PROLOG

Alles begann mit einem Sturz ins Wasser.

Stefan hatte sich vom Picknickplatz weggeschlichen, da niemand auf sein »Wer geht mit mir schwimmen?« reagierte.

Seine Eltern waren mit seinen Geschwistern beschäftigt. Fred, mit zwölf Jahren der Älteste von ihnen, musste pinkeln und fluchte leise hinter einem Busch, weil er das nicht im Freien konnte.

»Come on, Freddie. You can do it. Let it flow.«

Emma, die Mittlere und das »Toastkind«, wie sie sich deshalb selbst nannte, durchsuchte alle Taschen. Sie konnte ihre Bücher nicht finden, war aber vollkommen sicher, sie eingesteckt zu haben. Ihre Mutter suchte mit, denn Emma wurde nervös, wenn sie nichts zu lesen hatte.

Ihr Vater, der aus England stammte, nannte Emma dann liebevoll »cold turkey« und lachte.

Stefan wusste nicht, wieso seine Schwester ohne Buch ein kalter Truthahn sein sollte. Aber Emma schien es zu wissen oder zumindest blöd zu finden, denn sie verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

Die Familie war am Morgen überstürzt aufgebrochen, in den letzten beiden Wochen hatten Regenfälle und Sturmböen einander abgewechselt, als käme die nächste Sintflut.

An diesem Sonntag war endlich der ersehnte erste heiße Sommertag, und sie wollten jede Sekunde nutzen, denn niemand traute dem Wetter.

Und weil eben alle so beschäftigt und aufgeregt waren, achtete keiner auf Stefan. Mit seinen acht Jahren war er der Jüngste.

Manchmal hatte er den Eindruck, er könne sich in seiner Familie unsichtbar machen.

Es war wie das »Beamen« in seiner Lieblingsserie Raumschiff Enterprise. Nur eben ein bisschen anders. Er musste sich nicht in Luft auflösen. Es reichte, wenn er keinen Mucks von sich gab und sich dabei vorstellte, er wäre gar nicht da.

Es funktionierte nicht immer. Aber oft.

Als er außer Sichtweite des Picknickplatzes war, rannte er auf den Steg zu, der in die Donau führte. Wegen des vielen Regens der vergangenen Tage war das Holz aufgeweicht und mit einer glitschigen Schlammschicht überzogen. Er rutschte aus und landete auf dem Hintern. Wie ein Pfeil schoss er in den Fluss. Und ging sofort unter. Die reißende Strömung drückte ihn tiefer und ließ ihn nicht wieder hochkommen. Sein Brustkorb krampfte sich zusammen, als er statt Luft Wasser einatmete. Schlagartig explodierten Angst und Panik in ihm. Alles wirbelte. Er konnte nichts mehr erkennen. Kein Oben und kein Unten. Sein ganzer Körper flehte. Keine Hilfe. Nur noch mehr Wasser in seinen Lungen. Mehr. Und mehr. Es zerriss ihn. Und plötzlich wurde alles dunkel. Zuerst verließ ihn die Kraft. Dann wurde die Angst weniger. Bis sogar sie schließlich verebbte. In ihm wurde es ganz still. Er verschwand. Wie beim Beamen.

Als er die Hände auf dem Oberarm spürte, war es, als wäre das gar nicht mehr sein Körper. So, wie wenn man mitten in der Nacht aufwacht, weil man auf seinem Arm eingeschlafen ist und den nicht richtig spürt. Die Hände rissen und zogen ihn. Es tat kaum weh. Auf seinem Gesicht wurde es kühl.

War das Luft?

»Ich hab ihn, ihn hab ihn«, hörte er seine Mutter von ganz weit entfernt. Ihre Stimme klang schrill und gleichzeitig wie unter Wasser. »Stefan, hörst du mich? Stefan?«

Er fühlte ein Rütteln und wollte antworten, aber es ging nicht. Jemand quietschte. War das Emma?

»Mama, was ist mit ihm?«, schrie Fred.

Er wurde unter den Achseln gepackt und aus dem Wasser gezogen.

»Holt euren Vater.«

Irgendwas drückte auf seine Brust, wieder und wieder. Zuerst spürte er es kaum. Dann wurde es stärker und stärker. Und plötzlich tat es unglaublich weh. Er musste husten und spucken und ihm wurde schlecht. Das Wasser spritzte ihm aus Mund und Nase, und als er einatmete, stach seine Lunge, als wären darin Tausende Nadeln. Er blinzelte und sah in die Augen seiner Mutter. Sie weinte, streichelte ihm über das Gesicht, küsste seine Wangen.

»Wie geht es dir, mein armer Liebling?«

Er wollte etwas sagen, aber es kam nur ein Schluchzen heraus.

»Stevie, Stevie. O my god.«

Sein Vater fiel auf die Knie, drückte ihn an sich, während seine Mutter nicht aufhörte, ihm über den Rücken zu streicheln. Sogar die Hände von Emma und Fred griffen nach ihm, als müssten sie sich vergewissern, dass er wirklich da war.

Sein Vater hob ihn hoch, so behutsam, als wäre er ein sehr kostbares Paket.

In diesen Armen war Stefan in Sicherheit. Er klammerte sich wie ein Äffchen an Johns Hals, vergrub sein Gesicht im weichen Vollbart. Das hatte er früher immer so gerne getan. Diese Fülle aus Haaren wie flauschiger Draht, in die er seine Nase gesteckt hatte. Ganz genau so roch sein Vater, wie dieser Bart.

Doch jetzt war da noch ein anderer Geruch, nach diesen scharfen Pfefferminzbonbons, die so auf der Zunge brannten.

Als Stefan auf der Picknickdecke saß, eingeklemmt zwischen seinen Eltern, kam es ihm vor, als wären sie drei miteinander verbundene Legosteine.

Emma fütterte ihn mit Keksen, Fred ließ ihn nicht aus den Augen, und seine Eltern fragten alle paar Minuten, wie es ihm ging, ob er etwas brauchte, ihm etwas wehtat?

Irgendwann stand sein Vater auf und sagte: »Lasst uns zurück zum Wasser gehen.«

Stefan wollte nicht, er wollte nie wieder dorthin, geschweige denn sonst in die Nähe eines Gewässers. Er fing an zu weinen und krallte sich an der Picknickdecke fest.

Sein Vater strich ihm über den Kopf.

»Vertraust du mir, Stevie?«

Er wartete, bis Stefan nickte. Erst dann hob er ihn wieder hoch und trug ihn zum Ufer.

»Stevie, ich weiß, du hast Angst. Aber kannst du dich erinnern an die Story, wenn man vom Pferd fällt?«

Stefan schüttelte den Kopf. Er wäre jetzt lieber mit jeder Art von Pferd davongeritten, als auch nur eine Zehenspitze in den Fluss zu stecken.

Sein Vater lächelte, strich ihm die Haare aus der Stirn und flüsterte ihm ins Ohr.

»Wenn du noch mal schwimmst, mit Emma und Fred, dann wirst du dich immer daran erinnern. Und irgendwann vergisst du die schlimme Sache von vorhin. Mummy steht da und ist sofort im Wasser, wenn du sie brauchst. Okay?«

Stefan sah hinüber zu seiner Mutter. Sie sah ein bisschen so aus wie damals, als der Arzt gesagt hatte, die roten Punkte auf seiner Haut seien Scharlach.

»Emma und Freddie, ihr passt auf Stevie auf, okay?«

Emma nickte und griff gleich nach Stefans Hand, kaum hatte sein Vater ihn abgesetzt. Fred reichte ihm die andere.

Vorsichtig rutschte er an ihren Händen bis zum Ende des Stegs. Er ließ die beiden nicht mal los, als sie bereits im Wasser waren.

Zuerst brauste die Angst noch tosend in ihm, wie eine Horde wilder Fliegen. »Bss-bss-bss« dröhnte sie in seinen Ohren. Sie ließen sich zu dritt treiben. Die Strömung war sanfter geworden, Stefan fühlte sie nur ganz leicht an den Füßen.

»Wir sind ein Kreis aus Fleisch und Blut im Wasser«, rief Emma.

»Igitt«, sagte Fred. Emma quietschte vor Lachen.

»Ja, das seid ihr«, rief ihr Vater vom Ufer zurück.

Sonnenstrahlen trafen auf die Wasseroberfläche und verwandelten sie in flüssiges Licht.

Es dauerte eine Weile. Aber irgendwann wurde dieses Brausen in Stefan tatsächlich weniger. Bis es schließlich ganz verebbte und die wilden Angst-Fliegen sich in Luft auflösten.

Und als Stefan die Hände seiner Geschwister losließ und sie nebeneinander schwammen, war es noch immer in Ordnung. Das Wasser trug ihn und Emma und Fred. Irgendwie füllte es die losen Stellen zwischen ihnen aus, sogar wenn sie sich nicht festhielten. Er winkte zum Ufer, sein Vater hatte recht gehabt.

»Du hast es geschafft, Stevie. Das war sehr mutig!«

Stefan war an diesem Abend in seinem Bett vor dem Einschlafen so glücklich, dass er sicher war, dieser Tag war besser als der Besuch im Prater vor zwei Monaten. Besser als fünf Folgen Raumschiff Enterprise hintereinander. Und sogar besser als die Nacht, als sie im Garten gezeltet hatten.

Er würde morgen seinen Freunden in der Schule davon erzählen. Und alle wären schwer beeindruckt.

Doch das passierte nie.

Denn in dieser Nacht verschwand sein Vater aus der Familie. Seine Seite des Bettes war am Morgen leer, seine Schlüssel lagen am Küchentisch. Er war einfach weg. Oder wie Emma es nannte: »Er hat sich wie eine Fata Morgana in Luft aufgelöst.«

Keiner von ihnen nannte ihn je wieder Papa.

Alles, was von John Wilkinson blieb, war eine krakelige, wahrscheinlich im Dunkeln geschriebene Nachricht auf einem Notizzettel, den er auf sein Kopfkissen gelegt hatte.

I’m sorry. Bitte verzeiht mir. John

Für meine Eltern.
Und für Joseph.

Wasser ist ein mysteriöses Material.

Es ist ein einfaches Molekül.

Aber es verhält sich auf sehr überraschende Weise.

Dr. Adam Wexler, 2018

2.

Hannah Schneider war froh, als sie endlich das Klingeln an der Tür ihrer Hausverwaltung hörte. Seit diesem Anruf vor einer Stunde saß sie wie auf Nadeln.

»Bitte sag, dass Martin keine Überraschungsparty für mich gibt«, sagte sie, kaum dass sie geöffnet hatte. Stefan senkte sofort den Blick. Ihr jüngster Sohn war zwar ein erfolgreicher Wissenschaftler mit diversen Auszeichnungen, aber er war schon immer ein dramatisch schlechter Lügner gewesen. Er konnte nie den Augenkontakt halten und bekam diesen überforderten Gesichtsausdruck. Hannah wusste Bescheid, bevor er ihr überhaupt den Ansatz einer Antwort lieferte.

»Oh Gott, Martin tut es wirklich«, sagte sie.

Schon die ganze Woche hatte sie sich auf einen gemütlichen Abend mit ihm, ihren Kindern und beiden Enkelkindern im Fratellis, ihrem Stammitaliener, gefreut.

»Was? Nein, natürlich nicht«, bemühte Stefan sich. »Alles Gute zum Geburtstag, Mama.«

Ihr Sohn küsste sie eilig auf die Wange.

»Also, gehen wir?«

Hannah strich sich den engen schwarzen Seidenrock glatt, um Zeit zu gewinnen. Kurz fragte sie sich, ob man seine eigene Überraschungsparty versäumen durfte? Nein, natürlich nicht. Dass sie überhaupt daran dachte, musste am Sekt liegen, mit dem sie am Nachmittag im Büro angestoßen hatten. Sie vertrug anscheinend tatsächlich keinen Alkohol mehr. Sie fuhr sich über das Gesicht, ihre sonst hochgesteckten dunkelblonden Locken flossen über die Schultern. Sie war am Morgen vor dem Büro beim Yoga gewesen, wie jeden Donnerstag. Hätte sie das mit der Party gewusst, wäre sie nicht hingegangen. Sie war so müde. Vielleicht lag es auch daran, dass sie die letzten Nächte kaum geschlafen hatte.

Nein, nicht daran denken, es gab jetzt Wichtigeres. Wo waren eigentlich ihre Schuhe? Nachdem ihre Sekretärin Frau Karinger gegangen war, hatte sie sie ausgezogen, aber sie war so zerstreut, dass sie keine Ahnung mehr hatte, wo.

»Komm bitte noch rein, Stefan. Ich muss meine Schuhe suchen.«

»Sind sie das dort?«

Stefan deutete zur Biedermeierkommode. Unter den geschwungenen Holzbeinen lugten zwei schwarze Absätze hervor. Hannah konnte sich gar nicht erinnern, wie sie dort gelandet waren. Sie musste sich konzentrieren.

Eilig fischte sie die Pumps hervor und ging im Kopf die Liste ihrer Freundinnen durch. Wenn Martin ihre engsten und von einigen deren Partner eingeladen hatte, dann wären es um die fünfzehn Personen. Oder zwanzig. Höchstens.

»Hat Martin dir gesagt, wie viele Gäste es sein werden?«, fragte sie, während sie in die Schuhe schlüpfte.

»Wir sollten jetzt los«, wich Stefan aus.

»Stefan, bitte. Wie viele Leute kommen heute Abend?«

Sie sprach absichtlich sehr langsam und deutlich, wie immer, wenn ihr etwas wirklich wichtig war. Das funktionierte meistens. Stefan seufzte und runzelte die Stirn.

»Na gut. Woher weißt du es?«

Er wirkte bekümmert. Sie sah ihn an und wurde von einer solchen Liebe erfasst, dass sie ganz automatisch ihre Hand ausstreckte und ihm über die Wange streichelte. Erst als sie seinen erstaunten Blick bemerkte, registrierte sie, was sie da tat. Als wäre er ein kleiner Junge und nicht ein einunddreißig Jahre alter Mann. Rasch zog sie ihre Hand zurück.

»Die Cateringfirma hat vor einer Stunde angerufen, weil sie nicht ins Haus gekommen sind. Sie hatten meine Nummer aus dem Internet. Ich habe gesagt, das muss ein Irrtum sein, da haben sie anscheinend ihren Fehler bemerkt und sehr schnell aufgelegt. Also, wie viele?«

»Fünfundfünfzig.«

Sie zuckte zusammen.

»Wie bitte?«

Er nickte. »Es erwarten dich fünfundfünfzig Gäste.«

»Nein!« Ihre Stimme war hochgerutscht. »Weil ich fünfundfünfzig Jahre alt werde, hat Martin fünfundfünfzig Gäste eingeladen?«

Er deutete auf ihre weiße Bluse.

»Ja. Und du hast da einen kleinen Kaffeefleck.«

Sie sah an sich herunter.

»Ich muss in die Küche.«

Stefan folgte ihr. Sie deutete auf den schwarzen Esstisch, auf dem eine halbe Sachertorte mit einer abgebrannten Geburtstagskerze stand.

»Möchtest du ein Stück?«

»Nein, danke. Wir sollten wirklich los.«

»Gib mir fünf Minuten.«

Während sie ihre Bluse reinigte, fiel ihr im Spiegel über dem Waschbecken auf, dass ihr Haaransatz an den Schläfen schon wieder grau war. Die Zeichen der Zeit hatten sie nach all den Jahren doch überraschend plötzlich eingeholt. Vielleicht hatte sie es aber bis jetzt auch einfach nicht bemerkt. Oder ausgeblendet. Sie musste daran denken, wie sie früher manchmal für die ältere Schwester ihrer Kinder gehalten worden war.

Sie war noch so jung gewesen, als Fred auf die Welt kam. Einen Augenblick blieb ihr Blick an ihrem Spiegelbild hängen. Wo war die naive, hoffnungsvolle Hannah Schneider von damals?

Stefan trat hinter sie. Er tippte auf sein Handgelenk, als wäre dort eine Uhr.

»Du siehst sehr gut aus, Mama.«

»Danke. Aber hätte Martin nicht einfach fünfundfünfzig Kerzen in eine Torte stecken können?«, murmelte sie und betrachte ihren Sohn im Spiegel.

Erst wenn sie ihn neben sich sah, fiel ihr wieder auf, wie ähnlich er seinem Vater sah. Genauso hinreißend, aber im Gegensatz zu John hatte sie bei Stefan den Eindruck, es würde ihn ärgern. Dabei war alles an seinem Gesicht eine fast schon perfekte Einheit. Die melancholischen dunklen Augen unter den dichten Brauen, die hohen Wangenknochen, das schnittige Kinn und die geschwungenen Lippen. Natürlich fand jede Mutter ihre Kinder schön, aber Stefan sah aus, als hätte John ihn gemalt. Was würde John wohl dazu sagen, wenn er …

Sie stoppte die Frage, noch bevor sie sie beendet hatte. Was war das nur in letzter Zeit? Immer wieder tauchte John in ihren Träumen auf und weckte sie mitten in der Nacht. Und selbst dann, wenn sie mit klopfendem Herzen wach lag, hatte sie den Eindruck, als würde er neben ihr am Bett sitzen.

Sie konzentrierte sich auf Stefan, der ungeduldig hinter ihr stand.

Seine blasse Haut und die leicht eingefallenen Wangen verrieten ihr, dass er zu viel arbeitete. Ob er glücklich war? Stefan hatte noch nie viel geredet. Nein, das stimmte so nicht, aber diesen Gedanken schob sie rasch beiseite.

Er hob die Augenbrauen zu einer stummen Frage. Für einen Augenblick war es fast so, als würde John hinter ihr stehen und nicht ihr Sohn.

Sie sah rasch weg, mit einer Hand stopfte sie die Bluse in den engen Rock, während sie eine Spraydose aus dem Schrank unter dem Waschbecken holte. In Sekundenschnelle waren ihre Schläfen so dunkelblond wie der Rest ihrer Haare, sie drehte sie zu einem Knoten und steckte sie fest. »Fünfundfünfzig«, sagte sie, als könnte sie es selbst nicht glauben. Es war so schnell passiert. »Ich bin zu jung, um alt zu sein, und zu alt, um jung zu sein.«

Stefan lächelte milde im Spiegelbild.

»Alter ist relativ.«

»Nur für Wissenschaftler.«

Sie verteilte Rouge auf den Wangen. Wo war der Abdeckstift? Ihre Augenschatten hatten die Farbe von Auberginen.

»Mama, wir sollten jetzt los.«

»Eine Minute.«

Stefan schien es aufzugeben, er setzte sich an den Tisch, brach ein kleines Stück Torte ab und steckte es in den Mund. Sie drehte sich um und betrachtete ihn. Er starrte gedankenverloren vor sich hin. Sein hellgrünes Hemd mit den pinkfarbenen Flamingos blitzte unter dem Sakko hervor. Hoffentlich würde sich Fred nicht darüber lustig machen. Schon die letzten Male war ihr Freds vordergründig lustiger, aber in Wahrheit abschätziger Kommentar über die Vorliebe seines Bruders für Hawaiihemden nicht entgangen. Im nächsten Moment schüttelte sie über sich selbst den Kopf.

Meine Güte, ihre Söhne waren erwachsene Männer und keine kleinen Jungen. Wieso dachte sie so etwas? Warum jetzt auf einmal? Waren das die Wechseljahre? Oder war etwa ihr Geburtstag daran schuld? Nein, stopp. Es war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, daran zu denken. Sie wollte sich schon wieder zum Spiegel drehen, da sah sie den Schlüssel. Er lag neben dem Teller mit der Torte. Sie musste ihn liegen gelassen haben, als sie aus dem Keller hochgekommen war.

»Wenn du und Emma und Fred mit Lydia und den Zwillingen kommen, wer sind dann eigentlich die anderen – achtundvierzig Gäste?«, lenkte sie ab, während sie den Schlüssel nahm und ihn beiläufig in der Besteckschublade verschwinden ließ.

Hatte Stefan etwas bemerkt? Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Sonst würde sie sich garantiert verraten. Wieso war sie überhaupt dort unten gewesen? Das war dumm, so dumm.

»Keine Ahnung«, sagte Stefan. Er klang ganz normal, stellte sie erleichtert fest. Nein, es war ihm sicher nicht aufgefallen.

Sie fand den Abdeckstift und verteilte die Creme unter den Augen. Im Spiegelbild warf sie Stefan einen kurzen Blick zu. Er schien genauso wenig begeistert von der Party zu sein wie sie.

Wen Martin wohl eingeladen hatte? Auf jeden Fall musste er sich unglaubliche Mühe gegeben haben. Darum hatte er die letzten beiden Wochen also oft so angespannt gewirkt. Sie sollte sich wirklich zusammenreißen. Ein bisschen stärkere Unterstützung konnte da auch nicht mehr schaden. Sie holte eine Flasche Cognac aus einem der Küchenschränke, goss sich zwei Fingerbreit ein und prostete Stefan zu.

»Auf ein rauschendes Fest«, sagte sie und leerte das Glas auf einen Zug.

»Ich kann mich …«

Das Klingeln von Stefans Handy unterbrach seinen Satz. Er formte stumm Martins Namen, während er abhob.

»Hallo, Martin. … Wir fahren sofort los. … Oh, dein Auto springt nicht an. Ja, natürlich holen wir dich von zu Hause ab und fahren dann gemeinsam ins Fratellis.« Das war also der Vorwand, unter dem Stefan sie zur Überraschungsparty bringen sollte statt zum Italiener. »Nein, noch in der Hausverwaltung … ja, wir brechen jeden Moment auf.«

Er klang bei seiner Lüge so unecht und angestrengt, als würde er einen Text ablesen, den er nicht verstand. Es fiel ihr schwer, das Lachen zu unterdrücken. Aber Martin schien Stefans Mühen nicht zu bemerken. Sie hörte ihn voller Vorfreude aus dem Telefon glucksen wie ein Kind am Weihnachtsabend.

Ein Gefühl von Dankbarkeit überfiel sie so plötzlich, dass sie sich umdrehen musste. Tränen stiegen ihr in die Augen. Der Cognac war doch ein Fehler gewesen. Jetzt wurde sie auch noch rührselig.

»Bist du fertig?«, fragte Stefan, nachdem er aufgelegt hatte. Sie nickte, dabei war ihr plötzlich wirklich nach Weinen zumute. Warum, wusste sie selbst nicht. Sie wollte es nicht, aber die Tränen kullerten über ihre Wangen.

»Mama?«

Er trat neben sie mit einem erschrockenen, fast schon schockierten Blick. Sie schüttelte den Kopf, winkte ab und streichelte ihm reflexartig über den Oberarm.

»Alles in Ordnung, Stefan. Deine Mutter spinnt nur ein bisschen.«

Sie versuchte ein Lachen, merkte aber selbst, wie es ihr misslang. Schnell wischte sie sich die Tränen ab und übermalte die länglichen Spuren im Make-up mit dem Abdeckstift. Als könnte sie das schlechte Gewissen, das aus seinem Versteck gekrochen war und ihr die Brust zuschnürte, damit ausradieren.

4.

Emma lag auf dem Bett ihres alten Kinderzimmers im ersten Stock der Villa und sah sich um. Wie sehr sich hier alles verändert hatte. War sie wirklich nicht mehr herinnen gewesen, seit der Raum zu einem Gästezimmer umfunktioniert worden war?

Statt ihrer Poster von David Bowie und der Kunstdrucke von Chagall waren die Wände mit einer englischen Rosentapete tapeziert. Der überquellende Bücherschrank war durch eine Kommode ersetzt worden, und vor den Fenstern hingen weiße Spitzenvorhänge.

»Hat sich Mama beruhigt?«, fragte sie Stefan und richtete die zwei Kissen unter ihren Füßen.

»Ich sehe sie nicht. Ich glaube, Fred hat sie ins Haus gebracht.« Stefan drehte sich vom Fenster, durch das er in den Garten hinuntersah, zu ihr. »Was ist mir dir? Bist du krank?«

Emma zögerte – aber nur einen winzigen Augenblick.

»Nein. Nur mein Kreislauf. Wahrscheinlich der Alkohol und die Hitze. Alles bestens.«

Im Gegensatz zu ihrem Bruder war sie eine sehr gute Lügnerin. In den letzten beiden Jahren war sie praktisch Expertin auf diesem Gebiet geworden.

Ihr Bruder nickte und blickte wieder aus dem Fenster in den Garten. Ob Georg noch da war?

»Was tut sich da unten?«, fragte Emma. Ihre Stimme klang perfekt arglos.

»Nichts. Die Gäste stehen in der Gegend herum, und die Stimmung ist nicht gerade berauschend.«

»Und dieser fremde Mann unter dem Baum?«

Nein, sie würde den Namen nicht aussprechen. Weil er es nämlich nicht war, das war doch klar.

»Er ist nicht mehr da.«

Stefan beugte sich ein wenig näher zur Glasscheibe.

»Sag mal, kennst du diese rothaarige Frau im hellblauen Anzug? Sie hat auf der Veranda geraucht und mich gefragt, ob ich dein Bruder bin. Der hübsche.«

Er verdrehte die Augen, und Emma lachte auf.

»Ja, das ist Fabienne. Sie ist mit mir gekommen.«

Stefan fragte nicht nach, als wäre es ihm Antwort genug. Dabei kannte er Fabienne gar nicht. Emma war am Vormittag in ihrer Stammbuchhandlung für den monatlichen Büchereinkauf gewesen. Da kam Martins SMS, sie solle bitte unbedingt am Abend jemanden mitbringen, da Stefan gerade für seine Begleitung abgesagt hatte. Sonst kämen nur vierundfünfzig Gäste, was, laut Martin, seinen ganzen Partyplan zerstören würde. Also hatte sie Fabienne, die Inhaberin der Buchhandlung, gefragt. Emma hatte dort viele Lesungen ohne Honorar gehalten und das sehr gerne getan. Fabienne sagte immer, sie wolle sich mit einer Einladung revanchieren. Nicht, dass Emma das nicht gerne angenommen hätte – Fabienne war lustig, aufmerksam, nett und interessant. Die Besuche in der Buchhandlung gehörten sogar zu Emmas spärlichen Highlights. Aber sie wusste, Fabienne wäre enttäuscht, wenn sie Emma in dieser Phase ihres Lebens näher kennenlernte. Im Moment war es besser, wenn ihre sozialen Kontakte sich nur auf Begegnungen beschränkten, die sie zeitlich kontrollieren konnte. In einem Zeitrahmen, in dem sie ihre Fassade als erfolgreiche Kinderbuchautorin unter Kontrolle hatte. Das meinte auch ihre Therapeutin. Vorerst.

Emma hätte ihren Bruder gerne gefragt, wen er noch im Garten sah. Vor allem wollte sie wissen, ob ihr Mann Georg dort unten stand. Ex-Mann – das passierte ihr ständig. Aber dann würde ihr Bruder vielleicht sagen, ja, ich sehe ihn. Neben seiner neuen Frau und dem Baby im Kinderwagen. Emma schloss die Augen. Sie hätte es Martin sagen sollen, als er sie gefragt hatte, ob es in Ordnung wäre, Georg einzuladen. Warum hatte sie das nicht getan? War sie Masochistin? Wollte sie so unbedingt ihrem Bild der Ich-bin-absolut-über-die-Scheidung-hinweggekommen-Emma entsprechen? Oder hatte sie sich schlicht und einfach danach gesehnt, ihn wiederzusehen?

Sie musste an die Szene vorhin im Garten denken.

»Weißt du, wieso Mama diesen Mann John genannt hat?«, fragte sie.

»Wegen zwei doppelten Cognacs«, sagte Stefan.

Emma lachte, sie dachte im ersten Moment, es sei ein Scherz. Doch Stefan nickte. Er sah aus, als würde er noch etwas sagen wollen. Sie wartete. Als er es nicht tat, seufzte sie leise.

»Weißt du, was komisch ist, Stefan? Früher habe ich manchmal gedacht, ich sehe John. Auf der Straße oder in einem vorbeifahrenden Auto. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich wirklich geglaubt, er wäre es. Sogar nachdem er gestorben ist. Aber noch nie hat ihm jemand so ähnlich gesehen wie dieser Mann heute.«

Stefan sah wieder aus dem Fenster. Als sei es ihm unangenehm, dass sie davon angefangen hatte. Und Emma musste daran denken, dass sie, Stefan und Fred als Erwachsene so verschieden waren – man hätte sie kaum noch für Geschwister gehalten.

Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann irgendeiner von ihnen das letzte Mal über John gesprochen hatte. Seit er tot war, wurde dieses Thema gemieden, als wäre es der Auslöser einer schlimmen Krankheit.

Der letzte Mensch, außer ihrer Therapeutin, dem Emma erzählt hatte, dass John vor einundzwanzig Jahren, zwei Jahre nach seinem Verschwinden, bei einem Autounfall in Thailand gestorben war, das war tatsächlich Georg gewesen. Sie hatte geweint, als sie darüber sprach, wie auf einer Bergstraße im Khao-Luang-Nationalpark ein Lkw zu schnell um die Kurve gefahren war und die Spur nicht halten konnte. Der entgegenkommende Bus, in dem sich neben vielen Touristen auch ihr Vater befunden hatte, stürzte dreißig Meter in die Tiefe.

Hatte sie eigentlich noch mehr deprimierende Gedanken, mit denen sie sich befassen konnte?

»Wen wolltest du heute Abend mitbringen, Stefan?«, fragte Emma.

»Kann ich dich allein lassen? Ich würde gerne mal runter in den Garten gehen«, wich er aus. So typisch für ihn. Stefan war wie ein Fisch, den man nicht fassen konnte. Kein Wunder, dass er Wasser erforschte, dachte sie oft.

Ihr kleiner Bruder, der Wissenschaftler, der sich nur wohlzufühlen schien, wenn er in seinem Aquarium hockte. So stellte sie sich sein Labor vor, wie ein großes Fischglas. Dabei war sie wahrscheinlich um nichts besser, schließlich hatte sie mit keinem Wort den wahren Grund ihrer Scheidung erwähnt.

Plötzlich schien es Emma kein so abwegiger Gedanke mehr, selbst nachzusehen, ob Georg noch da war. Sie stand vom Bett auf und stellte sich zu Stefan.

Im Garten passierte irgendetwas. Martin war wieder zu den Gästen getreten. Er eilte von Grüppchen zu Grüppchen, sah sich zwischendurch um, als würde er jemanden suchen. Und er schien etwas zu fragen, denn es wurde immer wieder mit Kopfschütteln und umhersuchenden Blicken reagiert.

Stefan sah sie an.

»Also, kann ich?«

Emma wollte ihm gerade antworten, dass er natürlich gehen könne, da entdeckte sie Georg. Er stand in der Nähe des Buffets und hielt dieses kleine Bündel im Arm. Seine Frau daneben hatte ein Fläschchen in der Hand und schüttelte es, als wäre es ein Cocktailshaker.

In Emma explodierte etwas. Sie stürmte ins Badezimmer, schlug die Tür hinter sich zu und riss den Toilettendeckel gerade noch rechtzeitig hoch. Sie versuchte sich leise zu übergeben, aber das war genauso unmöglich, wie sich nicht absolut erbärmlich zu fühlen. Sie sollte nicht hier sein. Er sollte nicht hier sein. Und dieses Baby sollte nicht da unten im Garten sein.

»Emma? Alles okay?«, fragte Stefan durch die Tür.

Sie wollte antworten, dass »alles gut« sei, da hörte sie die Schritte, die ins Zimmer gelaufen kamen.

»Ist meine Mutter hier?«, fragte Fred.

»Nein, unsere Mutter ist nicht hier«, antwortete Stefan mit genervter Betonung auf unsere. Fred tat immer so, als wäre Hannah nur seine Mutter.

»Wo ist Emma?«, fragte Fred. »Georg hat mehrmals nach ihr gefragt.«

Stefans Antwort konnte Emma nicht hören, sie übergab sich schon wieder. Es war ein Fehler, dass sie gedacht hatte, sie wäre so weit, herzukommen.

»Sind Sie sicher, dass Sie das wirklich wollen?«, hatte ihre Therapeutin mit diesem forschenden Blick gefragt. Warum eigentlich? Hätte sie es Emma nicht ausreden müssen?

Sie spülte sich den Mund mit Wasser aus. Als sie aus dem Bad kam, hielt sie sich am Türrahmen fest.

»Bist du schwanger?«, fragte Fred.

Das war typisch für ihn. Er musste immer alles wissen. Kein Wunder, dass er zur Polizei gegangen war.

Emma lachte heiser auf. Ihr Bruder hatte ja keine Ahnung, wie ironisch seine Frage war.

»Nein, bin ich nicht.«

Fred verzog seinen Mund zu diesem mitleidigen Ausdruck, der sie schon immer wahnsinnig gemacht hatte.

»Es ist ja nicht überraschend bei diesem Schreck eben«, sagte er, als wüsste er Bescheid.

»Fred, wo bist du?«, rief Martin aus dem Flur.

»Im Gästezimmer.«

Martin erschien außer Atem, sein rotes Hemd voller Schweißflecken.

»Hannah?«

Stefan und Fred schüttelten gleichzeitig die Köpfe.

»Verdammt. Sie ist weg. Weder im Haus noch im Garten«, sagte Martin und schluckte.

Emma warf einen Blick zu Stefan, der rasch zu Boden sah.

»Wir werden sie gleich finden«, beruhigte Fred Martin. »Der DJ soll Musik auflegen und ein bisschen für Stimmung sorgen. Emma und Stefan, ihr kümmert euch um die Gäste.«

Es klang wie ein Einsatzbefehl.

Bevor Emma etwas erwidern konnte, war er bereits aus dem Zimmer. Am liebsten hätte sie ihm nachgerufen, er solle sich selbst um die Gäste kümmern. Fred fragte nicht. Fred erteilte Anweisungen.

Sie hatte es noch nie leiden können, von ihm herumkommandiert zu werden. Erstaunlich, wie oft er es trotzdem versuchte. Vielleicht fiel es ihm auch einfach nicht auf.

Stefan wirkte unruhig, er kratzte sich am Kinn. Wahrscheinlich war es das Letzte, was er wollte, sich um irgendwelche fremden Gäste zu kümmern.

»Wir gehen jetzt zu diesem Mann«, beschloss Emma.

Im Wohnzimmer saß der Doppelgänger auf der riesigen dunkelbraunen Ledercouch im Kolonialstil. Aus der Nähe betrachtet war die Ähnlichkeit mit ihrem Vater zwar recht erstaunlich, aber bei Weitem nicht mehr so eindeutig. Er hatte die gleichen dunklen Augen, aber die Nase zierte ein ordentlicher Höcker. Bei genauem Hinsehen verdeckte der Bart einen kleinen, schmalen Mund. Die Lippen ihres Vaters waren wunderschön geschwungen gewesen. Wenn er sie gespitzt hatte, sahen sie aus wie ein Herz.

»Guten Abend.« Emma schüttelte ihm die Hand.

»Guten Abend. Gerhard Reiter.«

Ein anderer Name. Eine andere Stimme. Kein englischer Akzent. Stefan hielt sich im Hintergrund, als wäre er nur irgendein Partybesucher.

»Entschuldigen Sie, aber sagt Ihnen der Name Wilkinson etwas?«, fragte Emma.

Der Doppelgänger überlegte einen Moment.

»Leider, noch nie gehört. Warum? Oder warten Sie! Wilkinson, ist das nicht eine Rasierklingenmarke?«

Er schien sich zu freuen, als hätte er eine richtige Antwort gegeben, und nickte Emma zu.

»Nein, ich meine John Wilkinson«, sagte Emma.

Sie fand, sie hörte sich ein bisschen an wie Columbo, den sie gestern Nacht im Fernsehen hatte laufen lassen, um einzuschlafen.

Der Doppelgänger schüttelte den Kopf und rieb sich die Hände.

»Fragen Sie mich das, weil mich Frau Schneider vorhin mit einem John verwechselt hat?«

Emma nickte, es war ihr ein bisschen unangenehm. Als würde sie damit ihre Mutter verraten.

»Nein, der Name sagt mir gar nichts. Es tut mir leid, es hat Frau Schneider ja ziemlich erschreckt, als sie mich gesehen hat. Diese Wirkung habe ich sonst nur auf meine Ex-Frau.« Er lachte. »Pardon. Ich meine, ich habe die Homepage für Frau Schneiders Hausverwaltung entworfen. Da wir alles per Mail oder Telefon geklärt haben …«

»Wusste sie nicht, wie Sie aussehen. Verstehe.«

Jetzt hörte sich Emma tatsächlich an wie Columbo.

»Genau, das hat Frau Schneider auch gesagt.«

»Ach, Sie haben bereits mit ihr gesprochen?«

»Ja, sie war hier, bis vor ein paar Minuten. Ich glaube, sie hat gesagt, sie geht sich ein wenig frisch machen.«

»Wirklich? Na dann, vielen Dank«, sagte Emma.

Sie war verärgert, diese Hysterie von Fred war wieder mal typisch für ihn. Ihre Mutter war nicht verschwunden, und das hier war auch kein verschollener Verwandter ihres Vaters. Noch gab es sonst irgendein Geheimnis, das heute Abend gelüftet werden sollte.

Emma drehte sich zu Stefan, um ihn zu bitten, sie in den Garten zu begleiten. Noch länger konnte sie Georg wirklich nicht aus dem Weg gehen. Sie würde Stefan einfach sagen, er solle die ganze Zeit neben ihr bleiben, und es schnell hinter sich bringen. Das Gute an ihrem kleinen Bruder war, dass er sowieso nie Fragen stellte.

Doch Stefan war nicht mehr da.

Selten in ihrem Leben hatte Emma sich so allein gefühlt wie im nächsten Moment, als das Weinen eines Babys aus dem Garten ertönte.

3.

Stefan blieb im Vorgarten der Familienvilla stehen. Seine Mutter war gerade auf dem kleinen Kiesweg zum Garten, der hinter dem Haus lag, um die Ecke verschwunden. Er lauschte. Im nächsten Moment hörte er den Chor der Gäste rufen.

»Überraschung!«

Er wollte noch abwarten, bis der erste Trubel sich gelegt hatte, und ihr dann folgen. Er legte den Kopf in den Nacken. Es war ihm unangenehm, wie er vorhin reagiert hatte. Er war überfordert gewesen, denn obwohl seine Mutter ihm nur bis zur Brust reichte, hatte er sie in den vergangenen Jahren als groß und auf ihre Art robust wahrgenommen. Vorhin in der Hausverwaltung war sie ihm auf einmal ziemlich klein und zerbrechlich vorgekommen. Wieso hatte sie geweint? War etwas passiert? Hatte es mit ihrem Geburtstag zu tun?

Im Auto versuchte er sie darauf anzusprechen, aber sie hatte während der ganzen Fahrt fröhlich geplappert, wie aufgeregt sie sei. Dass sie noch nie im Leben eine Überraschungsparty bekommen hatte. Und er wollte ihr einerseits nicht die Laune verderben, und andererseits war er froh über ihren Stimmungswechsel. Obwohl er sich fragte, ob die Vorfreude wirklich so groß oder dem zweiten Cognac, den sie noch in der Hausverwaltung getrunken hatte, geschuldet war.

Warum hatte Martin ausgerechnet ihn gebeten, seine Mutter abzuholen? Normalerweise erledigte doch Fred mit Vorliebe alles, was auch nur im Entferntesten mit familiären Pflichten zu tun hatte.

Eine Wolke aus Zigarettenrauch stieg ihm in die Nase. Stefan sah sich um, konnte aber nicht entdecken, woher er kam. Stattdessen fiel ihm wieder einmal auf, wie sehr die Zeit hier stehen geblieben war. Jedes Mal überkam ihn dieses unbestimmte Gefühl zwischen Sehnsucht, Verzückung und dem Wunsch, sofort zu fliehen, wenn er nach Hause kam, in »die Villa«.

Er berührte das schmiedeeiserne Tor, schloss seine Finger um das kalte Metall, roch den fast schon penetranten Duft der Rosenbüsche, die den Zaun entlang wucherten. Alles war gleichzeitig fremd und vertraut. Er, Emma und Fred waren hier aufgewachsen, hatten miteinander gespielt, gestritten und Pläne geschmiedet. Und dann waren sie erwachsen geworden. Einer nach dem anderen war ausgezogen, nur ihre Mutter lebte noch immer in diesem Haus, in dem sie geboren worden war. Als sei es die einzige Konstante in ihrem Leben, in das sie wie ein Bumerang ständig zurückkehrte. Dabei stellte sie oft empört fest, die Villa sei doch viel zu groß für sie und Martin. Zwei Stockwerke, zwölf Zimmer, eine Veranda, ein Wintergarten, ganz zu schweigen von dem riesigen Garten. Früher hatte die gesamte Familie hier gewohnt, aufgeteilt in mehrere Generationen. Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel. Nach und nach hatten sich die Zimmer geleert. Doch auch wenn das halbe Haus ungenutzt blieb, war es noch immer eine Wertanlage. Verkaufen war nie eine Option gewesen, schon gar nicht in diesen Zeiten, in denen die nächste Finanzblase über allen schwebte. Ein leichter Windhauch wehte erneut Zigarettengeruch in seine Richtung. Das kam von der Veranda. Er drehte sich um. Dort saß im Halbdunkel eine Frau auf der Hollywoodschaukel. Sie hatte einen Aschenbecher auf dem Schoß, hielt eine Zigarette und nagte gleichzeitig am Daumennagel. Sie schien ihn nicht zu bemerken.

Er wollte sich schon davonstehlen, da rief sie plötzlich: »Guten Abend.«

»Guten Abend.«

»Ich hoffe, es ist okay, wenn ich hier rauche.«

Er sagte nichts, sie hob ein Glas, das sie vor sich am Boden stehen hatte, und prostete ihm zu.

»Sie sehen Emma Schneider sehr ähnlich«, stellte sie fest. Sie hatte etwas Katzenhaftes an sich, wie sie an ihrem Getränk nippte und dann den Kopf schieflegte.

»Ich bin ihr Bruder.«

»Der ältere oder der jüngere?«

»Der jüngere.«

»Ah.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Der hübsche.«

Stefan war gleichzeitig verwundert und peinlich berührt. Flirtversuche und Small Talk waren die Pforten seiner ganz persönlichen Hölle. Dankbar hörte er, wie im Garten »Hoch soll sie leben« angestimmt wurde. Er entschuldigte sich und floh in Richtung Gesang.

Martin hatte sich wirklich ins Zeug gelegt, der Garten war nicht wiederzuerkennen. Zwischen den Bäumen hingen bunte Lichterketten über den mit cremefarbenem Damast bedeckten Tischen. Daneben standen Kellnerinnen der Cateringfirma, die Tabletts mit Horsd’oeuvres balancierten. Etwas abseits gab es ein Buffet, auf dem es aus Edelstahlbehältern auf Rechauds dampfte. Der rauchige Geruch von Brennpaste vermischte sich mit dem Duft nach Gebackenem, gebratenem Fleisch und etwas süßlich Würzigem, Curry vielleicht. Weiter hinten befand sich sogar eine Tanzfläche, die von drei Scheinwerfern angestrahlt wurde. Ein großer, in den Rasen gesteckter Sternspucker in der Form eines Herzens begann zu sprühen, die Funken wanderten in die Mitte und ließen das Alter seiner Mutter erstrahlen: 55. Sie stand davor, hatte die Zähne aufeinandergepresst und die Mundwinkel unnatürlich weit auseinandergezogen. Sein mangelndes Talent zu lügen hatte er auf jeden Fall von ihr. Doch in dem Moment, als die Blitzlichter und Luftschlangen wie auf Kommando von allen Seiten auf sie einprasselten und Martin in einem weißen Anzug und rotem Hemd mit einem Strauß Rosen im Arm aus der Menge hervortrat, wurde ihr Strahlen wahrhaftig. Martin gab ein Zeichen, worauf zwei Kellnerinnen eine riesige Torte mit unzähligen brennenden Kerzen brachten. Jetzt sah Stefan auch Emma und Fred mit dessen Frau und den Zwillingen. Sie standen nicht weit von ihm entfernt, gleich neben dem Kastanienbaum. Er wollte ihnen winken, da blieb sein Blick an einem hochgewachsenen bärtigen Mann mit breiten Schultern hängen, der unter dem Baum stand. Stefan trat einen Schritt vor und kniff die Augen zusammen.

Das war sein Vater. John Wilkinson.

Nein, das konnte nicht stimmen. Dieser Mann hatte unglaubliche Ähnlichkeit mit seinem Vater. Zwar waren die Haare dieses Mannes grau und lang und zu einem Zopf gebunden, doch davon abgesehen sah er auf die Entfernung wirklich aus wie ein zwanzig Jahre älterer John Wilkinson. Sogar die Kleidung war ähnlich, weißes Hemd, schwarze Jeans, cognacfarbene Lederschuhe. Blitzschnell sah Stefan zu Emma und Fred, ob ihnen dieser Mann auch aufgefallen war. Seine Schwester war ein paar Schritte nach hinten getreten, er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Fred starrte den Mann mit einem so erschrockenen Ausdruck an, den Stefan nicht mehr von ihm kannte, seit sie erwachsen waren.

»John?«

Das war seine Mutter. Ihr Ausruf war mehr eine Frage und übertönte die Strophe »Gesund soll sie bleiben, gesund soll sie bleiben, dreimal so gesund«. Martin drehte sich in die Richtung, in die sie starrte.

»John?«, wiederholte sie.

Ihre Stimme überschlug sich, sie kreischte fast und übertönte das Lied. Ihr Gesicht war vor Schreck verzerrt. Als würde sie jeden Moment die Beherrschung verlieren. Die letzten Gäste, die noch gesungen hatten, hörten schlagartig auf.