André Stern

BEGEISTERUNG

Die Energie der Kindheit wiederentdecken

aus dem Französischen von Irène Maeder

Mit Beiträgen von
Richard Bach
Aleksander Baj
Jean-François Bernardini
Jocelyn Dunn
Benoît Le Goëdec
Satish Kumar
Irène Maeder
Joël de Rosnay
Arno Stern
Michèle Stern
Pauline Stern

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Hintergrund_Zitat

Für Sabryna und Richard Bach, in Dankbarkeit

INHALT

BEGEISTERUNG IST AUCH EIN BEFREIUNGSAKT, DER UNS IN JEDEM ALTER ZUSTEHT

OUVERTÜRE

KAPITEL 1
DIE BEGEISTERUNG, DÜNGER FÜR DAS GEHIRN

»Begeisterung, die innere Kraft« von Joël de Rosnay

KAPITEL 2
EIN NEUES VERSTÄNDNIS DER BEGEISTERUNG

»Sich begeistern heißt, in die göttliche Energie einzutauchen«
von Satish Kumar

KAPITEL 3
DER JAHRMARKT

KAPITEL 4
MADAME PERROUX

KAPITEL 5
SPIELEN, DAS KIND IN SEINEM ELEMENT

KAPITEL 6
ANTONIN, DIE ZAHLEN UND DIE BUCHSTABEN

KAPITEL 7
EIN OZEAN DER POTENZIALE

»Winzige und kostbare Begeisterungen« von Michèle Stern

KAPITEL 8
DER SICHERE HAFEN

»Spielen und spielen lassen« von Arno Stern

KAPITEL 9
DAS VERLETZTE KIND

KAPITEL 10
DIE VERSCHWUNDENE BEGEISTERUNG

»Alleine du weißt, was für dich gut ist« von Pauline Stern

KAPITEL 11
DAS MUSIKTRAUMA

»Die Begeisterung, eine Flamme, die gerettet werden muss«
von Jean-François Bernardini

KAPITEL 12
SKEPTISCHE STIMMEN

»Während ich übersetze…« von Irène Maeder

KAPITEL 13
DIE »NEBENEFFEKTE« DER BEGEISTERUNG

»Die Begeisterung des Gebärens wirkt über die Geburt hinaus«
von Benoît Le Goëdec

KAPITEL 14
GESCHICHTEN DER BEGEISTERUNG

»Zu finden, wofür man sich begeistert, verändert alles« von Aleksander Baj

»Der Vorzug, ein leidenschaftliches und eigensinniges Kind zu sein«
von Jocelyn Dunn

»Ein Regenbogen in der Wüste« von Richard Bach

KAPITEL 15
DIE WIEDERGEFUNDENE BEGEISTERUNG

DANK

QUELLEN

BEGEISTERUNG IST AUCH EIN BEFREIUNGSAKT, DER UNS IN JEDEM ALTER ZUSTEHT

Im Jahr 2008 lernte ich André Stern in Paris eher zufällig kennen und erfuhr, dass er gerade das Manuskript zu »… und ich war nie in der Schule« beendet hatte. Er vertraute mir diesen ersten Text an und das, was ich damals auf dem Rückflug nach München las, erstaunte mich und es erschütterte mich gleichermaßen. Es erstaunte mich, weil hier von einer so ganz anderen und so herrlich freien Kindheit erzählt wurde, und gleichzeitig erschütterte mich die Lektüre, weil mir klar wurde, wie wenig wir letztlich von den Bedürfnissen der Kinder wissen.

So begann unsere nun schon über zehnjährige Zusammenarbeit.

Im Jahr 2016 erschien das ebenfalls in mehreren Auflagen veröffentlichte Buch »Spielen, um zu fühlen, zu lernen und zu leben«, in dem sich André Stern mit der elementaren Bedeutung des Spielens für die Entwicklung des Kindes beschäftigt. Bereits in diesem Buch nahm die Begeisterung eine zentrale Rolle ein, denn das Spiel kann es ohne Begeisterung nicht geben.

In vielen der Gespräche, die André Stern auf Veranstaltungen und seinen unzähligen Vortragsreisen geführt hat, hörte er immer wieder von Betroffenen, wie unangemessene Erwartungen zu Versagensängsten und Selbstzweifeln führen, wie dabei die Begeisterung erstickt wird und damit verbunden auch die Fähigkeit zur Empathie. Wie Kreativität, Selbstwertgefühl und die Kraft, über sich hinauszuwachsen, kleingemacht oder ganz verhindert werden. Das Gefühl, das bleibt, ist: Man exponiert sich in der Begeisterung, und macht sich dadurch verletzbar. Wenn Begeisterung hingegen auf einem Fundament des Vertrauens gedeihen kann, wird uns das ein Leben lang stärken.

Begeisterung ist auch ein Befreiungsakt, der uns in jedem Alter zusteht, nicht nur, weil wir in jedem Alter etwas lernen oder neu beginnen können, wenn wir nur wollen, sondern auch, weil wir es dürfen, selbst (oder gerade) dann, wenn es andere infrage stellen.

Begeisterung ist eine wunderbare Gabe, aber ihre Entfaltung braucht neben dem Vertrauen noch viel mehr. Wir alle haben als Kleinkinder erlebt, wie wir eine in der Proportion zu große Stufe erklimmen wollten, aber erst André Stern macht aus dieser scheinbar banalen Handlung etwas, das unsere Aufmerksamkeit weckt. Vielleicht sind die Sterns vor allem in dieser Hinsicht so besonders und einzigartig. Sie gestehen ihren Kindern nicht nur zu, dass sie staunen, ausprobieren und entdecken dürfen, sie schätzen dieses Staunen und Entdecken auch, sie geben ihm den größtmöglichen Resonanzraum, und sie werten und kommentieren nicht. In dieser Kombination des Sehens, Zeitgebens und Nichtbewertens entfalten sich Freude und Glück.

Ich erlebe die Überlegungen von André Stern als sehr bereichernd, vielleicht auch deshalb, weil ich in jungen Jahren selbst die Erfahrung gemacht habe, wie weitreichend gesellschaftliche Erwartungen das eigene Selbstbewusstsein berühren können. Hinzu kam in meiner Kindheit noch die ständige Abwertung von Mädchen, die nicht auf Bäume klettern sollten und die nicht pfeifen durften. Ich bin trotzdem gerne auf Bäume geklettert, aber wenn ein Mädchen das konnte und vielleicht sogar wollte, war es kein richtiges Mädchen mehr.

Meine Mutter musste bereits in der ersten Grundschulklasse in die Schule kommen, weil ich nicht handarbeiten wollte. Diese Rebellion war nicht vorgesehen. Als ich mit sechs Jahren pfeifend durch das Treppenhaus hüpfte, zitierte eine Nachbarin: »Mädchen, die pfeifen und Hähne, die krähen, soll man beizeiten den Hals umdrehen.« Das waren die Scherze, über die die anderen lachten.

In der Schule erstarb meine Begeisterung für so vieles, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Leben nach der Schule jemals schrecklicher sein würde. Ähnlich wie Pauline Stern es beschreibt, bin auch ich mit meiner Familie häufig umgezogen, nur mit dem Unterschied, dass in Deutschland in jedem Bundesland ein anderes Schulsystem etabliert war. Ein Kind, das in der 3. Klasse neu hinzukam, war weder vorgesehen noch gewollt, es störte die Gemeinschaft. Als ich mein Abitur in der Hand hielt, begann meine Befreiung. Ich habe ein Studium gewählt, das mich erfüllte und einen Beruf, der mich nun schon seit vielen Jahren immer wieder aufs Neue überrascht und begeistert.

In diesem Buch führt André Stern seine Gedanken weiter, und falls Ihnen manche Überlegungen bekannt vorkommen sollten, so ist das gut und gewollt, denn diese Gedanken sind nie abgeschlossene »Produkte«, sondern immer im Fluss. Wie in der Musik greift André Stern immer wieder ein Thema auf, das er weiterverarbeitet oder abwandelt, das sich aber wie ein roter Faden durch seine Publikationen zieht und im Ergebnis zu einer ganz neuen und in jedem Fall bereichernden Komposition führt.

Elisabeth Sandmann

München, im Januar 2019

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OVERTÜRE

Antonin geht an meiner Seite. Seine kleine und doch schon so große Hand in der meinen. Bei jedem zweiten Schritt macht er einen kleinen Sprung, er atmet kürzer, ist aber nicht außer Atem. Ich spüre, dass er mich ein bisschen zieht; seine strahlenden Augen schauen in sein Inneres und nehmen doch gleichzeitig alles um ihn herum wahr. Kinder haben diese packende Eigenschaft, Fokus und Fluss zu vereinigen.

Wir haben den Vertrag für das vorliegende Buch unterzeichnet und sind auf dem Heimweg. Antonin hat mich begleitet und ist mit offenen Armen empfangen worden; seine Begeisterung hat die Anwesenden bezaubert. Es ist die Begeisterung aller freien Kinder.

Für Antonin ist es ein äußerst wichtiges Ereignis. Vor zwei Jahren, als wir auf dem Weg in den Park waren und an dem Gebäude vorbeigingen, das einem großen Schiff ähnlich sieht, hatte er ausgerufen: »Oh! Hier ist mein Verleger, hier werde ich meine Bücher herausbringen!«

Gibt ein Kind den Anstoß für ein Projekt, und nehmen wir es ernst, dann löst das, was ich die »Konspiration des Universums« zu nennen wage, einen Dominoeffekt aus, der dazu führt, dass das Projekt verwirklicht wird, auf die eine oder andere Art.

Daran erinnere ich mich und daran denke ich heute, während wir nebeneinander hergehen.

Ich sehe, wie er zittert. »Weißt du, mein Körper ist voller Dopamin wegen der Begeisterung, zum ersten Mal bei meinem zukünftigen Verleger gewesen zu sein, deshalb muss ich ein bisschen hüpfen, um Druck abzulassen.« Dass er sich damit auskennt, ist nicht erstaunlich, das Thema ist Teil unserer täglichen Unterhaltungen. Antonin ist siebeneinhalb Jahre alt, ein Kind wie jedes andere, mit dem Unterschied, dass niemand je seine Begeisterung mit dem schweren Deckel der Erwartungen der Erwachsenen zugedeckt hat.

Darüber will ich hier reden: keinen Deckel auf die Begeisterung zu legen, die uns zu allem befähigt, die uns von unseren Grenzen befreit, die uns erlaubt, eine Verbindung mit der in uns wohnenden Genialität herzustellen; über diesen natürlichen Zustand, der nicht die Frucht großer Anstrengung, sondern einfach da ist, von jeher und für immer. Und darüber, dass es genügt – für den Fall, dass der Deckel schon aufgelegt worden sein sollte – die Begeisterung von allem zu befreien, was sie behindert und zudeckt, um sie wieder zum Blühen zu bringen.

KAPITEL 1
DIE BEGEISTERUNG, DÜNGER FÜR DAS GEHIRN

Jahrzehntelang hat man geglaubt, Menschen kämen mit einem von ihren Genen programmierten Gehirn zur Welt.

Die Gene der einen verkabelten ihre Gehirne so, dass sie automatisch in die Kategorie der intelligenten Menschen eingereiht wurden, während die Gene der anderen sie zwangsläufig »dumm« bleiben ließen. Das war praktisch, pragmatisch, wohlgeordnet (dank der Symmetrie, die den Anhängern der Philosophie von Descartes so lieb ist), leicht nachzuvollziehen und zu akzeptieren, auch von den »Dummen«.

Dieser Glaube ließ eine gewisse Weltordnung entstehen, die heute noch fest in unserer Gesellschaft verankert ist. Die einen werden dumm geboren und werden es bleiben (die Epigenetik ist erst vor kurzem entdeckt worden, bis dahin bedeutete »genetisch« immer auch »endgültig«), die anderen sind von Geburt an intelligent – wie es schon ihre Eltern waren und wie ihre Kinder es sein werden, denn »genetisch« heißt auch »erblich«.

Dank der Epigenetik wissen wir, dass unser Werdegang nicht in den Stein unserer Atavismen gemeißelt ist. Was wir zu uns nehmen, wem wir begegnen, unser Umfeld, unsere Erfahrungen usw. haben Einfluss auf unsere Gene.

Am Ende des 20. Jahrhunderts wiesen britische Studien bei Jugendlichen eine plötzliche und spektakuläre Entwicklung jener Zone des Gehirns nach, die für die Bewegung des Daumens zuständig ist. Eine Entwicklung, die – ja, ja – einhergeht mit der exponentiell wachsenden Bedeutung der SMS im Alltag der jungen Leute – denn der Daumen ist das am meisten eingesetzte Werkzeug beim Schreiben einer SMS. Diese Entdeckung räumte in aufsehenerregender Art auf mit dem Glauben an den genetischen Ursprung der Intelligenz und führte zu der etwas vorschnellen Schlussfolgerung, dass das Gehirn sich ähnlich einem Muskel entwickelt, d.h. entsprechend dem Gebrauch, den man von ihm macht.

Ebenso vorschnell wurden, gestützt auf diese Annahme, Programme zum Training des Gehirns propagiert. Sie scheiterten kläglich: Was so hervorragend funktionierte für das Schreiben von SMS, hatte nicht den geringsten Effekt, als man versuchte, das Gehirn von Kindern zu »boosten«, indem man sie im Kindergarten fünf Sprachen lernen ließ oder ihnen mit 18 Monaten das Lesen beizubringen versuchte, während sie lieber mit einem Löffel im Kakaopulver Bagger spielen wollten … Man musste von vorne beginnen.

Der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther erklärt, dass ein gezieltes Training während mehrerer Stunden pro Tag keine Entwicklung größeren Ausmaßes hervorbringt. Treibender Faktor sei die Begeisterung, mit der Jugendliche untereinander über SMS kommunizieren. »Das Gehirn ist kein Muskel, den man beliebig zwingen und belehren kann, es braucht für die Weiterentwicklung die richtige emotionale Anregung.«1

Unser Gehirn entwickelt sich somit nach Gebrauch – unter der Bedingung allerdings, dass das, was wir tun, unsere Begeisterung weckt und schürt!

Dass die Begeisterung uns Flügel verleiht, uns erlaubt, alles zu lernen, alles zu werden, über all unsere Grenzen hinauszuwachsen, das wissen wir alle; neu ist, dass dieses Phänomen nun wissenschaftlich erklärt werden kann. In einem Artikel in der »Welt« vom April 2012 schrieb Gerald Hüther mit der ihm eigenen Klarheit, die ihn im deutschsprachigen Raum so beliebt gemacht hat:

»Das kennen wir alle: Wenn einem etwas wirklich wichtig ist, dann strengt man sich auch an, um es zu erreichen. Wenn es dann tatsächlich klappt, ist man hellauf begeistert. Und immer dann, wenn man sich so richtig für etwas begeistert, wenn es einem unter die Haut geht und man etwas besonders gut hinbekommen hat, wird im Mittelhirn eine Gruppe von Nervenzellen erregt.

Die schütten dann an den Enden ihrer langen Fortsätze einen Cocktail neuroplastischer Botenstoffe aus. Zum Leidwesen aller tapferen Pflichterfüller passiert das nie im Routinebetrieb des Gehirns, wenn man all das abarbeitet, was anliegt, sondern nur in diesem wunderbaren Zustand der Begeisterung. Die bekanntesten dieser neuroplastischen Botenstoffe heißen Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin, auch Peptide wie Endorphine und Enkephaline gehören dazu.

Sie alle lösen auf die eine oder andere Weise in nachgeschalteten Nervenzellen eine rezeptorvermittelte Signaltransduktionskaskade aus. All jene neuronalen Netzwerke werden ausgebaut und verstärkt, die im Hirn aktiviert worden waren, um genau das zustande zu bringen, was der betreffenden Person ganz besonders am Herzen lag.«2

An anderer Stelle fasst Gerald Hüther es so zusammen: Die Begeisterung ist Dünger für das Gehirn.

Das ist eine frohe Botschaft, sind wir doch ausnahmslos alle mit diesem Dünger für das Gehirn auf die Welt gekommen, den wir überall hin mitnehmen können! Die Begeisterung, wie andere Geisteszustände, ist einfach da, von Anfang an.

Kleinen Kindern zuzuschauen, wie sie spielen (also wie sie die Welt erkunden), zeigt diesen grundlegenden, angeborenen und spontanen Aspekt der Begeisterung perfekt auf. Ein Kleinkind empfindet alle zwei bis drei Minuten einen Begeisterungssturm. Der erste ist noch nicht vorbei, da beginnt schon der nächste.

Dieses Phänomen ist leicht zu erklären: Es wurzelt in der ergreifenden geistigen Offenheit, die ebenfalls zu unserer »Grundausstattung« gehört. Ein Kleinkind entdeckt die Welt ohne den Hauch eines Urteils und frei von jeglicher Diskriminierung. Es geht auf andere Lebewesen (Menschen, aber nicht nur) mit offenen Armen und offenem Herzen zu, ohne sich um ihre Hautfarbe, ihre Religion, ihre Größe, ihr Geschlecht oder ihr Alter zu kümmern. Frei von allen »Ismen« dieser Welt (Rassismus, Sexismus, Speziesismus, Altersdiskriminierung), braucht es nicht zur Toleranz erzogen zu werden, denn es kennt die Intoleranz nicht… (Stellen Sie sich vor, wie anders unsere Welt wäre, wenn wir uns nicht zu weit von dieser angeborenen Anlage wegbewegen würden!).

Ein Kleinkind hat am Anfang keinen Grund, sich unsere Auffassung von den Geschlechtern zu eigen zu machen…
Mädchen? Junge? Es hat noch nicht gelernt, zu differenzieren, einzuteilen, zu klassifizieren, zu kategorisieren. Ein Kleinkind denkt, dass es so viele Genders gibt wie Menschen.

Saskia hat sehr helle Haut. Sie lebt in Holland mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem größeren Bruder. Gerade schaut sie sich begeistert im Internet eine Fotografie an. Auf dem Bild sieht man eine junge afrikanische Mutter mit tiefschwarzer Haut, die mit beiden Armen ihre kleine Tochter über ihren nach hinten geworfenen Kopf hält – und die Kleine lacht aus vollem Hals. Beide tragen bunte Kleider und sind so fröhlich und einander so verbunden, dass Saskia nicht aufhören kann, sie zu betrachten. Sie dreht sich zu ihrer Mutter um und sagt: »Ist das vielleicht ein Foto von dir und mir?« Neugierig fragt ihre Mutter sie: »Siehst du keinen Unterschied zwischen ihnen und uns?« »Doch«, antwortet Saskia, »doch Mama, ihre Kleider sind viel hübscher als unsere.«

Dank dieser Weltoffenheit gibt es für das Kind weder Hierarchien der Berufe noch der Fachgebiete. Es hat keinen Grund, sich für den Beruf des Müllmanns weniger zu begeistern als für denjenigen des Astronauten; in seinen Augen haben Stricken und Mathematik denselben Stellenwert, Lesen lernen und Tanzen sind auf der gleichen Stufe. Darum begeistert es sich für alles, was ihm begegnet, seien es Personen oder das was sie tun, oder sonst etwas, was es zu verstehen oder zu entdecken gibt.

Jeder dieser kleinen Begeisterungsstürme löst wiederum das vom Hirn selbst generierte »Doping« aus, das wir schon beschrieben haben. Alle Substanzen, die das Kleinkind braucht, damit die neuronalen Netzwerke ausgebaut und verstärkt werden, entstehen direkt im Gehirn, alle zwei bis drei Minuten, von morgens bis abends.

Welch eine außergewöhnliche Ausstattung, um ein Leben zu beginnen! Die Begeisterung beschränkt sich natürlich nicht nur auf den Beginn des Lebens – oder sollte es zumindest nicht tun. Es gibt keinen Grund, weshalb sie sich erschöpfen sollte. Sie wirkt unabhängig von unserem Alter. Ich zitiere gern das Sprichwort: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«, um zu unterstreichen, wir grundfalsch dieses ist, wie klar die Praxis ihm widerspricht. Eines meiner Lieblingszitate von Gerald Hüther ist folgendes: »Ein 85-Jähriger kann in einem halben Jahr chinesisch lernen … vorausgesetzt, er begeistert sich dafür … zum Beispiel, weil er sich in eine junge, 75-jährige Chinesin verliebt hat.«3 Wenn wir also chinesisch nicht lernen, ob mit fünfundachtzig oder mit fünfzehn, dann nicht, weil unser Hirn es nicht zulässt, sondern schlicht deshalb, weil es uns nicht begeistert.

Genau darum machen wir so große und schnelle Fortschritte in allem, was wir mit Begeisterung angehen.

Begeisterung löst Emotionen aus. Sie versetzt uns in einen Zustand, in dem die emotionalen Zentren aktiv sind. Und sind sie aktiv, so eignen wir uns die Informationen für immer an.

Werden die emotionalen Zentren nicht aktiviert, hat die Information keine Chance, sich in unserem Gehirn zu verankern. Zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus, beinahe sofort. Dies ist die Erklärung dafür, weshalb wir in einer Welt leben, in der es als normal angesehen wird, achtzig Prozent des Gelernten wieder zu vergessen! Hand aufs Herz: ist es nicht so, dass die zwanzig Prozent, die Sie nicht vergessen haben, mit Emotionen verbunden sind? Gefühle, die das Thema auslöste – weil dieses Sie betroffen, berührt oder überrascht hat. Gefühle, die entstanden, weil die neuen Informationen mit einem Thema verbunden waren, das Sie betraf. Gefühle, die mit der Bedeutung, der Bindung an die Person zu tun hatte, die die Informationen vermittelte. Oder womit auch immer unter den vielen Möglichkeiten, durch welche die emotionalen Zentren aktiviert werden.

Den richtigen Moment, um etwas zu lernen, gibt es nicht; alles hängt davon ab, ob die emotionalen Zentren aktiviert werden oder nicht. Wenn wir aufhören würden, uns in die eigenen Rhythmen und Abläufe der Kinder einzumischen, könnten unsere Kinder, als wäre es das Natürlichste von der Welt, von einer Emotion zur anderen, von einer Begeisterung zur nächsten gehen und so unendlich in dem Zustand bleiben, der uns erlaubt, alles dauerhaft zu lernen.

Begeisterung kann man nicht künstlich auslösen. Das synthetische Oxytocin wirkt nicht wie das Oxytocin, das unser Körper produziert, eine Spritze mit einem Cocktail der erwähnten Neurotransmitter würde nicht zu einem Aufblühen der Begeisterung führen. Es ist die Begeisterung, die zur Ausschüttung von Hormonen führt, nicht umgekehrt. Es nützt nichts, jemanden zu schütteln und ihn aufzufordern: »Mach schon, begeistere dich, das wird dir gut tun!« So läuft es nicht. Begeisterung kann auch nicht angeregt werden, indem man versucht, einer Person bestehende Umstände als begeisternd zu »verkaufen«, wenn sie es in ihren Augen nicht sind – wie man es so oft bei Erwachsenen sieht, wenn sie ihre unglücklichen Kinder bei dem, was sie tun, unterbrechen, um ihre eigenen Projekte umzusetzen (z.B. den Spielplatz zu verlassen, wo das Kind so schön spielt, um einkaufen zu gehen).

Eine der wichtigsten Eigenschaften der Begeisterung ist, dass sie ansteckend ist. Nur unsere Begeisterung – so sie denn echt ist – kann die Begeisterung in anderen Menschen wecken. Die sich dann aber nicht unbedingt für die gleichen Dinge begeistern werden wie wir.

Ich bin schon immer Gitarrist; der Gitarre galt mit Sicherheit meine erste große Begeisterung, die ich zum ersten Mal im Alter von drei Jahren verspürt habe. Die Klänge der Gitarre und die undeutlichen Stimmen des Lehrers und seines Schülers, die aus der Galerie unter uns zu hören waren, wenn ich mein Ohr auf den Fußboden presste, sind heute noch wie eingraviert. Ein paar Jahre später nahmen mich meine Eltern eines Abends mit ins Konzert. Ein Klaviervirtuose spielte mit einer solchen Begeisterung, dass auch meine Begeisterung sofort aufflammte. Ich wollte nur noch eines: nach Hause gehen, nicht um Klavier, sondern um Gitarre zu spielen – mein Instrument – mit der gleichen Begeisterung, die der Pianist an den Tag gelegt hatte.

Vor einigen Jahren bedurfte es einiger Anstrengung, um die Epigenetik zu verstehen, die ganz neu war in der Welt der Wissenschaft. Sie in einigen Worten zusammenzufassen, war eine zusätzliche Schwierigkeit. Eines Tages fand ich ein dreiminütiges Video; nicht nur gelang es da jemandem, sie mit großer Eleganz zu erklären, er benutze auch Metaphern, die mithalfen, sie zu verstehen, sie zu spüren und sie nicht mehr zu vergessen. Dieser Herr mit seinem neugierigen und spielerischen Geist war Joël de Rosnay. Ich habe sofort begriffen, dass es sich um einen Enthusiasten handelt, ob er sich der Wissenschaft widmet, der Schriftstellerei oder dem Surfbrett.

»Begeisterung, die innere Kraft« von Joël de Rosnay

»Enthusiasmus« ist abgeleitet von »en theos«, zu Deutsch »Innerer Gott«. Es gibt Redner, die dank ihrer kommunikativen Begeisterung den Eindruck hinterlassen, etwas oder jemanden in sich zu haben, das oder der über sie hinausragt.