CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

KÖNIG SALOMONS RING

- Galaxis Science Fiction, Band 16 -

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Frank Herbert: DIE GRÜNEN SKLAVEN (Greenslaves) 

Edgar Pangborn: EIN BESSERES MAUSELOCH (The Better Mousehole) 

Kris Neville: NOTSTAND (Ballenger's People) 

Roger Zelazny: KÖNIG SALOMONS RING (King Salomon's Ring) 

Robert Silverberg SCHULDGEFÜHL (Sundance) 

Philip Latham: UNTER DEM SCHWANZ DES DRACHEN (Under The Dragon's Tail) 

 

Das Buch

 

»Träume ich?«, flüsterte er. Er versuchte, sich die Tränen aus den Augen zu wischen.

»Joao, mein Sohn«, sagte die Stimme seines Vaters.

Joao sah zu dem vertrauten Gesicht auf. Kein Zweifel, es war sein Vater. »Aber... dein Herz«, sagte Joao.

»Meine Pumpe«, sagte der alte Mann. »Sieh her.« Und er entzog ihm seine Hand und drehte sich um. Der Rücken seines schwarzen Anzuges war weggeschnitten, die Ränder durch eine gummiartige Substanz festgehalten. Zwischen den Rändern war ein ölig-gelbes pulsierendes Etwas.

Joao sah die haarfeinen Schuppenlinien, die vielfältigen Formen und schrak zurück.

Es war also eine Kopie, noch einer von diesen Tricks...

(aus: Die grünen Sklaven von Frank Herbert)

 

Die von Christian Dörge zusammengestellte Anthologie König Salomons Ring enthält vier Erzählungen von Frank Herbert, Edgar Pangborn, Kris Neville, Roger Zelazny, Robert Silverberg und Philip Latham.  

König Salomons Ring erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  Frank Herbert: DIE GRÜNEN SKLAVEN (Greenslaves)

 

 

 

Er saß, als sei er eine Mischung aus einem Guarani-Indio und einer Hinterwäldlertochter, irgendeiner sertanista, die versucht hatte, über ihre Versklavung durch das endomendero-System durch »Eisenfressen« hinwegzukommen - so nannte man es, wenn man sich durch ein Gefängnisgitter hindurch liebte.

Seinen Typ repräsentierte er beinahe perfekt - außer, er vergaß sich einmal, wenn er gerade durch eine etwas tiefere Dschungelniederung streifte.

Dann nahm seine Haut einen grünlichen Ton an, der ihn eins werden ließ mit dem Hintergrund von Ranken und Blättern und das lehmgraue Hemd, die zerschlissene Hose, den unvermeidlichen zerfetzten Strohhut und die wildledernen Sandalen mit Sohlen aus alten Autoreifen seltsam körperlos erscheinen ließen.

Solche Unachtsamkeiten wurden indes umso seltener, je weiter er sich vom Oberlauf des Parana und vom sertao-Hinterland von Goyaz entfernte, wo Männer mit wie bei ihm in der Stirn waagrecht abgeschnittenen Haar und glitzernden dunklen Augen häufig waren.

Als er bandeirante-Gebiet erreichte, hatte er den Chamäleon-Effekt schon fast völlig unter Kontrolle.

Doch jetzt hatte er den Dschungel verlassen und befand sich auf den braunen, die parzellierten Farmen des Wiederansiedlungsplans voneinander trennenden Feldwegen. Auf seine Weise wusste er, dass er sich den bandeirante-Kontrollen näherte, und mit einer beinahe menschlichen Geste befingerte er die cedula de gracias al sacar, das Zertifikat weißen Blutes unter seinem Hemd. Dann und wann, wenn keine Menschen in der Nähe waren, übte er die Aussprache des Namens, den man für ihn gewählt hatte: Antonio Raposo Tavares.

Es klang ein wenig zirpend und zischend, aber er wusste, dass es ausreichen würde. Es hatte bereits ausgereicht. Goyaz-Indios waren für ihre eigentümliche Sprechweise bekannt. Die Farmersleute, die ihn in der Nacht zuvor beherbergt und verköstigt hatten, hatten das gesagt.

Als ihre Fragen zu drängend geworden waren, hatte er sich bei der Tür niedergekauert und auf seiner Flöte gespielt, der qena der Anden-Indianer, die er in einem ledernen, über die Schulter gehängten Beutel mit sich führte. Er hatte darauf geachtet, in einer konventionellen, ungefährlichen Tonhöhe zu bleiben. Die Geste mit der Flöte war ein Symbol in diesem Gebiet. Wenn ein Guarani seine Flöte nahm und zu spielen begann, war das ein Zeichen, dass mit Worten nicht mehr zu rechnen war.

Die Farmersleute hatten sich achselzuckend zurückgezogen.

Jetzt konnte er rotbraune Dächer erkennen und den weißen, kristallenen Schimmer eines bandeirante-Turms mit seinen startenden und landenden Aircars. Er blieb stehen, für Augenblicke von Instinkten überwältigt, von denen er wusste, dass er sie zu bezähmen hatte - sonst würde er in der Prüfung, die ihm bevorstand, versagen.

Und er sammelte seine geistige Identität, indem er dachte, wir sind grüne Sklaven, die dem Wohle des Ganzen dienen. Der Gedanke verlieh seinem Äußeren eine nicht zu übersehende Note der Servilität, die ihn wie ein Schild gegen die starren Bliche der Menschen um ihn herum abschirmte. Wesen seiner Art kannten so manche Manieriertheit und hatten früh gelernt, dass Servilität eine Form der Tarnung war.

Alsbald stapfte er wieder auf die Stadt und den Turm zu.

Der Feldweg ging in eine gepflasterte, zweibahnige Marktstraße über. In den Gräben zu beiden Seiten verliefen Fußwege. Die Marktstraße ihrerseits führte an einer vierstöckigen kommerziellen Transportbahn entlang, wo selbst die Fußwege gepflastert waren. Groundcars und Aircars waren jetzt in größerer Anzahl zu sehen, und auch die Menge der Fußgänger hatte zugenommen.

Bis jetzt hatte er noch keine gefahrbringende Aufmerksamkeit erregt. Die gelegentlichen spöttischen Seitenblicke der Eingeborenen konnte er beruhigt ignorieren, das wusste er. Wurde er prüfend angestarrt, dann drohte Gefahr, doch war das noch nicht der Fall gewesen. Seine Servilität schützte ihm

Die Vormittagssonne stand schon recht hoch am Himmel. Die allmählich drückender werdende Hitze ließ aus dem Dreck neben

dem Fußweg dumpfen Modergestank emporsteigen, der sich mit dem Schweißgeruch der Menschen um ihn herum vermischte.

Und sie drängten sich jetzt um ihn herum, kamen immer langsamer vorwärts, je mehr sie sich der Kontrollschleuse näherten. Bald löste sich ihre Vorwärtsbewegung in einzelne Takte auf. Ein paar Schritte, dann halt. Ein paar Schritte und halt.

Hier war der kritische Punkt, und er war nicht zu umgehen. Er wartete mit so etwas wie der stoischen Ruhe eines Indianers. Sein Atem ging jetzt tiefer, um die zunehmende Hitze auszugleichen, und er glich ihn dem der Menschen um ihn herum an und ertrug den Anstieg der Temperatur, um eines zu sein mit seiner Umgebung.

Hier in den Niederungen atmete kein Anden-Indianer tief.

Ein paar Schritte und halt.

Ein paar Schritte und halt.

Jetzt konnte er den Kontrollpunkt sehen.

Hochnäsige bandeirantes in geschlossenen weißen Umhängen, Plastikhelmen, Handschuhen und Stiefeln standen in einer Doppelreihe in einem gedeckten Ziegelkorridor, der in die Stadt führte. Er sah, wie jenseits des Korridors Leute, die die Kontrolle passiert hatten, im heißen Sonnenlicht weitereilten.

Der Anblick des freien Geländes jenseits des Korridors ließ schmerzliches Sehnen in ihm erwachen. Sofort flammte ein Warnsignal in ihm auf.

Nicht die kleinste Unaufmerksamkeit durfte es jetzt mehr geben; er stand vor dem ersten bandeirante, einem riesigen blonden Burschen mit rosa Haut und blauen Augen.

»Und weiter! Nur keine Müdigkeit!«, sagte der Kerl.

Eine behandschuhte Hand stieß ihn zu zwei bandeirantes', die in der rechten Reihe standen, hinüber.

»Gebt dem da eine Extra-Behandlung«, rief der blonde Riese. »Muss aus dem Hochland sein, so wie er aussieht.«

Jetzt hatten ihn die anderen beiden. Der eine setzte ihm eine Atemmaske auf, der andere stülpte ihm einen Plastiksack über. Ein Schlauch verband den Sack mit irgendeiner Maschinerie in der Straße jenseits des Korridors.

»Doppelter Schuss!«, rief einer der bandeirantes.

Bläuliches Gas wölbte den Sack, und durch die Maske atmete er einmal tief und heftig ein.

Agonie!

Schmerzend wie Nadelstiche fuhr ihm das Gas in alle Glieder.

Wir dürfen nicht schwach werden, dachte er.

Aber es war sengender, tödlicher Schmerz. Seine Glieder wollten erschlaffen.

»In Ordnung!«, rief der Mann, der ihm den Sack übergeworfen hatte.

Man nahm ihm den Sack wieder ab, entledigte ihn der Maske. Hände schoben ihn den Korridor entlang, zum Sonnenlicht hin. »Nicht stehenbleiben! Weiter! Bewegung!«

Der Gestank des Giftgases hüllte ihn ein. Es war ein neues Gas, das zersetzende Wirkung hatte. Für dieses Gift hatte man ihn nicht präpariert!

Jetzt war er draußen im Sonnenlicht und betrat eine von Obstständen gesäumte Straße. Händler diskutierten mit Kunden oder standen feist und lauernd hinter ihren Waren.

Und in seiner Not lachten die Früchte ihn an, als könnten sie das Leben einiger seiner Teile retten. Aber seine integrierte Totalität widerstand der Verlockung. So schnell er es sich erlauben konnte, eilte er weiter, schob sich an Kunden vorbei und hindurch durch müßig herumstehende Gruppen.

»Wollen Sie ein paar frische Orangen?«

Eine ölig-dunkle Hand hielt ihm zwei Orangen unter die Nase.

»Frische Orangen aus dem Grüngebiet. Da hat kein Ungeziefer auch nur hingeschmeckt.«

Er wich der Hand aus, obwohl der Duft der Orangen ihn fast überwältigte.

Jetzt hatte er die Stände hinter sich gelassen und bog um eine Ecke in eine schmale Seitenstraße. Noch eine Ecke, und er sah in der Ferne verlockendes Grün in offenem Land - das freie Gebiet jenseits der Stadt.

Mit rascherem Schritt eilte er jetzt hinüber zu diesem Grün, ängstlich überlegend, wieviel Zeit ihm noch blieb. Er hatte noch eine Chance. An seiner Kleidung hing Gift, doch drang bereits frische Luft durch das Gewebe - und die Vorstellung des Sieges war wie ein Gegengift.

Vielleicht schaffen wir’s noch! 

Näher und näher kam das Grün - Bäume und Farne an einem Flussufer. Er hörte das Plätschern des Wassers. Mehrere Straßen mündeten in eine Brücke, auf der sich die Leute drängten.

Es ging nicht anders: Er stürzte sich ins Gewühl, vermied, soweit möglich, jeden Kontakt. Die Gelenke in seinen Beinen lockerten sich, und er wusste, dass ein unglücklicher Stoß ganze Segmente loslösen konnte. Er überquerte die Brücke unversehrt. Ein Fußpfad zweigte vom Wege ab, hinunter zum Fluss.                            

Dorthin wandte er sich, stieß gegen einen von zwei Männern, die in einem Netz ein Schwein mit sich trugen. Ein Teil der Schale seines rechten Oberschenkels gab nach, und er spürte, wie sie in seiner Hose nach unten rutschte.

Der Mann, mit dem er zusammengestoßen war, taumelte zwei Schritte zurück und ließ beinahe seine Last fallen.

»Passen Sie doch auf!«, rief der Mann.

Der Mann am anderen Ende des Netzes sagte: »Verdammte Säufer.«

Quiekend und zappelnd sorgte das Schwein für Ablenkung.

In diesem Augenblick huschte er an ihnen vorbei auf den Pfad, der hinunter zum Fluss führte. Drunten konnte er, schäumend von der Belüftung durch die Schleusenfilter, das Wasser sehen.

Hinter ihm sagte einer der Schweineträger: »Ich glaube nicht, dass er betrunken war, Carlos. Seine Haut war trocken und heiß. Vielleicht war er krank.«

Der Pfad lief entlang an einem Damm aus dunkelbraunem Schlamm und führte dann durch Farne und Büsche zu einer Art Tunnel hinunter. Die Männer mit dem Schwein konnten ihn nicht mehr sehen, das wusste er, und er hielt sich die Hose, wo der Teil seines Beines verrutscht war, und eilte hinein in den grünen Tunnel.

Jetzt sah er die erste mutierte Biene. Sie war tot, denn sie war ungeschützt in die tödliche Vibrationsbarriere hier geraten. Die Biene war von der schmetterlingsähnlichen Art mit irisierenden orangegelben Flügeln. Auf ein grünes Blatt gebettet, lag sie auf einer sonnenbeschienenen Stelle.

Sich Form und Farbe der Biene einprägend, eilte er weiter. Sie hatten die Bienen als mögliche Antworten erwogen; aber dieses Verfahren wies ernstliche Nachteile auf. Eine Biene konnte nicht mit Menschen argumentieren, das war der entscheidende Punkt. Und die Menschen müssten bald auf vernünftige Argumente hören, sonst würde alles Leben zu Ende sein.                      

Hinter ihm hörte er schwere Schritte - jemanden, der ihm nacheilte.

Verfolger?

Er selbst kam jetzt nur noch langsam voran, und bald würde er nur noch kriechen können, das wusste er. Seine Augen durchforschten das Buschwerk um ihn herum nach einem Versteck. Eine schmale Lücke in der Farnwand links von ihm fiel ihm auf. Winzige menschliche Fußabdrücke gingen hinein - Kinder. Er zwängte sich durch die Farne und fand sich auf einem engen, am Damm entlang verlaufenden Pfad wieder. Zwei Spielzeug-Aircars, rot und blau, waren hier liegengeblieben. Sein stolpernder Fuß stampfte sie in den Boden.

Der Pfad führte an einem schlingpflanzenüberwucherten schwarzen Erdwall entlang scharf um die Ecke zu einer Höhle. Weiteres Spielzeug lag in der grünen Düsternis am Eingang der Höhle.

Er ging in die Knie, kroch über das Spielzeug hinweg in die gnädige, feuchte Dunkelheit, blieb einen Augenblick wartend liegen.

Ein paar Meter entfernt stampften die Schritte vorbei.

Stimmen drangen zu ihm herein.

»Er ging in Richtung zum Fluss. Glaubst du, er wollte hineinspringen?«  

»Wer weiß? Also, ich glaube, dass er krank war.«

»Da, in dieser Richtung. Da ist jemand gegangen.«

Die Stimmen wurden undeutlich, vermengten sich mit dem Rauschen des Flusses.

Die Männer gingen weiter den Pfad hinunter. Sie hatten sein Versteck nicht gefunden. Warum aber hatten sie ihn verfolgt? Der, gegen den er gestoßen war, war nicht ernstlich verletzt worden. Sicher schöpften sie keinen Verdacht.

Langsam stellte er sich auf das ein, was jetzt zu tun war, brachte seine spezialisierten Teile ins Spiel und begann, am hinteren Ende

der Höhle zu graben. Tiefer und tiefer grub er, die Erde dabei hinter sich werfend, so dass es aussah, als sei die Höhle eingestürzt.

Zehn Meter tief grub er, bevor er innehielt. Sein Energievorrat enthielt gerade genug Reserven für den nächsten Schritt. Er rollte sich auf den Rücken, verstreute dabei die toten Teile seiner Beine und seines Rückens und legte die Königin und ihren Wächterschwarm frei. Aus Öffnungen an seinen Schenkeln drang der Kokonschaum, die weiche, grüne Decke, die sich zu einer schützenden Schale verhärten würde.

Das war der Sieg. Die wichtigsten Teile hatten überlebt.

Um die Zeit ging es jetzt - zehneinhalb Tage, um neue Energie zu sammeln, die Metamorphose durchzumachen und sich aufzulösen. Bald würde es Tausende von ihm geben - alle mit der sorgfältig imitierten Kleidung und Ausweispapieren und menschlicher Erscheinung.

Alle identisch.              

Es würde andere Kontrollpunkte geben, doch würden die Kontrollen weniger streng sein. Und andere Barrieren, doch leichter zu überwindende.

Diese Menschenkopie hatte sich als gelungen erwiesen. Sie hatten viel gelernt von ihren Gefangenen und von den seltsamen Leuten unter dem Kommando der rothaarigen Menschenfrau, die sie im sertao gefasst hatten. Wie merkwürdig sie war: Wie eine Königin und doch nicht wie eine Königin. Es war so schwer, Menschen zu verstehen, selbst wenn man ihnen eine gewisse Freiheit gab. Es war fast unmöglich, mit ihnen zu argumentieren. Dass sie Sklaven des Planeten waren, musste man ihnen vielleicht auf dramatische Art beweisen. Die Königin bewegte sich jetzt ein wenig. Dieses Mal hatten sie neue Erkenntnisse darüber gewonnen, wie eine Flucht sich ankündigte. Alle kommenden Kolonisierungsschwärme würden dieses Wissen teilen. Einer davon - mindestens einer - würde durchkommen bis zu der Stadt am Amazon-»Meerfluss«, von woher der Tod kam. Einer musste durchkommen. Musste.

Senhor Gabriel Marinho, Präfekt des Mato-Grosso-Grenzgebiets, ging unruhig in seinem Arbeitszimmer auf und ab und murmelte etwas vor sich hin, als er an dem hohen, schmalen Fenster vorbeikam, welches das Sonnenlicht einließ. Gelegentlich warf er einen Blick auf seinen Sohn Joao, der unter einem der großen Bücherregale auf einem Tapirleder-Sofa saß.

Der ältere Martinho war ein sehr schlanker Mann mit grauem Haar und tieferliegenden braunen Augen über einer Adlernase. Seine Lippen waren dünn, das Kinn spitz. Er trug konservative schwarze Kleidung, wie seine Position es verlangte. Weiß hob sich die Wäsche vom Schwarz seines Anzugs ab, und seine goldenen Manschettenknöpfe glitzerten, als er die Arme in die Luft stieß.

»Ich werde lächerlich gemacht!«, rief er.

Joao, eine jüngere Ausgabe seines Vaters mit noch schwarzem, lockigem Haar, nahm die Feststellung schweigend auf. Er trug das weiße Überzeug eines bandeirante, das in Wadenhöhe mit den Plastikstiefeln verschweißt war.

»Lächerlich gemacht!«, wiederholte Martinho der Ältere.

Im Raum begann es dunkel zu werden. Es war die rasch eintretende tropische Dunkelheit, die durch Gewitterwolken am Horizont noch beschleunigt wurde. Das dämmernde Tageslicht hatte einen nebelhaft bläulichen Schimmer. Ein Blitz durchzuckte das Stückchen Himmel, das durch das hohe Fenster zu sehen war, und sandte blendende elektrische Strahlung ins Zimmer. Dröhnender Donner folgte. Als sei dies das Signal, schalteten die Haussensoren das Licht an, wo immer sich Menschen befanden. Gelber Schein erfüllte den Raum.

Vor seinem Sohn blieb der Präfekt jetzt stehen. »Wie kann mein eigener Sohn, ein bandeirante, ein jefe der irmandades, derartige carsonitische Idiotien von sich geben?«

Joao blickte zwischen seinen Stiefeln zu Boden. Er empfand gleichzeitig Groll und Scham. Seinen Vater auf diese Weise zu stören, das war eine schmerzliche Sache in Anbetracht des empfindlichen Herzens Martinhos des Älteren. Aber der alte Mann war so blind!

»Dieser Pöbel von Farmern lachte mich aus«, erklärte Martinho der Ältere. »Ich sagte ihnen, dass wir die Grünfläche in diesem Monat um zehntausend Hektar vergrößern würden, und die lachten. Das glaubt Ihnen doch nicht einmal Ihr eigener Sohn!, sagten sie. Sie berichteten mir einiges von dem, was du gesagt haben sollst.«

»Es tut mir sehr leid, dass ich dir Ungelegenheiten bereitet habe, Vater«, sagte Joao. »Die Tatsache, dass ich ein bandeirante bin...« er zuckte die Achseln. »Wie hätte ich sonst die Wahrheit über dieses Vernichtungsprogramm erfahren sollen?«

Sein Vater erbebte.

»Joao! Willst du damit sagen, du habest einen falschen Eid geleistet, als du den irmandades Treue gelobtest?«

»So war es nicht, Vater.«

Joao holte ein Spraymans-Emblem aus seiner Brusttasche und drehte es zwischen seinen Fingern. »Ich glaubte daran... damals. Wir konnten mutierte Bienen züchten und jede Lücke in der Insektenökologie damit füllen. Das glaubte ich. Wie die Chinesen sagte ich: Nur die Nützlichen sollen leben! Aber das war vor Jahren, Vater, und inzwischen ist mir klargeworden, dass wir nicht hinreichend verstehen, was Nützlichkeit bedeutet.«

»Es war ein Fehler, dich in Nordamerika erziehen zu lassen«, sagte sein Vater. »Denn dort bist du von der carsonitischen Häresie angesteckt worden. Die können ja ruhig der ökologisdien Neuordnung der restlichen Welt fernbleiben - sie haben ja auch nicht so viele Millionen Mäuler zu stopfen. Aber mein eigener Sohn!«

»Draußen in den roten Gebieten«, sagte Joao beschwichtigend, »sieht man so allerhand, Vater. Dinge, die schwer zu erklären sind. Die Pflanzen sehen dort weit gesünder aus, und die Früchte sind...«

»Nur ein Übergangsstadium«, sagte sein Vater. »Wir werden uns Bienen züchten, die allen nur erdenklichen Anforderungen gewachsen sind. Die Zerstörer nehmen uns das Brot vom Munde weg. Wie können wir uns wehren? Das ist sehr einfach. Sie müssen sterben und durch Geschöpfe ersetzt werden, die eine der Menschheit nützliche Funktion erfüllen.«

»Die Vögel sterben, Vater«, sagte Joao.

»Aber wir retten die Vögel! Von jeder Art gibt es Exemplare in unseren Schutzgebieten. Wir werden neuartiges Futter bereitstellen, um sie...«

»Was aber geschieht, wenn unsere Barrieren durchbrochen werden... bevor wir den natürlichen Bestand an Insektenfressern ergänzen? Was passiert dann?«

Martinho der Ältere fuchtelte mit dünnen Fingern unter der Nase seines Sohnes herum. »Das ist Unsinn! Ich will nichts mehr davon hören! Du weißt, was diese matneluco-Farmer noch sagten? Sie sagten, sie hätten bandeirantes gesehen, die wieder in die grünen Gebiete zurückgekehrt seien, um ihre Jobs dort zu verlängern! Das haben sie gesagt. Auch das ist Unsinn - aber es ist eine natürliche Konsequenz solch defätistischen Geredes, wie ich es eben von dir gehört habe. Und jeder Rückschlag, den wir erleiden, stützt solche Vorwürfe!«

»Rückschläge, Vater?«

»Ja, Rückschläge sagte ich!«

Senhor Prefect Martinho drehte sich auf dem Absatz um und ging zu seinem Schreibtisch und wieder zurück. Erneut blieb er vor seinem Sohn stehen, die Hände in die Seiten gestemmt. »Du beziehst dich natürlich auf die Piratininga?«

»Du beschuldigst mich, Vater?«

»Deine irmandades waren in diesem Bereich.«

»Nicht einmal ein Floh ist bei uns durchgekommen!«

»Vor einer Woche war die Piratininga noch grün. Jetzt wimmelt es dort, wimmelt von ,..«

»Ich kann mich nicht neben jeden bandeirante im Mato Grosso stellen«, protestierte Joao. »Wenn die...«

»Die IOO gibt uns nur Sechs Monate, um dort aufzuräumen«, sagte Martinho der Ältere. »Sechs Monate!«, fügte er mit erhobenen Händen und rot im Gesicht hinzu. »Dann wird ganz Brasilien mit einem Embargo belegt - so wie es auch mit Nordamerika war.« Er senkte die Arme. »Kannst du dir vorstellen, unter welchem Druck ich stehe? Kannst du dir vorstellen, was ich mir über die bandeirantes anhören muss, vor allem über meinen eigenen Sohn?«

Joao kratzte sich mit dem Spraymans-Emblem das Kinn. Als sein Vater die Internationale ökologische Organisation erwähnte, hatte ihn das an Dr. Rhin Kelly erinnert, eine charmante Direktorin der IOO. Er sah sie vor seinem geistigen Auge, wie er sie zuletzt im A’Chigua-Nachtclub in Bahia gesehen hatte - rothaarig, grünäugig... So reizend und seltsam. Jetzt war sie schon seit fast sechs Wochen vermisst - irgendwo im sertao, und manche sagten, sie müsse längst tot sein.

Joao sah seinen Vater an. Wenn der alte Mann nur nicht so reizbar wäre. »Du regst dich unnötig auf, Vater«, sagte er. »Die Piratininga war keine Vollbarriere, nur ein...«

»Ich rege mich auf!«

Die Nasenflügel des Präfekten weiteten sich. Er beugte sich zu seinem Sohn hinunter. »Zweimal haben wir schon den Termin überschritten. Wir erreichten eine Verlängerung, als ich meldete, dass du und die bandeirantes von Diogo Alvarez die Piratininga gesäubert hatten. Wie soll ich erklären, dass sie jetzt wieder verseucht ist und dass wir von vorn anfangen müssen?«

Joao steckte das Spraymans-Emblem in seine Tasche zurück. Mit seinem Vater war an diesem Abend einfach nicht zu rechten. Frustration packte ihn. Dennoch, man musste es dem alten Mann sagen; irgendjemand musste es ihm sagen. Und irgendjemand vom Format seines Vaters musste in die Zentrale gehen und die Leute dort aufwecken, sich ihnen verständlich machen.

Der Präfekt ging zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich. Ein altes Elfenbeinkruzifix stand darauf, das der große Aleihadinho geschnitzt hatte. Offenkundig um sein seelisches Gleichgewicht wieder herzustellen, nahm er es in die Hand, doch seine Augen wurden weit und starr. Langsam stellte er das Kreuz wieder auf den Schreibtisch zurück, ohne den Blick davon zu wenden.

»Joao«, flüsterte er.

Sein Herz!, dachte Joao.

Er sprang auf und eilte zu seinem Vater hinüber. »Vater! Was ist?«

Mit zitternden Fingern deutete der ältere Martinho auf etwas.

Zwischen den Dornen der Krone, über das schmerzentstellte elfenbeinerne Gesicht, über die angespannten Muskeln der Christusfigur krabbelte ein Insekt. Es war elfenbeinfarben und erinnerte der Form nach an einen Käfer. An der Brust und den Seiten hatte es jedoch eine Unzahl winziger Klauen, und seine abnorm langen Fühler waren mit feinsten Härchen bedeckt.

Der ältere Martinho griff nach einer Papierrolle, um das Insekt zu erschlagen, aber Joao hinderte ihn daran. »Warte. Das hier ist neu. So etwas habe ich noch nie gesehen. Gib mir eine Lampe. Wir müssen ihm folgen und herausfinden, wo es nistet.«

Senhor Prefect Martinho murmelte etwas Unverständliches, holte aus seiner Schreibtischschublade ein kleines Permalicht und gab es seinem Sohn.