Der Autor

Megan Frampton – Foto © privat

Megan Frampton schreibt Historische Liebesromane sowie Frauenunterhaltung unter dem Pseudonym Megan Caldwell. Sie studierte englische Literatur, Politikwissenschaft und Theologie bevor sie 15 Jahre lang für ein Musikmagazin arbeitete. Auf Heroes and Heartbreakers bloggt sie seither über Liebesromane. Sie mag die Farbe Schwarz, Gin, dunkelhaarige britische Männer und große Ohrringe, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Kind in Brooklyn.

Das Buch

London 1813: Nach dem Tod ihres Vaters erfährt Lady Titania Stanhope mit Entsetzen, dass dieser sein gesamtes Vermögen seiner Geliebten vermacht hat, und sie und ihr Bruder nun vollkommen mittellos sind. Ihre einzige Chance: einen reichen Ehemann finden. Bewaffnet mit einem Schrank voller Roben und ihrer Gouvernante macht Titania sich auf in die Londoner High Society und trifft ausgerechnet auf den schrecklich attraktiven aber offenbar verarmten Earl of Oakley…

Edwin Worthington kehrt nach London zurück um ein beträchtliches Erbe anzutreten. Da ihm aber Frauen zu wider sind, die nur auf eine gute Partie aus sind, versteckt er seinen Reichtum hinter abgewetzten Jacken und Hosen. Als er Titania Stanhope trifft, ist er von der klugen, wortwitzigen und schönen jungen Frau fasziniert. Könnte sie die Richtige für ihn sein? Doch dann erfährt er, was der wahre Grund für ihren Aufenthalt in London ist, und wendet sich von ihr ab…

Megan Frampton

Eine Lady mit gewissen Vorzügen

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Ivonne Senn

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Neuausgabe bei Forever.
Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juli 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Copyright © 2005, 2016 by Megan Frampton
© für die deutsche Übersetzung 2019 by Harpercollins Germany GmbH, Hamburg
Titel der amerikanischen Originalausgabe: A Singular Lady
Übersetzung: Ivonne Senn
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-430-5

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1. Kapitel


Bericht von der Front, März 1813

Ich bin im Begriff, die Barbaren zu belagern. Jawohl – ich beginne meine erste Saison. Und die Beute wird weder ein gefallenes Land noch Gold, sondern von weit geringerem Wert sein: ein Ehemann!

In voller Rüstung betrete ich das Schlachtfeld, bis an die Zähne mit Samt und Seide bewaffnet. Obwohl man mir beim Tanzen bereits mehrfach auf die Füße trat, schenke ich allen nur mein entzückendstes Lächeln. Das hat mir schon zwei Vergleiche mit einem Engel eingetragen, und einem zu forschen Herrn hat es gar die Hosen zerrissen. Der Frühling verspricht höchst unterhaltsam zu werden.

Eine alleinstehende Dame


London, 1813

Mit einem lauten Knall warf Titania die Tür hinter sich ins Schloss und hielt schützend eine Hand über die Augen. Denn nachdem sie aus den dämmrigen Kanzleiräumen gestürmt war, stand sie plötzlich in hellem Sonnenschein.

»Man sollte eigentlich meinen«, ereiferte sie sich, »dass die Toten nach ihrem Dahinscheiden kein allzu großes Unheil mehr anrichten. Aber nicht so mein Vater«, schimpfte sie weiter. »Selbst jetzt, da er im Grabe ruht, ist man vor seiner Unberechenbarkeit nicht sicher.« Aufgebracht suchte sie in ihrem Retikül nach einem Taschentuch und musste aufpassen, die soeben erhaltenen Dokumente dabei nicht fallen zu lassen. Diese Zeugnisse der gemeinen Hinterlist des Verblichenen. Unwirsch tupfte sie sich die Tränen aus den Augen.

Sie sah sich auf der Londoner Straße um, auf der sie sich befand. Die Schatten wurden bereits länger, und allmählich ließ die angenehme Wärme des herrlichen Frühlingstages nach.

Zu ihrer Linken standen mehrere Droschken aufgereiht und warteten auf Kundschaft. Ihr erster Gedanke war, sofort nach Hause zu eilen und sich unter der Bettdecke zu verkriechen – wenn möglich, für die nächsten zehn Jahre. Aber sie befand sich nicht zu Hause in Ravensthorpe, sondern in London. Und zum Russell Square wollte sie noch nicht zurückkehren, denn in dieser Verfassung würde sie die Gesellschaft der meist missgelaunten Tante Bestley oder ihrer eigenen Zofe Sarah – ein wahres Plappermaul – kaum ertragen können.

Das Beste wäre jetzt ein langer Ausritt. In der Vergangenheit hatten sich viele Schwierigkeiten im strammen Galopp wie von selbst gelöst. Diesmal indes würde sie sich etwas anderes überlegen müssen, da es ihr fürs Reiten am Wichtigsten fehlte – dem Pferd. Also blieb nur ein ausgedehnter Spaziergang. Und eine Dame ohne Begleitung war sicherlich nicht so skandalös wie ein Vater, der sein gesamtes Vermögen seiner Mätresse hinterlassen hatte.

Titania wirbelte herum und prallte mit Schwung gegen eine Wand. Dabei rutschten ihr das Retikül sowie Handschuhe und Papiere aus der Hand und verteilten sich über den Gehweg. Als sie ihre Haltung wiedererlangte, erkannte sie, dass sie keinesfalls mit einer Mauer zusammengestoßen war – sondern einem breitschultrigen Gentleman, der bereits ihre Habseligkeiten auflas.

»Ich bitte um Verzeihung, Miss«, entschuldigte er sich amüsiert. »Anscheinend hatte ich mich als Tür verkleidet.«

»Wo kamen Sie denn auf einmal her?«, murmelte sie, während sie sich hinunterbeugte, um die Dokumente entgegenzunehmen, die er ihr reichte. Dabei stieg ihr der angenehme Duft von Moschus und Leder in die Nase.

»Amerika. Boston, um genau zu sein«, antwortete er lächelnd. »Wieso? Sollten wir uns schon einmal begegnet sein?«

»Ganz sicher nicht«, erwiderte sie wütend. »Sie haben keinen Akzent«, fügte sie hinzu, als sei dies eine schwere Verfehlung, während sie sich ihren nun zerknitterten Handschuh überzog.

Doch er lachte einfach nur. Ein sanftes, tiefes Lachen. Machte sich dieser Kerl etwa über sie lustig? Verärgert richtete sie sich auf und wollte ihm gerade gehörig die Meinung sagen – als sie bemerkte, dass er sie unverwandt ansah. Plötzlich fühlte sie sich seltsam schwindlig.

In seinen grünen Augen, die von hinreißenden kleinen Lachfalten eingerahmt waren, schienen winzige goldene Funken zu tanzen. Für einen Mann besaß er geradezu unverschämt lange Wimpern, und der gesunde Teint deutete darauf hin, dass er sich viel an der frischen Luft aufhielt. Sein Haar trug er jedoch kürzer, als die aktuelle Mode es verlangte.

Sie musste etwas durcheinander wirken, denn er bot ihr seinen Arm, den sie jedoch kurz angebunden zurückwies. »Wenn Sie mich nicht ein zweites Mal umstoßen wollen, würde ich mich jetzt gerne wieder auf den Weg machen.«

»Und wohin, wenn ich fragen darf?«, entgegnete er in aufgeräumter Stimmung.

»Das geht Sie überhaupt nichts an«, versetzte sie pikiert und drehte sich auf dem Absatz um. Während sie die Straße entlangmarschierte, war sie sich sehr wohl bewusst, dass er ihr mit diesen bemerkenswerten grünen Augen hinterherschaute. Und vermutlich hatte er nach wie vor ein freches Lächeln im Gesicht.


Als Edwin Worthington, Earl of Oakley, im Büro des Advokaten Mr Hawthorne Platz nahm, umspielte ein Schmunzeln seine Mundwinkel. Die unsanfte Begegnung mit dieser ungehaltenen, indes durchaus attraktiven jungen Dame hatte ihn im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Gleichgewicht gebracht.

»Guten Abend, Sir«, wandte er sich an seinen Gastgeber. »Ich freue mich, endlich den Überbringer der guten Nachrichten persönlich kennenzulernen. Doch darf ich zunächst fragen, ob Sie die aufgebrachte junge Dame – schwarze Haare, klarer Teint, blaue Augen – kennen, mit der ich soeben vor Ihrer Kanzlei zusammenstieß?«

»Gewiss, Sir«, bestätigte Mr Hawthorne seufzend. »Das ist Titania Stanhope, Tochter des verstorbenen Baron Ravensthorpe. Sie wird in dieser Saison debütieren, was in den letzten beiden Jahren nicht möglich war, da ihre Eltern nacheinander verstarben. Ich fürchte allerdings, dass ich ihr eine höchst unerfreuliche Eröffnung machen musste«, fügte der Anwalt mit gerunzelter Stirn hinzu.

»Aber nun zu Ihnen, Mylord«, wechselte er entschlossen das Thema und breitete einige Unterlagen vor sich auf dem Schreibtisch aus. »Ihre Angelegenheit ist wahrlich von erfreulicherer Natur.«

Edwin nickte zustimmend, war in Gedanken jedoch nach wie vor bei der Frau, deren kurze Berührung er immer noch zu spüren glaubte. In ihren klaren, blauen Augen war Zorn aufgeflackert, als sie sich angesehen hatten. Das also war die Tochter des berühmt-berüchtigten Baron Ravensthorpe – dieses Wüstlings mit dem Hirn eines Gelehrten.

»Ist Ihnen bekannt, wobei sie sich die Nase brach?«, fragte er den Advokaten, der geschäftig über die Papiere gebeugt war.

»Wie belieben?« Der ältere Herr sah ihn verständnislos an.

»Miss Stanhope. Sie erinnern sich? Die junge Dame, mit der ich draußen zusammenprallte … die mit den schwarzen Haaren. Woher hat sie die schiefe Nase? Mir schien, dass der Unfall schon eine ganze Weile zurückliegen muss. Wobei man sich diese Verletzung üblicherweise im Boxring zuzieht.«

Es war unwahrscheinlich, dass Titania Stanhope mit ihrem Anwalt darüber gesprochen hatte, aber Edwin fragte dennoch.

Mr Hawthorne starrte ihn auf eine Art an, die fast schon unhöflich war. »Verzeihung, Mylord. Das entzieht sich leider meiner Kenntnis. Wenn Sie nun Ihre Aufmerksamkeit …«

Edwin ließ sich in den bequemen Sessel zurücksinken und nickte dem älteren Gentleman freundlich zu.

»Entschuldigen Sie, Sir. Fahren Sie bitte fort.«

Der Advokat beugte sich geschäftig vor. »Um es kurz zu machen, Mylord – Sie verfügen über ein beachtliches Vermögen. Bedauerlich, dass Sie erst so spät von Ihrer Erbschaft erfuhren, doch immerhin hat das Kapital seit dem Dahinscheiden Ihres Verwandten hübsche Zinsen abgeworfen. Das Personal des Stadthauses am Belgrave Square erwartet Sie bereits, das Gleiche gilt für das Anwesen in Hampshire. Selbstverständlich werden eine ganze Reihe von Entscheidungen zu treffen sein. Nach meiner Einschätzung sollte dies aber im Laufe von ein paar Monaten zu bewältigen sein.«

Der Anwalt blickte seinen Besucher erwartungsvoll an. Edwin brauchte ein wenig Bedenkzeit, bis er endlich das Wort ergriff.

»Vielen Dank, Sir. Ich weiß Ihre Dienste außerordentlich zu schätzen und würde diese gerne weiterhin in Anspruch nehmen. Freilich möchte ich Sie bitten, über den Inhalt unserer Unterredung strengstes Stillschweigen zu wahren. Ich wünsche nicht, dass bekannt wird, wie wohlhabend ich bin. Offiziell wurden mir nicht mehr als ein paar Schafe und einige verfallene Häuser vermacht. Verstanden?«

Als er Mr Hawthornes ratlose Miene bemerkte, fügte Edwin erklärend hinzu: »Ich möchte mich in der Gesellschaft bewegen, ohne dass mich jedermann so taxiert, als steckten Tausendpfundnoten in meiner Hutkrempe. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Der Anwalt nickte und blickte ihn überrascht durch seine Brillengläser hindurch an. Edwin konnte ihm die Verwunderung nicht verübeln, ihm war klar, dass es alles andere als üblich war, so mit einem glücklichen Erbe umzugehen. Und es war ein überaus glückliches Erbe.

»Sie können sich ganz auf mich verlassen, Lord Worthington.«

Mehr hatte Edwin gar nicht hören wollen. Zufrieden erhob er sich und reichte Hawthorne die Hand.

»Das tue ich«, erwiderte er und wandte sich zum Gehen. »Sie sind mir dafür verantwortlich, dass niemand irgendetwas über meine Erbschaft erfährt. Sollte mir dennoch etwas Derartiges zu Ohren kommen, müsste ich nicht lange nach dem Schuldigen suchen. Und das wollen wir sicher beide nicht …« Sein Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie ernst ihm die Angelegenheit war.

»Sie haben mein Wort, Mylord«, entgegnete der Advokat feierlich.


»Dieser Mistkerl!«, fluchte Titania zwischen zusammengebissenen Zähnen und wiederholte die Worte gleich noch einmal, dieses Mal lauter. Nicht, dass ihr Vater sie dort, wo er jetzt war, hätte hören können, doch es verschaffte ihr Erleichterung, ihrem Ärger Luft zu machen. Mühsam zwang sie sich, ihre Schritte ein wenig zu verlangsamen. Eine Dame ohne Begleitung war auch so schon auffällig genug.

Was hatte es ihr bislang schon eingetragen, stets das Richtige zu tun? Hier stand sie nun – dreiundzwanzig Jahre alt, ledig und keinen roten Heller in der Tasche. Fabelhaft! Wenn sie sich beeilte, konnte sie sich noch vor dem Tee in die Themse stürzen.

Warum hatte er das nur getan? Titania sann darüber nach, ob sie oder ihr jüngerer Bruder den Vater je enttäuscht haben konnten. Wie hatte sie das nicht kommen sehen? Aber sie wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, er könnte seinen letzten Willen ändern. Obwohl ihm das durchaus ähnlich sah. Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Gutgläubigkeit.

Während sie in Gedanken versunken vor sich hin ging, nahm sie weder die einsetzende Dämmerung noch die zahlreichen verwunderten Blicke wahr, mit denen man sie bedachte. Viel zu sehr war sie damit beschäftigt, sich über ihre Lage klar zu werden. Sie war mittellos!

Ihr blieb keine Wahl. Nicht, wenn Thibaults Kinder in Ravensthorpe aufwachsen sollten. Und wahrlich, ihr Bruderherz zeigte genug Anzeichen, ein ebensolcher Nichtsnutz wie der Vater zu werden. Wenn sie nicht auf ihn aufpasste, würde er beizeiten im Schuldturm landen. Seine Zukunft und ebenso die der Dienerschaft lagen also einzig in ihren Händen.

Ginge es lediglich um sie selber und Thibault, so könnten die vorhandenen Mittel reichen, wenn sie sich eines sparsamen Lebensstils befleißigten. Doch Bescheidenheit war eine Zier, mit der sich Titania Stanhope höchst ungern schmückte.

Deshalb gab es nur einen Ausweg aus der Misere – sie musste alles auf eine Karte setzen, ganz die Tochter ihres Vaters. Sie würde eine Saison erleben, wie die Mutter es stets für sie gewünscht hatte, und am Ende einen reichen Gentleman an der Angel haben.

Kühl betrachtet, war dies eine ganz simple mathematische Gleichung: Eine Titania plus ein möglichst begüterter Junggeselle ergaben die Abwendung allen Ungemachs. Titania hatte sich immer für clever und gewitzt bei der Lösung von Problemen gehalten. Aber im Vergleich zu ihrer aktuellen Lage erschien sogar Euklids Geometrie einfach. Angesichts des finanziellen Engpasses musste das Ergebnis einer guten Partie unbedingt in diesem Jahr zustande kommen, wenn es für sie und ihren Bruder eine annehmbare Zukunft geben sollte. Es fehlte nur noch die Unbekannte in dieser Rechnung: ein annehmbarer Gentleman mit entsprechend wohl gefüllten Taschen.

Über diesen Grübeleien war sie inzwischen in der Southampton Row angekommen, die in den Russell Square mündete. Versonnen musterte sie die repräsentativen Villen der besten Londoner Gesellschaft und vergaß darüber die eigenen Sorgen. Staunend blickte sie an einem offenbar soeben erst fertiggestellten Haus empor. Es hatte so viele Fenster, dass Titania sie gar nicht zu zählen vermochte. Was für eine Pracht …

Derart in Gedanken versunken, erschrak sie gewaltig, als sie jemanden hinter sich sagen hörte: »Was gibt’s hier denn zu glotzen, Miss? Dir muss man wohl Manieren beibringen. Soll ich dich übers Knie legen – oder darf es vielleicht was anderes sein?«

Titania wirbelte herum und musterte den Kerl, der sich derartige Unverschämtheiten erlaubte. Es war ein einfacher Arbeiter, der in seinem Leben zweifellos Unmengen von schweren Steinen gehoben hatte. Wenn man nach seinem Atem urteilte, hatte er dies unlängst auch mit etlichen Bierkrügen getan. Schwankend griff er mit einer Hand nach ihr, während er die andere in die Hüfte gestemmt hatte.

»Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mich nicht behelligen würden, Sir«, entgegnete Titania schneidend, obgleich ihr ziemlich unbehaglich war. »Es geht Sie herzlich wenig an, was ich besichtige. Und jetzt wäre es ganz reizend, wenn Sie mich losließen.«

»Oh nein, du wirst mir nicht einfach wie ein Vögelchen davonflattern«, erwiderte der Mann mit einem anzüglichen Grinsen. Selbst einem Mädchen vom Lande wie Titania war sonnenklar, was dies zu bedeuten hatte.

»Wir sollten uns also darüber unterhalten, was ich mit dir anstelle – und wie oft«, fuhr er unbeirrt fort.

Titania erstarrte. Wieso musste sie auch so unbesonnen sein? Ein bisschen gesunder Menschenverstand hätte ihr das erspart. Ihr Aufenthalt in London stand anscheinend unter keinem guten Stern. Sie wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als sie eine angenehm tiefe, männliche Stimme hinter sich vernahm.

»Haben Sie die Dame nicht verstanden, Sir? Wenn ich nicht irre, bat sie darum, von Ihnen nicht weiter belästigt zu werden. Sofort.«

Verblüfft drehte sie sich um. Der Gentleman war längst nicht so kräftig wie der Kerl, der sie immer noch festhielt – offenbar jedoch stark genug, um es mit jedem Halunken aufnehmen zu können. Auf einmal fühlte sie sich sicher und beschützt, während der Neuankömmling in aller Seelenruhe seine Handschuhe auszog und sich seines Krawattentuchs entledigte. Er schien genau zu wissen, was er tat – und dass er sich durchsetzen würde.

Der rauflustige Trunkenbold wirkte nicht sonderlich beeindruckt und zog sie grob an sich. Würde der Mann diesen Grobian in die Flucht schlagen? Erstaunt stellte Titania fest, dass sie nicht den geringsten Zweifel hegte …

»Was geht es einen feinen Pinkel wie dich an, was ich mit diesem Flittchen zu schaffen habe? Verschwinde gefälligst«, tönte der Fleischberg neben ihr unterdessen.

»Das werde ich selbstverständlich nicht tun«, erwiderte der Fremde und kam näher. Titania sah, dass es derselbe Gentleman war, den sie vor Hawthornes Kanzlei ziemlich undamenhaft zusammengestaucht hatte. Er kleidete sich eher schäbig und hatte anscheinend weder mit einem Schneider noch dem Londoner Geschmack Bekanntschaft geschlossen. Seine Garderobe war nicht nur aus der Mode, sondern schlichtweg alt. Der Mantel glänzte an den Ellbogen und das Leder seiner staubigen Schuhe war stumpf.

Er musste ein einfacher Händler sein, obwohl er dafür eigentlich viel zu selbstbewusst auftrat. Das Lächeln von vorhin war jetzt aus seinen Zügen gewichen, stattdessen beobachtete er seinen Gegner mit festem Blick.

»Lassen Sie die Dame los«, wiederholte er drohend.

»Warum sollte ich?«, entgegnete das Raubein höhnisch.

Nun schien die Geduld ihres Beschützers erschöpft zu sein. Titania konnte gerade noch ein wütendes Funkeln in seinen grünen Augen erkennen, da schnellte auch schon seine Faust nach vorne und traf den Rohling am Kinn. Der ließ sie los und sank, wie von einer Axt gefällt, zu Boden.

Ihr Retter warf einen prüfenden Blick auf den reglos Daliegenden und wandte sich dann an Titania. »Ihnen ist hoffentlich nichts passiert, Miss?«, erkundigte er sich besorgt.

»Nein, nein«, beeilte sie sich zu versichern. Sie sog scharf die Luft ein und machte einen Schritt zurück, wobei sie ins Stolpern geriet. Doch schon fing ein starker Arm sie auf und geleitete sie einige Schritte von dem Mann am Boden weg. Sie konzentrierte sich darauf, normal zu atmen und ihrer Stimme einen gleichgültigen Ton zu geben. »Mit mir ist alles in Ordnung. Ich muss mich dafür entschuldigen, Ihnen solche Scherereien gemacht zu haben – wobei ich allerdings erwähnen möchte, dass Sie ihm einen satten Schwinger verpasst haben.« Ohne es zu bemerken, verfiel sie in den Jargon ihres dem Boxsport zugeneigten Bruders, was ihr Beschützer nicht ungebührlich zu finden schien. Dann blickte sie zu ihm auf, stellte jedoch umgehend fest, dass dies keine sonderlich gute Idee gewesen war.

Denn der Blick seiner grünen Augen war so unverwandt auf sie gerichtet, dass sie unmerklich erbebte. Vorsichtshalber senkte sie die Lider ein wenig, was gleich der nächste Fehler war. Dank seines aufgeknöpften Hemdes hatte sie nun eine muskulöse Männerbrust unmittelbar vor Augen. Am liebsten hätte sie sich an ihn geschmiegt und von diesen starken Armen halten lassen.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während ihre weichen Knie unter ihr nachzugeben drohten – nie zuvor hatte sie sich in Gegenwart eines Mannes so hilflos und mädchenhaft gefühlt.

»Vielen Dank, Sir. Ich weiß Ihre wiederholte Hilfe sehr zu schätzen. Da ich gleich hier um die Ecke wohne, dürfte nun mit keinem weiteren Missgeschick zu rechnen sein.« Während sie auf ein Haus gegenüber deutete, wandte er den Blick nicht für eine Sekunde von ihr ab.

Titania wünschte, der Boden würde sich unter ihr auftun. Dieser Mann war ganz Gentleman, aber sie verdiente seine Freundlichkeit nicht. Nach allem, was heute passiert war, sollte sie nach Hause gehen und in ihrem Elend baden.

»Ganz wie Sie wünschen, Miss«, erwiderte er und neigte den Kopf mit einem leicht spöttischen Lächeln. »Ich habe heute schon einmal Ihren Zorn auf mich gezogen und möchte Ihr Temperament nicht erneut herausfordern. Doch bevor ich Sie verlasse …«, er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und steckte sie unter ihren Hut, »… muss ich das hier in Ordnung bringen.« Für einen kurzen Moment ließ er seine Fingerspitzen auf Titanias Wange ruhen.

Seine Berührung löste Gefühle in ihr aus, die sie unmöglich beim Namen nennen konnte – etwas Derartiges hatte sie nie zuvor empfunden. Hastig schob sie seine Hand beiseite und zwang sich, ihm nicht in die Augen zu sehen. Ihr blieb ohnehin schon die Luft weg, während ein wohliges Prickeln langsam ihren Rücken hinabrieselte. Titania umklammerte ihr Retikül, um nicht der Versuchung zu erliegen, sich in seine Arme zu werfen.

Sicherheitshalber bedankte sie sich ein weiteres Mal und ging so aufrecht, wie ihre zitternden Beine dies zuließen, auf die Stadtresidenz ihrer Tante zu.

Vor der Tür sammelte sie sich kurz, denn die wohl schlimmste Prüfung des Tages lag noch vor ihr. Sie musste der Schwester ihres Vaters gestehen, dass der Name Stanhope wieder einmal Gegenstand des Klatsches werden würde. Und Sarahs Vorwürfe wegen des einsamen Spaziergangs würden sicherlich auch nicht das reinste Vergnügen werden …


Tatsächlich nahm Tante Bestley die Neuigkeiten ausgesprochen unterkühlt auf. »Was sagst du da? Überhaupt kein Geld?«, fragte sie verächtlich.

»Nicht einen Penny«, bestätigte Titania. Zwar waren sie übereingekommen, dass die Tante Titanias Saison finanzieren würde – angesichts der neuen Situation jedoch stand diese Vereinbarung womöglich auf wackligen Füßen.

»Nun, mein liebes Mädchen, wie die Dinge liegen, wirst du wohl nach Hause zurückkehren müssen. Anscheinend verfügst du nicht über die Mittel, um deinen Teil unserer Abmachung zu erfüllen – ohne eine nennenswerte Mitgift wirst du kaum einen respektablen Herrn dazu bringen, mit dir vor den Traualtar zu treten. Erst recht nicht mit dieser Nase. Wenn du Glück hast«, fuhr sie ungerührt fort, »kannst du einen Burschen des niederen Landadels in eine Ehe locken. Wobei mir niemand einfallen würde, der so anspruchslos sein könnte – angesichts der Schande, die dein Vater über die Familie gebracht hat.«

»Aber Tante«, erwiderte Titania, »nach Ravensthorpe zurückzugehen wäre jetzt der größte Fehler. Mehr denn je bin ich auf meine Saison angewiesen.«

»Das mag sein, mein Kind. Doch damit will ich nichts mehr zu schaffen haben. Wenn du, wie damals deine Eltern, einen Skandal heraufbeschwören willst, musst du das schon allein tun. Ich jedenfalls werde dies nicht unterstützen.« Angesichts der entschlossenen Miene der Verwandten fürchtete Titania, das letzte Wort in der Angelegenheit gehört zu haben.

Aufgeben indes mochte sie noch nicht. »Da du mir offenbar deine Unterstützung verweigern willst, darf ich dich gewiss an unsere Vereinbarung erinnern?« Die Tante wollte etwas einwenden, Titania ließ sich jedoch nicht unterbrechen.

»Hör mir erst einmal zu. Ich versichere dir, dass du die versprochene Summe erhalten wirst. Wenn ich bis zum Ende der Saison verheiratet bin, verdoppele ich den Betrag sogar. Sollte ich keinen Erfolg haben, kann ich Mutters Schmuck verkaufen, um den Verpflichtungen dir gegenüber nachzukommen. Die einzige Bedingung ist, dass du die Einzelheiten von Vaters Testament für dich behältst.«

Da Lady Bestley ein gutes Geschäft zu schätzen wusste, war ihre Miene plötzlich nicht mehr ganz so ablehnend. »Du wirst dich um nichts weiter kümmern müssen«, setzte Titania nach, »sondern kannst zusehen, wie ich mir den reichsten Gentleman Englands angle.« Selbst wenn sein Schädel kahl wie ein Hühnerei sein sollte und er ein Holzbein sein Eigen nennt, ergänzte sie in Gedanken.

Dieser Handel war für die Tante zu verlockend, um ihn auszuschlagen – allerdings hatte sie einen Vorbehalt. »Du wirst dir eine andere Bleibe suchen«, verkündete sie. »Obwohl ich kaum glaube, dass du einen Gemahl findest, möchte ich mir nicht nachsagen lassen, ich hätte die Familie im Stich gelassen.«

Titania nickte zufrieden und begab sich ohne ein weiteres Wort in ihr Schlafgemach, in dem sie sich ohnehin nie wohlgefühlt hatte. Sie musste Sarah mitteilen, dass sie packen sollte. Sie würden sich auf die Suche nach einem angemessenen Quartier für die Saison machen.


»Zurzeit verfüge ich leider nicht über die Berechtigung, Mittel vom Familienkonto zu transferieren«, ließ Titania Mrs Baldwin leutselig wissen. Beinahe verschwörerisch lächelte sie die Vermieterin des wunderbar hellen, allerdings hier und da etwas heruntergekommenen Hauses an. »Dies ist aber nur eine Formalität. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie Ihr Geld beizeiten erhalten werden.«

Die ältere Dame musterte ohnehin viel zu hingerissen Titanias roséfarbenes Kleid, um sich Nebensächlichkeiten wie Zahlungsmodalitäten zu widmen. Nachdem sie mit Hilfe von wässrigem Tee einige staubtrockene Scones verzehrt hatte, setzte Titania ihre Unterschrift unter den Mietvertrag. Den Rest des Nachmittags verbrachte sie damit, sich mit Sarah in der neuen Bleibe an der Little Chiswick Street notdürftig einzurichten, bis weiterer Hausstand aus Ravensthorpe eintraf.

Als die Zofe bereits in ihrer Kammer im oberen Stockwerk schlief, warf sich Titania schluchzend auf ihr Bett und gestattete sich volle fünf Minuten des Selbstmitleids. Dann fasste sie sich und begab sich an den Sekretär im Salon. Sie atmete tief durch und setzte schließlich einen Brief an ihre Gouvernante Miss Tynte auf, die sich hoffentlich nicht zu sehr mit dem Ruhestand angefreundet hatte.

Meine liebe Elizabeth,

bitte komm schnellstens nach London. Mach dir keine Sorgen, es geht mir gut. Ich bin weder verletzt noch in unmittelbarer Gefahr. Allerdings hängt meine Zukunft am seidenen Faden – ohne deine Hilfe bin ich verloren.

In Liebe,

Titania

P.S.: Bring deine besten Kleider mit.

Sofort nahm sie ein weiteres Blatt Papier und schrieb eine kurze Nachricht an Stillings. Auch er sollte unverzüglich aufbrechen und so viele Bedienstete mitbringen, wie er für nötig erachtete, um das Stadthaus einer heiratswilligen jungen Dame zu bewirtschaften.

Endlich legte sie die Feder beiseite und ging ihren Plan in Gedanken ein letztes Mal durch. Ob Miss Tynte bei dieser Scharade wohl mitspielen würde?