal für einen Deserteur nahm der bundesdeutsche Rowohlt Verlag dann das Buch Fasching an und publizierte es 1967.

Unmittelbar nach seiner Kündigung bei den Wiener Städtischen Büchereien nahm Gerhard Fritsch im Jänner 1959 einen neuen Anlauf, ein Tagebuch zu schreiben. Dezidiert setzt er die neuen Aufzeichnungen, die er in seinem zweiten Heft vorerst nur einen Monat lang führt, dann im dritten Heft von Juni bis November 1961 fortsetzt und schließlich in einem vierten zum letzten Mal 1963/64 wieder aufnimmt, von den existenziell gerüttelten Konfessionen der Jahre 1956/57 ab. Ein »Bekenntnis zum vegetativen Denken« soll entsprechend einem Eintrag vom 10.1.1959 seine früheren Aufzeichnungen getragen haben, dieses aber gilt fortan nicht mehr. Jetzt tritt die sachliche Beobachtung in den Vordergrund und die Emotion merklich zurück.

In den späteren Tagebuchteilen ist viel Inhalt zu finden, der sich unmittelbar erschließt und den man hier nicht in allen Details nachzuerzählen braucht. Das Zusammenleben mit seiner dritten Ehefrau Barbara, die Fritsch 1958 geheiratet hat. Gemeinsame Nachmittage mit Michael, dem Sohn aus zweiter Ehe. Land- und Kuraufenthalte, das Schreiben an seinen Romanprojekten. Begegnungen mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie des Öfteren mit Christine Busta, die wie Fritsch bei den Wiener Büchereien angestellt war. An einer Stelle ist von der schillernden Figur des H. C. Artmann die Rede und der Art und Weise, wie dieser seinen Unterhaltspflichten zu entgehen suchte. Anderswo von Friederike Mayröcker, Ernst Jandl und vielen anderen Autoren, mit denen Fritsch engen Kontakt hatte. Meist sind es sehr kurze, aber prägnante Beobachtungen aus dem literarischen Feld der 1950er und 1960er Jahre, die das Tagebuch liefert.

Festgehalten ist auch der Eindruck, den Thomas Bernhards Roman Frost, erschienen im Jahr 1963, auf Gerhard Fritsch machte. Mit Bernhard fühlte sich Fritsch freundschaftlich verbunden und er bewunderte, wie Wieland Schmied später schrieb, wohl auch wirklich dessen konsequent auf das eigene Schreiben hin abgestellten Lebensstil. Der mittlerweile publizierte Briefwechsel zeigt, dass Bernhard Fritsch als Autor schätzte. Am 29.8.1958 schreibt er: »Ich beneide dich, denn du kannst Prosa schreiben – ich kann es nicht.«

Ferner zeigt der Briefwechsel, dass Thomas Bernhard sich von Fritsch einen unmittelbaren Zugang zu Publikationsmöglichkeiten und anderen Meriten des Betriebes erhoffte, den er auch bekam. Später dann, in einem Interview mit André Müller, spuckte Bernhard dem früheren Freund ins Grab nach. Nicht Übertreibungskunst zeigt sich an diesen aufgeblasenen Sätzen, die manchem bis heute im Ohr klingen, wenn sie an Gerhard Fritsch denken, sondern eine Art von Infamie, die vielleicht nur noch von derjenigen Hermann Hakels überboten wird. Beide, Bernhard wie Hakel, konstruierten an der Person von Gerhard Fritsch postum ein seine gesamte Literatur verzehrendes und »verpfuschtes« Leben. Die Tagebücher indes zeigen einen Autor, der auch im Privaten ein sehr großes Verantwortungsgefühl und eine präzise Einschätzung der Möglichkeiten des eigenen Schreibens hatte.

Frost jedenfalls war für Gerhard Fritsch eine Offenbarung. »Ein Buffet des Schlachtens und Erfrierens«, trägt er am 24.6.1963 in das Tagebuch ein. Und am 1.5.1964 schreibt er: »Ich müsste – und werde hoffentlich einmal – so schreiben wie Thomas Bernhard. Ob das mit einer Lehrerinnenpsyche geht, ist allerdings eine Frage. Thomas ist ein bäuerlich dekadenter Narziss, das ist besser als ich mit meinem Hang zur Objektivität, Sicherheit, Unauffälligkeit und den Schüben von Verantwortungsbewußtsein, Pflicht etc.« Über sich selbst und die Antriebe seines eigenen Schreibens ist sich Gerhard Fritsch mittlerweile im Klaren. Er ist der Autor, der beim Schreiben – metaphorisch gesprochen – immer in Frauenkleidern steckt. Wer aber ist ich? Die frühere »Zwitter-Ziege« (25.9.1956) erscheint jetzt als ein Fetischist vor den Spitzenhöschen der eigenen Ehefrau. Als deutlichste Identifikationsfigur aus der Märchenwelt führt Fritsch an: das Aschenbrödel. Eine geschundene Dienstmagd, die am Ende doch noch zur Prinzessin wird.

Ebenfalls am 1.5.1964, Fritsch ist auf dem Weg in die Steiermark, findet sich im Tagebuch eine Beobachtung, die von Thomas Bernhard inspiriert sein könnte, aber dann doch in die entgegengesetzte Richtung führt, nämlich vom Hass zur Empathie: »Der Zug nach Feldbach voll, bedrohlich degeneriertes Landvolk, besoffen und abgerackert. Mit meiner Weiberseele, die ich allmählich bejahe, solidarisiere ich [mich] mit den Kittelträgerinnen zwischen 12 und 80. Was für ein stumpfes Gesindel sind diese Männer mit den Bierflaschen und ihren immer gleichen Renommiergeschichten! Ich verstehe Bärbels Angst vor solchem ›Volk‹, mit dem ich immer sympathisiert habe – eine sentimentale Lehrerin, die zufällig mit Hoden auf die Welt gekommen ist und deshalb keine schöngeistige Frauenrechtlerin sein kann.«

Von hier aus ist der Weg zu Fasching geebnet. Gerhard Fritsch ist ein Anti-Bernhard der österreichischen Literatur. Während beim Ohlsdorfer aus glorioseren Zeiten abgefallene Männer in monomanem Redefluss mit ihrem großen Erbe kaum etwas anderes vermögen, als es in letzten sinnlosen Akten abzuschenken, und in der Gegenwart des Landes einen undifferenzierten Haufen aus Nationalsozialismus, Sozialismus und Katholizismus (wobei ihnen dies alles letztlich eins ist) sehen, krümmt sich Gerhard Fritsch in seinem Schreiben in eine devot-weibliche Haltung. Nicht von oben herab als Männerphantasie, sondern von unten als die Phantasie einer degradierten Frau, der mit Sicherheit eines droht: als Mann demaskiert zu werden, definiert sich fortan sein Schreiben.

Jetzt wird aus der Grube herausgeschrieben, in der der Autor mitsamt den Verkleidungen, die ihm an den Leib gewachsen sind, steckt. Es ist ein hündisches Erzählverhalten (Friederike Mayröcker hat diesen Ausdruck einmal für ihr eigenes Schreiben verwendet), in das sich Fritsch begibt. Ob es ein weibliches Schreiben ist? Ich melde meine Zweifel an. Jedenfalls ist es ein Schreiben, das die Instanz des Erzählers desavouiert. Seine Souveränität über den Stoff und seine eigene Identität zwischen Mann und Frau. Gerhard Fritsch hat diesen Weg bis zum Ende beschritten. Sein nachgelassener Roman Katzenmusik, der 1974 erschien, ist Fragment geblieben. Ein fragmentarischer Charakter verbliebe diesem Text aber selbst dann, wenn Fritsch ihn abgeschlossen hätte. Es ist ein Buch aus Beobachtungssplittern, denen ein gemeinsames Zentrum notwendigerweise fehlt. Auch die Perspektive einer forced feminization, über die es im Tagebuch ebenfalls einiges zu erfahren gibt, ist diesem Buch eingeschrieben. Eine sexuelle Phantasie, die den Mann zur Frau und zum dienenden Teil macht. »Wer die Musik nicht hört«, heißt es in einem vorangestellten Motto zu Katzenmusik, »hält die Tanzenden für wahnsinnig.« Wie aber schaut sie aus, die Musik der Verhältnisse, die man im Ohr haben muss, um auch noch solche Tänzer im Takt zu sehen?

Robert Menasse hat Gerhard Fritschs Schreiben mehrfach als einen Effekt spezifisch österreichischer Verhältnisse beschrieben. Gerade auch in seiner Rolle als Literaturfunktionär erschien ihm dabei der Autor als ein paradigmatischer Vertreter dessen, was er mit dem Titel eines seiner Bücher als Sozialpartnerschaftliche Ästhetik (1990) bezeichnete. Sozialpartnerschaft heißt in Österreich, dass es zwischen Vertretern der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber einen Interessenausgleich gibt, der nicht in offenen Debatten im Parlament oder gar durch Arbeitskämpfe auf der Straße, sondern in direkten Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern festgelegt wird. Nach außen erweckt dies den Eindruck, dass wesentliche Bereiche der österreichischen Politik hinter verschlossenen Türen und mit zumindest eingeschränkter demokratischer Legitimation entschieden werden. Das Zuhören und die geheime Taktik erscheinen in solchen Prozessen oft zielführender als die offene politische Forderung. Das entspricht den Machtverhältnissen der katholischen Ohrenbeichte: Nicht der, der redet, hat das Sagen, sondern der, der die Beichte des anderen abnimmt, hat die Macht.

An Gerhard Fritsch statuiert Menasse eine »Ohnmacht des Machers im Literaturbetrieb«. Als Gefühl schlägt sich eine solche Ohnmacht oder etwas weniger pointiert gesagt: zumindest ein gewisser Gleichmut auch tatsächlich im Tagebuch nieder. Gerhard Fritsch nimmt die vielfältigen Funktionen und den Einfluss, den er im Betrieb hat, stets als etwas hin, das allein schon zu seinem finanziellen Überleben notwendig ist. In der Macht, die er hat, auf die er sich aber an keiner Stelle des Tagebuches übertrieben stolz zeigt, bleibt er immer ein Lohnempfänger des staatlich subventionierten Betriebes und dabei abhängig von dem, was andere über ihn verfügen und welche Chancen sich da und dort gerade für ihn bieten. Im Tagebuch werden die vielen Jobs stets auch nach dem Ertrag bewertet, den sie bringen. Beschwörungen eines Glücksgefühls der Macht und des Einflusses fehlen ebenso wie ein ansonsten im Betrieb nicht unüblicher Gestus, der die Hilfe und Förderung, die man anderen, meist jüngeren Autorinnen und Autoren zukommen hat lassen, zu einem Teil der eigenen intellektuellen Biographie macht. Schlimmstenfalls erwartet man sich dafür auch noch ewige Dankbarkeit.

Gerhard Fritschs Tagebuch ist in diesen Dingen wohltuend nüchtern. Sein Wirken im Betrieb erscheint pragmatisch und uneitel, verbunden mit großer Belesenheit und einem sicheren Gespür für literarische Qualität. Das Konfliktpotenzial zwischen Autor und Funktionär wird in den Aufzeichnungen erst gar nicht berührt. Das ist verwunderlich, denn im Fall von Gerhard Fritsch stellte es wohl ein reales Problem dar. Beispielsweise war Fritsch gemeinsam mit Otto Breicha Herausgeber der wichtigen Anthologie Aufforderung zum Misstrauen. Literatur, Bildende Kunst und Musik in Österreich seit 1945 (1967) und hat dafür auch Einleitungstexte zur Literatur der umfassten Jahrzehnte geschrieben. Eigene literarische Texte hat er in den Sammelband nicht aufgenommen, das hätte gegen sein Ethos verstoßen. Dieses Ethos war Gerhard Fritsch so selbstverständlich, dass er es im Tagebuch erst gar nicht zu erwähnen brauchte.

Verstellung, Verkleidung und Transvestismus tritt bei ihm in anderen Formen auf, als in Österreich gemeinhin üblich, nämlich einerseits als eine wirkliche sexuelle Leidenschaft und andererseits als explizites Thema der eigenen Literatur. Jüngere literaturwissenschaftliche Lektüren von Moos auf den Steinen haben gezeigt, dass das Thema der Kleidung und der Verkleidung sowie die Attraktion, ins andere Geschlecht zu schlüpfen, bereits in diesem Buch eine konstitutive Rolle spielt und dass damit die These von der Zweiteilung des Prosawerkes von Gerhard Fritsch doch recht fragwürdig wird. Robert Menasse hat im Zusammenhang mit Gerhard Fritsch davon gesprochen, dass die Zweite Republik insgesamt eine »Transvestitenrepublik« sei, da in diesem Staat, der sich als erstes Opfer des Nationalsozialismus und eben nicht als Täter sah, der Zwang zur Verstellung bis hin zu Kurt Waldheim fast schon eine staatsbürgerliche Pflichtübung war.

Zu einem großen Repräsentanten der österreichischen Literatur nach 1945 vermochte Gerhard Fritsch wahrscheinlich auch deshalb nicht zu werden, weil in seiner Literatur etwas vorhanden ist, das sich gegen die Re-Präsentation stellt. Auch der Begriff der Sozialpartnerschaftlichen Ästhetik, von der Robert Menasse weitgehend offenlässt, was man darunter, gewendet ins Ästhetische, zu verstehen hätte, taugt kaum zur Errichtung repräsentativer Formen von Literatur. Was heißt überhaupt Repräsentation? Dass etwas Einzelnes zur Vertretung einer Allgemeinheit wird? Und einzelne Bücher dann für ganz Österreich stehen würden? Bei Gerhard Fritsch funktioniert das nicht, denn seine Literatur changiert zwischen Geheimnis und Preisgabe.

Das Tagebuch eröffnet einen neuen Zugang zum Werk, indem es in allen Details zeigt, wie sich hier eine Person aus sexueller Leidenschaft heraus in Feminization, Verkleidung und Make-up konstituiert und damit für sich eine Grundlage von Autorschaft findet. Die Zusammenfügung all dieser Komponenten war ein schmerzhafter Weg, da er große gesellschaftliche Widerstände und zentrale Prägungen der eigenen Biographie zu überwinden hatte. »Ich gehe den Alleingang«, hat Thomas Bernhard zu Beginn seiner literarischen Karriere an den Suhrkamp-Verlagschef Siegfried Unseld geschrieben. Der Alleingang von Gerhard Fritsch, der über sein Tagebuch direkt zu seiner Literatur führt, war von einer vergleichbaren Radikalität, denn Fritsch hat seine Literatur auf Teile der eigenen Person hin transparent gemacht, über die man im Österreich der 1950er und 1960er Jahre nicht ungestraft reden durfte. Wie viel gesellschaftliche Realität steckt im Transvestismus von Gerhard Fritsch? Das ist eine Gretchenfrage, die notwendigerweise unbeantwortet bleibt. Weil das gesellschaftlich Reale und das Sexuelle sich gegenseitig bedingen. Immerzu. Nicht allein in Österreich. Und bei Gerhard Fritsch.

Gerhard Fritsch

Tagebücher 1956–1964

Heft I

Juni 1956 – Jänner 1957
Juni 1957

13. Juni 1956

In einem stinkenden Vorstadtkaffeehaus (mein »schöpferisches« Milieu) nach einer »Dichterstunde Ferdinand v. Saar« am Stadtrand in Favoriten. Schlechter Mokka, triste Burschen, Tiefparterre eines der ersten Gemeindebauten am Gürtel. Bei Saar waren 5 (!) ganze Zuhörer – und Christl hat sich durch die Steinklopfer gequält. Aber das ist eigentlich nicht so wichtig: ich habe heute – vor dem Vortrag – die Helmut-Story satt bekommen – und damit viel mehr! Auf wie lange? Ich werde es ja sehen. Eigentlich müßte man sich schon freimachen können von seinen Perversionen: und wenn nicht freimachen, sich doch ein wenig distanzieren. Nicht immer gleich nachgeben. Mit dem Nichtnachgeben beginnt jede Leistung. – Das Radio kreischt und Billardkugeln krachen, ich könnte jetzt gut und leidenschaftslos schreiben, mehr sehen und darstellen, aber ich muß bald heim, Mirli wartet.

Oft sehne ich mich nach bindungsloser Einsamkeit – töricht, denn ich sehne mich nach Bindung. Und Mirli ist das beste, was ich in meinem Leben erreicht habe: ein Mensch. Vor einigen Tagen begann sich das wirkliche Gespräch mit ihr nach langer Zeit wieder fortzusetzen. Ich bin gewiß zu egoistisch. Die Überwindung des Egoismus ist aber nicht zuletzt eine Zeitfrage.

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Ob dieses »intime« Tagebuch ehrlich wird? Und mehr als Geschwätz? Ich bin kein Gide – nicht einmal ein Schidsky (unser Name für Saiko). Ob sich ein Mensch wirklich objektiv beurteilen kann? Wohlgefällige Selbstenthüllungen. Masochismus = die »Erfindung« eines Schriftstellers – und Österreichers. – Man sollte in der Konsequenz des grammatisch richtigen Satzes denken können. Assoziativ = vegetativ (meine Veranlagung) birgt reichlich Gefahren. In der Literatur und im Leben. Die Pseudophilosophien wuchern wie Unkraut.

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Ein Heft, ein schönes Heft, lockt zu Bekenntnissen. Ich bin untauglich für Priester und Psychoanalytiker. Ich beichte (vielleicht!) dem Papier. Und das in Bruchstücken. Da fällt mir das Beichtprotokoll Okopenkos ein. Er ist einwandfrei ein Narziß. So wichtig nehme ich mich nicht, das kann ich ziemlich sicher behaupten. Oder nehme ich nur die Welt nicht so wichtig?

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In der Früh sah ich das Plakat zum Film »Wie herrlich, eine Frau zu sein«. Sophia Loren – Identifikationssehnsucht und Wissen um den Pubertätsappell der echten und falschen Gummibusen. Der Gummibusen als Symbol der Zeit, die mit ihrer Pubertät nicht mehr fertig wird. Wir nehmen das alles viel zu wichtig. Weil wir keine Religion haben, haben wir auch keinen Begriff der Sünde, nur halb oder drei viertel soziologische Ersatzbegriffe. –

Daß ich mich einmal in die marxistische Haltung hineinsteigern konnte – unwahrscheinlich! Dem Frei sagte ich, aus Protest. Am ehesten läßt es sich so sagen, ist aber auch falsch. –

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Jetzt ginge das so weiter, halbautomatische Schrift, aber ich muß heim. In der Tasche die 2 Prellböcke für Michel (er sagt Brennböcke!) – es ist gut so!

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14. Juni 1956

Nach der Saarstunde im Salon Freisler – nach dem Anhören zweier »Dichterinnen«, einer baltischen Baronin und einer Hysterikerin – wieder in einem Beisel. Die Stunde der Besinnung nach allem (auch + !). Der Saar war heute besser, die 20 Zuhörer und die Atmosphäre haben mein Gerede beschwingt – Und am Nachmittag war Luise in der Zentrale: Luise Myerson! Im Vorgarten des Kaffee Rathaus gestand sie mir, naja, es war wirklich wie in einem Roman. Gesucht habe sie mich in all den Jahren usw. Ich saß da und sprach papierern Trost. Sie sei so verzweifelt gewesen, als sie erfuhr, daß ich glücklich verheiratet wäre. Aus Amerika geflohen sei ich die einzige Hoffnung gewesen – usw. Ach ja, ein bißchen gestellt und hübsch viel wahr (nicht weil es mir schmeicheln könnte). Ich saß da und hätte die Helmut-Story weiterschreiben wollen – dem gestrigen zum Trotze (der schwüle Sommer, er allein in der großen Wohnung, die Stimmung hinter den Jalousien hätte mich sehr gereizt), ich saß da, horchte und sagte: ja, damals 42 und dann den ganzen Krieg hindurch … sie war meine erste Liebe – Sie sei zu jung gewesen damals, hätte nicht verstanden, aber jetzt … Ich sagte Kameradschaft: und sonst zu spät (was sollte es auch!) – you are my secret love (sie am Weg zur Stadtbahn), viel Erinnerung, manchmal nah, manchmal wie an ein fremdes Leben – und doch sehr, sehr berührt. Auch wenn man den Schwindel abzieht, bleibt noch genug: auf alle Fälle ein Schicksal, ein schweres echtes Schicksal. Und: sie war meine erste Liebe. Wie du antrittst, so … Das ist wohl wahr! Und im Juli wieder. Seelengymnastik, muß aber wohl sein. Ich sage hart wie ein Romanheld: einmal im Monat – und Kameradschaft. Das andere ist vorbei. Ist es auch. Nur die scheußliche Wehmut! Während der Verabschiedung habe ich eine schmerzhaft volle Blase und der erste Weg nachher führt im Laufschritt ins Pissoir. Das Leben, Luise! Meinen Roman hast du auch mit. – Wann wird Jutta = Christiane wieder auftauchen? Sentimental, aber wahr ist das alles.

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15. Juni 1956

Luise, Rudi, Erna, Mara, Christiane, Anneliese. Dann war es aus. Mirli hat mich wirklich verändert. Aber was lag alles zwischen den Namen, die ich da aufgeschrieben habe! Halt, halt: nur nicht zuviel einbilden darauf. Zores genug übrigens auch, von Anfang an.

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Mitten in die Arbeit platzte der Bisinger – ob aus ihm einmal ein Dichter wird? Auch Rilke begann als Dill[l]etant (ich kanns im Moment gar nicht richtig schreiben!). Was man draus macht, das ist wichtig. Den nötigen Schuß Sentiment(alität) bringen alle mit.

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Die Kameradschaft beim mittäglichen Kaffee. Sandeln: ein herrliches Wort, die Philosophie des Sandlers war damals fast ebenso gut wie neulich der Plan zu dem österreichischen Bauernroman »Salome Grasspointner«. Manchmal ist der skeptische Humor wirklich das Beste.

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17. Juni 1956

Am Freitag, vorgestern, nach Christl Gedichte und die Wassilij-Stellen vorgelesen (St.B. 24, also nebenan!) – in völliger Einsamkeit – totale Isolierung. Nachher Rikki und Eugen bis 11h bei uns – unergiebig.

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Ein ruhiger, spießbürgerlicher Samstag, müde – dann mit M + M spazieren, in Hetzendorf sind schon die elektrischen Leitungen der Südbahn fertig verspannt.

Anschließend allein im »Tivoli«: »Welterfahrung« aus der Illustrierten …

Im Bett »Die Stundentrommel« ausgelesen: sehr beeindruckt von Thema und Gestaltung, der Athos – das Antifaustische Prinzip! »Ich bin gekommen, die Werke des Weiblichen aufzuheben« (Christus nach dem »Evangelium des Ägypters«) – Leben in reiner, das ist fruchtloser Anschauung – das Buch Erhart Kästners sollte man besitzen (welch Widerspruch zur These des Athos), es wird mir lange nachgehen.

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M + M. fahren in der Früh mit Mirlis Mutter im »Postsonderzug« nach Berndorf. Ich mach eine halbe Stunde + – und wie ein Traum verweht es, sobald … Und ist wiedergekehrt nach einer Stunde!

Im Kaffee Eos ein Gedicht wiederentdeckt: aus der »schwarzen Scheune der Nacht« eine »dumpfe Scheune« gemacht – und, m. Meinung, wesentlich verbessert. Die Genauigkeit der Attribute! Schmied, Pound!

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Den Nachmittag in Simmering: 3 Buchbesprechungen. Im Radio der Fußball-Länderkampf Öst.–Jugoslawien, im Zimmer nebenan die Keppeleien zwischen Mutter und Großmutter.

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In 48 Stunden sind wir in Kärnten. Wiesen und Heu …

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18. Juni 1956

Vormittag mit Christl im Festsaal der R XVI gelesen. Ein schauriger Raum, der Stil von 1890 – auf ärarisch! Man mußte schreiend lesen.

Vorher war Hakel da, die Unzulänglichkeit meines Romans beklagend und im gleichen Atemzug die Nachdichtung etlicher mittelhochdeutscher Genesisstellen verlangend. Und ich hab ihn nicht einmal hinausgeworfen! Im Gegenteil, er spielt irgendwie überzeugend den Meister. Außerdem tut er mir immer leid …

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In großer Eile den Schreibtischinhalt geordnet. Noch gar keine Urlaubsfreude. Immer die Hast. Ich werde die »Termine« auch im Urlaub nicht los werden.

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20. Juni 1956

Und der Urlaub drängt alles weg, alle Termine sind fern, unwesentlich, nur mehr eine undeutliche Bedrängnis. Ob Schönwiese heute gesprochen hat – ob im Kurs alles geklappt hat?

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St. Oswald, 25. Juni 1956

Eingelebt hier, vertraut mit den Hügelformen und Wäldersilhouetten, am heimlichsten fast der frühe Abend im Bett, wenn es draußen finster wird. Bei Kerzenschein Lektüre (die »Nacht aus Blei« von H. H. Jahnn ist ein übles Buch, wenn schon Verhängnis und Unentrinnbarkeit dann Kafka – bei ihm ist echte Metaphysik. Hier macht einer eine »unfrische« Unterleibs-Irrationalität, der Krampf eines Homosexuellen-Kafka; es ist wirklich grauslich, diese Geschichte von der Begegnung eines 23jährigen mit seinem 15jährigen Ebenbild: die machten ihm ein Loch und … Und der 23jährige fährt aus Barmherzigkeit mit dem Arm hinein, liebend tötend – und über der Hauptkloake der Alptraumstadt.) Wie anders da Curtius! Seine Aufsätze und Essays zur europäischen Literatur sind klar und voller Bezüge. Man erfährt Neues, vieles ordnet sich, gewiß auch sehr viel sehr persönlich – aber dennoch: hier sind klare Linien, weite Horizonte.

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Es ist schwer, im Freien zu schreiben, wenn der Wind geht – und auf der Bank über Eberstein sah ich eine Schlange. Etwa 1 m lang, gewürfelt (silbrig), unten gelb, auch am Kopf seitlich schwefelgelb. Etwa eine Viertelstunde lang sah ich ihr zu, sie kroch züngelnd im Gesträuch gegenüber. An Ernst Jünger gedacht – und einen anderen Platz gesucht, lange. Statt des Romans schreibe ich wieder meist die H.-Geschichte; rosa, rot und blond hinter herabgelassenen Jalousien, die Begegnung mit Günther (bisher hier 12 Seiten). Vom Roman habe ich 2 ½ – den neuen Anfang: Hilde am 1. Abend im Wald, das Geheimnis des Waldes … Ich habe mich entschlossen, alle bisher geschriebenen 30 Seiten wegzulassen. Der Anfang soll rascher sein, keine lange Vorgeschichte mehr. Der Plan steht: IV. Hauptabschnitte zu je drei Teilen, ein Teil zu zwei kontrastierenden Hälften. Jetzt sind mir auch die Charaktere wieder näher und die Atmosphäre – aber schreiben muß ich es. Es sollte so rasch gehen wie die Helmut-Story!

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Michael ist sehr lieb und treu. Er wächst gut heran. Mirli pflegt auch seine Seele.

Gestern war er mit uns in Mirnig, eine schöne Marschleistung für einen Vierjährigen: gut 10 km. Die Kirche liegt herrlich auf ihrem Grasberg. Diese alten Kärntner Dorfkirchen sind herrlich in ihrer Unbedingtheit; Heimat und Frieden im Herrn: Orte, an denen der Traum Halt findet. So ist es mir auch gegangen mit St. Johann am Hohen Pressen. Am Samstag, als wir in Hüttenberg waren, kaufte ich zwei Ansichtskarten mit diesem romanischen Kircherl in der Höhe – heute bin ich wieder nach Hüttenberg gefahren und aus dem Mosinzgraben hinaufgestiegen. Leiser Regen, alles grau in grau, die verfallenen Hochöfen im Arsenalstil, oben von Lärchen bewachsen, erinnerten mich an Piranesi-Stiche. Am Weg glitzerten die erzhaltigen Steine, ein steiler Steig – und oben die Weite, auf die dann Sonne schien! Eine Landschaft, in der ich lange und ungestört arbeiten möchte. Etwa im leeren Pfarrhaus über dem kleinen Totenacker rings um die Kirche – ein Traum, den ich oft denken werde. Ich ließ mir die Kirche aufsperren: Barockeinrichtung, bäuerlich im uralten Gemäuerklein, arm und heimlich, hier war der Herrgott nahe. Stark berührt von der Kontinuität: ein römischer Grabstein in der Mauer (in Mirnig liegt unter der Kanzel ein Totenkopf und 2 Schenkelknochen) und im Fußboden die Gruftplatte eines Pfarrherren (nun ist in der Kirche nurmehr einigemale im Jahr Gottesdienst). »Hier ruhet der hochwuerdige Herr Balthaser Prugger, Pfarrer zu St. Johanns gestorben den 10 Juny 1727 seines Alters 79 Jahr.« In schönen römischen Antiqua-Versalien. Der Pfarrer wurde 1648 geboren! Geschichte rührt auf diesen einsamen Höhen. An der Kirchenmauer außen die Grabsteine der Hammerherren und Gewerken von der Mosinz und Pressen, Rauscher mit Namen, zwei schöne schmiedeeiserne Barock-Kreuze und viele Steine, Rokoko (hier aber ernst), Empire und Biedermeier (ein gußeisernes Monument mit »Juwelier«schrift) – auch neue: auf einem vermerkt – der letzte seines Geschlechts, das 500 Jahre am Erzschürfen in dieser Gegend seinen Anteil hatte (wie es heißt). Das Sterben der Letzten. Der Erbe sah auch das Ende, die toten Öfen, auf denen Lärchen wachsen.

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Beim Abstieg, ich ging auch durch das Presserngut, das Schloß der Hammerherrn, zerriß ich mir die Hose. Die Trafikantin, bei der ich die Karten gekauft hatte, nähte sie mir. Dann lang im Kaffeehaus. Mokka, Eis und Most und hier in guter Stimmung eingetragen.

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Übrigens: auch im Urlaub kam ein Auftrag – telegraphisch. Vom Unt.min. der Auftrag für den Eröffnungsprolog in Strobl (Graschnitz!) am 12.7. Ich freue mich darüber, hoffentlich fällt mir was ein.

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30. Juni 1956

Am 28. brach in Posen während der Mustermesse ein Aufstand aus. Es begann mit einer Arbeiterdemonstration. Verschiedene Verwaltungsgebäude wurden gestürmt, Militär und Polizei eingesetzt, Schüsse, 6 Panzer angeblich erobert. »Noch ist Posen nicht verloren« wurde gesungen, eine blutige polnische Fahne … Die offizielle polnische Agentur spricht von Agenten und 38 Toten auf beiden Seiten. Die Untergrundarmee soll eingegriffen haben … Alles während der kommunistischen Offensive des Lächelns! Und: Freiheit ist doch mehr als eine Phrase! Freiheit ist totales Opfer. Ich denke an Posen 1945, die alte Sympathie für Polen, ich will ein Gedicht schreiben über den Aufstand …

Zu gleicher Zeit in der Zeitung: ein Sprecher des amerik. Verteidigungsministeriums (ein »Fachmann«!) erklärt, daß bei einem Atom- und Wasserstoffbombenkrieg gegen die SU hunderte Millionen Menschen getötet würden – auch in den an den kommunistischen Bereich angrenzenden Gebieten, entweder in Japan, den Philippinen im vorderen Orient oder in Europa – »je nachdem, wie der Wind weht!«

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Von St. Johann am Hohen Pressen auch Mirli erzählt: vielleicht fahren wir im nächsten Jahr wirklich dorthin auf Urlaub! Vorgestern waren wir mit Michel auf der Saualpe. Er ist gut 6 ½ Stunden tadellos gegangen. Gestern mit M + M auf der Hornburg. Einsamer Waldgipfel. Auf Lichtungen eine merkwürdige Vegetation: nach Schneisen voll mannshohem Rittersporn blühende Tollkirschen, Bilsenkraut (?) und etliches mir unbekanntes sonderbares Gewächs. Auf der Ruine vorsichtig: eine Schlangenlandschaft. Liselotte, das Dienstmädchen, erklärte, sie gingen dort gar nicht hin, soviel Schlangen seien dort. Aus dem Felsen wächst der noch immer hohe Bergfrit, unzugänglich, die Einstiegleiter ist zerbrochen, das Holz ist bleich wie Knochen. Michl steigt mutig über die Felsen des Innenhofes. Am Heimweg führe ich falsch (statt nach Eberstein ein Weg nach Klein-St. Paul). Als Mirli einen Abschneider vorschlägt gehe ich ihn meuternd – und der führte noch nach dem Bahnhof Hornburg. Schließlich noch der Umweg wegen eines Hundes …

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Gestern auch – am WC – meine Uhr fallen lassen: kaputt! Heute beim Uhrmacher (bei der Nachfrage) eine Ersatzuhr ausgeborgt. Ohne Uhrzeit bin ich sehr unruhig und zerfahren.

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Gestern kamen übrigens auch die in einem langen Brief von Bärbel Eichhausen angekündigten Buchbesprechungen des »Mooses«. 8 Stück (keine davon, die ich selbst schon hatte). Einige sehr lobend, einige zurückhaltender (am meisten die, aber sehr treffende in mancher Hinsicht, von Rudolf Bayr). Die ausführlichste und inhaltsvollste von Dr. Holzinger. Eine Sendung von Radio Bremen mit »Ein alter Mann ging …« und Wassilij. Tiroler Tageszeitung: eines der wenigen bleibenden Bücher, die seit 45 geschrieben und gedruckt wurden. Lustig die »Stadt Gottes« (Schweiz): nur an strahlendem Sonnentag zu lesen – so melancholisch.

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Da fällt mir gerade so ein (auf dem Verschönerungsvereinsbankerl in der Schloßallee von Eberstein – schöne Kastanien): mangelt es mir wirklich so sehr an Humor, wie Mirli manchmal sagt? Sie hält mich für sehr empfindlich, was mich betrifft. Seinerzeit: Lotzens Traktat über den Egoismus (meinen) im Porzellaneum! Na, ich denke trotz allem nicht sehr viel über mich nach. Und manchmal finde ich ganz schöne Pointen in den Gesprächen.

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Und Posen …

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Im »Kurier« eine Artikelserie über die Tschechoslowakei heute. Oberflächlich, aber dennoch stark berührend vom Thema her. Die Almenwanderungen mit dem Vater. 1940 war das wohl. Ich denke oft an Turtsch, an Göhren, an den Stein im Wald und die Jakobsmühle.

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»Draußen« Sonnenschein, aus dem Blätterdach der Kastanien fallen unausgesetzt, wie winzige grüne Steinchen, die frühen Früchte herunter, die viel zu vielen …

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Es sind wohl viel mehr gestorben in Posen.

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2. Juli 1956

Samstag, gegen ½ 7, kam Ernst Hammer mit seinem Roller den Berg herauf. Wir hatten ihn, auf dem Spielplatz an der Straße alle drei schon lange erwartet. Frau Schmidt, die penetrant Wienerische (z. T. auch im Positiven: aber ein Mensch ohne Distanz) war dabei, als es zu regnen begann. Es regnete und die Sonne schien, zu gleicher Zeit. Abends schön und ruhig, mit Hammer allein im Freien. Ein Tisch unter Sternen, vorher ein langer grüner Abend. Leuchtkäfer. Rotwein, der schwarz wurde. Literatur, aber nicht als mokantes Gespräch über andere. Ich propagiere, auch um mich selbst darin zu bestärken, das rasche, zügige Schreiben des Romans, nicht das Wortwählen und Sätzebauen. Fluß des Erzählens, Korrekturen später. Die Wichtigkeit eines Handlungsplans …

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Sonntag früh mit dem Roller auf den Magdalensberg. Die feudale Landschaft um Hochosterwitz; zwei schöne Barockschlösser, Herrensitze, noch voll intakt. Schattenseite: bei der Tankstelle ein Surm in mittelalterlichem Gewand, Lederwams und Schlitzhosen – er füllt die Benzintanks auf. Bedauert, zu wenig Zeit zu haben, um auf die Burg zu gehen. Schöne Ortsnamen: St. Donat, St. Sebastian, St. Michael am Zollfeld. Eine uralte Landschaft, verbindend. Auf den Weiden Stiere. Die Straße auf den Magdalensberg ganz unösterreichisch neu und breit. Dafür aber schon Startzeichen, Zuschauer und »Betreuer« der Bergwertungsfahrt.

Besuch der Magdalensberg-Ausgrabungen mit Führung. Stärkerer Eindruck aber dann beim Gehen über den Berg unter dem im weiten Umkreis die alte versunkene, namenlose (bisher noch) Keltenstadt liegt. Nur zehn Zentimeter tief beginnen die Mauern. Die vielen Menschen der Führung verlieren sich hier. Oben die Kirche, sehr schön, ein gotischer