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Karl Plepelits

Vöglein, Vöglein in der Hand





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1

Man möchte es kaum für möglich halten, aber es gab tatsächlich einmal eine Zeit, als man weite Gesellschaftsreisen, etwa in die Türkei oder auf die Iberische Halbinsel, noch in aller Regel zur Gänze im Bus zurücklegte und auf die angeblich uninteressante (aber für die meisten unerschwinglich teure) Anreise im Flugzeug verzichtete. Aber damals war das Reisepublikum eben noch unglaublich anspruchslos und nicht annähernd so bequem, oder sagen wir, verwöhnt wie heute. Auch was etwa Hotels und Verpflegung betraf, war man im Vergleich zu heute noch so was von bescheiden. Man war einfach froh, sich solche Abenteuer überhaupt leisten zu können.

In jener Ära der Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit hatte ich einmal die Ehre, als Reiseleiter eine ganze Busladung voller abenteuerlustiger und kulturbeflissener Menschen nach England und Schottland zu begleiten und ihnen Land und Leute näherzubringen und die Sehenswürdigkeiten vorzustellen. Es war meine allererste Reiseleitung überhaupt. Und ich ahnte nicht, dass das Schicksal oder der Liebesgott, oder welcher Gott auch immer, nicht weniger als zwei tolle Überraschungen für mich auf Lager hatte.

Es geschah an einem freundlichen Sommermorgen des Jahres 1978 vor dem Grazer Hauptbahnhof. Ich stand vor dem Einstieg zu dem Luxusbus, der uns bis Schottland und wieder zurück bringen sollte, begrüßte die Reiseteilnehmer, wie sie eben eintrudelten, stellte mich als ihr Reiseleiter vor, überreichte jedem einen Sitzplan und verwies sie an Poldl, meinen Fahrer, der ihnen das Gepäck abnahm und im Kofferraum verstaute (und der, wie sich bald herausstellen sollte, stets zu Scherzen aller Art aufgelegt war).

Da traten zwei Damen auf mich zu, und die Ältere von ihnen stellte ihren Koffer ab, warf die Hände in die Höhe und rief mit enthusiastischer Stimme: „Ja, Gottfried, also bist du’s wirklich!“ Und ich wünschte mir vor Verlegenheit ein Mauseloch, um mich darin zu verkriechen. Denn sie kam mir zwar unheimlich bekannt vor. Aber verdammt, wo gab ich sie nur hin?

„Ja, sag, kennst du mich nicht mehr? Maria. Aber die meisten nennen mich Mitzi.“

Ach, die Mitzi, meine einstige Bettgenossin und Ehefrau, als wir beide noch klein waren und in Melk an der Donau lebten! Wie kommt die auf einmal nach Graz?

„Mitzi! Ich glaub’s nicht. Wie kommst denn du nach Graz?“

Sie lachte hell auf. Wie vertraut dieses Lachen klingt und wie angenehm, dachte ich und fühlte mich sofort in unsere gemeinsame Kindheit zurückversetzt.

Ja, damals mussten (oder durften) wir des Öfteren miteinander schlafen. Ich weiß, das klingt jetzt haarsträubend skandalös. Aber in Wirklichkeit war unser gemeines Schlafen total harmlos. Faktum ist: Meine und Mitzis Eltern waren befreundet. Und immer dann, wenn ein Elternpaar am Abend ausging, wurden wir zwei Kinder in der jeweils anderen Familie zusammengesteckt, soll heißen, mussten (oder durften) wir zusammen in einem Bett, unter derselben Decke, schlafen.

Das taten wir übrigens ausgesprochen gern. Denn dabei kamen wir uns ungeheuer erwachsen vor und fühlten uns wie ein richtiges Ehepaar. Und falls nun jemand im Detail wissen möchte, was wir unter der Decke so trieben, so lautet die richtige Antwort: Nichts. Gar nichts. Wir schliefen einfach. Oder, um es noch deutlicher zu sagen: Wir schlummerten. Denn wir waren völlig ahnungslose Engel. Wir wären nie auf die Idee gekommen, dass man da irgendetwas treiben könnte. Und unsere Eltern hatten ganz offensichtlich nicht die geringsten Zweifel, es könnte anders sein.

(Den heutigen Kindern darf man das nicht erzählen. Sie dürfen diesen Bericht auch nicht lesen. Sie lachen sich ja tot, wenn sie so was hören. Natürlich sind sie schon mehr oder weniger aufgeklärt und haben zumindest eine dunkle Ahnung vom Unterschied zwischen Männlein und Weiblein und dessen Zweck. Wir hingegen – ach Gott, wir waren ja so was von unaufgeklärt. Unschuldig nannte man es damals.)

 

2

Fast zwei Jahrzehnte waren seither ins Land gezogen, und wir hatten uns längst aus den Augen verloren, Mitzi und ich. „Unschuldig“ war ich natürlich schon längst nicht mehr. Und ob das bei der Mitzi sehr viel anders war, das bezweifelte ich stark.

Nun also noch einmal die große Frage: Wie kommt die Mitzi auf einmal nach Graz? (Bei mir selber war es einfach der Beruf.)

„Sehr einfach“, erwiderte sie fröhlich. „Im Auto meines Mannes. Er hat uns abgeliefert, seine Schwester und mich.“

Und sie deutete auf die Dame neben ihr, die sich, süß lächelnd, als Johanna vorstellte, und auf ein im Hintergrund lauerndes Mannsbild. Doch damit war unsere Plauderei auch schon beendet, denn hinter diesem warteten bereits die Nächsten, um feierlich in meine Herde aufgenommen zu werden. Mitzi und ihren Ehemann ließ ich aber trotzdem nicht aus den Augen, und mir fiel auf, dass nur sie und ihre Schwägerin einstiegen, nachdem sie sich beide mit einem flüchtigen Küsschen von ihm verabschiedet hatten. Folglich gedachte Mitzi die Reise ohne eheherrliche Aufsicht zu unternehmen. Die Schwägerin als Anstandswauwau musste offenbar genügen.

Von da an beschäftigte mich hauptsächlich die Frage, ob der Schatten des gestrengen Eheherrn bis nach England und Schottland reicht, oder ob sich Mitzi traut, unser altes Ritual wieder aufleben zu lassen und mit mir das Bett zu teilen. Schließlich sind wir doch ein altes Ehepaar, nicht wahr, haben aber noch niemals eine Hochzeitsnacht zelebriert (oder wie man da sagt). Eigentlich wäre es doch hoch an der Zeit, den Rat Hesiods, des ältesten Dichters der Griechen nach Homer, zu befolgen: Baust du ein Haus, so lass dieses unvollendet nicht stehen. Nur leider, die Schwägerin ist bestimmt als Schatten des gestrengen Eheherrn gedacht. Was ist da zu tun? Den Schatten ablenken, außer Kraft setzen, durch die Sonne ersetzen? Ja, aber wie? Ob sich Poldl als Sonnengott hergibt? Ihn habe ich ja selber eben erst kennengelernt. Immerhin ist sie, die Schwägerin, ungewöhnlich attraktiv.

Ich weiß, das klingt jetzt alles furchtbar unmoralisch. Immerhin war ich damals bereits ein altgedienter Ehemann – nun ja, „altgedient“ ist wohl etwas übertrieben. Aber immerhin, sieben Jahre waren wir jetzt schon verheiratet, die Erika und ich. Und ich muss gestehen, dass wir uns inzwischen schon einige Freiheiten erlaubt hatten, alle beide. Was nichts daran änderte, dass ich meine Frau noch immer genauso liebte wie am ersten Tag. Nur, umgekehrt war dies leider nicht der Fall. Von heißer Liebe konnte man bei Erika inzwischen nicht mehr sprechen. Schlimmer noch, sie hatte sich schon vor geraumer Zeit einen Galan angelacht. Und seither kam ich überhaupt nicht mehr in den Genuss ihres Körpers. Er gehörte ja nicht mir, und mein Motto hat immer schon gelautet: Frauen soll man nie bedrängen. Infolgedessen trat ich diese Englandreise in denkbar ausgehungertem Zustand und überdies enttäuscht, frustriert, gedemütigt an. Und ich konnte mich nicht entscheiden: Sollte ich die Finger vom Weibervolk lassen, oder sollte ich hoffen, mir unter den Damen meiner Reisegruppe ein Betthäschen aufreißen zu können? An und für sich hatte ich mir ja vorgenommen, als Reiseleiter keusch und enthaltsam zu bleiben, nicht weil ich plötzlich einen Rückfall in meine alte „Unschuld“ und Tugendhaftigkeit erlebt hätte, sondern einfach, weil ich nicht sicher war, ob man an einer eventuellen Affäre Anstoß nehmen würde und ich deshalb diesen Job, der mir viel Freude zu machen versprach, verlieren könnte. Andererseits – siehe oben.

Mit Mitzi zu plaudern gelang mir erst nach der Abfahrt. Da forderte mich nämlich Poldl auf, ihm eine „Stewardess“ zu präsentieren, die bereit wäre, den Mitreisenden aus seinen Vorräten bei Bedarf Getränke zu servieren und Kaffee oder Tee zu brauen. Also marschierte ich durch die Reihen zu ihr zurück, fragte sie, ob sie vielleicht als sogenannte Stewardess fungieren möchte, und versetzte damit beide Damen in die allergrößte Begeisterung: O ja, das würden sie gerne machen, und zwar gemeinsam. Ich stellte sie feierlich Poldl und meinen Leuten als „unsere guten Geister“ vor. Und der Erfolg? Dankbarer Applaus vonseiten der Leute und anerkennende Blicke vonseiten des Poldl, falls ich sie und dazu sein Mienenspiel richtig gedeutet habe.

Um mich dessen zu vergewissern, sprach ich ihn während einer der nächsten Fahrtpausen mit gedämpfter Stimme darauf an.

Und er? „Superkäfer, alle zwei. Besonders die Jüngere.“

Und da kam mir eine Idee. Denn mittlerweile war für mich offensichtlich, dass er kein Kostverächter war und kein Kind von Traurigkeit.

„Heißt das, du stehst auf sie?“

„Auf die Jüngere? Na, und wie. Und du?“

„Ich? Auf die Mitzi, die Ältere. Weißt du, sie ist eine Jugendfreundin von mir. Nur ist sie eben inzwischen verheiratet.“

„Na, und? Ist das ein Grund?“

„An und für sich nicht. Aber sie hat ja die Schwägerin als Anstandswauwau mit.“

„Dann braucht man also nur dem Wauwau ein schönes Stück Wurst hinzuhalten, und schon hast du freie Hand.“

„Genau das habe ich mir gedacht. Und der Schwägerin würdest also du ...? Damit wäre uns ja beiden gedient.“

„Allen vieren, willst du sagen, wie?“

 

3

Noch am selben Tag schritten wir zur Tat. Übernachtet wurde in einem einsam gelegenen Hotel nahe der Autobahn in der Gegend von Ulm. Nach dem Abendessen postierten wir uns gemeinsam vor Mitzi und Johanna auf und luden sie „als vorläufige Danksagung für ihre guten Dienste“ zu einem gemütlichen Abendspaziergang ein. Und tatsächlich ließ es sich in der abendlichen Dämmerung herrlich durch die umliegenden Wiesen und Wälder spazieren. Wie von selbst bildeten sich rasch zwei Paare: Johanna und Poldl hinten, Mitzi und ich vorne. Mitzi freute sich ganz offensichtlich, einen aufmerksamen Zuhörer zu haben und ihre ganze Lebensgeschichte vor mir ausbreiten zu können. Und diese lautete, kurz gefasst: Sie habe während des Studiums in Wien einen Studenten der Veterinärmedizin kennen und lieben gelernt und geheiratet.

„Und deshalb lebe ich jetzt als Gattin eines Tierarztes in einem Dorf in der Oststeiermark.“

„Und bist glücklich?“, warf ich in meiner vorlauten Art ein.

„Aber ja, sicher.“

Pause.

Na ja, ich musste die Sache irgendwie anders angehen.

„Sag, Mitzi“, begann ich erneut, „denkst du auch noch hie und da an unsere Ehe? In gewisser Weise bin ich ja dein erster Mann.“

Mitzi lachte so heftig, dass sie sich verschluckte und husten musste. „Mein erster Mann, das ist gut. Das muss ich meinem Sixtus erzählen.“

„Du, lieber nicht. Sonst werde ich am Ende noch Opfer eines Eifersuchtsmordes.“

„Aber geh. Er weiß ja, dass er sich auf mich verlassen kann.“

„Aha.“

Erneute Pause.

„Aber schön wär’s schon“, fuhr ich fort, „wenn wir wieder einmal ausprobieren könnten, wie das ist, wenn wir zusammen im Bett liegen.“

Wieder lachte Mitzi herzlich. „Na, du hast Ideen. Wir sind doch keine Kinder mehr.“

„Eben. Darum.“

Diesmal lachte Mitzi nur kurz. Danach wurde sie ernst, als hätte sie sich plötzlich an etwas Wichtiges erinnert, schaute mich mit tiefgründigem Blick an und sagte in ebenso ernstem Ton: „Du, Gottfried, der Sixtus und ich, wir führen selbstverständlich eine christliche Ehe, nicht so eine neumodische, wo jeder tut, was er will. Ist das bei euch anders?“

Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss, und war froh, dass die Dämmerung schon so weit fortgeschritten war, dass Mitzi das Glühen meiner Wangen nicht mehr ohne weiteres erkennen konnte.

„Hm“, machte ich zögernd, „weißt du, Mitzi, das lässt sich jetzt nicht so einfach beantworten.“

„Also nein? Das heißt, ja? Und ich dachte immer, du bist genauso gut katholisch erzogen wie ich.“

„Bin ich ja auch. Aber inzwischen ...“

„Bist du nicht mehr so gut katholisch?“

„Nein.“

„Komisch. Bei mir ist es umgekehrt. Der Sixtus ...“

„Hat dich noch katholischer gemacht?“

„Ja, sozusagen. Er hat mir gezeigt, dass mein früherer Glaube lau und oberflächlich war, und hat mich in gewissem Sinn bekehrt.“

„Bekehrt? Wie das? Du warst doch nie eine Ungläubige, oder?“

„Das natürlich nicht. Aber ... Weißt du, vom Sixtus habe ich Folgendes gelernt. Es gibt innerhalb der katholischen Kirche zwei Richtungen oder Strömungen, oder wie ich das nennen soll. Die eine versucht den Glauben an die moderne Welt anzupassen, und das geht klarerweise nur, indem die Glaubenswahrheiten verfälscht oder aufgeweicht oder einfach ignoriert werden. Davon war ich während des Studiums schon ziemlich angesteckt. Der Sixtus war dagegen immer ein Rechtgläubiger, ein Vertreter der papsttreuen Richtung, die die Glaubenswahrheiten in ihrer ganzen Strenge zu bewahren sucht und es für notwendig hält, die moderne Welt an den Glauben anzupassen, nicht umgekehrt, die also, mit einem Wort, den Glauben rein erhalten will. Und dazu hat mich der Sixtus quasi bekehrt.“

„Aha.“

„Und so ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, gemäß den Vorschriften der Religion auch unsere Ehe rein zu erhalten.“

„Aha.“

Na ja, nun wusste ich, wohin mich mein Versuchsballon geführt hatte, und kehrte ernüchtert zur Erde zurück und ließ mich weiterhin über die Vorzüge des wahren Christentums, wie Mitzi es nannte, belehren und hörte andächtig zu und bemühte mich, ja nicht zu widersprechen, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen. Denn so etwas, das wusste ich schon lange, vertragen richtige Christen schlecht.