Hurentochter

HYBRID VERLAG

Ebookausgabe

01/2019

 

 

 

 

© by Milena Reinecke

© by Hybrid Verlag, Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2019 by CWD, Homburg

Lektorat: Paul Lung, Nicole Chisholm

Autorenfoto: Julia Iparraguirre Rodiguez

 

 

Coverbild ›Auf Null gesetzt‹

© 2018 by CWD, Homburg

Coverbild ›Die Gefühle der Anderen‹

© 2018 by Galax Acheronian

 

ISBN 978-3-946-82055-0

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

 

Milena Reinecke

 

Hurentochter

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jugenddrama

 

Inhaltsverzeichnis

Prolog – Früher

Kapitel 1 – Jetzt

Kapitel 2 – Amelie

Kapitel 3 – Linie 1

Kapitel 4 – Einblick

Kapitel 5 – Langweilig

Kapitel 6 – Genug

Kapitel 7 – Streberfreundinnen

Kapitel 8 – Kirche

Kapitel 9 – Begegnung

Kapitel 10 – Morgen

Kapitel 11 – Damals

Kapitel 12 – Gitarrenunterricht

Kapitel 13 – Rollentausch

Kapitel 14 – So kann’s gehen

Kapitel 15 – Wodka

Kapitel 16 – Simon

Kapitel 17 – Grau

Kapitel 18 – Stammbaum

Kapitel 19 – Arschloch

Kapitel 20 – Erinnerungen

Kapitel 21 – Unfähig

Kapitel 22 – Samstag

Kapitel 23 – Eins

Kapitel 24 – Gestern Nacht

Kapitel 25 – Alter Bahnhof in Schöneberg

Kapitel 26 – Frau Gerlach

Kapitel 27 – Ein Bruder

Kapitel 28 – Heim

Kapitel 29 – Opfer

Kapitel 30 – Auf ein Neues

Kapitel 31 – Schnell

Kapitel 32 – Risiko

Kapitel 33 – Anschließend

Kapitel 34 – Notwehr

Kapitel 35 – Rauschen

Kapitel 36 – Mondscheinsonate

Kapitel 37 – Morgen

Kapitel 38 – Gartenfeier

Epilog – Hinterher

Prolog – Früher

 

~ Antonia ~

 

Früher ist Mama immer beim Vorlesen der Gutenachtgeschichte eingeschlafen. Amelie und ich hatten die Augen geschlossen und nuckelten an unseren Daumen, auch wenn wir schon längst zu alt dafür waren und man es uns hätte abgewöhnen müssen.

Ich hörte fast nie wirklich zu, wenn Mama las. Es ging mir nur um das Prinzip, dieses Ritual des Gutenachtgeschichte-Vorlesens. Es ging mir darum, Zeit mit Mama zu verbringen, ihrer vielleicht gar nicht unbedingt schönen Stimme zu lauschen. Es ging mir darum, etwas zu haben, worauf ich mich den Tag über freuen konnte. Etwas, das immer so bleiben würde, dachte ich.

Gewissheit.

Wenn ich morgens aufwachte und keinen Sinn in der mir bevorstehenden Tätigkeit sah – erst im Kindergarten, dann im Schulunterricht der ersten und zweiten Klasse – wusste ich wenigstens, abends würde es schön werden, so wie immer. So wie immer. Das war mir unheimlich wichtig. Ich weiß nicht, für mich reichte es an etwas Heiliges heran, dieses Im-Arm-Liegen, während Mama las.

Irgendwann schlief Mama immer ein, dann stellte ich das Buch ins Regal, schaltete das Licht aus, nahm Amelie an die Hand und wir gingen ins Kinderzimmer rüber zum Schlafen. Wir hörten selten eine Geschichte zu Ende. Mir war das auch egal. Mir ging es darum, Zeit mit Mama zu verbringen – und nicht nur, wenn sie zufällig mal da war und dann auch sofort wieder weg. Früher war sie zum Gutenachtgeschichte-Vorlesen immer da. Und das war auch das Einzige, was mir wirklich wichtig war. Ich weiß nicht, ob das Amelie auch so ging. Ich weiß überhaupt nicht, was Amelie wichtig war, ich weiß nicht, was ihr wichtig ist, ich habe das Gefühl, ich kenne sie gar nicht wirklich. Gar nicht mehr? Keine Ahnung. Habe ich sie je gekannt? Ich habe mich Amelie gegenüber immer so verhalten wie die ältere Schwester, obwohl ich bis heute niemand sagen kann, ob das tatsächlich stimmt. Vielleicht bin ich einige Minuten früher aus Mamas Bauch rausgekommen, vielleicht aber auch Amelie, wir haben Mama nie gefragt. Eigentlich macht es auch keinen Unterschied. Amelie ist immer meine kleine Schwester gewesen.

Und das war für uns beide gut so, glaube ich.

Dass Mama nachts viel weg war und manchmal morgens nicht da, um uns Frühstück zu machen, hatte ich schon früh registriert und notgedrungen akzeptiert. Doch als wir vielleicht acht oder neun waren, kam Mama manchmal den ganzen Abend über nicht nach Hause. Damit fiel für mich das Schönste des Tages, das Gutenachtgeschichte-Vorlesen, auch einfach weg. Amelie ging sofort nach dem Abendessen zu Bett und wenn ich, nachdem ich den Tisch abgeräumt und den Abwasch erledigt hatte, zu ihr ins Zimmer kam, schlief sie schon tief und fest. Ich kuschelte mich dazu, aber ich bin nie sofort eingeschlafen. Ich weinte, oft sogar, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Amelie das überhaupt bemerkte. Ich fragte mich oft, ob Amelie überhaupt irgendetwas bemerkte. Bis vor Kurzem habe ich mich das gefragt. Jetzt frage ich mich zu viel anderes.

Kapitel 1 – Jetzt

 

~ Antonia ~

 

»Ich hab dich lieb, Antonia.«

Und dann lächelt Mama, und ich sehe, dass ihre Hände zittern, als sie zur Türklinke greift.

Ich sage nicht »Ich dich auch«, obwohl es stimmt. Vielleicht, weil ich mich gerade frage, warum das eigentlich noch stimmt.

Weil sie meine Mutter ist, ganz einfach.

Nein, ich glaube eher, ich sage es nicht, weil ich ihr ein klein wenig ein schlechtes Gewissen machen will. Damit sie was zum Nachdenken hat.

Ich habe keine Ahnung, wann sie wiederkommt, aber immer, wenn sie an Amelie und mich denken wird, soll sie sich an diesen Moment erinnern und daran, dass ich ihr »Ich hab dich lieb« nicht erwidert habe. Sie soll sich schuldig fühlen, finde ich, ein bisschen wenigstens – und hasse mich für diesen Gedanken, der nicht nur böse, sondern auch dumm ist.

Denn ich habe so lange nicht mehr richtig mit ihr geredet, dass ich eigentlich gar nicht weiß, ob sie überhaupt noch genug denkt, um sich schuldig fühlen zu können. Vielleicht ist ihr noch nicht einmal aufgefallen, dass ich nicht »Ich dich auch« gesagt habe.

 

Die Tür fällt ins Schloss.

Vielleicht bin ich auch bloß die Einzige, die so lang über ein paar Worte nachdenkt. Damit mache ich es mir sicher nicht einfacher. Vielleicht sollte ich es einfach lassen. Wenn man das nur so einfach abstellen könnte.

Und jetzt ist sie weg.

Ich gehe ins Badezimmer, mache den Klodeckel zu und öffne das Fenster, das den Blick auf die Hauptstraße freigibt. Kalte Luft zieht herein, aber mit ihr weder Erkenntnis noch Emotionen. Ich drücke auf den Lichtschalter, doch nichts passiert. Die Glühbirne ist neulich Nacht durchgebrannt, erinnere ich mich dunkel, und setze mich auf den Klodeckel.

 

»Pascal ist okay«, hat Mama gemeint. »Ehrlich, kannst du mir glauben. Wir schaffen das zusammen, Pascal und ich, davon runterzukommen. Ich will mir das Zeug nicht mehr spritzen, echt. Ich will das nicht. Darum wollen wir zusammen entziehen. Das ist eine Chance, verstehst du? Und ihr zwei kriegt das allein hin, da bin ich mir ganz sicher.«

»Klar«, hab ich gesagt und weggeguckt. »Schaffen wir doch jetzt auch schon.«

Ich bezweifle, dass sie den winzigen Vorwurf in diesem Satz gehört hat.

»Stimmt«, hat sie dann geantwortet und mit den Lippen gelächelt. »Hast recht.«

Und dann ist sie aufgestanden, hat mir ein paar Scheine auf den Tisch gelegt und gesagt: »Ich hab dich lieb, Antonia«, und wieder nur mit den Lippen gelächelt, ohne die Augen. Dann ist sie gegangen. Noch nicht einmal ihre Klamotten hat sie mitgenommen, die da seit einer Woche auf der kaputten Waschmaschine liegen. Das könnte ich jetzt mal ändern.

Ich hebe die Teile nacheinander auf – ihre Netzstrumpfhose, den viel zu kurzen Rock, das schwarze Top, den roten Push-up-BH. 70A. Das ist alles, was das Heroin noch von ihr übriggelassen hat. Ich drücke auf dem Push-up herum, der so gut wie das ganze Körbchen ausfüllt. Gott, was für eine armselige Hure sie doch ist.

Manchmal möchte ich nicht glauben, dass dieses menschliche Wrack meine Mutter ist. Meine Mutter, aus deren Genen ich doch zur Hälfte bestehen muss. Manchmal würde mich interessieren, von wem meine andere Hälfte stammt. Aber das ist ein hoffnungsloser Wunsch. Die Anzahl der Möglichkeiten ist unendlich groß.

Mama hat noch gesagt, ich solle Amelie auf jeden Fall mitteilen, dass sie jetzt erst mal weg ist, die würde sich auch irgendwann Sorgen machen. Das wiederum glaube ich kaum, aber ich habe keinen Grund gesehen, diese Vermutung Mama gegenüber zu äußern. Ich sehe auch keinen Grund dazu, Amelie mitzuteilen, dass Mama sich nun endgültig aus ihrer Mutterrolle zurückgezogen hat. So wie Amelie aus ihrer Rolle als Zwillingsschwester.

Wo die gerade ist? Keine Ahnung. Sicher wird sie irgendwann heute Nacht wiederkommen, doch dann wird sie betrunken sein und sofort schlafen gehen. Und ich werde wieder wachliegen und über sinnlose Gedanken nachdenken, während sie schon neben mir schnarcht.

Kapitel 2 – Amelie

 

~ Antonia ~

 

Alles in allem ist meine Zwillingsschwester bewundernswert. Zumindest von außen – und bewundert, das wird sie auch. Ob ihr das gefällt, weiß ich nicht. Dafür müsste ich sie von innen kennen und das tue ich nicht. Mittlerweile bin ich an einem Punkt, an dem ich gar nicht weiß, ob ich das überhaupt noch bedauere oder nicht.

Vielleicht gibt es da innen gar nicht so viel zu kennen. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich ihr Inneres nicht kenne, damit ich nicht enttäuscht werde, sollte da nichts sein, kein Charakter. Es wäre doch schade, wenn die eigene Zwillingsschwester keinen Charakter hätte.

Vielleicht ist Amelie aber auch ein total toller Mensch und merkt es nur nicht. Oder sie merkt es und zeigt es nicht, und das ist vielleicht ganz gut, denn tolle Menschen werden oft gar nicht als solche wertgeschätzt, oder wenn doch, dann nur von sehr, sehr wenigen Leuten.

Egal, wie es letztlich ist, Amelie macht es ziemlich gut so, ob bewusst oder unbewusst.

 

Amelie ist schön, das ist es, nur das macht ihren Lebensstil möglich. Sie ist schön, sie ist sexy, begehrenswert, selbstbewusst – nach außen hin zumindest, aber das ist sowieso das Einzige, was zählt. Darüber hinaus bezweifle ich, dass ein intelligenter, reflektierender Mensch überhaupt voll und ganz selbstbewusst sein kann, zumindest im umgangssprachlichen Sinne von überzeugt von sich selbst, bis ins tiefste Innere.

Doch dieses Innere kennt bei Amelie vermutlich niemand, und das macht sie cool. Die Leute, deren Gesellschaft ausmacht, dass man eine Person als cool bezeichnet, interessieren sich nicht dafür, wie das Innere ist. Womöglich, weil das in den meisten Fällen zu enttäuschend wäre – und in allen Fällen mehr Denken erfordern würde, als diesen Leuten gemein ist.

 

Amelie weiß, wie man anderen imponiert und sie tut es – und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das bewusst tut. Deswegen glaube ich auch, dass sie intelligent ist, allerdings auf einer ganz anderen Ebene als das, was sie in der Schule zeigen könnte. Eine Art soziale Intelligenz, die zu besitzen sicherlich immer von Vorteil ist, allerdings nicht zwingend auch für die Mitmenschen. Denn es gibt Leute, die nutzen ihre soziale Intelligenz – bewusst wie unbewusst – aus, zielen auf die Schwächen der anderen, manipulieren Menschen.

Wenn sie dies unbewusst tun, ist das interessant.

Wenn sie es bewusst tun, ist es unsympathisch, mir jedenfalls. Trotzdem finde ich es irgendwie bemerkenswert, und das gar nicht mal auf eine positive Art und Weise, eher auf eine schockierende.

 

Und schon wieder habe ich das Problem abstrahiert, von mir und meinen Emotionen weg und hin zur Theorie. Weil sich das besser, nicht zuletzt intelligent anfühlt, obwohl es eigentlich feige ist, denn es ist der Weg des geringeren Widerstandes. Im Gegensatz zu dem der Wahrheit, denn die Feststellung, dass Amelie mit der ganzen Situation so anders umgeht als ich, ist mehr als das Ergebnis einer pragmatischen Analyse: Es ist Grund der tristen Einsamkeit, die mein Leben beschreibt.

Und sich das einzugestehen, ist kein Vergnügen.

 

Vermutlich ist Amelies Art, mit unserer Situation umzugehen, tatsächlich die bessere. Doch für mich ist das keine Option. Dieses rücksichtslose, unreflektierte Feier-Leben ist mir schon immer fremd gewesen. Amelie ist mir fremd. Sie wurde mir fremd, mit der Zeit.

Sie mag glücklich sein, bestimmt, sie hat ihre Leute, ihre Partys, ist imstande, sich einfach nur auf sich zu konzentrieren und alles andere auszublenden – sei es die Tatsache, dass sie sich immer mehr in Richtung Mama und damit mehr von mir und von uns wegentwickelt, oder schlicht, dass sie und ich Tochter einer Mutter sind, die nie wirklich da war. Zumindest nicht für uns da. Und jetzt schon gar nicht mehr. Vielleicht ist dieser Umstand sogar von Anfang an besser für Amelie gewesen. Diese totale Freiheit, die sie – im Gegensatz zu mir – genutzt hat, indem sie sich schon früh mit Jungs getroffen, die Schule geschwänzt und stattdessen mit irgendwelchen Leuten im Park rumgehangen hat.

Trotzdem hat sie sich nie erwischen lassen. Wenn sie nach Hause gekommen ist, hat sie geübt, Entschuldigungen zu fälschen – und es ist ihr hervorragend gelungen. Sie hat ihr Talent perfektioniert, andere zu imitieren, und gibt sich noch heute erfolgreich als Mama aus, wenn misstrauische Lehrer anrufen.

In solchen Fällen beeindruckt mich ihre Intelligenz, die jedoch im totalen Widerspruch zu ihren Freunden steht, und zur Art und Weise, wie sie sich in deren Gegenwart verhält.

Alles in allem ist Amelie rätselhaft und das ganz sicher nicht nur für mich. Doch andererseits ist auch gerade dieses Rätselhafte bewundernswert, vor allem, sollte es gewollt sein. Wenn die Rätselhaftigkeit und die Widersprüche Teil eines bewusst erschaffenen Images sind, ja, dann ist meine Zwillingsschwester tatsächlich auf eine unheimliche Art bewundernswert. Und in solchen Momenten würde ich sie dann doch gerne von innen kennen. Auch wenn ich unter Umständen enttäuscht wäre, weil ich einen hässlichen und wenig komplexen Charakter entdecken würde, aber interessant wäre es auf jeden Fall. Eigentlich bin ich davon überzeugt, dass sie ein interessanter Mensch ist – und deshalb mag ich das Wort »interessant« auch so, denn es ist auf eine vornehme Art und Weise weder positiv noch negativ.

Doch es ist zu spät, Amelie zu fragen. Ich wüsste nicht, womit ich anfangen sollte, nichts wäre passend, da wir uns schon so unglaublich fern sind. Als sie anfing, so zu werden, wie sie jetzt ist, waren wir vielleicht zwölf. Seitdem, in diesen zweieinhalb Jahren, ist so unfassbar viel passiert, da kann ich jetzt nicht auf einmal anfangen zu fragen, zu versuchen, sie zu verstehen.

Mich würde es ja interessieren, was sie so über mich denkt. Ob sie sich überhaupt so viele Gedanken über andere Menschen macht wie ich. Ob sie merkt, wie verdammt unglücklich ich eigentlich bin? Ob ihr das was ausmacht? Das wäre eine Frage, mit der man anfangen könnte. Aber so etwas fragt man nicht.

Ob sie noch Jungfrau ist? Auch eine Frage, deren Antwort mich interessieren würde, obwohl sie vermutlich wenig mit Amelies Charakter zu tun hat. Trotzdem wüsste ich es gerne.

Ich bin ja auch nur eine neugierige Schwester.

Kapitel 3 – Linie 1

 

~ Antonia ~

 

Erste Nacht ohne Mama.

Als ob es wirklich die erste Nacht wäre, als ob.

Aber es ist die erste Nacht, seit sie weg ist, richtig weg. Dadurch wird sich zwar in der Praxis wenig ändern, aber es ist einfach das Gefühl, dass ich weiß, jetzt leben wir richtig alleine. Zumindest ich. Amelie ist ja irgendwie auch weg. Vorher waren Amelie und Mama ungefähr gleichermaßen weg, jetzt ist Mama richtig weg, erst mal zumindest.

Ich habe mich bislang noch nicht gefragt, was ich davon halte, dass Mama entziehen will. Beinahe finde ich ihren Optimismus amüsant. Es muss schwer sein, von dem Zeug runterzukommen, wenn man einmal drauf ist. Andererseits finde ich es erschreckend, dass ich das so neutral sage, so ohne Hoffnung, mit weniger Hoffnung als meine Mutter. Bei ihr reichte es wohl dafür, dass sie jetzt wieder den Versuch macht, zu entziehen.

Als ob es diesmal klappt, als ob.

 

Ich habe das Gefühl, ich bin in letzter Zeit fürchterlich abgestumpft. Manchmal vergesse ich, dass es meine Mutter ist: Die armselige Hure, die feige, drogenabhängige, verantwortungslose Schlampe. Ich kann gar nicht sagen, warum ich nicht einfach mit meiner Mutter rede, sie anflehe, dass sie echt probiert, das mit dem Entziehen hinzubekommen. Warum ich ihr nicht sage, dass ich nicht so selbstständig bin, wie es scheint. Und dass sie mir manchmal fehlt und ich mich dann freue, wenn sie mal da ist, obwohl sie dann weder besonders lieb ist noch sonst irgendwas für mich tut.

Natürlich denke ich über all das nach, doch ich denke es nie zu Ende, denn über das Ende kann ich nicht nachdenken. Ich habe keine Ahnung, wie lange ein Körper so ein Leben wie das meiner Mutter aushält und wie es nach der Schule mit mir und Amelie weitergehen soll. Vermutlich ähnlich wie bei Mama, auf jeden Fall mit Amelie. Sie arbeitet fleißig darauf hin.

 

Die Bahn kommt.

Manchmal stehe ich extra früher auf, um noch ein bisschen hin- und herzufahren und herumzulaufen. So wie heute. Ich mag es, in der U-Bahn-Linie 1 zu sitzen, frühmorgens, noch vor der Schule, wenn da nur die kaputten Partygeister hängen und die Sonne durch die Fenster auf die Sitze scheint, während die Bahn überirdisch fährt. Und mir dabei eine wunderbare Aussicht über den Gleisdreieckpark und den in der Morgensonne glitzernden Landwehrkanal präsentiert, sodass mir alles um mich herum plötzlich wie ein Film erscheint, mein Blickfeld wie ein Objektiv, das die Schönheit der Welt einfängt. Die Abstände zwischen dem einen Blinzeln und dem nächsten als Anfang und Ende eines Schnittbildes in einem Coming-of-Age-Drama. Dazu als Soundtrack die Musik, die ich auf meinem Handy höre und die mich von all den anderen anonymen Gestalten mir gegenüber trennt, weil sie mich alles empfinden und gleichzeitig alles vergessen lässt. Weil sie damit meine zwei Kernkompetenzen verkörpert.

 

Ich steige schon am Kottbusser Tor aus, eine Station früher als ich muss, um zur Schule zu kommen.

Amelie war heute Nacht nicht zu Hause, aber darum sorge ich mich nicht. Sie wird bei irgendwem geschlafen haben und dann irgendwann im Laufe des Tages in der Schule erscheinen, sich irgendwas ausdenken und damit durchkommen.

 

Es ist kühl und leicht bedeckt, aber es riecht nach Frühling. In einer Viertelstunde beginnt die Schule, ich drehe noch eine kleine Runde. Vor dem Schulgebäude sehe ich Amelie, wie sie mit Yusuf und Leyla quatscht. Sie lacht ausgelassen, doch die dunklen Ringe unter ihren Augen verraten, dass ihr Körper eigentlich keine Energie dafür hat, weil sie letzte Nacht wieder feiern war.

»Hey du«, sage ich nett, leicht unmotiviert und müde klingend, so wie man das eben morgens der Authentizität halber macht.

»Hey«, antwortet Amelie und fährt sich durch ihre dicken, braunen Haare und sieht so schön dabei aus.

Ich ziehe meinen Pferdeschwanz fest und betrete die Schule. Seit vorletztem Jahr, als wir auf diese Schule gewechselt sind, gehen Amelie und ich nicht mehr in dieselbe Klasse, was mir fast lieber ist. Warum, weiß ich nicht.

Kapitel 4 – Einblick

 

~ Amelie ~

 

»Hey«, antworte ich und fahre mir durch die Haare, obwohl ich weiß, dass es nicht nötig ist, da alles genauso unperfekt sitzt, wie es soll.

Antonia zieht ihren Pferdeschwanz fest und geht in die Schule rein.

Ich sehe ihr hinterher und … wünsche mir für einen winzigen Moment, ich wäre wie sie.

Ob ich glücklich wäre? Sie ist es nicht, das weiß ich. Aber bin ich es jetzt, so wie ich lebe?

»Ey, Park?«, fragt Yusuf und holt ein Tütchen Gras aus seiner Sportjacke.

»Keine Ahnung, nee«, sage ich und gehe auch rein.

Kapitel 5 – Langweilig

 

~ Antonia ~

 

Als ich nach der achten Stunde das Schulgelände verlasse, erblicke ich Amelie mit ihrem Freund. Sie stehen an der Ecke und er zieht sie zu sich heran. Sie küssen sich, er umschließt Amelies schlanke Taille.

Ich gehe an ihnen vorbei, schaue zu ihr auf, aber nur ganz kurz. Amelies grüne Augen sind zu konzentrierten Schlitzen verengt. Sie hat meine Anwesenheit bemerkt, denn ihr Blick wischt für den Bruchteil einer Sekunde zu mir, dann sofort wieder weg und zurück ins picklige Gesicht des blonden Jungen, das so nah an ihr dran ist, dass sie eigentlich nichts erkennen dürfte. Eric heißt der Typ, das habe ich schon vor langer Zeit mitbekommen. Es ist auch zugegebenermaßen echt schwer gewesen, das nicht mitzubekommen. Schließlich sind die zwei schon seit zwei Monaten zusammen, was wirklich lang ist. Ich hatte noch nie einen Freund.

Kurz bevor ich abbiege, drehe ich mich noch einmal um und sehe, dass Amelie ihre Lippen von Erics gelöst hat und ihn fordernd ansieht. Nervös fährt er durch seinen Undercut und kommt mit geöffneten Lippen auf sie zu, doch sie weicht aus und lacht. Verwirrt blickt Eric um sich. Amelie lacht weiter und zieht ihn nun selbst zu sich heran, um ihn von Neuem zu küssen.

 

Ich biege ab.

Ein Junge, Jannis, meinte mal zu mir, ich sei langweilig. Wir saßen in Erdkunde nebeneinander und kamen irgendwie ins Gespräch, weil er Amelie über mehrere Ecken kannte und mich dann darauf ansprach, ob sie nicht meine Zwillingsschwester sei.

»Echt jetzt?«, fragte er, nachdem ich bejaht hatte. »Das denkt man irgendwie gar nicht. Ich meine, stimmt, ihr seht euch ähnlich und so, aber das war’s auch schon.«

»Joa. Das hab ich mir auch schon ziemlich oft so gedacht.«

Jannis’ graue Augen schauten mich irritiert an, aber auch ein bisschen traurig. »Wenn man euch beide sieht, hat man irgendwie das Gefühl, ihr hasst euch gegenseitig«, sagte er schließlich.

»Nö, gar nicht unbedingt«, antwortete ich. »Wir machen nur nichts zusammen. Wir sind doch ziemlich … verschieden.«

»Ja.« Jannis nickte nachdenklich. »Ist echt so.«

Kurze Pause.

»Voll komisch eigentlich.«

»Findest du? Ich hab mich daran gewöhnt, so mit der Zeit.« Dann nahm ich meinen Stift und fing an, die Stichpunkte von der Tafel abzuschreiben.

»Ich find dich eigentlich ganz nett«, setzte Jannis an.

Irgendwie musste ich lachen. »Eigentlich ganz nett. Na, das ist ja ein fantastisches Kompliment.«

»Scheiße.« Er grinste. »Okay, ja.«

»Die anderen von deinen Freunden mögen mich nicht besonders, hab ich recht?«, fragte ich.

»Keine Ahnung, joa.«

»Warum?«

Jannis guckte wieder irritiert, aber diesmal belustigt, und strich dabei abwesenden Blickes über seine kurz geschorenen Locken.

»Ich meine, guck mal, es ist mir letztlich herzlich egal, aber ich merke das doch. Ich find es auch nicht schlimm, denn ich mag sie auch nicht besonders, also soweit ich sie kenne.«

Jannis lachte wieder.

»Ich hab nichts gegen deine Freunde, überhaupt nicht. Ich kenn sie ja nicht. Aber ich weiß, dass sie nicht viel von mir und Aishe und Selin und so halten.«

»Ihr seid halt … langweilig.« Er hörte auf, seine Haare zu streicheln und sah mich entschuldigend an.

»Langweilig«, wiederholte ich, ohne zu wissen, wieso.

»Ja, langweilig. Irgendwie. Keine Ahnung.«

»Tja«, erwiderte ich. Ganz neutral, gar nicht beleidigt oder so. Eher amüsiert. »Vielleicht liegt das daran, dass wir einfach kein offenes Buch sind. Weißt du, wir schreien nicht unser gesamtes Leben durch die Klasse. Oder fotografieren es und stellen es auf Instagram aus. Bei uns weiß nicht jeder, mit wem oder welchen Typen, Plural, wir gerade alles zusammen sind.« Ich lächelte.

»Hast du denn einen Freund?«

»Nee.«

»Hattest du schon einmal einen?«

»Nee.«

Wir schwiegen. Ich schrieb weiter ab.

»Kennst du Amelies Freund, Eric?«, fragte ich irgendwann. Zu der Zeit war Amelie ganz frisch mit ihm zusammen.

»Ja, ist ein Kumpel von mir.«

Wieder trat Stille ein. Ich weiß nicht, was ich damals mit der Frage bezwecken wollte. Aber dass die mich langweilig fanden – oder mich und meine Freunde – ging mir einfach nicht aus dem Kopf.

Einige Minuten später klingelte es zum Stundenende.

Vielleicht bin ich wirklich langweilig. Womöglich hat Jannis recht und ich bin einfach ein langweiliger Mensch, der in seinem Leben nur die Schule hat und sich selbst. Joa. Das wird’s sein.

Kapitel 6 – Genug

 

~ Amelie ~

 

Jetzt ist es aber genug, ich will mich heute nicht völlig volllaufen lassen. Morgen ist Schule, ich will es nicht übertreiben. Ich habe keine Lust, wieder in der Schule einen Kater zu haben.

Die Luft ist warm, das Licht im Raum gedämpft. Mein Handy blendet mich, als ich es anschalte. Es ist 23:47 Uhr. Erics Arm liegt auf meinen Schultern. Ich sehe ihn an und er gibt mir einen Klaps auf den Hintern. Gequält lächele ich und trinke mein Glas aus. Aus den Lautsprecherboxen dröhnt Kollegah. Auf der anderen Seite neben mir hängt das rothaarige Mädchen, dessen Namen ich vergessen habe, und hält sich an ihrem leeren Glas fest. Ich stehe auf und merke, dass ich dabei ein bisschen schwanke. Scheiße.

»Eeeey!«, ruft es plötzlich fröhlich. Meine Freundin Leyla kommt auf mich zugestürmt und reißt meine Hände in die Höhe.

Ich lache, wir halten uns aneinander fest und drehen uns im Kreis. Leyla kreischt, dann fällt sie gegen mich und reißt mich mit zu Boden.

Ich nehme vage wahr, wie Eric sich dazusetzt, mir grinsend über meine Brust streicht und irgendetwas flüstert. Ich reagiere nicht darauf, denn irgendwer fängt plötzlich an, laut mitzusingen. Einerseits klingt es furchtbar hässlich, aber gleichzeitig ist es auch irgendwie witzig.

Das Lied ist zu Ende und es ertönt ein schlechtes Cover von irgendeinem alten Hit. Ich wuchte mich auf, halte mich am Sofa fest und höre nur, wie Leylas Kopf, der vorher auf mir gelegen haben muss, mit einem dumpfen »Rumms« auf den Boden prallt und wie sie daraufhin in dreckiges Gelächter ausbricht.

Ich wanke ins Badezimmer, setze mich auf den Klodeckel und schließe die Augen.

Scheiße.

 

Irgendwann klopft es. Ich öffne meine Augen, stehe langsam auf und gehe zum Spiegel. Fahre mir durch die Haare, benetze meine Haut mit kaltem Wasser, ziehe meinen Ausschnitt zurecht. Dann öffne ich die Tür.

»Hey, alles cool?« Eric. Ich sehe zu ihm hinauf. Seine dunkelblonden Haare hängen ihm strähnig in sein vor Schweiß und Müdigkeit glänzendes Gesicht.

»Ja, alles super. Bin nur extrem müde.«

Er zieht mich zu sich heran. »Komm.«

»Wohin?«, frage ich.

Er leckt sich über die rissige Oberlippe, dann lacht er.

»Nee, komm …«, wimmle ich ab und will mich an ihm vorbeischieben.

Er hält mich fest. »Amelie, Schlampe«, krächzt er mehr, als dass er flüstert. Er stößt auf. Ich rieche den Liter Bier, der ihn bis hierhin zu mir ins Bad gebracht hat. Ich probiere, an Eric vorbeizusehen. Am Ende des Flurs sitzt Yusuf neben einer Bierflasche, aus dem Wohnzimmer dringen Deutschrap und anderer, nicht identifizierbarer Lärm.

»Amelie …«, wiederholt Eric lallend.

»Nicht jetzt«, erwidere ich und sehe ihn wieder direkt an. »Du bist besoffen.«

In dem Moment kommt Paul an, ein Freund von Leyla. »Ey Leute, darf ich mal?«

»Safe«, sagt Eric und wir lassen ihn ins Badezimmer. Eric sieht dabei kurz in meinen Ausschnitt. Ich blinzle langsam.

Im Wohnzimmer singen alle möglichen Leute zu hässlicher Musik. Ich lasse Eric stehen und mache mit.

 

 

~ Antonia ~

 

Schon wieder hat Amelie nicht zu Hause übernachtet. Sie ist noch nicht einmal nach der Schule vorbeigekommen, um ihre Sachen abzustellen.

Was Amelie angeht, weiß ich in letzter Zeit oft gar nicht, was ich fühlen soll. Ob ich es überhaupt noch traurig oder enttäuschend finde, dass sie so komplett ihr eigenes, rücksichtsloses Feier-Leben aufgebaut hat, nach der Schule jeden Tag mit ihrem oberflächlichen Eric rumknutscht und später wahrscheinlich sturzbesoffen fickt – und wahrscheinlich in nicht allzu langer Zeit Hurenmutter 2.0 ist.

Nein, enttäuscht bin ich nicht. Und hassen kann ich sie auch nicht dafür, denn was sie macht, ist vielleicht gerade der richtige Weg. Vielleicht ist das, was ich aus der Situation mache, einfach falsch. Ich führe ein langweiliges Leben, das will ich gar nicht abstreiten. Bin ich deshalb auch ein langweiliger Mensch?

Joa. Laut Jannis ja schon. Irgendwie unbefriedigend. Aber was soll’s. Was fiele mir denn ein, was an mir nicht langweilig wäre? Habe ich irgendetwas Besonderes an mir, das mich von der breiten Masse abheben könnte? Nein, habe ich nicht. Aber andererseits – hat das so jemand wie Amelie? Gut, es kommt darauf an, wie man langweilig beziehungsweise interessant definiert. Darauf läuft es am Ende immer hinaus.

 

Der Wecker zeigt 5:14 Uhr. Wieso wache ich eigentlich um so eine geisteskranke Uhrzeit auf? Ich beschließe, einfach jetzt schon aufzustehen.

Auf der Toilette stalke ich aus Langeweile meine WhatsApp-Kontakte. Es sind zwar ohnehin nicht viele, aber es ist eine gute Beschäftigung, wenn man sich nicht ganz so sinnlos fühlen will, wie man ist.