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30 KELLER

An diesem Weihnachtsmorgen scheint die Welt des Multimilliardärs Meisner noch in Ordnung: Im Fond seines schwarzen Maybachs, den Blick abwechselnd auf den Chauffeur und den glitzernden Genfer See gerichtet, gelten seine Gedanken einer alten Liebe. Doch zu Hause angekommen, wird er von zwei Händen gepackt, der Geruch von Chloroform …

Als Meisner in einem fremden Keller erwacht, wird ihm klar: Er ist entführt worden. Sein Kidnapper, der sich Ronaldo nennt, weiß alles über ihn, er kennt sogar das milliardenschwere Black Budget, das Meisners Konzern als Schmiermittel für Korruption dient. Die Lösegeldforderung ist absurd hoch, doch noch absurder ist, was mit dem Geld geschehen soll: Mit ihrem ungewöhnlichen Plan wollen die Entführer das weltweite Finanzsystem ins Wanken bringen, das immer mehr außer Kontrolle zu geraten droht.

30 Keller ist ein Finanzthriller und eine hochaktuelle Parabel auf unsere aus den Fugen geratene Gegenwart, die wir zunehmend von den schwer durchschaubaren Mechanismen der Finanzmärkte fremdbestimmt sehen.

»Menschen wie Sie überspannen den Bogen weiter und weiter, bis zum Bersten. Es knackt und reißt an allen Enden, aber sie dehnen ihn weiter, einfach, weil es alles ist, was sie jemals gelernt haben. Ihr Geld ist Abstraktion, Herr Meisner, ihr Geld hat Schuld daran, dass wir Menschen uns verlieren, weil ihr Geld einfach alles ist.«

PRESSESTIMMEN

»Kaluzas Roman fasst die Gegenwart in rasant geschnittene Bilder.«

WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG ÜBER GEH AUF MAGENTA

»Stephan Kaluzas rasant-humorvoller Roman … ein kunstvolles Geflecht, das sich meisterhaft zuspitzt und nur knapp der Katastrophe entgeht.«

KUNSTMAGAZIN ÜBER GEH AUF MAGENTA

STEPHAN KALUZA

30 KELLER

ROMAN

1.

Es war ein ausgesprochen freundlicher Tag. Der Genfer See war in der Ferne zu sehen, manchmal glitzerte seine Oberfläche wie ein glatter Diamant in der Sonne, sofern sich nicht vereinzelte Fichten im Zeitlupentempo vor dieses Szenario schoben.

Der Wagen passierte langsam die Anhöhe und bog dann in eine kurvenreiche Landstraße ein, die hinab in Richtung Chéserex führte. Ab und zu musste er einigen Schneeverwehungen ausweichen, die der Sturm der letzten Nacht auf die Straße getrieben hatte, dabei drehten sich die Reifen auf dem vereisten Asphalt bedrohlich durch; es war wohl einer der kältesten Dezembertage, den man in diesem Teil der Schweiz jemals erlebt hatte.

Meisner wurde es zu warm, er korrigierte die Klimaanlage und sah auf die bizarren Eiszapfen, die überall an den Bäumen hingen. Wahrscheinlich waren die Wasserleitungen zu Hause wieder nicht gewartet worden, und ein ähnliches Bild würde ihn in seinem Wohnzimmer erwarten, es lief immer auf das Gleiche hinaus: Wenn er es nicht machte, machte es niemand. Er fragte sich, ob inzwischen die Rohre im Keller repariert waren, wahrscheinlich auch das nicht, sie hatte es mit Sicherheit vergessen, Karin besaß in diesen Dingen weder Disziplin noch Talent.

Eine scharfe Rechtskurve, der Wagen schlitterte ein wenig, und Meisner sah sorgenvoll nach vorne. Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und machte sich eine schnelle Anmerkung: Um die Rohre kümmern; wie albern das klang. Aber an ihrer Seite klang so manches albern, die Wasserleitungen, die gestutzten Hecken in der Einfahrt, die Geranien in den spießigen Kübeln auf dem Balkon, der unnütze Krieg mit dem Nachbarn wegen einiger Brombeersträucher, die zu nahe an dessen Grundstück standen; allesamt Dinge, die sie gewollt hatte, sich dafür aber in keiner Weise verantwortlich zeigte. Das Haus blieb immer an ihm hängen. Auch der Garten. Und, wenn man nachdachte, eigentlich alles.

Dazu ihre hohe Stimme. Ob er an den »Christmas tree« gedacht habe, und die anderen Dinge, Glitter, Kerzen, so etwas, schließlich habe man bald Gäste. Wahrscheinlich hielt sie »Christmas tree« für schicker als das simple Wort Weihnachtsbaum; der alberne Dünkel zog sich durch ihr gesamtes Vokabular, mit dem sie vermeintlich beeindruckte, wie sie dachte. Er notierte: Erschlag sie. Schnell strich er die Wörter wieder durch und blickte auf die Straße vor sich. Die Abfahrt hinunter nach Chéserex schien gesperrt zu sein, ein Umleitungsschild stand mitten auf der Kreuzung.

»Sie sehen das, Herr Meisner?«, fragte Jeannot von vorne und fuhr langsamer. »Eine Verwehung. Wir müssen jetzt doch über die Hauptstraße.«

Meisner knurrte ein unwilliges Ja in Richtung seines Fahrers und blickte wieder auf die Notizen, Jeannot erschlagen stand dort als Eintrag des Vortages zu lesen, daran hatte sich auch heute nichts geändert, der Kerl war eine Plage. Erschlag sie alle schrieb er, jetzt noch wütender über den Umweg.

Jeannot hatte den Weg über diese Landstraße vorgeschlagen, weil es kürzer sei, wie er sagte. Dass sie so nun wertvolle Zeit verloren, war absurd. Und dann noch eine Umleitung.

Jeannot schien seine Laune zu spüren und gab Gas, der Maybach fuhr nun sprunghaft an, Meisner raunzte ein Sie Idiot nach vorne. Er sah, wie die Hände am Lenkrad leicht zu zittern begannen, und beschloss, sich zurückzuhalten, es war wohl besser, lebend anzukommen.

»Wir müssen nicht ganz bis Nyon«, sagte Jeannot mit angestrengter Stimme. »Es gibt vorher eine Abzweigung, über –«

»Jeannot?«

»Ja, Herr Meisner?«

»Wessen Vorschlag war das heute, das mit der Abkürzung über die Landstraße?«

»Meiner, Herr Meisner.«

»Und Sie meinen, dass das ein guter Vorschlag war?«

»Ich dachte, der Versuch –«

»Es ist gut, dass Sie denken, ich mag das, Sie sind ein guter Kerl, Jeannot. Besonders, wenn Sie denken.«

»Danke, Herr Meisner.«

»Es ist nur besser, wenn ich dann nicht hier, in diesem Wagen, sitze, dann, wenn Sie denken, nicht? Und Sie wissen auch, wie man ein kleines, beschissenes Angestelltendasein abkürzt?«

Vorne blieb es still, Meisner sah wieder die zitternden Hände, diesmal bereiteten sie ihm Spaß: »Durch einen Tritt in den Arsch, Jeannot. Wenn Sie in diesem Leben auch nur noch eine Abkürzung mit mir fahren, war das Ihre letzte. Wir haben uns verstanden? – Jeannot?«

Dessen Stimme war kaum hörbar: »Ja, Herr Meisner.«

Sie schwiegen beide, noch immer glitzerte der See durch die Bäume, eine weitere Anmerkung fand ihren Platz im Notizbuch: Jeannot fristlos kündigen. Morgen. Soll das Büro machen.

»Ich werde mich natürlich daran halten, Herr Meisner, keine Abkürzungen mehr«, klang es vorsichtig von vorne.

»Ich weiß, Jeannot. Sie werden ganz sicher keine Abkürzungen mehr fahren. Das ist gut. Sehr gut.«

Er unterstrich die Sätze mit zwei energischen Strichen und ergänzte sie um einen weiteren: Den Hauswart auch, s. Wasserleitungen.

Sie erreichten nun Nyon und folgten den Schildern, die in Richtung Chéserex wiesen. Meisners Telefon klingelte, er angelte es aus der Innentasche seines Jacketts, das Display wies die Verbindung seines Sekretariats aus: »Ja, Brigitt?«

»Ich störe Sie nicht, Herr Meisner?«

»Nein, ich bin im Wagen. Haben Sie die Nummer?«

Es sei wirklich sehr schwer gewesen, sagte sie, unter diesem Namen gebe es eine Reihe von Einträgen im deutschen Netz, wie die Nadel im Heuhaufen sei das; aber mit der Hilfe eines Büros sei es dann doch machbar –

»Wollen Sie mir sagen, Sie haben einen Detektiv beauftragt?«

»Das war eher ein Ermittlungsbüro, aber alles sehr vertraulich. Es ging nur so, sie haben Ihre Angaben verglichen. Wir wissen jetzt, dass es sich mit Sicherheit um diese Dame handelt.«

»Sie haben es wirklich faustdick hinter den Ohren, Brigitt. Ich möchte nicht Ihr Feind sein«, sagte Meisner. »Also haben Sie die Nummer. Wo?«

»In Berlin.«

»Gut. Senden Sie sie mir direkt auf das Private. Jetzt. Und, Brigitt –«

»Ja, Herr Meisner?«

»Das war brillant.«

»Danke, Herr Meisner«, klang es stolz aus dem Telefon.

Er beendete das Gespräch, lächelte und sah gebannt auf das Display.

Berlin also.

Eine Nummer wurde angezeigt, er las die Zahlen mehrmals, speicherte sie schließlich unter A. ab und steckte das Telefon wieder weg. Jetzt, hier, im Wagen, konnte er sie nicht anrufen. Aber nachher. Er verspürte eine seltsame Aufregung, die er seit langem nicht mehr erlebt hatte. Seine Gedanken an sie hatten immer einen eher abstrakten und auch nostalgischen Charakter gehabt, was sie jetzt machen würde, wie sie sich kleiden würde, all das; diese Telefonnummer hingegen war real, 38042679; er lächelte wieder, er konnte sie bereits auswendig. Wie würde sie aussehen, heute, nach all den Jahren? Nach genau fünfzig Jahren.

Anne.

Sie durchfuhren das weihnachtlich geschmückte Nyon, desinteressiert blickte er auf kitschige Sterne, die man an Stahlseilen quer über die Straßen gehängt hatte, auch liefen einige albern aussehende Engel über die Trottoirs und der übliche Weihnachtsrummel blockierte den Verkehrsfluss – ein weiterer wütender Blick zu Jeannot, dann ein abwesender aus dem Fenster; jemand spielte eine Straßenorgel, es rührte ihn ein wenig.

Anne.

Sie erreichten die Hauptstraße in Richtung Chéserex, linkerhand war bereits der Golfplatz zu sehen, dann bald das Haus seines Nachbarn.

Jeannot bog in den nächsten Weg ein, es waren nur noch wenige Meter, Meisner sah schon das Tor zu seiner Einfahrt. Das Telefon vibrierte, er zog es wieder aus der Tasche und blickte auf das Display; Brigitt hatte eine weitere Nachricht geschickt: Ich sollte Sie an Ihre OP erinnern, morgen, 8.30 Uhr, Klinikum Genf. Erwarten Sie eine zweite Erinnerung? B. Er sandte ein kurzes Danke, das reicht zurück und ließ die Hände auf die Knie sinken. Wie sollte er das vergessen, natürlich, morgen früh, die Klinik. So etwas konnte man nicht vergessen, so etwas saß im Fleisch, ein immerwährender Stachel, das war etwas – Böses.

Er hatte die Nachricht vor drei Tagen bekommen; er solle sich keine Sorgen machen, sagte man, der Eingriff sei Routine, aber es sei schon angebracht, keine Zeit zu verlieren, wenn man das Risiko der Metastasierung möglichst gering halten wolle, also komme er am besten umgehend. Nette Worte, aber eigentlich waren sie ein Befehl, Meisner, wenn Sie weiterleben wollen, dann kommen Sie, sofort, sonst ist’s aus, verstanden?

38042679.

Anne.

Der Wagen hielt vor dem Tor, Jeannot betätigte die Fernbedienung und die Stahlflügel glitten zur Seite.

»Zum Haupteingang, Herr Meisner?«, fragte er mit einem Blick in den Rückspiegel.

Meisner nickte stumm und sah auf die verschneiten Hecken hinter dem Tor, die den Weg zum Haus säumten. Sauber gestutzt, der Schnee lag gerade auf ihnen wie eine akkurat zurechtgezogene Tischdecke. Davor der Kies, frisch geharkt. Beim Anfahren gaben die Reifen knirschende Geräusche von sich, hinter ihnen schloss sich das Tor.

Die Wege des Parks waren bereits vom Schnee befreit. Zwei der Gärtner, Gabriel und Neuve, standen dort und verbeugten sich in seine Richtung.

»Halten Sie.«

Der Wagen stoppte, Meisner ließ das Fenster herunter und winkte die beiden zu sich: »Was machen die Rohre im Keller?«

Das sei bereits erledigt, sagte Neuve, die Firma sei schon gestern da gewesen, die hätten eine anständige Arbeit gemacht.

»Welche Firma?«

»Eine aus Genf. Gute Leute, schnell, professionell, haben in zwei Stunden alles fertiggemacht. Jetzt ist’s dicht.«

»Das habt ihr überprüft?«

Sie hätten mehrmals das Wasser durchlaufen lassen, alles sei o. k. und die Wasserleitungen würden jetzt auch wieder gehen, bei den Temperaturen sei das ein Segen, genau zur richtigen Zeit, mit Besserung könne man ja beim besten Willen nicht rechnen, eine Jahrhundertkälte sei das –

»Schon gut, schon gut.«

Die Fensterscheibe schob sich wieder nach oben, und der Wagen rollte weiter. Meisner fragte sich, wer diese Firma aus Genf organisiert hatte, Karin sicher nicht.

Sie umfuhren die Skulptur in der Mitte des Parks, eine Plastik von Moore, passierten die seitlich liegenden Arkaden und stoppten nach weiteren hundert Metern vor der Treppe des Haupteingangs. Jeannot öffnete ihm die Tür, Meisner stieg aus dem Wagen.

»Morgen früh, die Fahrt nach Genf?«

Meisner schluckte seinen Ärger über diese überflüssige Frage hinunter. »Ja. Pünktlich.«

»Natürlich, Herr Meisner.«

Wortlos stieg Meisner die Treppe hoch und hielt sich dabei an der Balustrade fest, ihm war schwindlig; die Fahrt nach Genf, natürlich, die Fahrt nach Genf, pünktlich, Genf, Klinik, pünktlich, OP, pünktlich, was sonst?

»Ist alles in Ordnung, Herr Meisner?«, hörte er die besorgte Stimme von Jeannot. »Soll ich die Security kommen lassen?«

»Quatsch, die sollen hinten bleiben. Bis morgen.«

Oben angekommen, fand er den Eingang unverschlossen vor, das war ungewöhnlich, der Sicherheitsdienst war in der Regel sehr genau in diesen Dingen. In der Halle war es kühl, der Schwindel ließ jetzt nach, aufatmend lehnte er sich an eine der Säulen.

38042679.

Er würde sie heute noch anrufen, noch vor der OP.

Er durchquerte die Halle und ging in den Salon: »Karin?«

Es kam keine Antwort, sie war offenbar in ihrem Flügel. Oder einkaufen, was auch immer. Er setzte sich vorsichtig in einen Sessel und atmete dabei tief aus; der Schwindel nahm wieder zu, und der Raum bekam eine ungewöhnliche gelbe Färbung, veränderte sich, schien sich dabei seinem Atem anzupassen. Einen Moment lang dachte er daran, den Arzt anzurufen, verwarf diesen Gedanken aber sofort, nicht heute, kein Arzt. Wieder ein Ausatmen, wieder ein Wölben des Raumes, wieder eine Art Verdichtung vor seinen Augen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte nach oben an die Decke, verwundert nahm er wahr, dass sie tiefrot glühte. Vielleicht überraschte ihn deshalb die Hand auf seinem Oberarm nicht, die ihn kräftig umgriff und nach hinten zog. Eine andere Hand presste eine Maske vor sein Gesicht, ein chemisch-süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase, er musste kurz lachen, dieses Ding war einfach blödsinnig, hier, in diesem Raum, bei ihm zu Hause. Eine sanfte Stimme drang nur noch wie aus weiter Ferne an sein Ohr:

»Es ist alles gut, Herr Meisner.«

Dann wurde es dunkel.