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Wolf-Henning Petershagen

Ulm und Neu-Ulm

Kleine Stadtgeschichte

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UMSCHLAGMOTIVE

Vorderseite: Ulm von Südwesten, um 1883; Eberhard Emminger

(Stadtarchiv Ulm). Rückseite: Blick auf Ulm und Neu-Ulm

(Stadtarchiv Ulm/Nadja Wollinsky)

BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER
DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7917-3039-4

© 2019 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Herausgegeben vom Haus der Stadtgeschichte – Stadtarchiv Ulm

Reihen-/Umschlaggestaltung und Layout: Martin Veicht, Regensburg

Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2019

Diese Publikation ist auch als eBook erhältlich:

eISBN 978-3-7917-6150-3 (epub)

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Inhalt

De iure zwei Städte – de facto eine Doppelstadt

Vom Bärenhund zum Festungs-Ziegel

Land unter / Als die Donau ihr Bett verließ / Ein anderer Landschaftsraum / Als die Region den Äquator überschritt

Von den Mammutzahn-Schnitzern zur ältesten Ulmerin

Die ersten Bauern / Das Löwenmensch-Puzzle

Kelten, Römer, Alamannen

Handel, Verkehr und wandernde Grenzen / Die Verwandten der Donau

Das alamannische Ulm

Die Kirche ennet felds / Flurnamen erinnern an die Alamannenzeit

Die Pfalz Ulm

Im Abseits / Ulm vor tausend Jahren / Ulm wird wieder wichtig / Der Gang nach Canossa endet in Ulm / Der erste Tag in der Geschichte Ulms

Die Staufer

Eine völlig neue Stadt / Ulm vor 800 Jahren / Der Knochen-Keller

Das Jahrhundert der Großprojekte

Der Kleine und der Große Schwörbrief / Ulm boomt und baut ein Münster / Die Erweiterung von Stadt und Territorium / Bündnispolitik / Seit 1345: Der Schwörmontags-Schwur

Ulms kulturelle Blütezeit

Ulmer Spätgotik – ein Exportschlager / Ulms Bilderbuch-Rathaus / Denker und Drucker / Ulms mittelalterliche Wasserversorgung

Zeit des Umbruchs

Die wirtschaftliche und geistige Wende / Bürgerentscheid für die Reformation / Die Entmachtung der Zünfte / Bauernkrieg und Festungsbau / Die Folgen der »Kleinen Eiszeit« / Vorratsspeicher und Waffenkammern / Das Ulmer Fischerstechen

Krieg und Wissenschaft

Wallensteins gefräßiges Gefolge / Unter schwedischem Kommando / »Die Ulmer sind Mathematiker« / Wissens-Transfer: Pfarrer, Lehrer, Schulen / Warum die Ulmer »Kühdreckfresser« hießen

Der Niedergang der Reichsstadt

Der »Ulmer Gulden« / Truppen und Emigranten auf der Donau / Die Bürger begehren auf / Die Ulmer Aufklärer / Die ersten Vereine / Naherholung rechts der Donau / Die Schwanenwirtin

Die Teilung Ulms

Festungsgürtel wird zur Promenade / Ulm wird bayerische Provinzhauptstadt / Neue Grenze in der Donau / Neu-Ulms Embryonalstadium / Ulm ohne »Ulmer Winkel« / Der Schneider von Ulm

Brückenschläge und Festungsbau

Die Ludwig-Wilhelms-Brücke / Die Bundesfestung / Die Eisenbahn / Unruhige Zeiten / Die Industrialisierung / Die Rückkehr der Juden / Einwohner- und Stadtentwicklung / Die Infrastruktur / Die Vollendung des Ulmer Münsters / Der Ulmer Spatz

Krieg und Frieden

Das Korsett wird gesprengt / Zwischen den Kriegen / Das »Dritte Reich« / Sieben Tote vor dem Rathaus

Auferstanden aus Ruinen

Vertriebene und Entwurzelte / Schon wieder Garnison – und Hauptquartier / Erneute Brückenschläge / Boom und Krise / Quantität und Qualität / vh und HfG: Das Erbe der Scholls

Anhang

Zeittafel / Stadtplan / Bildnachweis / Literatur / Register

De iure zwei Städte – de facto eine Doppelstadt

Aus höheren Sphären betrachtet sind Ulm und Neu-Ulm eine Einheit, eine Stadt, durch die ein Fluss fließt, die Donau. Die Altstadt liegt am linken Flussufer. Nördlich davon sowie am anderen, südlichen Flussufer erstrecken sich die beiden Neustädte des 19. Jhs., erkennbar am zeittypisch angelegten rechtwinkligen Straßennetz.

Was man von oben allerdings nicht sieht: Die Neustadt am rechten Flussufer heißt Neu-Ulm, gehört nicht zum selben Bundesland wie die am linken Ufer, obwohl beide vom selben eiförmigen Grüngürtel umgeben sind, den die Wälle und Gräben der Bundesfestung aus dem 19. Jh. hinterlassen haben. Denn 1810 ließ Napoleon das einstige Ulmer Gebiet teilen, zog die neue Landesgrenze zwischen den Königreichen Bayern und Württemberg mitten in der Donau, und seither haben Ulm und Neu-Ulm, das erst noch entstehen musste, ihre jeweils eigene Geschichte.

Im Alltag aber sind die beiden Städte ihren Bewohnern buchstäblich eins. Sie arbeiten dort, wo sie einen Arbeitsplatz gefunden haben, schicken ihre Kinder dort in die Schule oder zur Ausbildung, wo das Programm passt, besuchen dort das Kino, wo ein Film läuft, der ihnen gefällt, gehen zum Einkaufen oder essen ihren Zwiebelrostbraten dort, wo ihnen das Preis-Leistungs-Verhältnis zusagt. Insofern müsste es logisch sein, dass sie, sofern an Lokalgeschichte interessiert, die ganze Geschichte der Doppelstadt erfahren möchten und nicht immer nur die eine oder andere Hälfte. Bisher wurden allerdings nur einzelne Themenbereiche grenzüberschreitend behandelt, etwa in Herbert Birkenfelds wegweisendem Luftbildatlas Region Ulm/Neu-Ulm. Aber eine gemeinsame Stadtgeschichte gab es bislang nicht.

Der Versuch einer solchen sei hiermit gewagt. Da sie in der Pustet-Schriftenreihe Kleine Stadtgeschichten erscheint, ist ihr Umfang, dem Reihentitel entsprechend, begrenzt, und das ist gut so. Dies zwingt, nur das zu thematisieren, was notwendig ist, um die Doppelstadt, ihre Struktur, ihre wichtigsten Merkmale und vielleicht auch die Mentalität ihrer Bewohner zu begreifen. Es bleibt daher Vieles unerwähnt. Diejenigen, die mehr erfahren wollen, finden im Anhang die Titel der wichtigsten Werke, die für dieses Buch Verwendung fanden.

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Nördlich und südlich der Ulmer Altstadt wuchsen im 19. Jh. zwei rechtwinklig angelegte Neustädte. Die südliche heißt Neu-Ulm.

Diese Kleine Stadtgeschichte schneidet eine Vielzahl von Themenbereichen an: von der Erdgeschichte über die Archäologie und die mittelalterliche Geschichte bis ins Hier und Heute. Um die dabei kaum vermeidliche Fehlerquote in erträglichen Grenzen zu halten, habe ich mir den Rat der jeweiligen Experten geholt. Großen Dank schulde ich daher dem Geographen Herbert Birkenfeld, dem Kurator Archäologie des Museums Ulm, Kurt Wehrberger, dem Leiter des Ulmer Stadtarchivs, Michael Wettengel, und besonders seiner Mitarbeiterin Gudrun Litz, die das gesamte Produkt kritisch unter die Lupe genommen hat. Ulrich Seitz, der Vorsitzende des Historischen Vereins Neu-Ulm, hat mit seinem profunden Wissen über Neu-Ulm gewährleistet, dass die mir bislang weniger vertraute Geschichte dieses Teils der Doppelstadt korrekt dargestellt ist. Außerdem hat er sein umfangreiches Bildarchiv zur Illustrierung dieses Bandes zur Verfügung gestellt.

Michael Wettengel gebührt zudem Dank dafür, dass er dieses Buch in die Reihe der Publikationen des Stadtarchivs aufgenommen hat. Seine Mitarbeiter Matthias Grotz und Nadja Wollinsky haben zur Illustrierung des Bandes beigetragen, ebenso Eva Leistenschneider vom Museum Ulm, Peter Jankov vom Naturkundlichen Bildungszentrum Ulm, Michael Draesner von der städtischen Abteilung Vermessung, Richard Ambs, Vorsitzender der Archäologiefreunde Neu-Ulm, die Leiterin des Neu-Ulmer Stadtarchivs, Larissa Ramscheid, und das Historische Archiv Iveco-Magirus. Wenn bei der Bildauswahl das aktuelle Stadtbild zu kurz kommt, dann deswegen, weil es mühelos im Internet zu finden ist.

Ebenfalls online zugänglich sind die Quellenangaben. Sie und die vollständige Literaturliste sind als pdf auf den Seiten des Stadtarchivs Ulm in der Rubrik »Veröffentlichungen/Sonderveröffentlichungen« zu finden.

Vom Bärenhund zum Festungs-Ziegel

Nashörner, Krokodile, Tapire, Schildkröten, Maulwürfe, Bärenhunde! Die Paläontologen jubelten, als sie im Herbst 1987 auf der Baustelle der Westtangente auf einen wahren Friedhof von versteinerten Land- und Wassertieren gestoßen waren. Die hatten vor 21 bis 22 Mio. Jahren eine subtropische Fluss- und Seenlandschaft bevölkert, an deren Stelle sich heute das Oberzentrum Ulm/Neu-Ulm befindet.

Die Sensation bestand weniger in der Erkenntnis, dass das hornlose Riesennashorn Plesiaceratherium nebst seinem kleinwüchsigen Verwandten, dem Protaceratherium, auch in dieser Gegend gegrast haben. Vielmehr war es die immense Artenvielfalt, deren Knochen, Schädel, Schnäbel, Zähne und Panzer auf wenigen Quadratmetern in einer etwa 40 cm mächtigen Bodenschicht versammelt waren: 10.000 Reste von etwa 50 Wirbeltierarten, davon mehr als die Hälfte Säuger.

Dafür gab es nur eine plausible Erklärung: Die Tiere hatten sich hier nicht etwa zum Sterben niedergelegt. Vielmehr waren sie schon tot, möglicherweise ertrunken, als sie im Zuge einer Überschwemmungskatastrophe von der Strömung eines Flusses oder Sees an dieser Stelle zusammengetrieben worden waren, bevor das Wasser sich in seine gewohnten Bahnen zurückzog.

Diese Episode wirft ein Schlaglicht auf den dramatischen Wandel, der seit Hunderten von Jahrmillionen die Landschaft gebildet und verändert hat – und, woran kaum jemand denkt, weiterhin verändern wird. Um zu ergründen, wie das vor sich ging, wollen wir die regionale Erdgeschichte nur so weit erkunden, wie sie in Landschaft und Bauwerken der Region noch erlebbar ist. Das heißt: zurück bis zur Jura-Zeit.

Land unter

Vor etwa 200 Mio. Jahren lag die Ulmer Region wesentlich weiter südlich, grob geschätzt in den Breiten, wo sich heute die Pyramiden von Gizeh befinden. Damals zerbrach der Superkontinent Pangäa in den nördlichen Teil Laurasia, der auch das nachmalige Europa umfasste, und das südliche Gondwana. Zwischen beide drängte sich die Tethys, der weltumspannende Ozean, der mittlerweile zum Mittelmeer geschrumpft ist. Deswegen stieg damals, zu Beginn des Jura-Zeitalters, der Meeresspiegel, während das Germanische Becken, in dem auch der Bereich der heutigen Schwäbischen Alb liegt, sank. Von Nordosten und Südwesten drang Wasser vor. So überflutete vor etwa 195 Mio. Jahren das Jura-Meer die Region und bedeckte sie gute 50 Mio. Jahre lang. Zunächst war sie nur durch einen schmalen Zugang mit der Tethys verbunden. Später, im Weißen Jura, war das hiesige Schelfmeer quasi die Flachwasserzone der Tethys.

Der relativ flache Meeresboden blieb ständig in Bewegung. Er hob und senkte sich weiterhin, bildete mitunter Inseln, verschob die Küstenlinien. Die unterschiedliche Tiefe wiederum wirkte sich auf die Meeres-Flora und -Fauna aus – und auf die Farbe dessen, was davon übrig ist: Die unterste und älteste Schicht des Jura ist schwarz, da sie aus einem tieferen Bereich stammt. Das Wasser dort war schlecht durchlüftet und daher arm an Sauerstoff, weshalb die abgestorbenen Organismen verfaulten und den sich ablagernden Ton schwarz färbten. Doch haben sich in der mutmaßlich stinkenden Masse die einzigartigen Skelette der lebendgebärenden Fischsaurier erhalten, die bis zu 18 m lang werden konnten.

Darüber liegen die eisenhaltigen Mergel, Tone, eisenhaltigen Sandsteine des braunen Jura, die sich in der Nähe eines Festlandes gebildet hatten. Von den letztgenannten profitierten die Erbauer des Ulmer Münsters: Für den mittelalterlichen Teil des Turmes haben sie unter anderem den bräunlich-gelblichen Donzdorfer Sandstein verwendet, der an manchen Stellen der Westfassade noch deutlich zu erkennen ist.

Weiter entfernt von der Küste haben sich die hellen Kalke des Weißen Jura abgelagert, der mit seinen Riffen das Bild der Schwäbischen Alb prägt. Aus diesen Jura-Kalksteinen wurden im 19. Jh. die gewaltigen Werke der Bundesfestung Ulm erbaut. Damals erblühte auch die Ulmer Zementindustrie, die maßgeblich zum Wohlstand der Stadt beitrug.

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Der Unterkiefer des Bärenhundes, der beim Bau der Ulmer Westtangente ausgegraben wurde.

Das Meer, das sich vor etwa 145 Mio. Jahren, gegen Ende der Jura-Zeit, zurückgezogen hat, war allerdings nicht das letzte, das die Region bedeckte. Gut 100 Mio. Jahre später, im Tertiär, setzte ein Vorgang ein, der eine ganze Abfolge von Wassereinbrüchen zur Folge hatte: die Entstehung der Alpen. Damals bewegte sich Afrika nach Norden, Spanien dockte an Südfrankreich an, und Italien steuerte auf die europäische Kontinentalscholle zu. Bei dieser Kollision diente das heutige Alpengebiet als Knautschzone und schlug heftige Falten. Doch unmittelbar nördlich davon senkte sich das Land und bildete einen Trog, der sich vor 35 bis vor 10 Mio. Jahren bis zu etwa 5 km hoch mit den Schutt-Sedimenten der Alpen, der sog. Molasse, füllte.

Zunächst war über einen schmalen Meeresarm Salzwasser eingedrungen. Nach der Verlandung dieses Armes, der die »Untere Meeresmolasse« zurückließ, bildeten sich vor etwa 24 Mio. Jahren jene Seen und Flüsse, in deren Umgebung die eingangs erwähnten Nashörner, Krokodile, Schildkröten und Bärenhunde lebten. Die Schichten dieser »Unteren Süßwassermolasse« können im Ulmer Raum bis zu 90 m mächtig sein, denn sie reichten bis hierher, an den Südrand der späteren Alb. Aus ihren Kalken und Kalkmergeln bestehen die Höhen Ulms, der Kuhberg, der Eselsberg, des Michelsberg und der Safranberg.

Dann aber senkte sich das Alpenvorland erneut. Vom Rhonetal sowie vom Wiener Becken drangen die Fluten der Tethys ein und bildeten jenes Tertiär-Meer, dessen Küstenstreifen, die »Klifflinie«, sich noch heute ein paar Kilometer nördlich von Ulm klar abzeichnet. Ein eindrucksvolles Stück dieser Küstenfelsen, in denen vor 18 Mio. Jahren Bohrmuscheln ihre Löcher hinterlassen haben, erinnert etwa 25 km Luftlinie von Ulm, bei Heldenfingen, an die Bahamas. Aus der »Oberen Meeresmolasse«, die jenes Meer produziert hat, ragen die zusammengebackenen Turmschnecken hervor, die auf der nach ihnen benannten »Turritellenplatte« beim Fernsehturm im Stadtteil Ermingen zu finden sind.

Wieder hob sich das Land. Nun wurde es von einem mächtigen Fluss entwässert, der sich eine etwa 10 km breite und bis zu 150 m tiefe Rinne dort ins Gelände grub, wo heute der Südrand der Alb verläuft. Allerdings floss er entgegengesetzt zur heutigen Donau, nämlich von Nordosten in Richtung Schaffhausen, wohin sich das Meer zurückgezogen hatte. Dieser Fluss hat die tiefgelben Graupensande in die Gruben des Stadtteils Eggingen geschwemmt, aus denen die Ulmer Baustellen lange Zeit ihr Material bezogen.

Sparen wir uns die komplexen Einzelheiten der weiteren regionalen Erdgeschichte. Kurz gesagt: Das Hin und Her von Salz- und Süßwasser ging weiter, was sich in den Schichten der »Süßbrackwasser-« und schließlich der »Oberen Süßwassermolasse« niederschlug.

Als die Donau ihr Bett verließ

Die Flüsse jener Zeit flossen immer noch von Osten nach Westen. Doch vor etwa 8 Mio. Jahren änderte sich die Richtung: Die Landschaft geriet in Schieflage. Bis dahin hatten die steinernen und sandigen Hinterlassenschaften der Jahrmillionen wie die Schichten einer Torte übereinandergelegen. Doch nun kippte die Torte. So entstand die Schwäbische Alb. Wie bei einer Eisscholle, die an einer Seite unter Wasser gedrückt wird, ragt die entgegengesetzte Bruchkante steil in die Höhe. Diese Kante entspricht dem Albtrauf, dem Steilabfall am Nordwestrand der Alb, wo die Schichten des weißen und braunen Juras offen zutage liegen – was in Ulm nicht der Fall ist. Vom Scheitel laufen diese Schichten schräg nach unten und versinken südlich der Donau in der Tiefe unter den Schottern der Eiszeit.

Der Strom, der nun südlich entlang der Klifflinie nach Osten floss, war die Urdonau. Ihr Quellgebiet lag im Bereich des St. Gotthard, da sich die Alb im Westen stärker gehoben hatte. Das heißt, die Donau sammelte die Wasser nicht nur des Alpenrheins und der Wutach, sondern womöglich auch der Aare und der oberen Rhone. Im Ulmer Bereich finden sich ihre Schotter hoch über dem heutigen Fluss auf dem Hochsträß und dem Oberen Eselsberg – und auf den Höhen beiderseits Blaubeurens.

Doch als das Flussbett infolge weiteren Kippens der Alb gehoben wurde, begab sich die Urdonau mehrere Stufen nach unten. Vor etwa 1 Mio. Jahren begann sie damit, ihren Lauf, der damals in der Schleife von Ehingen über Blaubeuren nach Ulm verlief, einzutiefen, womit sie während der beiden ersten Eiszeiten beschäftigt war. Doch vor etwa 200 000 Jahren, in der Mitte der Riß-Eiszeit, suchte sie sich ein neues Bett am Südrand des Hochsträß. Dort bildet sie seither die Grenze zwischen Alb und Alpenvorland. Ihr altes Bett überließ sie der Schmiech, der Ach und der Blau.

Zwischen der Riß- und der Würm-Eiszeit muss die Blau als relativ großer Fluss am Fuß des Ulmer Michelsbergs entlanggeflossen sein, bevor sie mutmaßlich bei der heutigen Friedrichsau in die Donau mündete. Die aber verstopfte im Lauf der Zeit die Blau-Mündung mit Schotter. So bildete die Blau ein Becken, worin sich Schlamm und Kalktuff ablagerten, bis sie sich einen neuen Abfluss schuf. Über diesen später ausgetrockneten Blausumpf ragt südlich, im Altstadtgebiet, der »Ulmer Rücken« empor, eine eiszeitliche Schotterterrasse, die einen festen Baugrund bot – im Gegensatz zum »Boden«, wie das einst sumpfige Gebiet heißt. Auf dessen labilen Grund wurden erst seit Mitte des 19. Jhs. Häuser gebaut: die Ulmer Neustadt.

Ein anderer Landschaftsraum

Die Landschaft südlich der Donau gehört zu den so genannten »Iller-Lech-Platten«. Sie ist anders strukturiert als der Landschaftsraum Alb, der an der Bettkante der Donau endet. Während die Alb von Südwesten nach Nordosten verläuft, ziehen die Höhenzüge südlich der Donau von Süden nach Norden. In den dazwischenliegenden Tälern fließen die Flüsse des Voralpenlandes in Richtung Donau. Schuld an dieser Struktur sind die Gletscher der Eiszeiten, die vor 1,8 Mio. Jahren einsetzten. Auch wenn sie nie bis in die Region Ulm/Neu-Ulm vorgedrungen sind, schob doch ihr Schmelzwasser riesige Mengen an Schotter und Sand bis zur Donau und bildete lehmbedeckte Schotterterrassen, die bis ins Gebiet der Ulmer Innenstadt zu den Anhöhen rund um das Ulmer Becken reichen. Ihre mächtigen Schotterpakete bilden die Rote Wand, den Wasserspeicher, dem ihr hoher Reinigungseffekt eine hervorragende Trinkwasserqualität beschert.

Unter diesen neuen Schichten sind die des Jura und der Molasse versunken – aber nach wie vor präsent. So besteht durchaus die Chance, auch im Neu-Ulmer Untergrund einen Fischsaurier zu finden, wenn man nur lange und tief genug gräbt.

Auch die Böden der Region verdanken ihre Qualität den Eiszeiten. Der Staub der Sand- und Kiesbänke aus dem Bereich der Donau wurde vom Winde verweht und lagerte sich als Löß und Lößlehm an anderen Stellen ab. In der Ulmer Altstadt ist die Lehmschicht auf der Schotterterrasse 2 bis 4 m mächtig. Diesem Schwemmmaterial, verwittertem Schotter, verdankten die Erbauer des bayerischen Teils der Bundesfestung Ulm den Lehm, woraus sie in Pfuhl die Ziegel für ihre Bauten brennen ließen. Denn die sind auf der Neu-Ulmer Seite überwiegend rot – im Gegensatz zum Jura-Weiß der Festungswerke auf der Ulmer Seite.

Zu den Schmelzwassern, die der Donau zuflossen, gehörten die des Illergletschers, aus denen die Iller hervorging. Auch sie brauchte mehrere Eiszeiten, bis sie um etwa 1.300 v. Chr. ihr heutiges – im 19. Jh. begradigtes – Bett gefunden hatte. Floss sie in der Riß-Eiszeit noch durch das Weißenhorner Tal, entschied sie sich in der letzten, der Würm-Eiszeit, für das heutige Illertal. Ihr altes Bett übernahmen die Leibi und die Roth. Nachdem die Iller »sesshaft« geworden war, bildeten sich in den Überschwemmungsgebieten östlich davon auf den Schottern die moorigen Riedflächen des heute in Neu-Ulm gelegenen Ulmer Rieds.

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Zur Zeit des Kambriums, vor etwa 500 Mio. Jahren, trieb die Ulmer Region noch zwischen dem 30. und 60. Grad südlicher Breite.

HINTERGRUND

ALS DIE REGION DEN ÄQUATOR ÜBERSCHRITT

Wenn wir Jahrmillionen weit in die Erdgeschichte einer Region zurückblicken, ist uns meist nicht bewusst, dass der Untergrund und die Landschaften, die diese Region bilden, sich ursprünglich einmal an einer völlig anderen Stelle des Globus befunden und in diesen Jahrmillionen eine enorme Wanderung vollzogen haben. Diese Wanderung heißt Kontinentaldrift oder -verschiebung. Die äußere Erdhülle besteht aus Platten, die auf dem Oberen Erdmantel umhergleiten. Mal vereinen sich die Landmassen zu Superkontinenten, mal brechen sie wieder auseinander. Der bislang letzte Superkontinent der rund 4,5 Mrd. Jahre alten Erdgeschichte ist Pangaea, entstanden vor etwa 300 Mio. Jahren. Zu Beginn der Jura-Zeit, vor 200 Mio. Jahren, zerbrach er wieder.

Damals lag die Ulmer Region wesentlich weiter südlich als heute, unterhalb des 30. Grads nördlicher Breite, auf dem sich gegenwärtig die Pyramiden von Gizeh befinden. Das mutet heute schier unglaublich an, ist aber quasi vor der Haustüre, verglichen mit der Lage zur Zeit des Kambriums vor ungefähr 500 Mio. Jahren: Damals driftete das Ulmer Territorium noch zwischen dem 60. und 30. Grad südlicher Breite, weit unterhalb der heutigen Südspitze Afrikas, so langsam nordwärts, dass es etwa 100 Mio. Jahre brauchte, bis es sich dem Äquator näherte. Der war vor 300 Mio. Jahren überschritten, aber noch lag die Ulmer Region südlich der Breiten, auf denen die Ägypter später ihre Pyramiden bauten.

Erst vor etwa 2 Mio. Jahren, als die Urdonau über das Hochsträß und den Oberen Eselsberg floss und der Homo erectus begann, sich über Afrika hinaus zu verbreiten, war die Ulmer Region in etwa an ihrem heutigen Standort angelangt.

Von den Mammutzahn-Schnitzern zur ältesten Ulmerin

Wann hat erstmals ein Mensch seinen Fuß auf das Gebiet der Doppelstadt gesetzt, in der heute rund 182.000 Exemplare dieser Spezies leben? Die Frage wird nie zu beantworten sein, zumal die örtlichen klimatischen und geologischen Umstände sämtliche Spuren der frühesten Besiedelung längst vernichtet haben.

Etwas günstiger sieht es 20 km Luftlinie weiter nordöstlich aus, im Lonetal. In einer der dortigen Alb-Höhlen, dem Hohlenstein-Stadel, hat der Oberschenkelknochen eines Neandertalers überdauert, der einzige, der bislang in Baden-Württemberg gefunden wurde. Er ist, wie die neuesten Messungen ergeben haben, 124.000 Jahre alt. Das heißt zunächst einmal, dass die Region spätestens seit Ende der Riß-Eiszeit von Menschen bewohnt wurde.

Darüber hinaus hat die DNA dieses Neandertalers Furore gemacht, weil sie Spuren einer frühen Form des modernen Menschen enthält, der nach bisheriger Auffassung damals noch in Afrika lebte und sich erst 80.000 Jahre später auf den Weg nach Europa machte. Das spricht dafür, dass der moderne Mensch in mehreren Wellen Europa erreicht hat und der Vertreter oder die Vertreterin einer der früheren Wellen intimeren Kontakt zu den Ureinwohnern, den Neandertalern, aufgenommen hat.

Die jüngste und nachhaltigste Ankunft des Homo sapiens liegt ungefähr 40.000 Jahre zurück. Und wieder sind es die Alb-Höhlen um Ulm, die dies auf die erdenklich eindrucksvollste Weise dokumentieren. Denn in derselben Höhle, in welcher 1937 der Neandertaler-Knochen gefunden wurde, gruben Archäologen unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die bearbeiteten Stücke eines Mammutstoßzahnes aus, die sich nach dem Krieg in einem kinoreifen, jahrzehntelangen Puzzle mit weiteren Splittern zum weltberühmten Löwenmenschen fügten. Die 31 cm hohe Figur (s. S. 23) ist die bislang erste bekannte Mensch-Tier-Plastik der Welt. Ihr Alter wird auf rund 40.000 Jahre veranschlagt, und sie ist deswegen so sensationell, weil sie beweist, dass der frühe moderne Mensch nicht nur abbildete, was er sah, sondern auch Vorstellungen entwickelte, die jenseits der realen Welt lagen.

Was die figürliche Darstellung seiner ganz konkreten Umwelt betraf, schuf der moderne Mensch kurz nach seiner Ankunft auf der Alb ebenfalls Meisterhaftes. Nicht nur in den Höhlen des Lonetals, sondern auch des etwa 35 km entfernten Achtals, durch das einst die Ur-Donau geflossen war, hinterließ er eine ganze Menagerie aus Elfenbein-Figürchen: Pferd, Mammut, Höhlenlöwe, Wasservogel – und die erst 2008 entdeckte älteste Menschen- und Frauenfigur der Welt: die Venus vom Hohlen Fels bei Schelklingen. Nicht zu vergessen: Dort sowie in den Lonetal-Höhlen wurden auch noch die ältesten bekannten Musikinstrumente in Gestalt von Flöten aus Vogelknochen und Elfenbein ausgegraben.

Die Nachweise der frühesten bislang bekannten bildenden Kunst und Musik fanden sich also unmittelbar nördlich der Region Ulm/Neu-Ulm, in den Höhlen des Lone- und des Achtals. Diese Fundstätten wurden daher 2017 dem UNESCO-Weltkulturerbe zugeschlagen. Dass die Figuren und Flöten ausgerechnet hier entdeckt wurden, hat zum einen mit der Erdgeschichte zu tun, die mit den Höhlen im Schwäbischen Jura hervorragende Erhaltungsbedingungen geschaffen hatte. Zum andern hängt es auch mit der Forschungstradition im deutschen Südwesten zusammen, die bis in die 1860er-Jahre zurückreicht. Schließlich aber hat auch die Donau eine nicht zu vernachlässigende Rolle gespielt. Sie wies den Zuwanderern während der letzten Eiszeit den Weg in die Höhlen der eisfreien Alb. In der Tat hatte die »Venus von Schelklingen« die »Venus von Stratzing« respektive »Fanny vom Galgenberg« entthront, die 1988 im österreichischen Krems an der Donau ausgegraben worden war: Mit ihren 32.000 Jahren war sie bis dahin die Alterspräsidentin unter den Eiszeit-Venüssen gewesen.

Die ersten Bauern

Auch in der Jungsteinzeit funktionierte der Donau-Korridor als »Kulturpumpe«. Das zeigt die Invasion der Bandkeramiker, die vor über 7.000 Jahren, aus der Levante kommend, entlang der Donau nach Mitteleuropa vordrangen. Sie waren Träger der »neolithischen Revolution«, indem sie die nomadisierende Jäger- und Sammler-Kultur durch eine Bauernkultur ersetzten, die zur Sesshaftigkeit zwang. Benannt wurde die Kultur dieser ersten Bauern und Töpfer nach der Art, wie sie ihre Gefäße verzierten. Eines davon im Museum Ulm zeigt noch die Fingerabdrücke seines Schöpfers.

Diese Ur-Bauern ließen sich auch in der Ulmer Region nieder. Die Siedlung, die sie damals im heutigen Ulmer Ortsteil Eggingen angelegt haben, gehört zu den ersten auf der Schwäbischen Alb. Was von der Siedlungsfläche noch übrig war, wurde 1983–85 ausgegraben, darunter 33 Häuser. Insgesamt dürften es um die 200 gewesen sein, die allerdings mit einer Lebensdauer von maximal 40 Jahren über 300 bis 400 Jahre zu verteilen sind. Das heißt, das Dorf hat im langjährigen Mittel wohl aus 15 bis 20 Häusern bestanden, in denen jeweils zwischen 5 und 10 Personen gelebt haben. Neben Gerste, Einkorn, Emmer, Linsen, Erbsen und Lein bauten sie übrigens auch Schlafmohn an.

Etwa 400 Jahre jünger ist die älteste bandkeramische Siedlung, die 1988 im Neu-Ulmer Landkreis entdeckt wurde. Sie liegt zwischen Hittistetten und Witzighausen. Während dort, auf der rechten Donauseite, bandkeramische Siedlungen selten und nur auf den Lößinseln zu finden sind, waren die Siedlungsbedingungen links der Donau am Südrand der Alb günstiger. Deshalb gibt es dort viele Funde aus jener Zeit, etwa die bandkeramische Siedlung, die 2010 südlich des Ulmer Ortsteils Lehr bei der Sondierung des Untergrunds für die ICE-Trasse Ulm–Stuttgart aufgedeckt wurde. Die dabei gefundenen Gegenstände beweisen, dass damals schon der Fernhandel blühte.

Ungefähr 6.000 Jahre alt ist die nördlichste der Feuchtboden-Siedlungen Südwestdeutschlands unmittelbar westlich von Ulm im Blautal bei Ehrenstein. Sie gehört der jungsteinzeitlichen Schussenrieder Kultur an und bestand aus 30 bis 40 meist zweiräumigen Häusern, die in vier Reihen standen. Das Besondere an ihr war zum einen, dass sie unmittelbar an der Blau lag, weshalb die Häuser auf Böden aus armdicken Erlenstämmen standen, die auch den Vorplätzen festen Untergrund boten. Zum andern haben ihre Bewohner merkwürdige und strahlenförmig verzierte Kalksteinscheiben unterschiedlicher Größen produziert, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Sie sehen aus wie überdimensionale Knöpfe. Wozu sie dienten, ist allerdings nach wie vor ein Rätsel. Seit 2011 gehört die vom Erdboden verdeckte Siedlung zusammen mit anderen prähistorischen Pfahlbauten um die Alpen zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Die ältesten sterblichen Überreste eines Menschen, die bislang im Bereich der Ulmer Innenstadt gefunden wurden, sind die eines Mannes aus der jungsteinzeitlichen Michelsberger Kultur. Teile seines Skeletts lagen in der Verfüllung eines rätselhaften, etwa 4.500 bis 5.000 Jahre alten Grabens, von dem allerdings zu wenig übrig war, um seinen Verlauf zu rekonstruieren. Er wurde 2007 in einer Baugrube Ecke Neue Straße/Grünhofgasse freigelegt und gilt als die bislang älteste prähistorische Grabenanlage im Ulmer Stadtgebiet.

Fast komplett erhalten ist hingegen die »älteste Ulmerin«. Sie lebte vor rund 4.300 Jahren in der Späten Jungsteinzeit und war zum Zeitpunkt ihres Todes etwa 30 Jahre alt. Ihre Angehörigen bestatteten sie in Hockstellung, den Kopf nach Süden, den Blick nach Osten. Ihr Grab wurde 1989 mitten auf dem Ulmer Münsterplatz entdeckt, an der Stelle, wo heute das Stadthaus steht. Vom Gewand, das sie getragen hatte, waren noch die aus Knochen gefertigten, kegelförmigen 31 Knöpfe übrig.

Als Beigabe auf ihre letzte Reise erhielt die etwa 1,65 m große Frau zwei Becher. Sie ähneln einer umgedrehten Glocke, weshalb dieser Gefäßtyp »Glockenbecher« heißt und die Kultur, die ihn hervorgebracht hat, »Glockenbecherkultur«. Sie war europaweit verbreitet, doch das Grab auf dem Münsterplatz ist das bislang einzig bekannte im Ulmer Raum. Das deutet darauf hin, dass die Frau einer durchreisenden Gruppe angehörte, als sie im nachmaligen Ulm vom Tod ereilt wurde.

Aus der anschließenden Bronzezeit gibt es zwar massenhaft Funde: Schwerter, Äxte, Schmuck. Die wurden aber zum größten Teil aus den Kiesgruben und Gewässern beiderseits der Donau geborgen – Indizien dafür, dass viele von ihren Besitzern ganz bewusst als Opfergaben ins Wasser geworfen wurden. Siedlungsstellen aus jener Zeit sind im Bereich der Doppelstadt bislang keine bekannt, dafür aber aus der unmittelbaren Umgebung am Albrand oder auf den Erhebungen zwischen den Flusstälern südlich der Donau.

HINTERGRUND

DAS LÖWENMENSCH-PUZZLE