Ina Brandt

Die Zauberschneiderei

Der Tag der Zuckerwünsche

Weitere Bücher von Ina Brandt im Arena Verlag:

Die Zauberschneiderei. Leni und der Wunderfaden (Band 1)

Die Zauberschneiderei. Ein Fest voller Magie (Band 2)

Die Zauberschneiderei. Ein Kleid zum Träumen (Band 3)

Die Zauberschneiderei. Ein märchenhafter Auftritt (Band 4)

Eulenzauber. Ein goldenes Geheimnis (Band 1)

Eulenzauber. Rettung für Silberpfote (Band 2)

Eulenzauber. Eine wunderbare Freundschaft (Band 3)

Eulenzauber. Magie im Glitzerwald (Band 4)

Eulenzauber. Rätsel um die Goldfeder (Band 5)

Eulenzauber. Hilfe für das kleine Fohlen (Band 6)

Eulenzauber. Geheimnisvoller Edelstein (Band 7)

Eulenzauber. Ein neuer Freund für Goldwing (Band 8)

Eulenzauber. Der große Herzenswunsch (Band 9)

Eulenzauber. Im Kreis der Goldflügel (Band 10)

Ina Brandt arbeitete nach dem Germanistikstudium
einige Jahre als Lektorin, bevor sie sich als Autorin selbstständig
machte. Seitdem hat sie zahlreiche Kinderbücher veröffentlicht.
Mit ihrer Buchreihe »Eulenzauber« konnte sie auf Anhieb einen
großen Erfolg erzielen. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und
ihren beiden Töchtern in der Nähe von Stuttgart.

Isabelle Metzen zeichnet, seit sie einen Stift in der Hand halten
kann – also eigentlich schon immer. Nach ihrem Diplom in Design
an der FH Münster hat sie sichselbstständig gemacht und illustriert
jetzt leidenschaftlich Kinder- und Jugendbücher. Neben dem
Zeichnen bastelt und handarbeitet sie liebend gerne.

Ina Brandt

Der Tag der
Zuckerwünsche

Mit Illustrationen von
Isabelle Metzen

1

Maya im Tanzfieber

Seht doch mal, ist das nicht megacool?« Maya hielt Leni und Flo ihr Handy unter die Nase. Die drei schauten sich das Video der letzten Hip-Hop-Aufführung aus Mayas neuer Tanzschule an. Zu den blechern klingenden Takten der Musik bewegte sich eine Gruppe von sechs Mädchen in schnellen Schrittfolgen über die Bühne. Die silbernen Glitzersterne auf ihren T-Shirts sprühten wie ein Feuerwerk durch den Raum. Leni wurde schon beim Zuschauen ganz schwindelig.

»Das sieht ziemlich kompliziert aus«, meinte sie.

»Ach was, alles nur Übung«, wehrte Maya ab. »Ihr werdet sehen, das macht richtig Spaß.«

Seit sie vor ein paar Wochen mit ihrem Hip-Hop-Kurs begonnen hatte, war sie Feuer und Flamme. Ob mitten auf dem Pausenhof oder wie jetzt in ihrem Zimmer – überall verfiel sie plötzlich in Schrittfolgen und fuchtelte dabei mit den Armen in der Luft herum.

»Spaß?«, fragte Flo und schaute Maya ungläubig an. »Da bekomme ich garantiert einen Knoten in die Beine. Wie soll ich das denn hinkriegen? Wenn ich mich nur nicht von euch hätte überreden lassen …« Flo schüttelte den Kopf. »Move it … wer denkt sich so was nur aus?«

»Also ich finde, das ist eine gute Idee«, widersprach Leni. »›Move it – bewegt euch.‹ Ist immerhin besser, als nur im Unterricht zu sitzen.«

»Bin mal gespannt, wer die Idee wirklich gut findet«, meinte Flo. »Anscheinend machen gar nicht so viele Schulen mit. Ist vermutlich nicht nur bei uns so, dass die Lehrer für solche Extra-Aktionen keine Zeit haben. Aber ich schätze, das haben die Leute vom Sportamt bei der Stadt nicht bedacht. Hauptsache, sie können am Schluss Preise verteilen und haben ein paar hübsche Fotos für die Zeitung.«

»Wer weiß, vielleicht stehen wir dann ja mit auf dem Siegertreppchen!«, sagte Maya, die sich von Flo ihre Begeisterung nicht nehmen ließ. »Ich finde es auf jeden Fall toll von Natascha, dass sie uns hilft und wir noch mitmachen können.«

»Ja, das stimmt«, pflichtete Leni ihr bei. Mayas Tanzlehrerin hatte ganz spontan Ja gesagt, als ein paar Mädchen aus den höheren Klassen sie gefragt hatten, ob sie nicht ein kleines Stück mit ihnen einstudieren könnte. Die nahmen allerdings schon länger Unterricht und waren richtig gut. Aber Natascha hatte gemeint, es könnten alle mitmachen, auch wenn sie vom Tanzen noch keine Ahnung hatten. So wie Leni und Flo.

»Geht es deinen Freundinnen wirklich nur ums Mitmachen oder vielleicht darum, einfach einen großen Auftritt hinzulegen?«, fragte Flo etwas spitz.

»Was soll daran denn schlecht sein? Ein Auftritt ist doch cool«, erwiderte Maya. Sie klang nun nicht mehr ganz so gut gelaunt. Flos missmutige Art ging ihr wohl allmählich auf die Nerven.

»Jetzt lass uns erst mal schauen, wie es wird«, wandte sich Leni an Flo. »Immerhin bekommen wir fürs Üben ein paar Freistunden. Und das ist tausendmal besser als Grammatikübungen.« Sie deutete auf ihr Schulheft, denn eigentlich hatten die drei Hausaufgaben machen wollen. »Akkusativ, Dativ, Adverbien … Ich hab’ noch nicht mal die Hälfte geschafft.«

»Zeig mal her, ist doch gar nicht so schwer«, sagte Flo und schnappte sich Lenis Heft.

»Und das hier auch nicht«, schloss Maya sich an und hüpfte mit ein paar Tanzschritten durchs Zimmer, während sie die Musik auf dem Handy gleich noch ein bisschen lauter stellte.

Leni grinste. Flo war ein Ass in der Schule, aber Maya hatte eben ganz andere Interessen. Manchmal fand Leni es ein bisschen anstrengend, dass die beiden so unterschiedlich waren. Aber manchmal konnte sich das auch prima ergänzen.

»Oh, hat hier etwa eine Disco eröffnet?«, erklang da die Stimme von Mayas Mutter. »Ich dachte, ihr wolltet zusammen lernen.« Groß und schlank stand sie in der Zimmertür und lächelte den dreien freundlich zu. In ihrem schwarzen Jumpsuit mit den hochhackigen Riemchensandalen sah sie mal wieder super aus, fand Leni.

»Hallo, Mama«, sagte Maya und stellte die Musik etwas leiser. »Wir lernen ja. Tanzen steht neuerdings auch bei uns auf dem Stundenplan. Du weißt doch, dass wir diese Aufführung bei ›Move it‹ haben.« Sie ging zu ihrer Mutter und musterte deren lange braune Haare, die in großen Wellen auf deren Schultern fielen. »Das hat Gino mal wieder super hingekriegt«, stellte sie fest.

Frau Funke schmunzelte. »Hoffentlich hält es bis heute Abend, ich muss ja noch zu dieser Veranstaltung. Eigentlich würde ich es mir lieber mit dir auf dem Sofa gemütlich machen. Aber da wird wohl Dorothea meinen Platz übernehmen.«

Maya verdrehte die Augen, wie sie es immer tat, wenn es um das Kindermädchen ging. »Ich brauche keinen Aufpasser. Schließlich bin ich alt genug, um auch mal alleine zu bleiben.«

Doch Frau Funke schüttelte den Kopf. »Du würdest bloß den ganzen Abend irgendwelche YouTube-Videos anschauen. Tanzen, Klamotten, Stylingtipps …«

»Tja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, erwiderte Maya grinsend. Schließlich beschäftigte sich ihre Mutter als Chefin eines Modemagazins den ganzen Tag mit solchen Themen.

Leni bemerkte Flos ungläubigen Blick. Wenn sie mal alleine wäre, dann würde sie ihre Zeit auf gar keinen Fall mit Videos verplempern. Sie würde ihren Kopf in Bücher stecken oder ihre geliebten Sudokurätsel lösen. Leni dagegen würde sich sofort ihre große Kiste mit den Stoffresten schnappen und sich irgendetwas damit ausdenken. Denn Leni liebte alles, was mit Stoffen zu tun hatte. Egal, ob es eine Wimpelkette fürs Zimmer war oder eine Tasche fürs Schwimmbad, wie sie sie in Ariane Arrugas Zauberschneiderei bei ihrem Nähkurs angefertigt hatten.

»Ich muss dann mal los«, unterbrach Flos Stimme Lenis Träumereien.

Auch Leni hatte ihrer Mutter versprochen, nicht so spät heimzukommen, und so verabschiedeten sich die beiden.

Bis zur Annastraße konnten sie gemeinsam gehen und währenddessen überlegte Leni laut, was sie als Nächstes in ihrem Nähkurs machen wollten.

»Ich bräuchte dringend mal was, um meine Haargummis aufzubewahren. Heute Morgen hab’ ich wieder ewig gesucht.«

»Und ich könnte ein Schlampermäppchen brauchen«, meinte Flo. »Irgendwas, in das ein Notizblock und ein Stift reinpasst. Manchmal fällt mir nämlich unterwegs eine Frage ein und dann hab’ ich nichts zum Aufschreiben.«

»Das ist doch fast dasselbe!«, erwiderte Leni. »Eben irgendein kleines Täschchen. Ich lege meine Zopfgummis rein und du eben was zum Schreiben.« Sie stockte kurz. »Und Maya bestimmt ihre Schminksachen«, fügte sie dann hinzu.

»Oder zumindest einen Teil davon«, meinte Flo grinsend und dachte wahrscheinlich an Mayas Schminktisch mit den unzähligen Nagellacken und Lipglossstiften.

Sie hatten die Annastraße erreicht und trennten sich. Als Leni an der Zauberschneiderei vorbeikam, hängte Ariane gerade das »Geschlossen«-Schild an die Tür. Doch als sie Leni sah, sperrte sie natürlich noch mal auf.

»Hallo, Leni«, begrüßte Ariane sie erfreut. »Wo kommst du denn her?«

»Wir waren bei Maya«, erklärte Leni. »Eigentlich wollten wir lernen, aber dann haben wir die meiste Zeit irgendwelche Hip-Hop-Videos angeschaut. Maya ist total im Tanzfieber, seit sie diesen Kurs macht. Und jetzt noch viel mehr wegen der Aufführung bei ›Move it‹.«

»Ach so, stimmt, das hattet ihr ja erzählt. Wann geht es denn los?«

»Morgen schon«, erwiderte Leni. »Ich bin echt gespannt. Das kam ja alles ziemlich spontan zustande, wir haben nicht viel Zeit zum Üben.«

»Und dann vermutlich auch keine Zeit mehr zum Nähen«, meinte Ariane und seufzte theatralisch. »Sehr schade, denn heute habe ich neue Stoffe bekommen.«

»Wirklich?«, fragte Leni und drängte sofort an Ariane vorbei in den Laden. »Zum Nähen haben wir selbstverständlich immer Zeit! Gerade habe ich mir mit Flo überlegt, ob wir als Nächstes kleine Täschchen bei dir machen können.«

Sie erzählte Ariane von der Idee mit dem Haargummi-Schlamper-Schminktäschchen, während sie ihre Finger über die Stoffballen wandern ließ, die Ariane auf dem Tisch in der Mitte des Ladens ausgebreitet hatte. Leni strich über weichen Samt, glatte, schimmernde Seide, riffeligen Cord … und wie immer, wenn sie einen Stoff in der Hand hatte, tauchten dabei Bilder in ihrem Kopf auf. Die Seide sah sie als schimmerndes Abendkleid vor sich … den Samt konnte sie fast schon als kuscheliges Kissen an ihrer Wange spüren, das wie die Wolken am Himmel zum Träumen einlud. Leni fühlte sich von Stoffen einfach magisch angezogen und deswegen war für sie Arianes Laden auch der spannendste Ort in der ganzen Stadt. Und das nicht nur wegen der vielen wunderschönen Stoffe, sondern weil sie hier erfahren hatte, dass sie eine Helferin der Heller-Welt war. Und Ariane keine ganz gewöhnliche Schneiderin, sondern eine, die zaubern konnte!

Leni warf einen Blick auf Arianes Ring mit dem silbernen Fingerhut, mit dem sie Nähte einfach so – schwups! – verschließen oder Stoffe durch die Luft fliegen lassen konnte.

Manchmal fiel es Leni noch immer schwer, das alles zu glauben. Dass ausgerechnet sie als Helferin mit Arianes Zaubernähmaschine Stoffen magische Kräfte verleihen konnte. Um damit die Freunde der Finsternis, die die Lichter in der Heller-Welt zum Erlöschen bringen wollten, zu vertreiben.

In allen möglichen Gestalten waren diese Finster-Freunde Leni schon begegnet. Sie dachte an den gemeinen Schnösel aus dem Haus, der Ariane aus dem Laden hatte verjagen wollen; die Frau aus dem Park, die Jessys Hund Spotty verhext hatte; die eklige Spinne aus dem Tierheim, die Tiere krank gemacht hatte und die Hochzeit von Flos Mutter beinahe zum Platzen gebracht hätte … Ja, Finster-Freunde konnten alles Mögliche sein und immer hatte ihr Anführer, Borromäus Bitter, seine Hände im Spiel. Dieser bucklige Mann mit dem Hinkebein, den Leni bislang nur hatte davonhuschen sehen. Noch nie hatte sie es geschafft, ihn selbst außer Gefecht zu setzen. Ihn, der es auf all die Menschen abgesehen hatte, die mit ganzer Leidenschaft für eine Idee brannten. Ohne es zu wissen, brachten sie damit die Lichter in der Heller-Welt zum Strahlen und dadurch auch unsere Welt.

Würde Leni es gelingen, Borromäus Bitter eines Tages zu besiegen? Das wäre bestimmt das Größte und Heldenhafteste, was eine Helferin vollbringen konnte. Aber gleichzeitig sicher auch das Schwierigste und Gefährlichste. Leni strich nachdenklich über den dunkelrot schimmernden Samt. Hoffentlich war sie dann stark genug!