Die seltsame Orchidee

Beim Kauf von Orchideen spielt immer ein gewisser spekulativer Reiz mit. Man hat das braune, geschrumpfte Knollengewebe vor sich, und im übrigen muß man auf sein Urteil vertrauen, auf den Auktionator oder auf sein Glück, je nach Neigung und Geschmack. Die Pflanze kann am Absterben oder schon verdorrt oder einfach ein vorteilhafter Kauf sein, vielleicht aber – denn dies ist wiederholt geschehen – entfaltet sich vor den entzückten Augen des glücklichen Besitzers langsam, Tag um Tag, eine neue Art, eine ungewohnte Fülle, eine seltsame Biegung der Blütenlippe, die zartere Färbung oder eine unerwartete Mimikry. Stolz, Schönheit und Gewinn blühen zusammen an einem feinen grünen Trieb, manchmal sogar Unsterblichkeit. Und wenn das neue Naturwunder einen eigenen Namen braucht, was wäre da so naheliegend wie der Name seines Entdeckers? »Johnsmithia«! Es gibt schlechtere Namen.

Es war vielleicht die Hoffnung auf eine glückliche Entdeckung, die Winter-Wedderburn zu einem so häufigen Besucher dieser Auktionen machte – die Hoffnung und auch die Tatsache, daß er auf dieser Welt nicht irgendeiner nützlichen Beschäftigung nachging. Er war ein schüchterner, einsamer, eher erfolgloser Mann, sein Einkommen reichte gerade aus, um ihm das Notwendigste zu beschaffen, aber er besaß nicht genug geistige Energie, um sich eine anspruchsvolle Tätigkeit zu suchen. Er hätte Briefmarken oder Münzen sammeln, Horaz übersetzen oder Bücher binden oder eine neue Art von Kieselalgen erfinden können. Doch wie es sich traf, züchtete er Orchideen, und sein Ehrgeiz war ein kleines Gewächshaus.

»Ich habe das Gefühl«, sagte er beim Kaffee, »daß mir heute etwas zustoßen wird.« Er sprach – so wie er sich bewegte und dachte – langsam.

»Oh, sag das nicht!« sagte seine Haushälterin, die auch seine entfernte Kusine war. Denn »etwas zustoßen« war eine Beschönigung, die für sie nur eine Bedeutung hatte.

»Du verstehst mich falsch. Ich meine nichts Unangenehmes … obschon ich kaum weiß, was ich meine. Heute«, fuhr er nach einer Pause fort, »verkaufen Peters eine Anzahl Pflanzen von den Andamanen und aus Indien. Ich werde hingehen und schauen, was sie haben.« Er reichte ihr seine Tasse zum zweitenmal.

»Sind das die Sachen, die jener bedauernswerte junge Mann sammelte, von dem du mir kürzlich erzählt hast?« fragte seine Kusine, als sie den Kaffee eingoß.

»Ja«, sagte er, in Gedanken verloren über einer Scheibe Toast.

»Mir passiert nie etwas«, bemerkte er kurz darauf und begann laut zu denken. »Ich möchte wissen, warum? Anderen Leuten passiert immer etwas. Zum Beispiel Harvey. Erst letzte Woche am Montag hob er ein Sixpencestück auf, am Mittwoch hatten alle seine Küken den Hühnerwurm, am Freitag kehrte seine Kusine von Australien zurück, und am Samstag brach er sich das Bein. Was für ein aufregender Wirbel! – verglichen mit mir.«

»Ich glaube, ich wäre lieber ohne so viel Aufregung«, sagte seine Haushälterin. »Es kann nicht gut sein für dich.«

»Ich denke auch, es ist mühsam. Doch … siehst du, mir passiert nie etwas. Als kleiner Junge hatte ich nie Unfälle. Ich verliebte mich nie, als ich größer wurde. Heiratete nie … Ich möchte wissen, wie einem Menschen zumute ist, dem etwas zustößt, etwas wirklich Außergewöhnliches.

Dieser Orchideen-Sammler war erst sechsunddreißig – zwanzig Jahre jünger als ich –, als er starb. Und er war zweimal verheiratet und einmal geschieden gewesen; er hatte viermal die Malaria, und einmal brach er sich den Oberschenkel. Er brachte einmal einen Malaien um, und einmal wurde er von einem vergifteten Pfeil verwundet. Und am Schluß wurde er im Dschungel von Blutegeln getötet. Es muß sehr beschwerlich gewesen sein, aber auch sehr interessant, weißt du – mit Ausnahme vielleicht der Blutegel.«

»Ich bin sicher, daß es für ihn nicht gut war«, sagte sie mit Überzeugung.

»Vielleicht nicht.« Und dann schaute Wedderburn auf seine Uhr. »Dreiundzwanzig Minuten nach acht. Ich nehme den Viertel-vor-zwölf-Zug, damit ich genügend Zeit habe. Ich glaube, ich werde meine Alpaca-Jacke anziehen – es ist warm genug – und meinen grauen Filzhut und die braunen Schuhe. Ich vermute –«

Er blickte durch das Fenster zum heiteren Himmel und zum sonnenbeschienenen Garten und dann nervös auf das Gesicht seiner Kusine.

»Ich glaube, du nimmst besser einen Schirm mit, wenn du nach London fährst«, sagte sie mit einer Stimme, die keine abschlägige Antwort duldete. »Da ist der ganze lange Heimweg von der Station bis hierher.«

Als er zurückkehrte, befand er sich in einem Zustand milder Erregung. Er hatte einen Kauf getätigt. Es geschah selten, daß er sich schnell genug dazu entschließen konnte, etwas zu erwerben, aber diesmal hatte er es getan.

»Es sind Vanda«, sagte er, »und ein Dendrobium und einige Palaeonophis.« Er musterte seine Einkäufe liebevoll, während er seine Suppe aß. Sie waren auf dem makellosen Tischtuch vor ihm ausgebreitet, und er erzählte seiner Kusine alles über sie, als er sich langsam durch sein Abendessen aß. Er hatte die Gewohnheit, alle seine Londoner Besuche am Abend ein zweites Mal zu erleben, zu ihrer und seiner eigenen Unterhaltung.

»Ich wußte, daß heute etwas geschehen würde. Und ich habe all diese gekauft. Einige von ihnen – einige von ihnen –, ich habe das sichere Gefühl, weißt du, daß einige von ihnen außergewöhnlich sein werden. Ich kann es nicht erklären, aber ich habe ein genauso sicheres Gefühl, als wenn mir jemand gesagt hätte, daß einige von diesen Pflanzen sich als etwas Besonderes erweisen werden.«

»Diese« – er zeigte auf einen zusammengeschrumpften Wurzelstock – »ist nicht identifiziert. Es kann eine Palaeonophis sein – oder auch nicht. Es kann eine neue Art sein oder sogar eine neue Gattung. Und es war die letzte, die der arme Batten gesammelt hat.«

»Ihr Aussehen gefällt mir nicht«, sagte seine Haushälterin. »Sie hat eine so häßliche Form.«

»Für mich scheint sie kaum eine Form zu besitzen.«

»Ich kann diese Dinger nicht leiden, die vorstehen«, sagte seine Haushälterin.

»Sie wird morgen in einem Topf versorgt werden.«

»Sie sieht aus«, sagte die Haushälterin, »wie eine Spinne, die sich totstellt.«

Wedderburn lächelte und betrachtete die Wurzel, indem er den Kopf zur Seite neigte. »Es ist bestimmt kein schönes Knollengewächs. Aber man kann diese Sachen nie in ihrem trockenen Zustand beurteilen. Vielleicht entwickelt sich eine wirklich schöne Orchidee daraus. Wieviel ich morgen zu tun haben werde! Ich muß mir heute abend genau überlegen, was ich mit diesen Dingen anfangen will, und morgen werde ich mich an die Arbeit machen.

Sie fanden den armen Batten, wie er tot oder sterbend in einem Mangrovensumpf lag – ich habe vergessen, ob er bereits tot war oder nicht«, begann er nach kurzer Zeit von neuem, »wobei ausgerechnet eine dieser Orchideen von seinem Körper zusammengedrückt wurde. Er hatte einige Tage unter einer Art Tropenfieber gelitten, und ich glaube, daß er in Ohnmacht fiel. Diese Mangrovensümpfe sind sehr ungesund. Jeder Blutstropfen, hieß es, wurde ihm von den Blutegeln des Dschungels ausgesaugt. Vielleicht war es gerade diese Pflanze hier, deren Gewinn ihm das Leben kostete.«

»Ich mache mir deshalb nicht mehr aus ihr.«

»Männer müssen arbeiten, Frauen dürfen weinen«, sprach Wedderburn in tiefem Ernst.

»Stell dir vor, entfernt von jeder Annehmlichkeit in einem scheußlichen Sumpf zu sterben! Stell dir vor, an einem Fieber erkrankt zu sein, ohne ein anderes Mittel als Chlorodyn und Chinin zur Verfügung zu haben – wenn man die Männer sich selbst überließe, würden sie von Chlorodyn und Chinin leben –, umgeben von gräßlichen Eingeborenen! Man sagt, die Andaman-Insulaner seien ganz abscheuliche Kerle – und auf jeden Fall können sie kaum gute Krankenpfleger sein, ohne die nötige Ausbildung. Und all das, damit die Leute in England Orchideen haben!«

»Ich glaube nicht, daß es angenehm war, aber manchen Männern gefällt das«, sagte Wedderburn. »Jedenfalls waren die Eingeborenen seiner Gruppe zivilisiert genug, um für seine ganze Sammlung Sorge zu tragen, bis sein Kollege, ein Ornithologe, wieder aus dem Innern des Landes zurückkehrte; obschon sie die Art der Orchidee nicht bestimmen konnten und sie welken ließen. Und es macht diese Dinge interessanter.«

»Es macht sie widerlich. Ich hätte Angst, daß Malaria daran haften könnte. Und stell dir nur vor, daß eine Leiche über diesem häßlichen Gebilde lag! Ich habe bis jetzt gar nicht daran gedacht. So! Wahrhaftig, ich weigere mich, noch einen Bissen von diesem Nachtessen anzurühren.«

»Ich werde sie vom Tisch entfernen, wenn du es wünschest, und sie auf die Fensterbank legen.«

Während der nächsten paar Tage war er in der Tat außerordentlich beschäftigt in seinem feuchten kleinen Gewächshaus, hantierte mit Holzkohle, Stücken von Teakholz, Moos und all den anderen Geheimnissen des Orchideenzüchters. Er fand, er habe eine wundervoll ereignisreiche Zeit. Am Abend pflegte er seinen Freunden von den neuen Orchideen zu erzählen, und immer wieder gab er seiner Erwartung auf etwas Seltsames Ausdruck.

Verschiedene der Vandas und das Dendrobium gingen unter seiner Pflege ein, aber bald darauf begann die merkwürdige Orchidee Zeichen von Leben zu zeigen. Er war erfreut und holte seine Haushälterin direkt vom Marmeladeeinkochen weg, damit sie es sehe, unmittelbar nachdem er die Entdeckung gemacht hatte.

»Das ist eine Knospe«, sagte er, »und bald werden da viele Blätter sein, und diese kleinen Dinge, die hier herauswachsen, sind Luftwurzeln.«

»Sie kommen mir vor wie kleine weiße Finger, die aus dem Braunen herausragen«, sagte die Haushälterin. »Ich kann sie nicht leiden.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß es nicht. Sie sehen aus wie Finger, die versuchen, an dich heranzukommen. Ich kann nichts für meine Zuneigungen und Abneigungen.«

»Ich bin nicht sicher, aber ich glaube nicht, daß mir irgendwelche Orchideen mit genau solchen Luftwurzeln bekannt sind. Mag sein, daß ich es mir einbilde. Du siehst, sie sind am Ende ein wenig abgeplattet.«

»Ich kann sie nicht ausstehen«, sagte seine Haushälterin, schauderte plötzlich und wandte sich ab. »Ich weiß, es ist sehr dumm von mir – und es tut mir sehr leid, besonders, da du die Dinger so gern hast. Aber ich muß immer an diese Leiche denken.«

»Aber vielleicht ist es nicht gerade diese Pflanze. Das war nur eine Mutmaßung von mir.«

Seine Haushälterin zuckte die Achseln. »Auf jeden Fall gefällt sie mir nicht«, sagte sie.

Wedderburn fühlte sich ein wenig verletzt durch ihre Abneigung gegen die Pflanze. Aber dies hinderte ihn nicht daran, mit ihr von Orchideen im allgemeinen und von dieser ganz besonderen Orchidee zu sprechen, wann immer er Lust dazu hatte.

»Es gibt so wunderliche Dinge bei Orchideen«, sagte er eines Tages, »solche Möglichkeiten von Überraschungen. Du weißt, Darwin stellte Untersuchungen über ihre Befruchtung an und zeigte, daß die ganze Struktur einer gewöhnlichen Orchideenblüte darauf angelegt ist, daß Falter den Blütenstaub von Pflanze zu Pflanze tragen. Nun, es scheint, daß viele Orchideen bekannt sind, deren Blüten unmöglich auf diese Art befruchtet werden können. Einige der Cypripedien zum Beispiel; man kennt keine Insekten, die eine Befruchtung bewirken könnten, und auf einigen von ihnen hat man nie Samen gefunden.«

»Aber wie bilden sie neue Pflanzen?«

»Durch Ausläufer und Knollen und diese Art von Ausstülpungen. Das läßt sich leicht erklären. Das Rätsel ist, wozu sind die Blüten da?

Sehr wahrscheinlich«, fügte er hinzu, »ist meine Orchidee etwas Besonderes in dieser Art. Wenn dem so ist, werde ich sie studieren. Ich habe oft daran gedacht, Forschungen zu betreiben, wie Darwin es tat. Aber bis jetzt habe ich keine Zeit dafür gefunden, oder etwas anderes ist dazwischengekommen. Nun beginnen sich die Blätter zu entfalten. Ich wünschte sehr, daß du sie dir ansehen würdest!«

Doch sie sagte, im Orchideenhaus sei es so heiß, daß sie Kopfschmerzen bekomme. Sie hatte die Pflanze nochmals gesehen, und die Luftwurzeln, von denen jetzt einige mehr als einen Fuß lang waren, hatten sie unglücklicherweise an Fühler erinnert, die nach etwas tasten, und sie drangen in ihre Träume ein, wuchsen mit unglaublicher Schnelligkeit auf sie zu, so daß sie sich zu ihrer eigenen restlosen Zufriedenheit dazu entschlossen hatte, die Pflanze nicht mehr zu sehen, und Wedderburn ihre Blätter allein bewundern mußte. Sie besaßen die gewöhnliche breite Form und glänzten in dunklem Grün mit tiefroten Flecken und Punkten gegen den Stengel hin. Er kannte keine anderen Blätter, die genau gleich waren. Die Pflanze befand sich auf einer niedrigen Bank nahe beim Thermometer, und daneben sorgte eine einfache Vorrichtung, die darin bestand, daß Wasser auf die Heißwasserleitung tropfte, für feuchte Luft. Und er verbrachte seine Nachmittage nun mit einiger Regelmäßigkeit damit, über das bevorstehende Erblühen seiner seltsamen Pflanze nachzusinnen.

Und schließlich geschah das große Ereignis. Kaum hatte er das kleine Glashaus betreten, wußte er, daß die Knospe aufgebrochen war, obschon seine große Palaeonophis Lowii die Ecke verdeckte, wo sein neuer Liebling stand. Ein fremder Geruch erfüllte die Luft, ein köstlicher, durchdringend süßer Duft, der jeden anderen in diesem vollgestopften, dampfenden Gewächshaus übertönte.

Sobald er dies bemerkt hatte, eilte er zu der seltsamen Orchidee. Und siehe! Die herabhängenden grünen Triebe trugen nun drei große Blütenstände, von denen diese überwältigende Süße herkam. Er stellte sich vor sie hin, in einem Taumel der Bewunderung. Die Blüten waren weiß, mit goldorangefarbenen Streifen auf den Blütenblättern; auf der schweren Blütenlippe, einem kompliziert gewundenen, vorstehenden Gebilde, mischte sich ein wundervoll bläuliches Purpur mit Gold. Er erkannte sogleich, daß es sich um eine ganz neue Gattung handelte. Und der unerträgliche Duft! Wie heiß es hier drinnen war! Die Blüten verschwammen vor seinen Augen.

Er wollte nachsehen, ob die Temperatur stimmte. Er tat einen Schritt gegen das Thermometer. Plötzlich schien alles ins Wanken zu geraten. Die Klinkerplatten auf dem Boden tanzten auf und ab. Dann die weißen Blüten, die grünen Blätter hinter ihnen, das ganze Gewächshaus schien sich zur Seite zu neigen, und dann in einem Schwung nach oben.

 

Um halb fünf bereitete seine Kusine den Tee, nach ihrer unverrückbaren Gewohnheit. Aber Wedderburn kam nicht.

»Er betet diese schreckliche Orchidee an«, sagte sie zu sich selbst und wartete zehn Minuten. »Seine Uhr muß stillgestanden sein. Ich will ihn rufen.«

Sie ging zum Treibhaus, öffnete die Tür und rief seinen Namen. Es kam keine Antwort. Sie bemerkte, daß die Luft sehr stickig war und erfüllt von einem starken Duft. Dann sah sie, daß etwas auf den Steinplatten zwischen den Heißwasserröhren lag.

Ungefähr eine Minute lang stand sie bewegungslos.

Er lag mit dem Gesicht nach oben zu Füßen der seltsamen Orchidee. Die fühlerähnlichen Luftwurzeln schwebten nicht mehr frei in der Luft, sondern waren zu einem Bündel von grauen angespannten Seilen vereint, die mit ihren Enden sein Kinn, seinen Hals und seine Hände berührten.

Sie wurde nicht klug daraus. Dann sah sie, daß unter einer der Luftwurzeln auf seiner Wange ein kleines Blutbächlein floß.

Mit einem dumpfen Schrei stürzte sie auf ihn zu und versuchte, ihn von den blutegelartigen Saugern zu befreien. Sie knipste zwei der Fühler ab, und ihr Saft tropfte rot heraus.

Dann begann der überwältigende Duft der Blüte ihren Kopf schwindlig zu machen. Wie sie sich an ihm festklammerten! Sie zerrte an den zähen Strängen, er und der weiße Blütenstand verschwammen vor ihr. Sie fühlte, daß sie in Ohnmacht fallen würde, wußte, daß sie es nicht durfte. Sie verließ ihn und öffnete hastig die nächste Tür, und nachdem sie einen Augenblick lang nach frischer Luft geschnappt hatte, kam ihr ein glänzender Einfall. Sie hob einen Blumentopf auf und zerschlug die Scheiben am Ende des Gewächshauses. Dann trat sie wieder ein. Nun zerrte sie mit neuer Kraft an Wedderburns bewegungslosem Körper, wobei die seltsame Orchidee zu Boden stürzte. Sie hielt sich noch immer mit der grimmigen Hartnäckigkeit an ihrem Opfer fest. Halb von Sinnen schleifte sie ihn zusammen mit der Pflanze ins Freie.

Dann beschloß sie, die Saugwurzeln einzeln wegzureißen, und eine Minute später hatte sie ihn befreit und zog ihn weg von dem Ungeheuer.

Er war weiß und blutete aus einem Dutzend runder Flecken.

Der Mann, der in Haus und Garten allerlei Arbeiten ausführte, kam herbei, erstaunt darüber, daß Glas in Brüche ging, und sah, wie sie auftauchte und den bewußtlosen Körper mit rotbeschmierten Händen wegschleppte. Einen Moment dachte er unmögliche Dinge.

»Bring ein wenig Wasser!« schrie sie, und ihre Stimme vertrieb seine Hirngespinste. Als er mit ungewöhnlicher Schnelligkeit mit dem Wasser zurückkehrte, fand er sie vor Aufregung weinend, wie sie, Wedderburns Kopf auf ihr Knie gebettet, Blut von seinem Gesicht wischte.

»Was ist los?« sagte Wedderburn, seine Augen halb öffnend, um sie sogleich wieder zu schließen.

»Geh und bitte Annie, zu mir herauszukommen, und dann rufe sofort Dr. Haddon«, sagte sie zu dem Mann mit dem Wasser. Und als sie sah, daß er zögerte, fügte sie hinzu: »Ich werde dir alles erzählen, wenn du zurück bist.«

Nach kurzer Zeit öffnete Wedderburn die Augen zum zweitenmal, und als sie sah, daß ihn das Rätsel seiner Lage verwirrte, erklärte sie ihm: »Du bist im Gewächshaus ohnmächtig geworden.«

»Und die Orchidee?«

»Ich werde mich um sie kümmern«, sagte sie.

Wedderburn hatte eine ziemliche Menge Blut verloren, doch im übrigen keine bedeutende Verletzung erlitten. Sie gaben ihm Weinbrand mit Fleischbrühe vermischt und trugen ihn hinauf in sein Schlafzimmer. Seine Haushälterin erzählte die unglaubwürdige Geschichte in Bruchstücken Dr. Haddon. »Kommen Sie zum Orchideenhaus und überzeugen Sie sich«, sagte sie.

Die kalte Luft blies von außen durch die offene Tür, und der überschwengliche Duft hatte sich fast verflüchtigt. Die meisten der abgerissenen Luftwurzeln lagen schon zusammengeschrumpft mitten auf einer Anzahl dunkler Flecken auf den Klinkerplatten. Der Blütenstengel war beim Herunterfallen der Pflanze gebrochen, und die Blütenblätter wurden welk und braun an den Rändern. Der Arzt beugte sich herab, bemerkte dann, daß sich eine Luftwurzel noch immer schwach bewegte, und zögerte.

Am nächsten Morgen lag die seltsame Orchidee noch immer dort, nun schwarz und von Fäulnis bedroht. Die Tür schlug im Morgenwind auf und zu, und die stattliche Reihe von Wedderburns Orchideen lag zusammengeschrumpft am Boden verstreut. Wedderburn selbst aber, heiter und gesprächig oben in seinem Schlafzimmer, sonnte sich im Glanz seines merkwürdigen Abenteuers.

Die Tür in der Mauer

1

Eines Abends, vor knapp drei Monaten, erzählte mir Lionel Wallace im vertraulichen Gespräch diese Geschichte von der Tür in der Mauer. Und damals glaubte ich, daß es – zumindest für ihn – eine wahre Geschichte sei.

Er erzählte sie mir so schlicht und voll innerer Gewißheit, daß ich nicht anders konnte, als ihm zu glauben. Aber am Morgen darauf, als ich in meiner eigenen Wohnung aufwachte, umgab mich eine andere Atmosphäre; und wie ich mir so im Bett liegend den Inhalt seiner Erzählung ins Gedächtnis zurückrief, diesmal des Zaubers seiner ernsten, bedächtigen Stimme beraubt, entblößt vom begrenzten Lichtkreis der abgedunkelten Tischlampe, von der schattenreichen Umgebung, die ihn und mich eingehüllt hatte, und den angenehm schimmernden Dingen des Desserts und der Gläser und des Tafeltuchs von der Mahlzeit, die wir zusammen eingenommen hatten, was alles zu der Zeit eine kleine lichte Welt schuf, die von den Realitäten des Alltags ziemlich entfernt war, kam mir das Ganze offen gestanden unglaubhaft vor. »Er war mysteriös!« sagte ich, und dann: »Wie gut er es machte! … Ich hätte eigentlich nicht erwartet, daß ausgerechnet er so etwas gut konnte.«

Später, als ich im Bett saß und meinen morgendlichen Tee schlürfte, ertappte ich mich bei dem Versuch, mir den Anschein von Realität, der mich bei seinen unmöglichen Erinnerungen so erstaunte, mit der Annahme zu erklären, daß er damit irgendwie Erlebnisse andeuten, darstellen, übermitteln wollte – ich weiß kaum, welches Wort ich wählen soll –, Erlebnisse, die anders nicht wiederzugeben waren.

Nun nehme ich aber nicht länger Zuflucht zu dieser Erklärung. Ich habe meine dazwischen auftretenden Zweifel überwunden. Ich glaube jetzt, was ich während seiner Erzählung glaubte, daß Wallace mir nach bestem Vermögen die Wahrheit seines Geheimnisses entdeckte. Doch ob er wirklich sah oder nur glaubte zu sehen, ob er ein unschätzbares Privileg genoß oder das Opfer eines phantastischen Traumes war, darüber kann ich mir kein Urteil anmaßen. Selbst die Umstände seines Todes, die meine Zweifel für immer beseitigten, erhellen nichts.

Der Leser muß sich also sein eigenes Urteil bilden.

Ich habe anzumerken vergessen, welche zufällige Bemerkung oder welche Kritik meinerseits einen so zurückhaltenden Mann dazu veranlassen konnte, sich mir anzuvertrauen. Ich glaube jedoch, er verteidigte sich gegen einen Vorwurf, den ich ihm gemacht hatte, den Vorwurf mangelnden Engagements und der Unzuverlässigkeit im Hinblick auf eine große öffentliche Bewegung, wodurch er mich enttäuscht hatte. Ganz plötzlich begann er. »Meine Gedanken sind völlig von einer Sache in Anspruch genommen …«, sagte er.

»Ich weiß«, fuhr er nach einer Pause fort, »ich habe anderes vernachlässigt. Es ist nämlich so – es handelt sich nicht um Geistererscheinungen und doch – es hört sich merkwürdig an, Redmond – ich bin heimgesucht. Ich bin durch etwas heimgesucht – das alles andere verblassen läßt, das mich mit Sehnsucht erfüllt …«

Er hielt inne, gehemmt durch jene englische Schüchternheit, die uns so oft überkommt, wenn wir von etwas Bewegendem, Ernstem oder Schönem sprechen wollen. »Du warst doch auch auf Saint Althelstan«, sagte er, und in dem Augenblick erschien mir das völlig irrelevant. »Nun« – und wieder verstummte er. Dann fing er an, zunächst sehr stockend, doch allmählich fließender, von einem Geheimnis in seinem Leben zu berichten, von der ihn heimsuchenden Erinnerung an eine Schönheit und ein Glück, die sein Herz mit unstillbarer Sehnsucht erfüllten und ihm alle Interessen und das Schauspiel des irdischen Lebens trist und ermüdend und sinnlos erscheinen ließen.

Nun, da ich den Schlüssel dazu habe, scheint es seinem Gesicht sichtbar aufgeprägt. Ich besitze ein Foto, auf dem dieser abwesende Blick eingefangen und verstärkt ist. Es erinnert mich an den Ausspruch einer Frau – einer Frau, die ihn sehr geliebt hatte. »Plötzlich«, sagte sie, »verliert er das Interesse. Er vergißt dich. Er macht sich keinen Deut aus dir – während du ihm direkt vor der Nase sitzt …«

Aber Wallace war nicht ständig so teilnahmslos, und wenn er sich auf eine Sache konzentrierte, konnte er äußerst erfolgreich sein. Seine Karriere war in der Tat voller Erfolge. Er ließ mich schon früh hinter sich zurück; er schwang sich weit über mich und machte sich einen Namen in der Welt, den ich mir jedenfalls nicht machen konnte. Ein Jahr fehlte ihm noch zur Vollendung seines vierten Lebensjahrzehnts, und es heißt nun, daß er gewählt worden wäre und sehr wahrscheinlich dem neuen Kabinett angehören würde, wäre er noch am Leben. Auf der Schule stach er mich stets mühelos aus – als wäre das ganz natürlich. Wir gingen fast die ganze Schulzeit zusammen auf das Saint Althelstan College in West Kensington. Er wurde in dieselbe Klasse wie ich aufgenommen, aber er verließ das College viel früher, in einer Aureole von Stipendien und ausgezeichneten Leistungen. Und ich glaube doch, daß ich ein recht guter Schüler war. Auf der Schule war es auch, daß ich zum erstenmal von der »Tür in der Mauer« hörte – von der ich ein zweites Mal erst einen Monat vor seinem Tode hören sollte.

Für ihn wenigstens war die Tür in der Mauer eine wirkliche Tür, die durch eine wirkliche Mauer zu einer unvergänglichen, wirklichen Welt führte. Davon bin ich jetzt überzeugt.

Und sie trat frühzeitig in sein Leben, als er ein kleiner Junge zwischen fünf und sechs Jahren war. Ich weiß noch, wie er den Zeitpunkt festzustellen versuchte, als er langsam und feierlich sein Bekenntnis ablegte. »Es gab da eine rote Weinranke«, sagte er, »von leuchtendem Uniformrot, in bernsteinklarem Sonnenschein vor einer weißen Mauer.« Das gehörte irgendwie zum Bild, obwohl ich nicht mehr deutlich weiß, wieso, und Blätter der Roßkastanie lagen auf dem sauberen Bürgersteig vor der grünen Tür. Die Blätter waren gelbgrün gefleckt, sie waren nicht braun oder schmutzig, so daß sie frisch gefallen sein mußten. Ich nehme an, das bedeutet Oktober. Ich halte jedes Jahr nach Roßkastanienblättern Ausschau, und ich sollte es also wissen.

»Wenn ich mich hierin nicht irre, war ich demnach ungefähr fünf Jahre und vier Monate alt.«

Er sei, meinte er, ein ziemlich frühreifes Kind gewesen – in einem außergewöhnlich frühen Alter lernte er sprechen, und er war so vernünftig und »altklug«, wie man es nennt, daß er eine Freiheit genoß, die anderen Kindern meist erst mit sieben oder acht Jahren zugebilligt wird. Seine Mutter war gestorben, als er zwei Jahre alt war, und er stand unter der weniger wachsamen und autoritären Obhut einer Kinderfrau. Sein Vater war ein strenger, stark beschäftigter Rechtsanwalt, der ihm wenig Aufmerksamkeit schenkte und Großes von ihm erwartete. Trotz seiner Aufgewecktheit erschien ihm das Leben grau und öde, glaube ich. Und eines Tages lief er fort. Er wußte nicht mehr, infolge welcher Unachtsamkeit er damals entwischen konnte, und auch nicht mehr, welchen Weg er auf den Straßen West Kensingtons einschlug. All das war im undurchdringlichen Nebel der Erinnerung verschwunden. Aber die weiße Mauer und die grüne Tür leuchteten deutlich hervor.

Die Erinnerung an das kindliche Erlebnis ließ den Schluß zu, daß er beim allerersten Anblick jener Tür ein eigenartiges Gefühl verspürte, eine Anziehungskraft, ein Verlangen, zur Tür zu gehen, sie zu öffnen und einzutreten. Und gleichzeitig war er fest davon überzeugt, daß es entweder unklug oder nicht recht von ihm war – er wußte nicht, welches von beiden –, dieser Anziehungskraft nachzugehen. Er versicherte, es sei merkwürdig, daß er von Anfang an – wenn das Gedächtnis ihm nicht einen seltsamen Streich spielte – wußte, daß die Tür unverschlossen war und daß er nach Belieben eintreten konnte.

Ich sehe die Gestalt des kleinen Jungen vor mir, gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Und ihm war auch ganz klar, daß sein Vater sehr ärgerlich wäre, wenn er durch diese Tür ginge, obwohl der Grund dafür nie zur Sprache kam.

Wallace beschrieb mir diese Augenblicke des Zögerns mit äußerster Präzision. Er ging dicht an der Tür vorbei, und dann schlenderte er mit den Händen in den Taschen und dem kindlichen Versuch zu pfeifen weiter, bis die Mauer zu Ende war. Dort befanden sich seiner Erinnerung nach eine Anzahl ärmlicher, schmutziger Läden und insbesondere ein Installateur- und Tapetengeschäft mit einem staubigen Durcheinander von Tonröhren, Bleiblechen, Wasserhähnen, Tapetenmusterheften und Farbbüchsen. Er stand davor und tat so, als ob er diese Dinge betrachtete, und verspürte ein begieriges, leidenschaftliches Verlangen nach der grünen Tür.

Dann, so erzählte er, hatte er einen Gefühlsausbruch. Er rannte auf sie zu, damit ihn nicht wieder Zögern überkäme; er stürzte mit ausgestreckter Hand durch die grüne Tür und ließ sie hinter sich zuschlagen. So kam er im Handumdrehen in den Garten, der ihn sein ganzes Leben lang nicht mehr losließ.

Es fiel Wallace sehr schwer, mir eine Vorstellung von jenem Garten, in den er gelangte, zu vermitteln.

Es lag dort etwas in der Luft, das freudig erregte, das einem ein Gefühl der Leichtigkeit und des Wohlbefindens verlieh und frohe Ereignisse erwarten ließ; es war etwas an dem Anblick, der alle Farben klar und rein und zart leuchten ließ. Sobald man eintrat, war man unsagbar glücklich – wie man nur in seltenen Augenblicken, und wenn man jung und fröhlich ist, auf dieser Welt glücklich sein kann. Und alles dort war schön …

Wallace dachte nach, ehe er weitersprach. »Siehst du«, sagte er mit dem zweifelnden Tonfall eines Mannes, der vor unglaublichen Dingen innehält, »es gab dort zwei große Leoparden … Ja, gefleckte Leoparden. Und ich hatte keine Angst. Da war ein langer, breiter Weg mit marmorgefaßten Blumenbeeten zu beiden Seiten, und diese zwei großen samtigen Raubtiere spielten dort mit einem Ball. Eins der Tiere sah hoch und kam auf mich zu, ein wenig neugierig, wie es schien. Es kam ganz dicht an mich heran, rieb sein weiches, rundes Ohr sehr sanft an der kleinen Hand, die ich ausstreckte, und schnurrte. Es war wahrhaftig ein verwunschener Garten. Jawohl. Wie groß er war? Oh, er erstreckte sich weithin, nach allen Richtungen. Ich glaube, in der Ferne sah man Hügel. Der Himmel mag wissen, wo West Kensington plötzlich geblieben war. Und irgendwie war es ganz so, als käme man nach Hause.

Weißt du, als die Tür hinter mir zufiel, vergaß ich sogleich die Straße mit ihren herabgefallenen Kastanienblättern, ihren Droschken und den Karren der Händler, ich vergaß die gravitationsähnliche Kraft, die mich zu Disziplin und Gehorsam nach Hause zurückzog, ich vergaß alles Zögern und alle Furcht, vergaß, was ich meinem Vater schuldig war, vergaß alle vertrauten Dinge dieses Lebens. Ich wurde im Handumdrehen ein sehr glücklicher und wunderseliger kleiner Junge – in einer anderen Welt. Es war eine Welt von anderer Beschaffenheit, das Licht war dort wärmer, klarer und milder, es lag ein Hauch von Frohsinn in der Luft, und in der Himmelsbläue schwammen sonnenbestrahlte Wölkchen. Und vor mir lag einladend dieser lange, breite Weg, gesäumt von unkrautfreien Beeten, auf denen Blumen üppig wucherten, und dann diese zwei großen Leoparden. Ich legte ihnen meine beiden kleinen Hände furchtlos auf das weiche Fell und liebkoste ihre runden Ohren und die empfindsamen Stellen unter den Ohren und spielte mit ihnen, und es war, als ob sie einen nach Hause Gekommenen begrüßten. Ich fühlte mich ganz wie ein Heimgekehrter, und als dann ein großes, hübsches Mädchen auf dem Weg erschien und lächelnd auf mich zukam und ›Nun?‹ zu mir sagte, mich hochhob und küßte und dann wieder niedersetzte und bei der Hand nahm, gab es kein Verwundern, sondern nur das herrliche Gefühl, daß alles in Ordnung war, und Heiteres fiel mir ein, das seltsamerweise irgendwie außerhalb meines Gesichtskreises geraten war. Zwischen Rittersporntrauben kamen breite, rote Stufen in Sicht, so erinnere ich mich, und da hinauf gingen wir zu einer großen Allee zwischen uralten, dunkelschattigen Bäumen. Die ganze Allee entlang aber, zwischen den rotrissigen Stämmen, befanden sich marmorne Ehrensitze und Statuen und ganz zahme und zutrauliche weiße Tauben …

Auf dieser kühlen Allee führte mich meine Freundin dahin, sie blickte zu mir herab – ich sehe die anmutigen Linien, das feinmodellierte Kinn ihres lieblich freundlichen Antlitzes noch vor mir – und stellte mir mit sanfter, angenehmer Stimme Fragen und erzählte mir etwas. Ich weiß, es war etwas Angenehmes, obwohl mir später nie einfallen wollte, worum es sich handelte … Dann kam ein Kapuzineräffchen, sehr sauber, mit rostbraunem Fell und Haselnußaugen, von einem Baum herab zu uns, lief neben mir her und sah freundlich grinsend zu mir auf und sprang dann auf meine Schulter. So gingen wir sehr glücklich auf unserem Weg dahin.«

Er machte eine Pause.

»Erzähl weiter«, bat ich.

»Ich erinnere mich an Kleinigkeiten. Wir kamen an einem Alten vorüber, der sinnend zwischen Lorbeerbüschen saß, und an einem Platz voll lustiger Papageien, und wir gelangten durch eine breite schattige Kolonnade zu einem großen kühlen Palast voller heiterer Brunnen, voll von schönen Dingen und allem, was das Herz begehrt. Und es gab da so viele Dinge und so viele Menschen; einige stehen noch deutlich vor mir, andere erscheinen undeutlicher; aber diese Menschen waren allesamt schön und freundlich. Auf irgendeine Weise – ich weiß nicht wie – wurde mir klar, daß sie mir alle wohlgesinnt waren und froh darüber, mich bei sich zu haben, und sie machten mich glücklich durch ihre Gesten, durch die Berührung ihrer Hände, durch das Willkommen und die Liebe in ihren Augen. Ja –«

Er sann eine Weile. »Ich fand dort Gespielen. Das bedeutete mir sehr viel, denn ich war ein einsamer, kleiner Junge. Sie spielten wunderbare Spiele in einem rasenbewachsenen Hof, wo es eine Sonnenuhr aus Blumen gab. Und wir spielten voll Zuneigung miteinander …

Aber merkwürdig, es gibt da eine Lücke in meiner Erinnerung. Ich kann mich nicht auf unsere Spiele besinnen. Niemals konnte ich das. Hinterher, als Kind, verbrachte ich lange Stunden mit dem Versuch, auch unter Tränen, mich zu erinnern, welche Formen jenes Glück hatte. Ich wollte alles noch einmal spielen – in meinem Kinderzimmer – für mich. Nein! Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, daß ich glücklich war und zwei liebe Spielkameraden hatte, die die meiste Zeit mit mir zusammen waren … Dann kam eine schwermütige, dunkelhaarige Frau mit ernstem, blassem Gesicht und träumerischen Augen, eine schwermütige Frau, die ein weiches langes Gewand von zartpurpurner Farbe trug und ein Buch in der Hand hielt; sie winkte mich zu sich und führte mich zu einer Galerie in einem Saal – obwohl meine Spielkameraden mich nicht gehen lassen wollten, ihr Spiel unterbrachen und mich nicht aus den Augen ließen, während ich fortgeführt wurde. ›Komm wieder zu uns!‹ riefen sie. ›Komm bald wieder zu uns!‹ Ich sah zu ihr auf, aber sie beachtete sie überhaupt nicht. Ihr Gesicht war sehr gütig und feierlich. Sie führte mich zu einem Sitzplatz auf der Galerie, ich stand neben ihr und wollte in ihr Buch sehen, als sie es auf ihrem Schoß öffnete. Es klappte auf. Sie zeigte darauf, und ich sah es mir staunend an, denn in den lebenden Seiten des Buches sah ich mich; die Geschichte handelte von mir, und alles kam darin vor, was mir seit meiner Geburt zugestoßen war …

Es war wunderbar für mich, denn die Seiten jenes Buches enthielten keine Bilder, sondern wirkliches Geschehen.«

Wallace machte eine feierliche Pause – er sah mich zweifelnd an.

»Erzähl weiter«, sagte ich. »Ich verstehe.«

»Es war wirkliches Geschehen – ja, es muß wirklich gewesen sein; die Menschen bewegten sich, und Dinge tauchten auf und verschwanden; meine liebe Mutter, die ich fast vergessen hatte; dann mein Vater, streng und aufrecht, die Diener, das Kinderzimmer, all die vertrauten Dinge daheim. Dann die Haustür und die belebten Straßen mit dem hin und her fließenden Verkehr. Ich sah mir das an und staunte und blickte dann wieder halb zweifelnd in das Gesicht der Frau und wendete die Seiten um, hier und da etwas überspringend, um mehr und immer mehr von dem Buch zu sehen. So kam ich schließlich bis dahin, wo ich unschlüssig draußen vor der grünen Tür in der langen weißen Mauer stand, und durchlebte den Konflikt und die Furcht noch einmal.

›Und weiter?‹ rief ich und hätte umgeblättert, aber die kühle Hand der ernsten Frau hielt mich zurück.

›Weiter?‹ sagte ich hartnäckig und kämpfte sanft mit ihrer Hand, zog mit meiner ganzen kindlichen Kraft ihre Finger hoch, und als sie nachgab und die nächste Seite erschien, beugte sie sich wie ein Schatten über mich und küßte mich auf die Stirn.

Aber die Seite zeigte nicht den verwunschenen Garten, die Leoparden nicht und auch nicht das Mädchen, das mich bei der Hand geführt hatte, und nicht die Spielkameraden, die mich nicht gehen lassen wollten. Sie zeigte eine lange, graue Straße in West Kensington zu der frostigen nachmittäglichen Stunde, bevor die Lampen angezündet werden; und dort stand ich, ein unglückliches kleines Wesen, laut schluchzend, obwohl ich mich mit aller Kraft zu beherrschen versuchte, und ich weinte, weil ich nicht zu meinen lieben Spielkameraden zurückkehren konnte, die mir nachgerufen hatten: ›Komm bald wieder zu uns! Komm bald wieder zu uns!‹ Da stand ich. Das war keine Buchseite, sondern rauhe Wirklichkeit; der verwunschene Garten und die mir wehrende Hand der ernsten Mutter, an deren Knien ich gestanden hatte, waren entschwunden – wohin waren sie entschwunden?«

Er hielt inne und starrte eine Zeitlang in das Feuer.

»O wie schmerzlich diese Rückkehr war!« murmelte er.

»Nun?« sagte ich, nachdem etwa eine Minute verstrichen sein mochte.

»Ich bedauernswertes Kerlchen! – wieder in diese graue Welt versetzt! Als ich so recht begriff, was mit mir geschehen war, gab ich mich meinem untröstlichen Kummer hin. Und die Beschämung und Demütigung, in aller Öffentlichkeit zu weinen, und meine schmachvolle Heimkehr sind mir noch heute gegenwärtig. Ich sehe wieder den wohlwollenden alten Herrn mit Goldbrille vor mir, der stehengeblieben war und mich ansprach, nachdem er mich zunächst mit seinem Schirm angetippt hatte. ›Armer Kleiner‹, sagte er; ›du hast dich wohl verlaufen?‹ – und ich war ein Londoner Junge von über fünf Jahren! Und er konnte es nicht lassen, einen freundlichen jungen Polizisten zu alarmieren, und eine Menschenmenge versammelte sich um mich, und so wurde ich nach Hause gebracht. Schluchzend, unter neugierigen Blicken und ängstlich kam ich aus dem verwunschenen Garten zurück zu den Stufen meines Vaterhauses.

Das ist, so gut ich mich daran erinnern kann, meine Vision von jenem Garten – dem Garten, dessen Bild mich immer noch verfolgt. Natürlich vermag ich nichts von jener unbeschreiblichen, durchscheinenden Unwirklichkeit zu vermitteln, jener Abweichung von der gewöhnlichen Erfahrungswelt, die über allem lag; aber das – das ist es, was sich ereignete. Wenn es ein Traum gewesen war, bin ich sicher, daß es ein Wachtraum und ein ganz und gar außergewöhnlicher Traum war … Hm! – natürlich folgte nun ein schreckliches Ausfragen von seiten meiner Tante, meines Vaters, der Kinderfrau, der Gouvernante – von allen …

Ich versuchte es ihnen zu erzählen, und mein Vater verabreichte mir meine erste Tracht Prügel für meine Lügen. Als ich es später meiner Tante erzählen wollte, bestrafte sie mich erneut wegen meiner bösartigen Verstocktheit. Dann wurde, wie gesagt, allen verboten, mir zuzuhören, auch nur ein Wort davon anzuhören. Man entzog mir sogar für eine Zeit meine Märchenbücher – weil ich eine zu ›lebhafte Phantasie‹ hätte. Wie? Ja, das taten sie! Mein Vater war von der alten Schule … Und ich mußte mit meiner Geschichte ganz allein fertig werden. Ich erzählte sie flüsternd meinem Kissen – meinem Kissen, das oft feucht und salzig war von meinen Kindertränen. Und zu meinen förmlichen und weniger leidenschaftlichen Gebeten fügte ich stets die eine, von Herzen kommende Bitte: ›Lieber Gott, laß mich bitte von dem Garten träumen. O bring mich wieder in meinen Garten! Bring mich wieder in meinen Garten!‹ Ich träumte oft von dem Garten. Vielleicht habe ich einiges hinzugefügt oder auch manches verändert; ich weiß es nicht … Das alles stellt ja einen Versuch dar, aus bruchstückhaften Erinnerungen ein sehr frühes Erlebnis zu rekonstruieren. Zwischen dieser Erinnerung und den späteren Kindheitserinnerungen tut sich eine Kluft auf. Es kam eine Zeit, in der es unmöglich schien, daß ich je wieder von diesem wunderbaren Erlebnis sprechen sollte.«

Ich stellte eine naheliegende Frage.

»Nein«, sagte er. »Ich kann mich nicht entsinnen, daß ich in jenen frühen Jahren jemals versucht hätte, den Weg zum Garten wiederzufinden. Das erscheint mir jetzt seltsam, aber ich glaube, daß ich sehr wahrscheinlich nach diesem unglücklichen Abenteuer strenger beaufsichtigt wurde, damit ich nicht noch einmal wegliefe. Nein, bevor wir uns kennenlernten, versuchte ich nicht wieder, den Garten zu finden. Und ich glaube, es gab eine Zeit – so unglaublich mir das jetzt erscheint –, da vergaß ich den Garten vollkommen – mit acht oder neun Jahren mag das gewesen sein. Kannst du dich an mich als kleinen Jungen auf Saint Althelstan erinnern?«

»Ganz gut!«

»In jener Zeit gab es doch nichts an mir, was einen geheimen Traum vermuten ließ?«

2

Er sah plötzlich mit einem Lächeln hoch.

»Hast du einmal Nordwestpassage mit mir gespielt? … Nein, du hattest ja natürlich einen anderen Schulweg!«

»Es war ein Spiel von der Art«, fuhr er fort, »wie sie jedes phantasiebegabte Kind den ganzen Tag lang spielt. Die Idee war die Entdeckung einer Nordwestpassage zur Schule. Der Schulweg war unkompliziert; das Spiel bestand in der Suche nach einem Weg, der nicht so unkompliziert war. Ich ging zehn Minuten früher weg, wandte mich in eine fast hoffnungslose Richtung und arbeitete mich dann durch ungewohnte Straßen bis zu meinem Ziel. Und eines Tages steckte ich plötzlich in einem Gewirr ziemlich ärmlicher Straßen jenseits von Campden Hill, und ich begann schon zu glauben, das Spiel diesmal verloren zu haben und zu spät zur Schule zu kommen. Ziemlich verzweifelt versuchte ich eine Straße, die eine Sackgasse zu sein schien, und stieß an ihrem Ende auf eine Passage. Mit neuer Hoffnung eilte ich hindurch. ›Ich schaffe es noch‹, sagte ich und ging an einer Reihe schmutziger, kleiner Läden vorbei, die mir merkwürdig bekannt vorkamen, und sieh da, ich stand vor meiner langen, weißen Mauer und der grünen Tür, die in den verwunschenen Garten führte!

Es durchzuckte mich. Dann war also jener Garten, jener wunderbare Garten, doch kein Traum!«

Er hielt inne.

»Ich nehme an, mein zweites Erlebnis mit der grünen Tür ist bezeichnend für den weltweiten Unterschied, der zwischen dem geschäftigen Leben eines Schuljungen und der unbegrenzten Muße eines Kindes besteht. Jedenfalls dachte ich bei diesem zweiten Mal nicht einen Augenblick daran, sofort einzutreten. Weißt du … Zunächst einmal hatte ich den Kopf damit voll, rechtzeitig zur Schule zu kommen – war bedacht, meinen Pünktlichkeitsrekord nicht zu brechen. Sicher muß ich wenigstens ein kleines Verlangen gespürt haben … Aber ich scheine mich der Anziehungskraft der Tür hauptsächlich zu erinnern als ein weiteres Hindernis für mein vordringlichstes Ziel, zur Schule zu gelangen. Die Entdeckung, die ich da gemacht hatte, interessierte mich natürlich ungeheuer – beim Weitergehen dachte ich nur daran –, aber ich ging weiter. Es hielt mich nicht auf. Im Vorbeilaufen zog ich meine Uhr heraus und sah, daß mir noch zehn Minuten blieben, und dann lief ich bergab in vertraute Umgebung. Ich erreichte die Schule, atemlos allerdings und in Schweiß gebadet, doch pünktlich. Ich kann mich noch erinnern, wie ich Mantel und Hut aufhängte … Ging geradewegs daran vorbei und ließ sie hinter mir. Verrückt, was?«

Er sah mich nachdenklich an. »Natürlich wußte ich damals noch nicht, daß sie nicht immer dasein würde. Schuljungen haben eine begrenzte Vorstellungskraft. Vermutlich dachte ich, es sei prima, daß sie dort war, und ich würde mich schon wieder einfinden; aber die Schule zog an mir. Wahrscheinlich war ich an jenem Vormittag ziemlich zerfahren und unaufmerksam, weil ich mir, soviel ich konnte, von den schönen, seltsamen Menschen ins Gedächtnis zurückrief, die ich unmittelbar darauf wiedersehen sollte. Seltsam genug hegte ich keinen Zweifel, daß sie erfreut sein würden, mich zu sehen … Ja, an jenem Morgen muß mir der Garten als ein lustiger Ort erschienen sein, zu dem man in den Pausen einer anstrengenden Schulkarriere Zuflucht nehmen könnte.

An dem Tag ging ich überhaupt nicht hin. Der nächste Tag war zur Hälfte frei, und das mag mich dazu bewogen haben. Vielleicht brachte mir auch meine Unaufmerksamkeit Strafen ein, die die für den Umweg nötige Zeit in Anspruch nahmen. Ich weiß nicht. Ich weiß aber, daß mich in der Zwischenzeit der verwunschene Garten so beschäftigte, daß ich es nicht für mich behalten konnte.

Ich erzählte es – wie hieß er doch? – einem Jungen, der wie ein Frettchen aussah und den wir Squiff nannten.«

»Hopkins«, sagte ich.

»Ja, Hopkins war es. Ich habe es ihm nicht gern erzählt. Ich hatte ein Gefühl, als sei es irgendwie gegen die Spielregeln, aber ich tat es doch. Wir hatten ein Stück gemeinsamen Heimwegs; er war gesprächig, und wenn wir uns nicht über den verwunschenen Garten unterhalten hätten, wäre ein anderes Thema daran gewesen, und es war mir unerträglich, an etwas anderes zu denken. So plauderte ich es aus.

Nun, er verriet mein Geheimnis. Am nächsten Tag wurde ich in der Spielpause von einem halben Dutzend größerer Jungen umringt, die mich ein bißchen aufzogen und begierig waren, mehr von dem verwunschenen Garten zu hören. Da war der große Fawcett – kannst du dich noch an ihn erinnern? – und Carnaby und Morley Reynolds. Du warst wohl nicht zufällig dabei? Nein, ich glaube, daran hätte ich mich erinnert …

Ein Junge ist ein Wesen mit merkwürdigen Gefühlen. Trotzdem ich mich insgeheim dafür verachtete, war ich ein wenig geschmeichelt, daß ich die Aufmerksamkeit dieser großen Jungen erregte. Ich entsinne mich besonders eines freudigen Augenblicks, den mir ein Lob von Crawshaw bereitete – du erinnerst dich wohl noch an Crawshaw den Älteren, den Sohn des Komponisten Crawshaw? –, der sagte, es sei die beste Lüge, die er jemals gehört habe. Aber gleichzeitig empfand ich beim Erzählen dessen, was in Wirklichkeit ein heiliges Geheimnis war, im Innern sehr schmerzlich die Scham. Der brutale Fawcett machte einen Witz über das Mädchen in Grün …«

Wallace’s Stimme sank bei der noch lebendigen, beschämenden Erinnerung. »Ich tat so, als hätte ich es überhört«, sagte er. »Nun, dann nannte mich Carnaby plötzlich einen kleinen Lügner und stritt mit mir, als ich sagte, es sei wahr gewesen. Ich sagte, ich wisse, wo die grüne Tür zu finden sei, ich könnte sie alle in zehn Minuten hinführen. Carnaby wurde zum regelrechten Tugendwächter und sagte, das müßte ich auch – und hätte meine Worte zu beweisen oder dafür zu büßen. Hat dir Carnaby mal den Arm umgedreht? Dann kannst du vielleicht nachfühlen, wie es mir erging. Ich schwor, daß meine Geschichte wahr sei. Damals gab es keinen in der ganzen Schule, der einen vor Carnaby in Schutz nehmen konnte, obwohl Crawshaw ein gutes Wort einlegte. Carnaby hatte sein Opfer. Ich wurde aufgeregt und bekam rote Ohren und hatte auch etwas Angst. Ich benahm mich insgesamt wie ein dummer Junge, und das Ergebnis war schließlich, daß ich, statt allein meinen verwunschenen Garten zu suchen, mit erhitzten Wangen, heißen Ohren, Tränen in den Augen und in der Seele brennende Scham und Jammer einem Trupp von sechs spöttelnden, neugierigen und mir drohenden Mitschülern den Weg zeigte.

Wir haben die weiße Mauer und die grüne Tür nicht gefunden …«

»Du willst sagen –?«

»Ich will sagen, daß ich sie nicht finden konnte. Ich hätte sie gefunden, wenn es mir möglich gewesen wäre.

Auch später, als ich allein gehen konnte, vermochte ich sie nicht zu finden. Ich habe sie nie gefunden. Es scheint mir jetzt, als wäre ich meine ganze Schulzeit lang nach ihr auf der Suche gewesen, aber ich bin nie mehr auf sie gestoßen – nie.«

»Die Jungs – waren sie sehr widerlich?«

»Höllisch … Carnaby hielt Gericht über mich wegen böswilligen Lügens. Ich weiß noch, wie ich mich nach Hause und in mein Zimmer stahl, um die Spuren meiner Tränen zu verbergen. Aber als ich mich schließlich in den Schlaf weinte, war es nicht wegen Carnaby, sondern wegen des Gartens, wegen des schönen Nachmittags, auf den ich gehofft hatte, wegen der anmutigen, freundlichen Frau und der wartenden Spielkameraden und des Spiels, das ich neu zu lernen gehofft hatte, jenes wunderbare vergessene Spiel …

Du