images

Nicole Deitelhoff, Heike Ließmann, Lothar Bauerochse, Claudia Baumgart-Ochse, Klaus Hofmeister, Judith Kösters, Eberhard Nembach (Hg.)

Mächtige Religion

Begleitbuch zum Funkkolleg Religion Macht Politik

Nicole Deitelhoff, Heike Ließmann, Lothar Bauerochse, Claudia Baumgart-Ochse, Klaus Hofmeister, Judith Kösters, Eberhard Nembach (Hg.)

Mächtige Religion

Begleitbuch zum Funkkolleg Religion Macht Politik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die 23 Kapitel dieses Buches basieren auf dem hr-iNFO Funkkolleg Religion Macht Politik, wissenschaftlich begleitet vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Die Radio-Sendungen wie die Texte sollen Argumente und Zusammenhänge liefern und Lust machen, in Debatten einzusteigen. (Zusatzmaterialien und Audios: funkkolleg-religionmachtpolitik.de)

© WOCHENSCHAU Verlag,

 Dr. Kurt Debus GmbH

 Frankfurt/M. 2019

www.wochenschau-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

Umschlaggestaltung: Ohl Design

Umschlagbild: hr / istockphoto.com © floortje

Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier

Gesamtherstellung: Wochenschau Verlag

ISBN 978-3-7344-0738-3 (Buch)

E-Book ISBN 978-3-7344-0739-0 (PDF)

ISBN 978-3-7344-0740-6 (EPUB)

Inhalt

Mächtige Religion? Ein Vorwort

CHRISTOPH SCHEFFER

Die Aura des Heiligen – warum Religion Macht über Menschen hat

REGINA OEHLER

Religion macht stark – Glaube und Psychologie

ANDREAS MALESSA

Das Kreuz als Folklore – vom Verschwinden der christlichen Glaubensbindung

STEFAN EHLERT

Faszinierend und anders – der Islam

ELENA GRIEPENTROG

Ohne Gott fehlt nichts – Leben ohne Religion

KLAUS HOFMEISTER

Ersatzreligionen – Fußballgott und vegane Erlösung

BETTINA EMMERICH

Herrschaftsanspruch – Religionen und ihr Verhältnis zur Macht

ANNE BAIER

Gott ist doch kein Mann

LOTHAR BAUEROCHSE

Töten im Namen Allahs – Radikalisierung muslimischer Jugendlicher

MATTHIAS ALEXANDER SCHMIDT

Von guten Mächten – die Sprengkraft des religiösen Pazifismus

SUZANNE KRAUSE

Scharfe Trennung – klare Verhältnisse? Frankreichs Laizismus

MICHAEL HOLLENBACH

Halbherzige Trennung – Deutschland und seine Kirchen

GESINE DORNBLÜTH

Russland. Putin und der Patriarch – vereint zu alter Größe

KATHAINA WILHELM

Fromme Scharfmacher – die US-Evangelikalen und die Politik

ULRICH PICK

Gottesstaat Iran

LISSY KAUFMANN

Ein Volk, ein Land? Israel und jüdische Identität

AXEL DORLOFF

China – kein himmlischer Friede

KRISTIN HELBERG

Krieg im Namen der Religion – Syrien

STEPHAN OZSVÁTH

Krieg im Namen der Religion – Balkan

ARIANE FOCKE

Der Mensch spielt Gott – neue Schöpfung durch Technik

SAMUEL JACKISCH

Vermitteln, verleiten, polarisieren – religiöse Kräfte in der Politik

LUKAS MEYER-BLANKENBURG

Reformatoren gesucht – der Islam im 21. Jahrhundert

CHRISTOPH KÄPPELER

Die Macht des Heiligen – im Dienst der Politik?

HerausgeberInnen und AutorInnen

Mächtige religion? Ein Vorwort

Die Erde ist eine Scheibe. Diese volkstümliche Überlieferung der Weltsicht, wie sie bis vor 500 Jahren galt, zeigt: Wir müssen die Welt und unser Dasein immer neu hinterfragen. Dazu brauchen wir die Wissenschaft, aber auch die Religionen. Denn in allen Religionen, in allen großen Religionsgemeinschaften sind Erkenntniswege angelegt. Der Vorsitzende der deutschen katholischen Bischofskonferenz, der Münchener Erzbischof und Kardinal Reinhard Marx hat es so auf den Punkt gebracht:

“Das Christentum hat in der Geschichte deutlich gemacht: Ein Glaube ohne kritische Vernunft wird nicht Bestand haben, und wird nicht zu uns gehören. Kritische Vernunft bedeutet: sich herausfordern lassen auch von der säkularen Vernunft.“1

Religion und Wissenschaft stehen nicht unversöhnlich nebeneinander. Auch wenn es immer wieder Versuche gab, Erkenntnisgewinn gegen Religion auszuspielen, so können wir heute im 21. Jahrhundert festhalten: Vernunft und Religion können sich ergänzen und befruchten.

In Deutschland leben wir in einer säkular geprägten Gesellschaft. Die Kirchen sind sonntags ziemlich leer – Religion wird den Deutschen zunehmend fremd. Gleichwohl suchen viele nach dem Heiligen, dem Unerschütterlichen, nach Sinn in einer unübersichtlichen Welt. Das Religiöse fasziniert – und löst Unbehagen aus. Weil im Namen der Religion Bomben gezündet werden. Und weil manche Glaubensrichtungen mit ihrem Absolutheitsanspruch und ihrem männlichen Herrschaftsgebaren Demokratie und Freiheit zu bedrohen scheinen.

Darf Religion die politische Agenda mitbestimmen? Gehen Religion und Demokratie zusammen? Diesen Fragen – und vielen anderen – geht dieses Buch nach. Bei unseren Recherchen haben wir festgestellt, welch immense Strahlkraft Religion in alle Bereiche von Politik und Gesellschaft weltweit bis heute hat. Immer geht es dabei um das richtige Verhältnis von Glauben und Politik, von Religion und Staat. Und es geht um Macht!

Einst hatte die christliche Kirche in Europa neben der geistlichen auch die weltliche Macht inne. Erst mit dem Anbruch der Moderne traten Staat und Kirche immer weiter auseinander, der säkulare Nationalstaat entstand und wurde zum Modell auch über Europa hinaus. Heute imitieren Ideologen gerne Religion, oder besser: religiösen Kult. Führungspersönlichkeiten werden überhöht, werden zu Heiligen stilisiert, und damit verbindet sich etwas, was in Religionen auch immer wieder auftaucht, und das ist: ein Reflexionsstopp – wenn über vermeintliche Gewissheiten nicht mehr kritisch nachgedacht wird.

Religion kann in gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen eine konfliktverschärfende Wirkung entfalten. Es gibt kaum Konflikte auf dieser Welt, in denen es tatsächlich um theologische Wahrheiten geht oder darum, welcher Gott der richtige ist. Im Kern geht es meist um politische Macht und ökonomische Ressourcen, also um ganz diesseitige Sachen – und nicht um jenseitige. Doch Religion stiftet Identität, zieht die Grenzen um ein „Wir“, das den „Anderen“ gegenübersteht – manchmal friedlich, doch in Konfliktsituationen oft auch feindlich.

Aber Religionsausübung stellt heute in westlich säkularen Gesellschaften auch so etwas her wie gesellschaftlichen Kitt. Die Taufe oder die Übernahme von Patenschaften beispielsweise, oder die gemeinsamen Feiern von Opferfest, Fastenbrechen, Chanukkah oder Weihnachten – wenn die Familien zusammen kommen, wenn religiöse Traditionen weiter leben, weil sie gesellschaftsbildend sind, dann ist auch Religion in einem positiven Sinne mächtig.

Opfer, Vergebung, Sühne, sich miteinander füreinander einsetzen. Diese Werte finden sich in vielem wieder, was wir heute Verfassung nennen. Angelegt sind sie in Vorform in den heiligen Schriften. Dort sind sie uns bereits vor langer Zeit zur Anschauung gegeben, um uns als Menschen zu prägen. Und um uns immer wieder darauf zu verweisen, was ‚Mensch sein‘ eigentlich heißt: friedlich und frei und in Würde zu leben.

Frankfurt am Main, im Februar 2019

im Namen aller Herausgeber:

Dr. Claudia Baumgart-Ochse

Prof. Nicole Deitelhoff

Heike Ließmann

CHRISTOPH SCHEFFER

Die Aura des Heiligen – warum Religion Macht über Menschen hat

Eckball für die Bayern, es wird die letzte Aktion sein in dieser Partie. Wieder sind sie alle vorne. Der Ball kommt rein und die Eintracht mit der Chance. Gacinovic allein unterwegs Richtung Tor. Mijat Gacinovic, wird er Eintracht Frankfurt zum Pokalsieg schießen? Tor, Tor, Tor, Tooor! 3:1! Eintracht Frankfurt, Ekstase auf hessisch!

19. Mai 2018, Olympiastadion Berlin. Im Finale des DFB-Pokals gewinnt Eintracht Frankfurt gegen Bayern München. Zum ersten Mal nach 30 Jahren wird den Frankfurtern wieder der Pokal vom Bundespräsidenten überreicht.

52 Zentimeter, 8 Liter Fassungsvermögen, vergoldetes Silber in den Händen von Frank-Walter Steinmeier und jetzt in den Händen von Eintracht Frankfuuurt! Goldener Konfettiregen, Weihnachten und Silvester und Ostern und alles Mögliche zusammen für Eintracht Frankfurt heute …

Die festliche Stimmung wird verstärkt durch hymnische Musik und die Choreografie der Eintracht-Fans im Stadion. Was sie da miterlebt haben, können viele auch am Tag danach kaum glauben.

Es ist einfach unglaublich und ich habe gerade zu meiner Tochter gesagt: Merk dir das, das wird wahrscheinlich einmalig sein heute! Und ich kriege immer noch Gänsehaut, wenn ich an gestern denke, das war einfach supergeil. Wenn man überlegt: Pokalsieger, vielleicht wird man’s nur einmal im Leben. Was hier los ist, Emotionen ohne Ende!

„Gänsehaut“ – „Emotionen ohne Ende“ – „nur einmal im Leben“. Was ist da geschehen mit den Fans? Wie im Rausch haben sie den Sieg ihrer Mannschaft erlebt. Haben alles vergessen, was ihren Alltag ausmacht. Sie sind ganz aus sich heraus gegangen, haben gesungen, getanzt, fremde Menschen umarmt, haben die Grenzen ihres Selbst überwunden. Der Religionssoziologe Hans Joas verwendet dafür den Begriff „Selbst-Transzendenz“: „In manchen Erfahrungssituationen haben wir das Gefühl, dass uns etwas über die Grenzen dieses Selbst, dieses etablierten Selbst, hinausreißt. Das ist eine durchaus ambivalente Erfahrung. Das kann etwas Begeisterndes an sich haben, aber es ist gleichzeitig etwas tief Verunsicherndes undBeunruhigendes. Ich zitiere manchmal das Gretchen im Faust im Moment des Verliebens: ‚Meine Ruh ist hin!‘ Wenn man bei dem Beispiel des Verliebens bleibt, ist das nicht nur diese Begeisterung über diesen anderen Menschen, dem man da begegnet ist, es ist auch das Gefühl des Herausgerissen-Seins aus dem Bisherigen.“

Hans Joas, 1948 in München geboren, ist Professor für Religionssoziologie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin. Neben dem Verliebt-Sein beschreibt er auch andere Erfahrungen der „Selbsttranszendenz“, die uns bewegen, begeistern oder erschüttern: „Eine, die offensichtlich auch alle Menschen kennen, ist die Erfahrung des irgendwie Verschmelzens mit Natur. Dass man im Innern des Waldes, am Ufer des Meeres, auf dem Gipfel des Berges usw. ein Gefühl hat, vielleicht nur ganz momentan, des Eins-Seins mit dem – und jetzt werden Leute das unterschiedlich beschreiben, je nach ihren religiösen oder nicht religiösen Voraussetzungen – mit dem Universum oder der Schöpfung oder so etwas. Oder die Erschütterung im Mitleid. Plötzlich denkt man: Das kann doch nicht wahr sein. Ich sitze hier, kann mir alles Mögliche leisten, und an mir vorbei fährt einer im Rollstuhl und erhebt sich an jedem Abfalleimer mit Schwierigkeiten, um zu sehen, ob da eine leere Pfandflasche drin ist. Also, es gibt eine ganze reiche Palette von solchen Erfahrungen der Selbsttranszendenz, teilweise schönen und begeisternden, teilweise erschreckenden und verunsichernden und oft eben ambivalenten, in denen Schönes und Verunsicherndes gemischt ist.“ Solche Momente der Selbsttranszendenz erlebt jeder. Und sie führen dazu, dass jeder Mensch – unabhängig davon, ob er religiös ist oder nicht – so etwas wie „Heiligkeit“ empfinden kann. Das behauptet Hans Joas in seinem 2017 erschienenen Buch „Die Macht des Heiligen“.

Etwa zwei Drittel der Menschen in Deutschland gehören einer Religionsgemeinschaft an. Das sind zu fast gleichen Teilen Katholiken und Protestanten mit jeweils knapp 30 Prozent der Gesamtbevölkerung. Muslime der verschiedenen Richtungen bilden die drittgrößte Gruppe – mit zusammen etwa 5 Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommen 1,7 Prozent orthodoxe Christen und 0,12 Prozent Juden (so beziffern es Yasemin El-Menouar und Orkan Kösemen 2016 in ihrem „Factsheet Einwanderungsland Deutschland“). Welche Rolle Religion oder Religiosität im Leben der Menschen spielt, das untersucht die Bertelsmann-Stiftung in ihrem sogenannten „Religionsmonitor“. Dabei zeigen sich in der Befragung von 2013 starke Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. So gehen im Westen 22 Prozent der Befragten mindesten einmal im Monat in einen Gottesdienst, im Osten sind es 12 Prozent. An „Gott/Gottheiten oder etwas Göttliches“ glauben immerhin 54 Prozent in Westdeutschland und 23 Prozent in Ostdeutschland, wie Detlef Pollack und Olaf Müller 2013 im „Religionsmonitor“ erklären. Insgesamt aber spielten „religiöse Aspekte für viele Menschen nur noch eine Nebenrolle“, so die Autoren der Studie, Detlef Pollack und Olaf Müller vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Universität Münster. Die beiden Wissenschaftler halten fest: „Die Ergebnisse des Religionsmonitors (…) legen nahe, dass es einen schleichenden Bedeutungsverlust des Religiösen von der älteren zu den jüngeren Generationen gibt. (…) Fehlende religiöse Erfahrungen und nicht mehr vorhandenes religiöses Wissen führen (…) dazu, dass Menschen ein Leben ohne Religion ganz selbstverständlich erscheint.“

Ist die Religion also auf dem Rückzug? Verliert das „Heilige“ seine Macht über uns? Gibt es eine – durch Wissenschaft, Technik und Aufklärung – immer weiter fortschreitende „Entzauberung“ unserer Welt? Der Religionssoziologe Hans Joas widerspricht heftig: „Entzauberung“ sei zum „Schlüsselbegriff des Selbstverständnisses der Moderne“ geworden, schreibt er. Und diesen Begriff wolle er nun seinerseits „entzaubern“ – mit seinem Buch über „Die Macht des Heiligen“. Schon beim Begriff des „Heiligen“ gebe es oft ein sprachliches Missverständnis, sagt Hans Joas: „Es widerfährt mir immer wieder, dass Leute mir sagen: Da ich keiner Kirche angehöre oder da ich kein religiöser Mensch bin, ist mir natürlich nichts heilig. Das muss ich als alltagssprachliche Verwendung respektieren. Dieser Mensch denkt, stelle ich fest, nur für religiöse Menschen könne etwas heilig sein. Das trifft jetzt genau nicht die wissenschaftliche Verwendung des Begriffs, in der auf etwas anderes gezielt wird, nämlich auf ganz intensive außeralltägliche menschliche Erfahrungen und die Konsequenzen, die solche intensiven außeralltäglichen menschlichen Erfahrungen für diese Menschen haben.“

Als Beispiel nennt Hans Joas noch einmal das Sich-Verlieben: „Wenn man sich verliebt, dann werden bestimmte Bestandteile der Situation, in der dieses Verlieben stattgefunden hat, von einer lebenslangen emotionalen Bedeutung sein. Mir hat nach einem Vortrag einmal jemand gesagt: ‚Wenn ich Sie richtig verstehe, erklärt mir das, warum ich die Eintrittskarte eines Konzerts, bei dem ich meine Frau kennengelernt habe, irgendwie nicht wegwerfen kann.‘ Und da habe ich gesagt: ‚Genau, Sie haben mich optimal verstanden. Natürlich wissen Sie, dass diese Eintrittskarte ein höchst profaner Gegenstand ist. Aber Sie spüren, dass sich dieser höchst profane Gegenstand für Sie mit einer großen emotionalen Bedeutung aufgeladen hat. Und Sie wissen auch, was der Grund dafür ist – nicht einfach nur, dass dies ein schönes Konzert war, sondern, dass Sie Ihre künftige Frau damals kennengelernt haben.‘“

Das Konzert-Ticket wird für den Liebenden zu etwas Heiligem, der profane Gegenstand wird „sakralisiert“. So mag es auch den Eintracht-Fans ergehen, die nach dem gewonnen Pokalfinale die Eintrittskarte für das Berliner Olympiastadion, ihren Fan-Schal oder gar ein Trikot mit dem Autogramm des Torschützen wie ein Heiligtum verehren.

Der Schriftsteller Navid Kermani, 1967 in Siegen geboren, ist mit zwei religiösen Traditionen aufgewachsen – der islamischen seiner aus dem Iran stammenden Eltern und der protestantischen seiner Schul- und Jugendfreunde. Der Protestantismus war in Navid Kermanis Jugend immer präsent – so erinnert er sich – mit klaren theologischen oder auch politischen Botschaften, aber ohne sinnlichen Reiz oder spirituelle Anregung. Ganz anders die religiöse Praxis des Islams, wie er sie in den Ferien bei Verwandten im Iran erlebte. Die Moscheen, der Gottesdienst, die Koran-Rezitationen waren für Navid Kermani ein ästhetisches Erlebnis, das ihn und sein religiöses Empfinden prägte: „… dass ich Religion zunächst als ein sinnliches Ereignis wahrnehme und eine Herzensangelegenheit – und die Theologie kommt dann hinzu. Aber mir scheint, heutzutage hat sich das irgendwie umgekehrt: dass Religion so als Lehrgebäude wahrgenommen wird und die einzelnen Frommen dürfen dann da und dort auch mal ein bisschen was sinnlich erleben. Aber das ist nicht eigentlich das Eigentliche.“

„Gott ist schön“ – diesen schlichten Titel gab Navid Kermani seiner islamwissenschaftlichen Dissertation über „Das ästhetische Erleben des Koran“. Mit dem gleichen Gespür für die sinnlichen Qualitäten hat er sich später auch mit christlicher Kunst beschäftigt, in der er als Muslim oft mehr oder anderes entdeckt als ein gläubiger Christ: „Ich stehe vor einer Pietà und sehe zunächst mal nicht die Gottesmutter und Jesus Christus, sondern ich sehe eine Mutter, die um ihren Sohn weint. Das berührt einen und bestürzt einen, wenn man es in einer herausragenden Skulptur sieht – unabhängig davon, ob man Christ ist oder nicht. Man sieht eine Mutter um ihren Sohn weinen, das ist ja das Schlimmstmögliche, was wir uns vorstellen können, dass die Kinder sterben, dass man die eigenen toten Kinder im Arm trägt. Diese Skulptur berührt einen. Schon vor der theologischen Botschaft trifft sie einen ins Herz.“

„Ungläubiges Staunen“ – so hieß Navid Kermanis 2015 erschienenes Buch mit Betrachtungen christlicher Kunstwerke, das sogar zum Bestseller wurde. Christliche Kunst, das macht Navid Kermani hier deutlich, kann uns das Heilige zeigen, und zwar nicht „entrückt in den Wolken“, sondern eingebettet in die irdischen Erfahrungen von Liebe, Leid und Gewalt: Gerade in der Sinnlichkeit und der ästhetischen Qualität religiöser Kunst und religiöser Texte liege ihre Macht.

Im Islam werde dieser Zugang zur Religion jedoch immer weiter zurückgedrängt, beklagt Navid Kermani. Der Islamismus kenne das nicht – das Ergriffensein von der Poesie des Koran. Er verlange eine plump wortwörtliche, fundamentalistische Auslegung der vermeintlichen Botschaften des heiligen Textes, die er zum Teil auch mit Gewalt verbreiten wolle. Verantwortlich dafür sei gerade nicht ein Zuviel an Religiosität, sagt Navid Kermani, sondern der Verlust von religiösem Wissen und Traditionen. Die Gefahr sieht er darin, „dass wir anfällig werden für Behauptungen, für Konstrukte unserer eigenen Kultur. Der Fundamentalismus entsteht ja nicht organisch aus der Tradition, er entsteht dort, wo Traditionen zum Erliegen, zum Abbruch kommen. Sehen Sie, diese ganzen Dschihadisten, Islamisten, Salafisten, die man in der Fußgängerzone trifft – kaum einer kommt aus einem traditionellen Elternhaus. Viele von ihnen sind Konvertiten, fast alle sind areligiös aufgewachsen, ohne Kenntnis der eigenen Tradition. Tradition ist also immer der Umgang, der menschliche Umgang mit der göttlichen Offenbarung.“

Und damit verbunden sind die vielen überlieferten Geschichten, zum Beispiel über die Propheten Jesus oder Mohamed, kollektives Wissen, das Traditionen erst möglich macht. Laut Navid Kermani habe sich über die Jahrhunderte ein menschlicher Umgang mit den alten Geschichten eingespielt, der dieses göttliche Wort auch eingebettet habe in einen sozialen und kulturellen Kontext: „Wenn man diesen menschlichen Umgang von 2000 oder 1400 Jahren weglässt, nicht mehr kennt, und das göttliche Wort sozusagen nackt, pur nimmt, so tut, als könne man es pur nehmen, als sei das möglich, heute – 1400 Jahre später – dieses Wort einfach so zu verstehen, als hätte man dabei gestanden (was Muslime sich nie angemaßt haben in der Tradition und Christen auch nicht), dann wird es sehr gefährlich. Denn dann konstruiert man einen Ur-Anfang und man bekämpft die Tradition. Sehen Sie die Dschihadisten: Was sprengen sie denn in die Luft? Sie sprengen ja nicht nur vorislamische Denkmäler in die Luft in diesen Tagen. Es gibt keinen Sufi-Schrein, kein Heiligtum, kein Grab eines Angehörigen des Propheten, das heil geblieben ist in Saudi-Arabien. Es wird also die gesamte Tradition zersprengt, und dann wird Religion extrem gefährlich.“

Religion – Macht – Politik. Diese Sphären waren in der Geschichte der Menschheit immer eng verknüpft. Es kann als Zeichen einer modernen, aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft gesehen werden, wenn sich diese Verknüpfung lockert oder gar auflöst. In Deutschland jedenfalls sind es nur wenige, die „die Politik dem Primat der Religion unterordnen möchten“ – so stellt es der „Religionsmonitor“ im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung fest. Und das gelte für alle untersuchten religiösen Gruppierungen. „Der Aussage ‚Nur Politiker, die an Gott glauben, sind geeignet für ein öffentliches Amt‘ stimmen allenfalls 5 bis 10 Prozent der befragten Christen und Konfessionslosen in Ost und West, aber auch nur ca. 20 Prozent der Muslime zu. Dass führende Vertreter der Religionen auf die Entscheidungen der Regierung Einfluss nehmen sollten, meinen (…) etwas mehr Befragte, nämlich zwischen 17 Prozent bei den Konfessionslosen und 33 Prozent bei den Muslimen.“ Doch auch diese Haltung wollen die Autoren des Religionsmonitors nicht als „Ablehnung des Säkularitätsprinzips“ deuten. Denn manche der Befragten könnten hier auch an die Rolle der Kirchen als „soziales Gewissen der Gesellschaft“ oder ähnliches gedacht und dies positiv bewertet haben.

Wie steht es also um die Verbindung von Politik, Macht und Religion? Und wie entwickelt sich dieses Spannungsverhältnis weiter? Der Religionssoziologe Hans Joas untersucht diese Frage und kommt zu dem Ergebnis, dass die „Macht des Heiligen“ keineswegs gebrochen ist. Immer wieder werde die Macht von Menschen über Menschen „sakralisiert“ – wie Hans Joas sagt –, also mit „heiligen“ Attributen versehen oder mit „Heiligkeit“ verknüpft. Hans Joas erläutert, dass diese „Sakralisierung der Macht“ bis heute dazu führe, dass sie als „Herrschaft“ legitimiert werde: „Es gibt pure Macht. Jemand kann einfach eine Waffe auf mich richten und verlangen, dass ich tue, was er will. Das ist die pure Macht, die ist mit null Sakralitiät ausgestattet. Ich gebe nur nach, weil mir mein Leben lieb ist oder meine körperliche Unversehrtheit. Aber wenn diese Macht irgendwie stabilisiert werden soll und eben damit gerechtfertigt wird, dass es nicht die pure Macht ist, sondern dass es gut ist, dass jemand diese Macht hat, in dem Moment treten Fragen der Legitimation der Macht auf –Herrschaft ist also legitimierte Macht. Und in dieser Legitimation muss verwiesen werden auf irgendetwas, was der, der der Macht gehorchen soll, aus inneren Motiven heraus respektiert. Für die Stabilisierung von Macht braucht es Legitimität und in der Legitimität steckt immer auch Sakralität. Das ist der Appell: Du musst mich respektieren, weil ich der von Gott gesandte Führer oder Herrscher bin, der von Gottes Gnaden dein König ist. Oder irgendetwas dergleichen. Oder eben, weil dieses System, das mir die Macht gegeben hat, etwa der freiheitlich demokratische Rechtsstaat, ein System ist, das du als System als das Gute betrachten musst. Und deshalb – auch wenn du mit mir nicht einverstanden bist – musst du mich trotzdem als den legitimierten politischen Machtinhaber respektieren und mir Folge leisten.“

Auch Formen von Herrschaft, die sich explizit nicht auf die Religion beziehen oder Religion sogar ablehnen, kennen die Sakralisierung von Macht und die Verknüpfung des Herrschers mit magischen Attributen. Hans Joas betont deutlich, dass auch in der Gegenwart oder in der die Geschichte des 20. Jahrhunderts durch säkulare Weltbilder Magisierungen hervorgebracht wurden: „Warum sind Lenin und Mao einbalsamiert, und lange Schlangen von Menschen defilieren an dem einbalsamierten Leichnam vorbei? Der Führerkult im Faschismus und Nationalsozialismus war natürlich eine Sakralisierung von Führergestalten mit vielleicht magischen Erwartungen, was einem die Berührung des Führers alles verschaffen könne.“

Und wie sieht es heute aus? Joas sieht bei unserem politischen Führungspersonal keine Anzeichen, dass „irgendwelche illegitimen Ansprüche auf Unberührbarkeit, Unantastbarkeit erhoben werden. Wir haben es zurzeit mit einer Bundeskanzlerin zu tun, die einen betont nüchternen und betont unemotionalen Führungsstil pflegt. Das gilt nicht unbedingt in unserem Nachbarland Frankreich, wo sich in einer erstaunlichen Weise der neue extrem junge Präsident inszeniert, vielleicht in den Fußstapfen von General de Gaulle, als eine nicht so ganz nur profane Erscheinung. Das variiert sehr innerhalb der westlichen Demokratien. Und Deutschland ist vielleicht in dieser Hinsicht zurzeit eine ganz besonders nüchterne Erscheinung.“

Durch demokratische Wahlen legitimierte Herrschaft ohne magische Momente der Prachtentfaltung – ist das nicht der Beweis, dass wir die „Sakralisierung von Macht“ und die „Macht des Heiligen“ hinter uns gelassen haben? Nein, sagt der Religionssoziologe Hans Joas. Denn nicht nur der Herrscher könne sakralisiert werden, sondern zum Beispiel auch das Volk oder die Nation. Das wird allerdings problematisch, wenn eine „ethnische Selbst-Sakralisierung“ des Kollektivs zu Feindseligkeiten gegenüber anderen Kollektiven führt – also Ethnozentrismus, Rassismus oder Nationalismus. Aber auch die universellen Menschenrechte seien Ergebnis einer Sakralisierung – behauptet Hans Joas –, nämlich der „Sakralisierung der Person“. Diese habe eine „welthistorische Bedeutung“ schreibt Hans Joas in seinem Buch „Die Macht des Heiligen“: „Diese Sakralisierung der Person erfordert zwingend eine relative Ent-Sakralisierung von Staat, Herrscher, Nation oder Gemeinschaft. Sie erfordert nicht, wie oft angenommen wird, eine Säkularisierung im Sinne eines Verzichts auf die Vorstellung von Gott als dem Quell aller Heiligkeit. In dieser Vorstellung kann vielmehr gerade (…) ein Gegengewicht gegen die Sakralisierung irdischer politischer Macht liegen.“

Anders gesagt: Wenn die universellen Menschenrechte jeder einzelnen Person etwas „Heiliges“ zuschreiben, geht das auf Kosten der „Heiligkeit“ von Staat, Herrscher und Nation. Es steht aber nicht im Widerspruch zu religiösen Vorstellungen von Heiligkeit – das ist Hans Joas wichtig: Auch innerhalb eines aufklärerischen oder eines politisch liberalen Weltbilds gebe es Sakralisierungen: „Ich behaupte: Selbstverständlich ja! Die Aufklärung ist geradezu gekennzeichnet von einer Sakralisierung der Vernunft. Es ist ja auch so, dass manche Philosophen in meiner Erfahrung das Wort ‚Vernunft‘ gar nicht ohne ein bestimmtes Tremolo aussprechen können. Für sie ist Vernunft ein ganz intensiver Orientierungsbegriff und sie sind enttäuscht, wenn ich sage, ich weiß gar nicht was ‚die Vernunft‘ ist. Ich weiß, was es heißt, vernünftiger zu handeln und vernünftiger zu sprechen. Aber ich würde lieber ‚vernünftig‘ als Adjektiv oder Adverb handhaben denn als Substantiv, als stünde hinter der Vernunft ein ganz bestimmtes Wesen oder ein Kult der Vernunft.“

1. Juni 2018: In Bayern tritt eine „Änderung der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaats“ in Kraft. Im Bayerischen Gesetz- und Verordnungsblatt heißt es dazu: „Bekanntmachung der Bayerischen Staatsregierung: Im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes ist als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz anzubringen.“ Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder ging voran und hängte gut sichtbar und vor laufenden Kameras ein Kruzifix in den Eingangsbereich seiner Staatskanzlei. Gleich nachdem der sogenannte Kreuz-Erlass im April 2018 beschlossen worden war, gab es scharfe Kritik an Söders Regierung – auch von vielen Vertretern der Kirchen, die ihr die politische Instrumentalisierung eines religiösen Symbols vorwarfen. Im Interview mit den ARD-Tagesthemen erklärte Markus Söder dazu: „Das Kreuz ist natürlich in erster Linie ein religiöses Symbol. Aber es hat auch eine prägende, identitätsstiftende Wirkung für unsere Gesellschaft. Das steht in der bayerischen Verfassung, da gibt’s Bezüge zum Grundgesetz. Und es wird sogar durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt, denn wir in Bayern haben seit langer Zeit Kreuze in Gerichten und Schulen. Und deswegen ist das jetzt eine Ergänzung, die wir tätigen, ein Stück Selbstvergewisserung unserer kulturellen, unserer geschichtlichen, aber auch unserer immateriellen Werte. Und deswegen gehört dieses Kreuz ein Stück weit zu unserer Gesellschaft dazu. Es ist Bestandteil natürlich elementar der Religion, aber gehört auch zu den Grundfesten des Staates.“

Der Regierungschef eines deutschen Bundeslandes definiert das Kreuz als zu den „Grundfesten des Staates“ gehörig und schreibt den Behörden in seinem Machtbereich vor, dieses Symbol aufzuhängen. Darin könnte man eine „Sakralisierung von Macht“ erkennen, die einer anderen Zeit zu entstammen scheint – verbunden mit einer Form der Ausgrenzung von Menschen, die nicht dem christlichen Glauben anhängen. Der Religionssoziologe Hans Joas hält Söder zugute, dass das Kreuz durchaus auch als Ausdruck einer christlich geprägten Kultur zu verstehen sei und daher im öffentlichen Raum – neben den Symbolen anderer Religionen – sichtbar sein sollte. Gerade als religiöses Symbol – so wie gläubige Christen es verstehen – sperre sich das Kreuz jedoch gegen jede Verwendung zu politischen Zwecken, betont Hans Joas: „Das Kreuz ist ja ein ganz besonderes religiöses Symbol. Es ist ja unter den religiösen Symbolen etwas ganz Besonderes, etwas eigentlich höchst Anstößiges. Weil es ja nicht ein Symbol der Macht ist, sondern ein Symbol der Machtlosigkeit. Das ist ja das Unerhörte im Christentum, dass Christus am Kreuz nicht gesagt hat ‚So weit habe ich euch jetzt gehen lassen, jetzt zeige ich euch meine göttliche Macht, ich steige von dem Kreuz, schlage euch alle nieder und ziehe im Triumpf davon‘, sondern dass Christus tatsächlich am Kreuz starb und Todesangst erlitten hat wie jeder Mensch – das symbolisiert ja das Kreuz! Insofern hat die Semantik des Kreuzes eigentlich einen ungeheuren Widerstand in sich gegen den politischen Gebrauch. Das hat nur oft natürlich nicht geholfen. Wir wissen, dass es als Siegeszeichen in Kriegen auf Kreuzzügen usw. verwendet worden ist, wo man sagen kann: Die tiefe religiöse Bedeutung ist eigentlich verloren gegangen. Das ist natürlich jetzt der Grund, warum sich etwa selbst Bischöfe gegen die Verwendung des Kreuzes in einer solchen politisierten Weise wenden.“

Religion – Macht – Politik. Dieses Spannungsverhältnis bleibt spannend. Auch heute. Auch für Menschen, die sich selbst nicht als „religiös“ betrachten. Und auch in einer Gesellschaft, die sich selbst als „aufgeklärt“ versteht.

Literatur

JOAS, Hans (2017): Die Macht des Heiligen – Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin: Suhrkamp.

KERMANI, Navid (1999): Gott ist schön – Das ästhetische Erleben des Koran. München: C. H. Beck.

KERMANI, Navid (2015): Ungläubiges Staunen – Über das Christentum. München: C. H. Beck.

POLLACK, Detlef/Müller, Olaf (2013): Religionsmonitor – Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.

EL-MENOUAR, Yasemin/Kösemen, Orkan (2016): Factsheet Einwanderungsland Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.