Das Buch

Wie kannst du sagen, wer du bist, wenn dir jeder sagt, wer du zu sein hast?

Hin- und hergerissen zwischen den Erwartungen ihrer Familien und ihrem Leben in einem westlichen Land – so geht es vielen muslimischen Mädchen. Doch noch nie haben sie ihre Geschichten so persönlich und offen erzählt – ohne zu urteilen und ohne ihre eigene Kultur zu verraten. Denn sie wollen nur eins: selbstbestimmt leben und frei sein.

Die Autorinnen

Herz, Srour und Bile, alle in den 1990ern geboren, haben ihre Bewegung in den Medien als »Die schamlosen Mädchen« gestartet und sich v.a. dem Thema »Negative Sozialkontrolle« angenommen. Für ihren Einsatz für die Meinungsfreiheit sind sie u.a. mit dem dem Fritt Ord Honnør-Preis (2017) ausgezeichnet worden.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Amina Bile, Nancy Herz, Sofia Nesrine Srour:

Schamlos

ISBN 978 3 522 63065 8

Aus dem Norwegischen von Maike Dörries

Umschlag- und Innenillustrationen: Esra Røise / by Hands

Umschlagtypografie: Suse Kopp

Fotos: Maria Gossé

Layout: Mimmi Christensen / Metric

Reproduktion: HKS-artmedia GmbH, Leinfelden-Echterdingen

Konvertierung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

© 2017 by Amina Bile, Nancy Herz und Sofia Nesrine Srour
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Skamløs bei
Gyldendal Norsk Forlag AS – Gyldendal Barn & Ungdom, Oslo
© 2019 Gabriel in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart.

Alle Rechte vorbehalten.

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Liebe Schwester,
die ermahnt wird, still zu sein und nicht zu viel Platz einzunehmen
die ihre Freunde nicht selber wählen darf oder ihre Ausbildung
oder Arbeit
die niemals mündig wird oder über ihr eigenes Leben bestimmen darf
der eingeredet wird, dass Liebe Sünde ist
die ein Doppelleben in Angst und schlechtem Gewissen führt
die beschimpft wird, weil sie Hidschab trägt oder nicht trägt
oder weil sie ihn ablegt
die sich als Einwandererschlampe und Asylantin beschimpfen lassen
muss, schamlos und ungläubig
der eingeredet wird, Rassismus und soziale Kontrolle wären kein Problem
die die Ehre der Familie auf ihren Schultern trägt
die nicht selbst über ihren Körper bestimmen darf
die Übergriffe erlebt hat und sich anhören musste, das wäre ihre Schuld
die damit leben muss, dass ihr Wert über das Jungfernhäutchen
definiert wird.

Liebe Schwester, die nicht frei sein darf.

Dieses Buch ist für dich.

»Meine Freiheit: Das zu sein, was sie nicht wollen, das ich bin.«

Mahmoud Darwish

Mit unseren ersten Veröffentlichungen über negative soziale Kontrolle und Schamkultur konnten wir endlich unsere eigenen Erlebnisse und Erfahrungen in Worte fassen, das Erleben ständiger Begrenzung in unserem Alltag.

Lange haben wir geglaubt, die Schuld für diese Begrenzungen läge bei uns. Dass sie als Strafe oder Schutz gedacht sind, weil mit uns etwas nicht stimmt, dass wir es sind, die sich anpassen müssen. Das ist es schließlich, was uns immer eingetrichtert wurde.

Erst als uns klar wurde, dass es einen Begriff dafür gibt und dass wir nicht die Einzigen mit solchen Erlebnissen und Erfahrungen sind, waren wir in der Lage, die Mechanismen zu sehen, die uns begrenzen. Wir begannen das umfassende System zu erkennen, mit dem solche wie wir, die sich nicht anpassen und die Dinge nach ihren eigenen Vorstellungen machen wollen, kontrolliert wurden.

Plötzlich sahen wir diese Kontrolle überall. In den beiläufigen Kommentaren von Bekannten und Fremden, wie wir uns als anständige Mädchen zu benehmen hätten, warum wir manche Dinge tun durften und andere absolut tabu für uns waren. In den Reaktionen, wenn wir uns nicht an die vielen ungeschriebenen, für uns geltenden Regeln hielten.

Negative soziale Kontrolle ist die Summe all der Maßnahmen, die uns daran hindern, unser Leben so zu leben, wie wir es wollen.

Wir verstanden, dass Begriffe wie »Ehre« und »Schande« systematisch missbraucht werden, um uns zu unterdrücken, statt ein natürlicher moralischer Kompass zu sein.

»Schamlos« wird als Schimpfwort für Mädchen benutzt, die sich nicht an geltende Normen halten. Das ist ein grober Vorwurf, bei dem sowohl deine persönliche wie auch die Ehre der gesamten Familie auf dem Spiel steht. Besitzt du keine Scham, ist etwas mit deinem moralischen Kompass nicht in Ordnung, mit deiner Erziehung, mit dir. Wenn das Wort »schamlos« in diesem Zusammenhang gebraucht wird, verkrampft sich mein Magen.

Darum benutzen wir dieses Wort in unserer Debatte mit einer gewissen Ironie. Lässt man sich das Wort auf der Zunge zergehen und überlegt, was es eigentlich bedeutet, bekommt es etwas Befreiendes: Schamlos. Frei von Scham.

In diesem Sinne sind wir tatsächlich schamlos, wenn es synonym dafür steht, dass wir die Scham nicht annehmen, die andere uns auferlegen wollen. Und natürlich sind wir schamlos, wenn schamlos gleichbedeutend mit Freiheit ist.

Der erste Schritt war, das zu erkennen. Der nächste, etwas zu tun.

Der Kampf gegen negative soziale Kontrolle wurde nicht von uns gestartet, aber wir führen ihn weiter. Vor uns hat es viele andere Frauen gegeben, die einen Weg gebahnt und dazu beigetragen haben, den Raum für freie Meinungsäußerung zu erweitern. Sie haben den Platz geschaffen, den wir jetzt nutzen können.

Offen über die Erwartungen sprechen zu können, mit denen wir konfrontiert sind, macht es leichter, Tabus und die damit verbundene Scham aufzubrechen. Jemand anderen sagen zu hören: »Das habe ich auch erlebt, nicht du bist diejenige, die etwas falsch macht«, bedeutet sehr viel.

Wir wollen nicht mehr still sein, wenn ein Unrecht begangen wird. Aber wenn wir über soziale Kontrolle und das systematische Aufzwingen von Scham sprechen, hören wir oft Vorwürfe, dass wir übertreiben, subjektiv sind und lügen, was unsere persönlichen Erfahrungen und unser Leben betrifft. Nicht selten von Leuten aus unseren Kreisen, die uns vorwerfen, wir würden unser eigenes Nest beschmutzen, indem wir diese Erwartungen anprangern.

Auf der anderen Seite missbrauchen Rassisten und Rechtspopulisten unsere Geschichten als Beweise für ihre Vorurteile und machen uns zu Postergirls einer generalisierenden Ideologie, der wir nicht vehementer widersprechen könnten.

Den Mädchen, die ihre Erlebnisse und Geschichten teilen, böse Absichten zu unterstellen oder vorzuwerfen, sie würden nur mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gehen, um ihren Alltag spannender zu machen, trägt nicht dazu bei, dass mehr Mädchen sich trauen, das Wort zu ergreifen. Im Gegenteil, es ist ein Signal an junge Menschen, dass ihre Erfahrungen unwichtig sind.

Aber die Definitionshoheit über die persönlichen Erlebnisse und sein Leben zu haben, ist existenziell. Wenn andere Menschen uns erzählen, was unsere Wahrheit ist, für was wir uns engagieren und kämpfen sollen, nehmen sie uns die Freiheit, uns selbst zu definieren. Und genau darum geht es in diesem Kampf: die Freiheit, so sein zu können, wie wir sind.

Niemand hat das Recht, uns die Definitionshoheit über die Dinge zu nehmen, die wir als reelle Herausforderungen in unserem Leben empfinden.

In dem vorliegenden Buch geben wir acht von viel mehr Geschichten wieder, die uns Mädchen erzählt haben, die soziale Kontrolle am eigenen Leib erfahren haben. Mädchen, die bereit waren, ihre Erlebnisse mit uns zu teilen, aber aus unterschiedlichen Gründen anonym bleiben wollten oder mussten. Für all diese Mädchen schreiben wir von unseren eigenen Herausforderungen und Erfahrungen und denen anderer auf dem Weg zur Schamlosigkeit.

Wir sprechen nicht für andere, sondern in Solidarität mit allen, die bereit sind und den Kampf für ein Grundrecht aufnehmen wollen: das Recht, sie selbst zu sein.

Schamlosigkeit muss für alle gelten. Jedes Mädchen hat das Recht, schamlos zu sein.

Ratschlag für ehrbare Mädchen:
Du als Mädchen solltest etwas freundlicher sein. Dein aggressives Verhalten ist nicht sehr attraktiv.

Was wir meinen, wenn wir von sozialer Kontrolle sprechen

Sofia: Der Begriff soziale Kontrolle ist sehr vage, finde ich, mit all den kleinen und großen Kontrollmaßnahmen.

Amina: Schließlich braucht man soziale Kontrolle in einer funktionierenden Gesellschaft. Es muss nur unbedingt klar sein, dass es uns spezifisch um negative soziale Kontrolle geht, die Unkultur, sozusagen. Es ist nicht unser Anliegen, dass bei der Bezeichnung soziale Kontrolle automatisch das »negativ« mitgedacht wird.

S: Nein. Grenzen durch positive soziale Kontrolle sind okay, also alles, was gesetzlich geregelt ist, unser Rechtssystem. Wir meinen mit negativer sozialer Kontrolle, wenn die in einem bestimmten Milieu gelebten und akzeptierten Normen und ungeschriebenen Gesetze über dein Leben bestimmen, obgleich sie gegen die Menschenrechte verstoßen.

Gegen die Menschenrechte, das hier geltende Gesetz, die Kinderrechtskonvention und so weiter. Wenn es darum geht, einen Menschen daran zu hindern, sich auf eine Weise zu entwickeln, auf die jeder Mensch ein Recht hat: durch eigene Entscheidungen, Selbstbestimmung, Wahlfreiheit, Bewegungsfreiheit, alle diese Freiheiten. Das ist Freiheitsbegrenzung.

Nancy: Man wird sozusagen auf individueller Ebene kontrolliert und eingeschränkt.

S: Ich finde das eher kollektivistisch.

N: Ja, aber es trifft immer auch Einzelpersonen.

A: Stimmt.

S: Wir müssen versuchen, es genauer zu definieren, damit soziale Kontrolle ein konkreterer Begriff wird. Beispiele geben, Details.

N: Nuancierung ist auch wichtig, in diesem Buch und in der Debatte. Ich finde nämlich … Zwangsheirat und Genitalverstümmelung sind natürlich sehr ernste und schwierige Themen, aber sie sind von außen betrachtet viel deutlicher als Unrecht zu erkennen, als die »sanfteren« Formen von Sozialkontrolle, das konstante Zurechtweisen und die ständigen Vorgaben, wie man sich zu benehmen hat, die einem das Gefühl geben, nicht man selbst sein zu dürfen. Beides ist eine Form negativer sozialer Kontrolle. Und beides kann den kaputt machen, der sie erlebt.

A: Ja, weil die kleinen mit den großen Dingen zusammenhängen! Sie alle haben das gemeinsame Ziel, dir dein Selbstbestimmungsrecht zu nehmen. Wenn dir immer wieder vorgebetet wird, wie du zu sein hast, bleibt kein Raum für dich, selber herauszufinden, wer du bist. Wenn jemand dich für eine Umerziehung an einen anderen Ort schickt, ist kein Platz für Protest.

S: Sanfter sind diese Formen der Kontrolle eigentlich nicht, nur anders, weil nicht so offensichtlich. Und oft ist die extreme Kontrolle nur die soziale Sanktionsmaßnahme für die Nichtbefolgung der anderen, sanfteren Regeln.

N: Genau!

A: Ich hab alles erlebt, von den kleinen bis zu den großen Dingen. Das, was sich in allem wiederholt, ist, dass ich als ich nicht genüge.

S: Dann wäre noch wichtig zu unterstreichen, dass wir im Großen und Ganzen von einer Form der negativen sozialen Kontrolle aus einer Ehrenperspektive reden. Die meisten Mädchen kennen die Stigmatisierung aus eigener Erfahrung, die unnatürliche Schamzuweisung. Das ist schlimm genug.

N: Mit der Ehre kommt eine ganz neue Dimension dazu.

S: Der Ehrenkodex ist noch viel systematischer, komplexer und kulturell. Du trägst Ehre in dir, und wenn du Schande über diese Ehre bringst … dann geht es nicht mehr nur um deine Ehre, sondern um die Familienehre, du ziehst schlicht und ergreifend die ganze Familie in den Dreck. Wegen einer in ihren Augen falschen Wahl, die du getroffen oder weil du etwas Verbotenes getan hast. Das reicht von Untreue bis Vergewaltigung. Mit Spezialbegriffen wie »Ehre« und »Schande« stigmatisieren wir unsere Milieus, diese Konzepte gibt es überall, und wir müssen klarstellen, dass einige Angehörige unserer Kultur sie missbrauchen, um andere Menschen zu kontrollieren, besonders Mädchen. Und es ist ja nicht so, dass wir darauf aus sind …

N: Wir reden nicht öffentlich über diese Dinge, um unsere eigene Kultur zu kritisieren und an den Pranger zu stellen. Aber wir lehnen uns gegen das auf, was wir als Unkultur in dieser Kultur erleben. Wir sprechen offen darüber, weil wir der Meinung sind, dass wir uns nicht für ein »Entweder- oder« entscheiden müssen. Ich glaube an ein »Sowohl-als-auch«. Für mich ist es wichtig, offen über diese Dinge reden zu können und zugleich stolz auf meinen multikulturellen Hintergrund und die Kultur meiner Eltern zu sein. Ich begreif nicht, wieso manche Menschen das für einen Widerspruch halten.

A: In unseren Gesprächen … Wir fordern niemanden auf, aus seiner Familie oder seinem Umfeld auszubrechen, das ist uns ganz wichtig. Weil offenbar einige Menschen denken, wir hätten mit unseren Familien, mit unserer Religion gebrochen.

N: Aber das haben wir nicht.

A: Nein, ganz und gar nicht. Wir raten niemandem dazu, auszubrechen. Wir suchen nur einen Weg aus dem Dilemma, eine mögliche Lösung.

S: Wir wollen die Haltungen herausfordern, die die Leute aus ihrer Heimat mitbringen, dass alle Menschen in die gleiche Form passen sollen, Haltungen, von denen sie sich nicht trennen wollen oder können, weil es das einzig Sichere ist, das System, das man kennt. Aber es muss ganz dringend unterstrichen werden, dass Freiheit individuell ist. Ein konservatives Leben ist nicht notwendigerweise das Resultat sozialer Kontrolle. Viele religiöse Menschen entscheiden sich aus freien Stücken für ihren Glauben und sind glücklich damit. Es geht darum, die Alternativen zu kennen und seinen eigenen Weg wählen zu können, ohne verurteilt zu werden. Das gilt in beide Richtungen. Wir müssen einander mehr Freiheiten lassen.

A: Wir müssen das eigentliche System und die patriarchalischen Strukturen herausfordern. Die sind überall.

S: Der Stillstand in unseren Gemeinschaften und Lebensräumen frustriert mich unsäglich, das muss ich zugeben, wir haben es noch nicht sehr weit geschafft. Obwohl immer mehr darüber geredet wird und eine immer größere Öffnung diesen Themen gegenüber besteht, wird es immer die geben, die irgendwelche Probleme verleugnen. Das kann ich nicht akzeptieren. Das provoziert mich. Maßlos.

N: Ich glaube auch nicht, dass Ausbruch eine geeignete Lösung ist. Das wäre dann wieder ein Extrem. Es muss doch möglich sein, einen Mittelweg zu finden.

S: Ich sehe schon die Notwendigkeit, aus den extremen Situationen auszubrechen. Aber es geht um das Maß an sozialer Kontrolle. Viele Verhaltensweisen enden in extremer Kontrolle, und da müssen wir eingreifen. Wir müssen mehr Prävention leisten. Daran arbeiten, dass Mädchen gar nicht erst in Situationen geraten, aus denen sie ausbrechen müssen, wie Zwangsheirat oder Genitalverstümmelung, Jungfrauenprobe oder andere unwürdige Dinge.

N: Du meinst damit aber nicht, dass die Mädchen selbst dafür verantwortlich sind, nicht in solche Situationen zu geraten?

S: Nein, das ist unsere Aufgabe, dass ihnen das nicht passiert. Mit uns meine ich die Gesellschaft. Und die Politiker müssen sich darum kümmern und mehr in Prävention investieren, konkrete Maßnahmen schlicht und ergreifend.

A: Aber ich wünsche mir auch, dass Kinder und Jugendliche zu Hause das Gespräch suchen und so die ersten Schritte tun. Der Dialog mit der älteren Generation ist in meinen Augen sehr wichtig.

N: Aber dafür müssen sie wissen, dass sie das in einem sicheren Rahmen tun können, dass sie keinen Stress befürchten müssen, weil sie das Gespräch suchen. Das ist wichtig. Ich hoffe jedenfalls, dass wir mit unserer Debatte für sicherere Rahmenbedingungen für diejenigen sorgen können, die diesen Kampf aufnehmen wollen, zu Hause und draußen. Und dass wir damit noch viel mehr Menschen zu kleinen Veränderungen in ihrem Leben inspirieren können.

A: Eine der unschönen Konsequenzen von dem, was wir tun, ist, dass manche Eltern uns als abschreckendes Beispiel heranziehen, wie ihre Kinder auf keinen Fall werden sollen. Das verschlechtert die Position der Mädchen und macht es noch schwieriger, das Gespräch zu eröffnen.

N: Es geht ja auch nicht darum, dass sie wie wir werden oder unsere persönlichen Entscheidungen übernehmen sollen. Ich möchte mit all dem hier dazu beitragen, dass junge Menschen nach und nach lernen, ihren Radius und ihre Grenzen zu erweitern. Solche Veränderungen passieren nicht über Nacht, aber sie führen vielleicht dazu, dass du mit 21, 22 oder 25 endlich mündig bist und selbst über dein Leben bestimmen kannst.

S: Ich hoffe auch, dass wir zu einem besseren Verhältnis zwischen Kindern und Eltern beitragen können, zu größerem Vertrauen und größerer Offenheit. Zu mehr Sicherheit in der Familie, damit Jugendliche das Gefühl haben, ihre Probleme zu Hause offen ansprechen zu können. Wenn ein Kind etwas getan hat, das als Sünde gilt, oder … Ich finde es furchtbar, dass menschliche ›Verstöße‹ mit Sünde gleichgesetzt werden. Das Gefühl, am laufenden Band Sünden zu begehen, obwohl du eigentlich ganz normale Dinge tust, ganz normale Fehler machst, ist unendlich belastend. Ich wünsche mir, dass Kinder mit ihren Eltern reden können und Eltern ihren Kindern Ratschläge geben, was sie für richtig und gut für sie halten. Jugendliche sollten wissen, dass sie ein Netzwerk haben, das sie auffängt, egal was passiert. Dass keine Familie mehr ihre Kinder verstößt, weil diese beispielsweise Gewalt oder einen sexuellen Übergriff erlebt haben.

A: Was auch ganz wichtig ist: Nicht allen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund geht es so. Wirklich nicht. Und das behaupten wir auch an keiner Stelle. Aber für diejenigen, denen es so geht, bedeutet es hoffentlich Inspiration und Hoffnung, dass andere sich trauen, die Dinge laut auszusprechen oder darüber zu schreiben.

N: Es wäre natürlich toll, wenn das Buch auch von Erwachsenen und von Jugendlichen ohne sogenannten Migrationshintergrund gelesen würde. Zum einen, weil wir Teil dieser Gesellschaft sind und es eine wichtige Voraussetzung ist, dass alle die Probleme kennen, wenn es darum geht, Lösungen zu finden. Das betrifft alle. Denn nicht alle Schwierigkeiten, denen wir uns gegenübersehen, sind Minderheitenprobleme. Mir zu wünschen, dass sich viele Leser in diesem Buch wiedererkennen, wäre dumm, weil sie das hoffentlich nicht tun, da ich es natürlich am besten fände, wenn keiner von ihnen je soziale Kontrolle erleben musste. Aber es würde mich freuen, wenn sie sich angesprochen fühlen und nach der Lektüre das Bedürfnis haben, herauszufinden, wer sie sind.

A: Tiefsinnig …

N: Ha, ha! Mach dich nicht lustig.

#LiebeSchwester

Im März 2017 bekam die ägyptisch-amerikanische Journalistin Mona Eltahawy eine von vielen E-Mails von einem anonymen Absender, der ihr vorschreiben wollte, wie sie sich zu verhalten habe.