Jutta Profijt

Im Kühlfach nebenan

Roman

 

 

Originalausgabe

© 2009 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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eBook ISBN 978-3-423-40312-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21185-7

 

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Inhaltsübersicht

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

DANK

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PROLOG

Ich beginne diesen Bericht mit einem Vorfall, der sich ereignete, bevor die Handlung des Buches wirklich beginnt. Meine Lektorin meint, dies sei ein typischer Fall für einen Prolog und operte was von Aufbau, Dynamik, Spannungsbogen und lauter so Literatenkram. Die Frau ist ein Freak auf ihrem Gebiet, mir tut ein Prolog nicht weh, also hat sie recht und ich meine Ruhe. So muss man mit den Weibern umgehen.

Hier geht’s also um einen Vorfall, von dem ich damals, als er sich ereignete, noch nicht einmal etwas ahnte. Und selbst wenn, hätte mich das nicht die Bohne interessiert. Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht, dass mein Leben wieder mal in den Crashtest geschickt werden sollte.

Ich rede übrigens von einem Brand. Nichts Außergewöhnliches, mögen Sie jetzt denken, aber da liegen Sie falsch. Denn erstens fand dieser Brand in einem mittelalterlichen Kloster statt, zweitens in dem Anbau, in dem die Obdachlosennotschlafstelle untergebracht war, und drittens führte der Brand dazu, dass ich Marlene kennenlernte. Aber zu ihr komme ich später.

An besagtem Abend also schliefen keine Obdachlosen in dem Anbau, weil die Heizungsanlage renoviert wurde. Der alte Gasofen, der in einer Ecke für tropische Temperaturen, in der anderen aber höchstens für eine laue Brise und im gesamten Anbau für schlechte Luft gesorgt hatte, sollte gegen eine moderne, energiesparende Anlage ausgetauscht werden. Neue, billig auf der Wand verlegte Heizungsrohre führten zu den Fensternischen, in denen die Heizkörper installiert werden sollten. Gegen drei Uhr nachts brach das Feuer aus. Es zerstörte den Anbau, was für die Kunst- und Architekturgeschichte kein Verlust war, da der Anbau aus den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts stammte und auch genauso aussah. Unterirdisch hässlich.

Eigentlich hätte sich niemand dort aufhalten sollen, da die Penner, wie bereits gesagt, wegen der Bauarbeiten übergangsweise umquartiert worden waren. Trotzdem fand die Feuerwehr nach der Löschaktion in den rauchenden Trümmern eine verkohlte Leiche. Eine zweite Person wurde schwer verletzt, als sie mit ihrem Löscheimerchen vor der altersschwachen Tür stand, die infolge einer Gasexplosion aus den Angeln gerissen wurde. Besagte Tür sowie ein nachfolgender Feuerball trafen die Löschwillige.

Die verbrannte Leiche landete im Kühlfach fünf des Rechtsmedizinischen Instituts der Uni Köln, die Verletzte wurde in das Krankenhaus gebracht, in dem auch Martin nach seiner Stichverletzung eingeliefert worden war. Und so fing alles an.

EINS

Ich habe Krankenhäuser immer schon gehasst, hasse sie auch jetzt noch und dieses hier hasste ich besonders. Nicht, dass ich den Leuten nicht dankbar war, dass sie Martin gerettet hatten, nachdem ich an seiner Beinahe-Ermordung schuld war. Aber das, was Martin rettete, machte mir das Leben zur Hölle: die ultramoderne Ausstattung der Siechenanstalt mit elektrischem, elektronischem oder sonst wie abgefahrenem Gerät.

Für die, die mich noch nicht kennen, muss ich wohl erst mal klarstellen, mit wem sie es hier zu tun haben. Mein Name ist Pascha Lerchenberg und ich wurde im rattenkalten Februar dieses Jahres im zarten Alter von vierundzwanzig Jahren ermordet. Meine Seele verließ den Körper, fand aber den Tunnel mit dem Licht nicht und schimmelt seitdem hier herum. Bei Martin. Martin Gänsewein ist der Rechtsmediziner, der meine sterbliche Hülle obduzierte. Oder sezierte, wenn Ihnen der Begriff lieber ist. Beides bedeutet, dass er mich ausweidete wie ein Jäger die Sau, um alles genau zu untersuchen, und dann die Organe wieder in die Bauchhöhle stopfte und selbige mit groben Stichen zunähte. Martin wurde im Zuge der Ermittlungen in meinem Mordfall erstochen, konnte aber – anders als ich – wiederbelebt werden und befand sich daher zu dem Zeitpunkt, als Marlene in mein Leben trat, kurz vor der Entlassung aus dem Krankenhaus.

 

»Martin«, rief ich erleichtert.

Endlich kam er mal aus seinem Zimmer heraus, in dem er sich die meiste Zeit aufhielt, obwohl die Ärzte ihm seit einer Woche sagten, er solle ruhig häufiger aufstehen und dürfe inzwischen sogar allein in den Krankenhauspark. Martin allerdings zog die Intimität seines Krankenzimmers vor. Nicht etwa, weil er sich in seinem flauschigen Frotteeschlafanzug unter dem Frotteebademantel in den echtwollenen Hausschlappen mit Elchmuster lieber nicht in der Öffentlichkeit zeigte. Nein, diese Art von Bewusstsein ging ihm völlig ab. Sein Peino-Pegel lag immer bei hundertachtzig. Martin zog das Krankenzimmer vor, weil es dort eine sehr empfindliche Notrufanlage mit Fernbedienung gab, die auf allzu starke elektromagnetische Wellen empfindlich reagierte. Und elektromagnetische Wellen sind das, woraus ich bestehe. Daher musste ich in seinem Zimmer immer sehr vorsichtig mit Äußerungen oder Gefühlsausbrüchen sein.

»Wann geht es denn nun endlich nach Hause?«, fragte ich.

Ich hatte die letzten Wochen abwechselnd im Krankenhaus und im Rechtsmedizinischen Institut verbracht. In Martins Krankenzimmer war es deprimierend und technisch gefährlich, im Rechtsmedizinischen Institut dagegen langweilig, weil ich dort ja zu niemandem Kontakt aufnehmen konnte. Zwar hatte ich es bei Martins heißer Kollegin Katrin immer wieder probiert, hatte ihr hormonell gesteuerte Artigkeiten in die Glockengasse geflüstert, aber sie entwickelte keinerlei Gespür für mich. Martin war und blieb mein einziger Kontaktmann.

»Montag«, entgegnete er einsilbig.

»Und wann gehst du wieder arbeiten?«

»Dienstag, wenn alles gut geht. Oder Mittwoch.«

Das waren gute Neuigkeiten. Sie stimmten mich milde, daher ließ ich Martin in Ruhe und zischte durch die Flure in Richtung Kinderstation. Dort war für elf Uhr der Auftritt des Clowns Zapperlapp angekündigt. Er kam jede Woche, um die Kurzen aufzuheitern. Bei gutem Wetter, wenn er auf dem Rasen vor dem Gebäude auftreten konnte, hatte er ein Kaninchen dabei, das ihn letzte Woche allerdings in den Finger gebissen hatte. Ich war neugierig, ob dem Fellträger dieser Fehltritt vergeben worden war oder ob der Clown privat weniger Spaß verstand und seinen Bühnenpartner geschmort, gewürzt und mit Klößen weggespachtelt hatte.

Der kürzeste Weg zur Kinderstation führt an der Krankenhauskapelle vorbei, und so erwischten mich die Weihrauchschwaden mit voller Breitseite. Eigentlich habe ich mit Kapellen, Kirchen und dem lieben Gott nichts zu schaffen, denn spätestens seit ich tot bin, hätte der Typ sich ja mal bei mir melden können. Tat er aber nicht, daher war seine Existenz für mich noch unwahrscheinlicher geworden, als sie es sowieso schon die längste Zeit meines kurzen Lebens gewesen war.

Aber Weihrauch mag ich. Er erinnert mich an Weihnachten mit meiner Oma, die, im Gegensatz zu meinen Eltern, nicht nur Socken, kratzige Wollpullover oder oberschlaue Physikbücher schenkte, sondern Filmfiguren wie R2D2 und James-Bond-Autos. Die mit den beweglichen Teilen. Außerdem mochte sie mich und ich mochte sie, und das war in unserer Familie schon etwas Außergewöhnliches. Ich zögerte also. Es war noch etwas Zeit bis elf, daher folgte ich meiner Kindheitserinnerung und schwebte in die Kapelle. Die Figur der Namenspatronin des Krankenhauses war mit Blumen geschmückt, wahrscheinlich war heute ihr Heiligentag. Daher auch der Weihrauch. Ich genoss den Katholikenjoint und war gerade dabei, in frühkindliche Sentimentalität abzuschmieren, als mich die Erkenntnis traf.

Ich war nicht allein.

Ein Blick genügte, um festzustellen, dass in den sechs Holzbänken niemand saß. Es gab weder einen Beichtstuhl noch sonstige dunkle Ecken, in denen sich ein Mensch hätte verstecken können. Trotzdem war jemand da. Und dieser jemand betete.

»Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade …«

Ich zitterte ungefähr genauso wie die Kerzenflammen, die im Luftzug flackerten und unheimliche Schatten an die Wände warfen.

»… der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Weibern …«

Wenn ich mal Weiber sage, sind alle entsetzt.

»… und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.«

Gebenedeit? Nicht gebenedettot? Sind wir nun Papst, oder was? Ich kicherte. Das Gebet endete abrupt.

»…?«

Ja, meine Lektorin sagt auch, ein paar Satzzeichen und ein Fragekringel seien kein vernünftiger Diskussionsbeitrag. Eine Lektorin ist übrigens so was ähnliches wie eine Deutschlehrerin, die mit Rotstift im Aufsatz rumschmiert. Bei einem Buch darf also die Lektorin Fehler einkringeln, Bemerkungen an den Rand malen und böse Wörter streichen. Oder eine kleinkarierte Diskussion wegen einer wörtlichen Rede ohne Rede aber mit Fragezeichen vom Zaun brechen. Ich konnte in diesem Fall aber nicht klein beigeben, denn genau das, was da oben steht, waren die Wellen, die ich empfing. Keine Worte, nicht einmal ein klares »Hä?«, sondern einfach nur eine wortlose, schwabbelige, ausgefranselte Frage.

Bei mir wäre jetzt eine Zusammenrottung von Ausrufezeichen als Ausdruck meiner gefühlsmäßigen Verfassung angebracht, aber die fielen dem Rotstift der gnadenlosen Textamazone zum Opfer. Wie soll ich Ihnen also das Durcheinander in meiner Denkschüssel erklären? Seit meinem Tod hatte ich keine andere Seele getroffen, die noch in irdischen Gefilden herumhängt. Keine Ahnung, wo die alle sind, aber hier sind sie jedenfalls nicht. Zwei- oder dreimal habe ich den Weg einer Seele gekreuzt, die gerade einen Irdischen verließ. Die erste Begegnung dieser Art hatte ich mit Martins Seele, als er niedergestochen wurde. Zum Glück konnte ich den Martinsgeist überreden, beim Martinskörper zu bleiben, und dann kamen auch schon die Sanitäter, massierten die Herzgegend, beatmeten, was das Zeug hielt, und lockten das Seelchen damit wieder an seinen angestammten Platz. Hier im Krankenhaus traf ich zwei Seelen, die sich gerade aus dem Staub machten. Wohin? Keine Ahnung. Sie hatten es verdammt eilig und zischten einfach so an mir vorbei. Daher traf mich diese unerwartete Begegnung wie ein Rempler mit dem Heckspoiler.

»Hi, ich bin Pascha.«

Niemals zu lebhafteren Zeiten hätte ich mich freiwillig als Erster vorgestellt. Wenn man cool sein will, und das will außer Martin jeder, hält man die Quatschklappe, schießt grimmige Blicke aus den Frontscheinwerfern und lässt den anderen kommen. Aber wenn man ein Geist ist, oder für die Naturwissenschaftler auch gern eine »elektromagnetische Anomalie« (wie Martin zu sagen pflegt), dann kann man nicht grimmig glotzen und die Kontaktmöglichkeiten zu anderen Menschen sind extrem eingeschränkt. Ich war also aus der Übung. Und verweichlicht. Und einsam. Daher rutschte mir der verbale Kratzfuß einfach so raus. Voll peino. Hätte ich eine Zunge gehabt, hätte ich mir jetzt draufgebissen, denn so uncool sollte man selbst als Geist nicht sein.

»Ich bin Schwester Marlene von den Liebevollen Schwestern der Heiligen Maria von Magdala.«

Ich musste dieses ganze Schwesterngesabbel erst mal sortieren, bis ich kapierte, wer da vor mir schwebte: Die Tusse war eine Nonne! Ich konnte mein Pech nicht fassen. Oder war es ein fieser Trick vom lieben Gott, den ich – zwecks Beweis seiner allmächtigen Existenz – freundlich gebeten hatte, mir doch statt Martin lieber eine nette Ansprechpartnerin zur Seite zu stellen? Möglichst eine mit einem heißem Fahrgestell, großen Hupen und ordentlich Power im Motorraum? Und der Scherzkeks schickte mir einen Pinguin?

»Schickt dich der liebe Gott?«, fragte ich also nicht gerade begeistert.

»Der Herr lenkt alle unsere Schritte«, war die kryptische Antwort.

Oh, klar. Das war ja deren Masche. Bloß nicht festlegen. Warum gibt es Not und Elend auf der Welt? Die Wege des Herrn sind unergründlich. Wie kann Gott Kriege zulassen? Die Wege des Herrn sind unergründlich. Warum hängt Pascha als Geist auf der Erde herum, während alle andere Seelen sich woanders vergnügen? Im Paradies zum Beispiel. Oder im Himmel. Was nicht notwendigerweise dasselbe ist. Und wieder sind Gottes Wege unergründlich. Ich würde sagen, der Scheich hat kein Navi, deshalb sind seine Wege so unergründlich.

»Was verärgert dich denn so?«, fragte die Schwester von den Schwestern der Heiligen Schwester, die vor meinem geistigen Auge langsam Gestalt annahm: um die fünfzig, klein, ziemlich dick. Eher Masseweib statt Rasseweib. Immerhin schaute sie freundlich aus dunkelbraunen Augen hinter einer altmodischen Brille.

»Nichts«, murrte ich.

»Du hast auf Gesellschaft gehofft – aber nicht auf meine«, sagte sie.

Echt uncool, wenn eine Tussi dir in die Birne sehen kann. Zwar weiß alle Welt, was im Kopf eines Typen zu finden ist, schließlich denken wir alle – außer Martin, natürlich – immer nur an das eine, aber wenn man dann wirklich dabei erwischt wird, gibt es jedes Mal Theater.

»Es tut mir leid, dass ich nicht die bin, die du erwartet hast.«

Hä? Keine Standpauke über unkeusche Gedanken? Keine Entrüstung über die Fixierung auf große Hupen, geiles Fahrgestell und so weiter? Das war ja noch schlimmer. Die ganz weich gespülten Sanftmütigen, die für alles Verständnis haben, gehen mir erst so richtig auf den Sack. Diese salbungsvolle Lächellähmung mit dem entrückten Blick hat mich schon auf der Erde angekotzt, aber da konnte ich einen großen Bogen um alles machen, was einen Pfaffenkragen oder einen Nonnenrock trug. Hier allerdings? Ich versuchte einen unauffälligen Rückzug in Richtung Tür und Kinderclown.

»Bist du gerade hier – gestorben?«, fragte die Schwester.

»Nee. Ich bin schon ein paar Wochen tot.«

Ich konnte spüren, wie sie versuchte, diese Information in ihr Weltbild einzubauen, aber es passte so wenig wie ein Frontspoiler an einen Niederflurgelenkbus. Konnte ich nachvollziehen. Am Anfang hatte ich die Situation auch sehr undurchsichtig gefunden.

»Gibt es noch mehr …«

»Ich habe bisher ein paar vorbeifliegende Seelen im Augenblick des Todes getroffen.« Mir wurde schwindelig wie beim Schleudertrauma, als ich daran dachte, wie Martins Seele plötzlich über seinem Körper aufgestiegen war. »Aber noch keine, die hiergeblieben ist«, erwiderte ich. »Und ich muss gestehen, dass ich nicht mehr damit gerechnet hätte, noch eine zu treffen. Schon gar keine Nonne.«

»Warum schon gar keine Nonne?«

Riffelte die wirklich nichts oder stellte sie sich so prasseldumm? Die Sache lag doch wohl auf der Hand. Aber gut, ich hatte es nicht wirklich eilig, also erklärte ich ihr meine Sicht der Welt.

»Nonnen sollten doch wohl, ähnlich wie Priester oder Päpste, ein Expressticket erster Klasse in den Himmel kriegen, oder?«

Sie schwieg.

Mir kam ein Gedanke. »Oder hast du was angestellt? Was Schweinisches?«

»Nein.«

Wieder keine Entrüstung, keine Leidenschaft, einfach ein gütiges Nein. Himmel, Arsch und Dreiwegekat, die Betschwester hatte eine Leistungsbeschränkung wie ein Kindermofa.

»Jetzt hab ich’s«, rief ich, »du hast dich umgebracht. Selbstmord ist doch verboten bei euch – äh – Kuttenträgern, oder?«

»Ich bin in einem Feuer ums Leben gekommen«, erklärte sie freundlich und gelassen.

»Selbst gelegt? Heimlich geraucht?«

»Es brach auf einer Baustelle an unserem Kloster aus. In dem Anbau, der unter meinem Fenster liegt. Ich bemerkte den Rauch, der in mein offenes Fenster zog, ging hinunter und, nun ja, dann kam ich nicht mehr heraus. Die Tür war zu.«

»Zu? Wie zu?«

»Abgeschlossen.«

»Du gehst in einen brennenden Raum und schließt die Tür hinter dir ab?«

»Jemand anders hat die Tür verriegelt.« Mir verschlug es die Sprache. Die freundliche Nonne sprach in aller Seelenruhe (!) davon, dass sie jemand in einen brennenden Raum eingeschlossen hatte. Und dass vielleicht sogar eine ihrer Mitschwestern 

»Nein«, unterbrach sie meine Gedankengänge, »der Anbau ist nur von außen zugänglich, er hat keine Verbindungstür zum Kloster. Es konnte also jeder Beliebige die Tür hinter mir schließen.«

»Jeder, der zufällig nachts dort herumschleicht und einen Schlüssel hat.«

»Der Schlüssel lag in einer kleinen Mauernische neben der Tür, weil am folgenden Tag die Heizungsanlage geliefert werden sollte. Und die Bauarbeiter kommen normalerweise, während wir unsere Morgenandacht halten.«

Mir schossen eine ganze Reihe von Fragen durch den Elektronennebel, aber ich konnte unmöglich alle gleichzeitig stellen, also nahm ich eine heraus, die mir im Moment am naheliegendsten erschien. »Und was machst du jetzt hier im Krankenhaus?«

»Schwester Martha bemerkte ebenfalls das Feuer. Sie versuchte, es zu löschen und wurde dabei schwer verletzt. Sie liegt hier auf der Intensivstation.«

»Oh.«

Meine Bestürzung war echt und ozeanisch tief. Ich hatte immer eine panische Angst davor, zu verbrennen. Das war eine regelrechte Phobie, die ihren Ursprung in einer Nachrichtensendung Ende der Achtzigerjahre hatte, in der Bilder einer Brandkatastrophe gezeigt wurden. Ich war damals drei oder vier Jahre alt und hätte längst im Bett sein sollen, aber ich konnte nicht schlafen und schlich mich ins Wohnzimmer zu meinen Eltern, die vor der Glotze saßen. Die Bilder der verbrannten oder brennenden Opfer schockierten mich so, dass ich anfing zu weinen.

»Mein armer Junge«, sagte meine Mutter und nahm mich auf den Schoß.

»Wenn du nicht bald Ruhe gibst und schläfst, wirst du auch so enden«, sagte mein Vater. Ich schlief weder in dieser noch in den folgenden zwölf Nächten, traute mich aber nicht mehr, meine Eltern zu belästigen. Seitdem war mein Verhältnis zu offenem Feuer und zu meinem Vater eindeutig belastet.

»Wird sie durchkommen?«, fragte ich.

»Es sieht nicht gut aus«, entgegnete Schwester Marlene.

Auf einmal klang sie nicht mehr ganz so ruhig.

»Über siebzig Prozent ihrer Haut sind verbrannt. Es wäre also vielleicht sogar besser, wenn der Herr sie zu sich nimmt …«

Sie brach ab, vermutlich, weil sie selbst gerade geschnallt hatte, was auch ich spontan dachte: Wo war denn der Herr, der nach Marlenes Weltanschauung ja auch sie selbst hätte zu sich nehmen sollen? Der Sack hatte sich in ihrem Fall noch nicht blicken lassen, wieso sollte er sich also um die liebe Martha kümmern?

»Er hat es wahrscheinlich so eingerichtet, dass ich so lange bei Martha bleibe, bis ihr Schicksal entschieden ist«, erklärte Marlene mit Überzeugung. »Was immer mit mir oder mit Martha geschieht, geschieht nach Gottes Ratschluss.«

Na klar, sollte die frömmelnde Nonne doch glauben, was sie glücklich machte. Hauptsache, sie versuchte nicht, mich zu bekehren.

»Wie sieht der Stand der Ermittlungen aus?«, fragte ich, um von dem heiligen Gefasel wieder auf festen Boden zu kommen.

»Ermittlungen?«, echote sie ein bisschen zerstreut und eher desinteressiert.

»Ja, Ermittlungen. Was war die Brandursache? War es eine Nachlässigkeit auf der Baustelle oder Brandstiftung? Und wer hat die Tür hinter dir verschlossen? Gibt es Spuren? Indizien? Verdächtige? Hat vielleicht Schwester Martha etwas gesehen, als sie versuchte, das Feuer zu löschen?«

»Die irdische Überführung und Bestrafung einer armen, fehlgeleiteten Seele ist für mich nicht mehr von Belang. Zu guter Letzt wird die himmlische Gerechtigkeit siegen.«

Hätte ich noch eine Hand und eine Stirn besessen, hätte ich mir Erstere mit Schwung gegen Letztere geknallt. So viel Verbohrtheit angesichts eines offensichtlichen Mordes, einer möglichen Brandstiftung und einer halb verkohlten Zeugin brachte mich zum Kochen wie eine Wüstenrallye das Kühlwasser.

»Erstens ist die Sache mit der himmlischen Rechtsprechung angesichts der nicht bewiesenen Existenz des Richters ein wenig unsicher, und zweitens könnte auch für deine noch im Kloster befindlichen Betschwestern eine gewisse Gefahr bestehen, solange dort jemand herumschleicht, der seine Befriedigung in der Pyromasturbation sucht.«

Marlene schwieg betroffen.

»Ich wiederhole meine Frage: Was weißt du über den Stand der Ermittlungen?«

»Nichts.«

Das war eindeutig kleinlaut. Gut. »Dann lass uns herausfinden, ob deine Schwester etwas weiß.«

Marlene wollte erst widersprechen, hielt dann aber ihre klösterliche Klappe und schickte stattdessen ein Stoßgebet zur Heiligenstatue mit der Bitte um Kraft für ihre Schwester in dieser schweren Zeit.

Wir düsten gemeinsam los. Einen Teil des Wegs legten wir über dem Kopf des Clowns zurück, der heute ohne Pelztier unterwegs war. Den Scherz mit dem geschmorten Freund verkniff ich mir, obwohl es mir schwerfiel.

»Warst du schon einmal hier?«, fragte ich, als wir vor der Intensivstation angekommen waren.

Marlene verneinte.

»Du musst ganz vorsichtig sein«, versuchte ich ihr zu erklären. »Halte deine Gedanken so gut es geht zusammen, sieh dir die Apparate nicht aus der Nähe an, und vor allem: Bleib absolut cool. Jede Gefühlsregung ist streng verboten.«

Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie mir aufmerksam lauschte. Im Gegenteil. Sie war hibbelig wie eine Jungfrau vor der entscheidenden Nacht, wartete kaum, bis ich meine Belehrungen beendet hatte, und zischte in einer unheiligen Geschwindigkeit durch die Türritze in den abgesperrten Bereich und direkt weiter in das Zimmer ihrer Ordensschwester. Ich beeilte mich, hinterherzukommen.

»Dort liegt sie«, flüsterte Marlene ergriffen.

So ungefähr müssen die ägyptischen Mumien ausgesehen haben, als sie ganz frisch gewickelt waren. Meine alten Beklemmungen angesichts von Brandopfern trafen mich wie ein Kieslaster auf abschüssiger Strecke. Ich kämpfte sie mit aller Macht nieder. In meinem Zustand gibt es keinerlei Grund zu irgendeiner Befürchtung, die das körperliche Wohlbefinden betrifft. Oder einfacher ausgedrückt: Ich kann mir die Eier nicht mehr versengen, weil diese mit dem Rest meiner körperlichen Herrlichkeit bereits seit Wochen in einem brillantschwarzen Sarg ungefähr zwei Meter unter der Erde vor sich hin gammeln.

»Ach je, meine arme kleine Martha«, flüsterte Marlene.

»Vorsicht …«, versuchte ich noch zu sagen, aber da war es auch schon zu spät.

Die Geräte, die die Vitalfunktionen der armen kleinen Martha überwachten, schrillten, bimmelten, piepten und brummten alle gleichzeitig los. Die Herzströme, Hirnströme, der Blutdruck und der Puls schienen verrückt zu spielen. Es dauerte exakt dreieinhalb Sekunden bis zur Ankunft des ersten Intensivpflegers, zwanzig weitere Sekunden bis zur zweiten Krankenschwester und nur geringfügig länger, bis ein Arzt das Zimmer betrat. Alle beugten sich über die Patientin, betrachteten aufgeregt die weißen Verbände, glotzten dann zu den Geräten, zurück zur Mumie und warfen sich gegenseitig fragende Blicke zu. Bis auf den Arzt natürlich. Der blickte nicht fragend, sondern anklagend.

»Was haben Sie gemacht?«, herrschte er den pickeligen Pfleger an.

»Nichts«, verteidigte er sich. »Der Alarm ging los, während niemand im Zimmer war.«

Das war natürlich Quatsch, aber das konnte der arme Mumienwächter nicht wissen. Ich lotste Marlene aus dem Zimmer heraus und bezog mit ihr Position vor der Scheibe, durch die wir die Vorgänge in dem Krankenzimmer verfolgen konnten.

»Waren wir das?«, fragte Marlene.

Wir? Ha! Hatte ich sie nicht vorher gewarnt? Ich jedenfalls hatte keine Interferenz mit irgendeinem Gerät gehabt, da war ich mir sehr sicher. In den Wochen, die Martin auf der Intensivstation verbracht hatte, war mir die Einhaltung absoluter Funkstille zur zweiten Natur geworden. Na gut, ein paar Ausrutscher hatte es gegeben. Zum Beispiel als Martin nach langer Narkose endlich aufwachte und sich mit den für ihn völlig untypischen Worten »verpiss dich« unter den Lebenden zurückmeldete. Da konnte ich mich nun wirklich nicht beherrschen und bin etwas ärgerlich geworden. Der daraufhin ausgelöste Alarm rief sämtliche Stationsschwestern und drei Ärzte herbei. Danach wurde ich vorsichtiger, trotzdem kam es noch zweimal zu ungeplanten Zwischenfällen. Nach dem letzten Geisteralarm, wie die resolute Schwester die grundlose Panikmache unwissend, aber zutreffend genannt hatte, wurden alle Überwachungsgeräte ausgetauscht.

Heute jedenfalls war ich nicht schuld.

»Du musst dich zurückhalten wie beim …« Zipfeln, wenn du noch nicht kommen darfst, hatte ich sagen wollen, aber ich hatte ja nicht nur eine Frau vor mir, sondern noch dazu eine Nonne. Woher sollte die wissen, was ich damit meinte?

»Halt einfach alle deine Gedanken und Gefühle ganz bei dir«, sagte ich also und hoffte, dass sie das checkte. »Aber wie soll ich dann mit Martha Kontakt aufnehmen?«, fragte sie verwirrt. Tja, ich fürchtete, dass jetzt der Moment der Wahrheit gekommen war.

»Vielleicht gar nicht«, sagte ich. »Ich jedenfalls kann nur zu einem einzigen Menschen Kontakt aufnehmen. Er heißt Martin und liegt im Zimmer dreiundsiebzig.«

Marlene schwieg betroffen.

»Hast du einen Kontakt herstellen können, bevor Martha ins Krankenhaus kam?«, fragte ich.

»Nein.«

»Hast du es denn überhaupt versucht?«

Von Marlene kam keine klare Antwort. Sie starrte durch die Scheibe auf den Arzt und die beiden Pfleger, die sich zwar inzwischen beruhigt hatten, aber nach wie vor mit verständnislosen Mienen die Geräte anstarrten. Alle Werte waren wieder normal.

»Ich habe mich um das Schicksal der Zurückgebliebenen nicht gekümmert«, flüsterte Marlene. »Ich war damit beschäftigt, den Weg in den Himmel zu finden.«

Krass, oder? So viel also zum Thema Nächstenliebe, Klostergemeinschaft und dem ganzen heiligen Geschwafel. Wenn es darauf ankommt, will auch eine kleine, dicke Nonne die Erste an der Himmelstür sein. Natürlich war es bei mir ganz genauso gewesen, aber ich war zu Lebzeiten ein begnadeter Autodieb und kein gnadenreicher Mönch. Von mir wurde nicht erwartet, dass ich mich irgendwie korrekt verhalte – und das habe ich auch nicht getan.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Marlene verzagt.

Okay, die Nonne tat mir leid. Ich erwähnte ja bereits, dass ich verweichlicht war. Außerdem war mir sterbenslangweilig, und das ist eine unterirdisch gruselige Qual, wenn man nicht einmal mehr sterben kann, um von der Langeweile erlöst zu werden. Aber hier kam die ultimative Abwechslung. Ein Mordfall. Außerdem eine völlig vergeistigte Nonne (treffend getextet, oder?) und die Gelegenheit, mal wieder über etwas anderes als Blutwerte, Thrombosespritzen und Martins Frotteeschlafanzug nachzudenken. Also überließ ich Marlene nicht sich selbst und ihrem schlechten Gewissen, sondern legte ihr, bildlich gesprochen, einen Arm um die Schultern und sagte: »Komm, ich stelle dir Martin vor.«

 

Martin saß in einer der Quatschnischen am Ende des Krankenhausflurs. Er trug weder Schlafanzug noch Bademantel. Seine abgemagerten Beine steckten in einer Trainingshose, die, der Farbe nach zu urteilen, Ende der Achtziger- oder Anfang der Neunzigerjahre modern gewesen sein musste. Sie war türkisblau mit lila Paspeln. Der ebenfalls deutlich geschrumpfte Oberkörper des früheren Pummelchens steckte in einem Strickpullover, den meine Oma als »Wöbchen« bezeichnet hätte. Kein Mensch weiß, was der Begriff bedeutet, aber Kleidungsstücke dieser Bezeichnung sehen so aus, wie das Wort klingt. Irgendwie warm, irgendwie flauschig und voll daneben. Wenigstens war die Farbe ein eher dezentes Dunkelrot, das für sich genommen ganz in Ordnung war. Mit der Hose zusammen aber natürlich eine psychedelische Kotzpille.

»Dieser Mann ist unsere Hoffnung«, sagte ich mit Grabesstimme.

Marlene zuckte zusammen, fing sich aber direkt wieder. »Er sieht sehr nett aus.«

So kann man es auch sagen, dachte ich, und musste grinsen. Ein vernichtenderes Urteil kann es für einen Mann ja wohl nicht geben. Schwiegermutterliebling ist auch so ein Wort, genauso wie verständnisvoll. Echte Männer sind anders. Womit klar sein dürfte, was Martin nicht ist.

»Und die Frau an seiner Seite ist Birgit«, schickte ich betont cool hinterher.

Sie sah wieder einmal zum Anknuspern aus. Der Frühling hatte Einzug gehalten in der richtigen Welt außerhalb des Bettpfannenbunkers, und Birgit trug einen hellblauen Leinenanzug mit einer weißen Bluse. Der Blusenstoff war mit einem Lochmuster bestickt, das an jeder anderen Frau voll miefig ausgesehen hätte, aber nicht an ihr. Im Gegenteil. Die vielen klitzekleinen Löcher ließen gerade noch einen Hauch von Spitze durchschimmern, die an den richtigen Stellen mit feinem Schwung sanft gerundet 

»Das gehört sich nicht«, unterbrach die Klosterfrau meine Betrachtungen.

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Die ungefilterte Zensur einer verklebten Nonne in meinen ureigensten Gedanken.

»Das geht dich gar nichts an«, blaffte ich.

Marlene schwieg. Missbilligend. So machte das langsame Durchdringen des feinen Blusenlochmusters keinen Spaß. Seufzend zog ich mich zur Deckenlampe zurück.

Martin und Birgit hielten Händchen und turtelten. Das hatte ich in den letzten Wochen zur Genüge gesehen. Okay, in einem Mehrbettzimmer im Krankenhaus ist eine intime Gestaltung der Besuchszeit nicht ganz leicht, aber ein kleines Trinkgeld hätte jeden der bisherigen drei Bettnachbarn mit Sicherheit für eine Weile in der Cafeteria beschäftigt. Aber auf diese Idee kam Martin gar nicht. Andere Männer brauchen noch nicht einmal ein Bett, denen reicht die Besenkammer für ein näheres Kennenlernen. Martin hingegen hielt seit fünf Wochen Händchen. Schweißnass, wie ich ihn kenne. Und Birgit kommt immer wieder in diesen Pestpalast und legt ihre schönen und sicher kraftvollen Hände in seine feuchtwarmen Schlabbergriffel. Die Frau ist eine Heilige. Eine Art Mutter Teresa. Aber eine verdammt heiße Mutter Teresa.

 

»Hallo Martin, darf ich dir Schwester Marlene von den Liebestollen Schwestern der Heiligen Maria von Magdala vorstellen?«, sagte ich betont forsch.

»Was?«, dachte Martin erschrocken.

»Moment!«, rief Marlene.

Ich kicherte. Den Witz hatte ich noch nicht einmal absichtlich gemacht, aber die Wirkung hatte die Durchschlagskraft eines gepanzerten Hummers. Martin stammelte eine unzusammenhängende Antwort auf Birgits Frage, was es heute zu essen gegeben habe, und Marlene war eine wogende Welle aus politisch korrekter Entrüstung.

»Mir persönlich sind deine Frechheiten relativ egal, aber dass du den Orden in den Schmutz ziehst mit deinen Bemerkungen, geht selbst mir zu weit«, beschwerte sich Marlene.

»Wir hatten vereinbart, dass du mich in Ruhe lässt, wenn Birgit da ist«, ranzte Martin mich gedanklich an.

»Soll ich uns ein Stück Kuchen und einen Kakao aus der Cafeteria holen?«, fragte Birgit.

Martin mochte die Cafeteria nicht, weil es dort zu laut war. Und Kaffee trank er nicht, weil Koffein den Blutdruck erhöht und den Magen schädigt und noch mehr solche giftigen Wirkungen hat, an denen der Rest der Menschheit schon seit Jahrhunderten unfassbarerweise nicht krepiert.

»Das wäre ganz toll«, sagte er und Birgit ging mit wiegenden Schritten davon.

Ich nahm den zweiten Anlauf zu einer diesmal korrektlangweiligen Vorstellung.

»Was soll das heißen?«, fragte Martin. »Wo ist diese Schwester Marlene?«

Mir schwante Schreckliches.

»Kannst du sie nicht hören?«, fragte ich.

Martin schüttelte den Kopf. »Und du, Marlene? Hörst du Martins Gedanken?«

»Gedanken? Nein, ich höre ihn nur, wenn er spricht.«

»Sie ist hier bei mir«, sagte ich.

Martin wurde blass. Er verkrampfte seine zittrigen Hände ineinander.

»Sie wurde ermordet. Eine Mitschwester liegt mit schwersten Verbrennungen auf der Intensivstation. Martin, wir müssen ihr helfen.«

»Sie ist …«, begann er, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst.

»Ein Geist wie ich, ja.«

Martins Gesicht hatte die Färbung eines Albinolurchs angenommen. »Pascha, ich will nichts von anderen Geistern wissen. Ich will eigentlich noch nicht einmal von dir etwas wissen. Warum hat deine Seele nicht endlich Ruhe gefunden, nachdem wir den Mord an dir aufgeklärt haben?«

»Das könnten wir ja unsere liebe Fachfrau mal fragen«, gab ich genervt zurück und übersetzte die Frage flugs an Marlene. Über dieses Thema hatten Martin und ich uns bereits mehr als einmal gestritten. Aber ich wusste ja selbst keine Antwort. Natürlich hatte auch ich damals gedacht, dass ich den Weg durch den Tunnel und ins Licht finden würde, sobald mein Mörder gefasst sei. Die liebe Seele findet Ruh, ich mach die Biege ins Paradies und alle sind glücklich und zufrieden. Martin ließ sich nur durch diese Hoffnung dazu überreden, mir überhaupt bei meinen Ermittlungen zu helfen. Wir waren total depriletto, als wir feststellten, dass Martin zwar den Mord an mir und die damit zusammenhängenden weiteren Todesfälle aufgeklärt hatte, dass das aber leider an meinem Zustand zwischen den Welten nichts änderte. Ich hing immer noch hier herum.

»Dazu kann ich nichts sagen«, sagte Marlene.

»Dazu kann sie nichts sagen«, sagte ich zu Martin.

Das konnte ja heiter werden, wenn ich jeden Textbeitrag zwischen den beiden dolmetschen musste.

»Die Polizei hat die Ermittlungen sicherlich schon aufgenommen«, wehrte Martin weiter ab.

»Das sollten wir überprüfen«, schlug ich vor. Mein Glaube an die Bullen war nicht so stahlhart wie Martins, auch wenn ich zugeben musste, dass Martins Kripo-Kumpel Gregor kein übler Kerl war.

Zunächst gab ich mein bisheriges Wissen an Martin weiter. Er wirkte total verstrahlt, hörte gar nicht richtig zu, blickte ständig den Flur entlang in der Hoffnung, dass Birgit endlich wiederkäme. Was sie dann auch bald tat.

»Apfelkuchen oder Schokoladentorte?«, fragte sie mit einem süßen Lächeln.

Martin nahm natürlich das Obst.

»Sag mal, hast du von einem Brand im Kloster der Liebevollen Schwestern der Heiligen Maria von Magdala gehört?«, fragte Martin betont lässig. Lässigkeit ist etwas, das in dem krassest denkbaren Gegensatz zu seiner weich gespülten Natur steht, daher erinnerte seine gewollt lockere Körpersprache auch eher an ein Kaninchen, das an den Ohren hochgehoben wird und sich aus dem Griff zu winden versucht.

»Ja, ist das nicht schrecklich?«, entgegnete Birgit. »Eine Nonne ist tot, die andere schwer verletzt. Wer tut bloß so etwas?«

»Wer tut was?«, fragte Martin.

»Einen Brand in einem Kloster legen.«

Marlene reagierte mit wortloser Bestürzung.

Martin sah eher erleichtert aus. »Man weiß also, dass es Brandstiftung war? Dann hat die Polizei die Ermittlungen aufgenommen?« Und gedanklich an mich gewandt fügte er hinzu: »Na bitte, was soll ich mich da einmischen!«

»Nun ja, ganz sicher ist das mit der Brandstiftung nicht. Es könnte auch ein Unfall gewesen sein. An diesem Kloster wird die Heizungsanlage erneuert.«

»Und was ist mit den Opfern? Weiß man schon, warum die eine Nonne ums Leben kam?«

»Sie hat nach dem Brandherd gesucht. Dabei muss sie wohl die Orientierung verloren haben. Jedenfalls ist sie vom Rauch ohnmächtig geworden und dann verbrannt.«

»Sie ist ohne Feuerlöscher oder Wasser oder so etwas zu dem Feuer gelaufen?« fragte Martin.

»Normalerweise hängt ein Feuerlöscher im Anbau, weil der Raum als Schlafsaal genutzt wird. Aber wegen der Renovierung war er wohl nicht dort«, zitierte Birgit weiter.

»Jetzt erinnere ich mich«, schrie Marlene plötzlich. »Als ich in den Anbau kam, verschwand jemand aus der hinteren Tür.«

Ich gab die Information an Martin weiter, aber er blieb stumm.

»Ich lief zum Hinterausgang, aber er war zugesperrt. Dann habe ich mich an der Wand entlang zur vorderen Tür getastet, aber die war auch verschlossen. Dann bin ich ohnmächtig geworden.«

»Frag Birgit nach den verschlossenen Türen«, forderte ich Martin auf, aber noch bevor er den Mund öffnete, fragte Birgit ihn: »Wie kommst du überhaupt darauf? Warum interessiert dich die Sache?«

»Die verletzte Nonne liegt hier auf der Intensivstation«, gab Martin nervös zurück.

Er wird immer noch nervös, wenn er sich für Informationen rechtfertigen muss, die von mir kommen. Deren Herkunft er also nicht erklären kann. Auch nach Wochen hat er sich nicht daran gewöhnt, einfach eine gefällige Notlüge zu gebrauchen. Dabei zwingen sich im Krankenhaus Notlügen geradezu auf. Hier kann man jederzeit sagen, das hätte man auf dem Flur gehört, denn in Krankenhäusern wird über alles geredet, was man sich vorstellen kann. Zunächst mal über Krankheiten natürlich, logo. Beliebtestes Spiel ist das Cholesterin-Quartett, bei dem die Pestpatienten, Seuchensäcke und OP-Opfer sich gegenseitig mit ihren unterirdischen Blut- und Urinwerten auszustechen versuchen. Unbestrittener Sieger war lange Zeit ein zweihundertfünfzig Kilo schwerer Diabetiker mit Niereninsuffizienz, Fettleber und Lebensmittelvergiftung. Die einzige Seuche, die er nicht hatte, war AIDS, und da war er stolz drauf, weil AIDS nur was für Schwule und Luschen sei. Martin hatte versucht, ihm die statistischen Fakten näherzubringen, aber das prallte an dem Dicken ab wie Wasser an Fett (welch passender Vergleich, wie meine Lektorin meinte).

Birgits Blick, denn wir befinden uns trotz meines kleinen thematischen Einschubs immer noch in dem Gespräch der beiden Turteltäubchen über den Brand in Marlenes Kloster, ruhte etwas länger und intensiver auf Martin, als nötig gewesen wäre, um das Apfelstückchen an seinem Mundwinkel zu bemerken. Birgit ist nicht doof. Ganz und gar nicht. Sie ist nämlich nicht nur scharf, sondern auch scharfsinnig, obwohl sie in einer Bank arbeitet. Sie checkte ganz klar, dass in diesem Krankenhaus ungefähr siebenhundert Bettpfannenwärmer lagen, und für keinen einzigen hatte Martin bisher Interesse gezeigt. Warum also plötzlich für eine angekokelte Nonne? Aber Birgit gehört auch zu denen, die wissen, wann es besser ist, die Klappe zu halten. Sie schaute also ernst und nachdenklich, lächelte dann plötzlich, beugte sich vor und küsste Martin das Apfelstückchen vom Mundwinkel.

»Lass uns nicht über diese traurige Geschichte reden, sondern lieber überlegen, wo wir nächste Woche zur Feier deiner Entlassung essen gehen«, schlug Birgit vor. Sie boxte Martin leicht in den Magen. »Immerhin musst du bald wieder was auf die Rippen kriegen.«

Ich hätte das Gespräch in der Hoffnung auf weitere Körperlichkeiten wohl weiterverfolgt, wenn Marlene nicht plötzlich abgerauscht wäre. So war ich hin- und hergerissen, jagte dann aber meiner neuen Seelenverwandten hinterher in die Krankenhauskapelle.

»Wer auch immer dieses Feuer gelegt hat, hat den Hinterausgang und die Eingangstür zugesperrt, als ich drin war – und vielleicht nachher wieder aufgesperrt, damit keiner etwas merkt«, murmelte Marlene erschüttert.

»Und der Plan war erfolgreich«, gab ich noch etwas Sprit in den Vergaser, um ihre Betroffenheitsdrehzahl hochzujubeln. »Die Bullen suchen vielleicht einen Brandstifter, aber mit Sicherheit keinen Mörder. Und was sie nicht suchen, werden sie auch nicht finden.«

Marlene hielt eine längere Zwiesprache mit irgendwelchen himmlischen Mächten, deren Anwesenheit mir verborgen blieb, und traf dann eine Entscheidung, die meinen Tag rettete: »Ich kann diese Sache nicht auf sich beruhen lassen. Immerhin besteht für meine Schwestern Gefahr, solange der Mörder frei herumläuft.«

»Darauf hätte ich glatt mit einer Dose Bier angestoßen, wenn es hier so etwas gäbe«, erwiderte ich.

»Wir können ja stattdessen gemeinsam beten«, schlug Marlene vor.

Ich zischte so schnell ab, dass ich meinte, ein paar Kerzen zusätzlich zum Flackern gebracht zu haben.