Ocean City – Stunde der Wahrheit

R.T. Acron

Ocean City – Stunde der Wahrheit

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über R.T. Acron

© Jörn Neumann

R.T. Acron sind Frank Maria Reifenberg und Christian Tielmann, zwei renommierte Kinder- und Jugendbuchautoren.

Frank Maria Reifenberg, 1962 geboren, ist gelernter Buchhändler. Er ist heute freier Autor und verfasst vorwiegend Kinder- und Jugendbücher sowie Drehbücher für Film und Fernsehen.

Christian Tielmann wurde 1971 in Wuppertal geboren. Er studierte Philosophie und Deutsch in Freiburg und Hamburg. Heute lebt er als freier Autor in Detmold.

Über das Buch

SHOWDOWN IN OCEAN CITY

 

Jackson und seine Freunde sind unter falscher Identität zurück in Ocean City. Leider fliegen sie schneller auf als gedacht und landen als Gefangene tief unter der Stadt. Dort erhalten sie Einblick in ein perfides Spiel, in das Jackson ohne sein Wissen schon lange verstrickt ist. Jackson will sofort aussteigen. Doch dann gerät die Führung der Stadt außer Kontrolle und er setzt noch einmal alles auf eine Karte …

Impressum

Ungekürzte Ausgabe

2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlagbild und -gestaltung: Max Meinzold

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Die Funktionalität der Web-Links wurde zum Zeitpunkt der Drucklegung (eBook-Erstellung) geprüft. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkungen nicht erkennbar.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43527-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71886-8

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423435277

1

Erwischt, aus und vorbei. Das war Jacksons erster Gedanke.

Seine Knie wurden weich. Alles war vergebens gewesen. Sie hatten so viel dafür getan, um unerkannt nach Ocean City einzureisen. Sie hatten sich falsche Identitäten zugelegt, neue Chips unter die Haut am Handgelenk setzen lassen. Sie hatten mit Kontaktlinsen ihre Augenfarbe verändert. Jackson hatte seine Haare blondiert und sein Freund Crockie trug eine Perücke. Von den Socken bis zum Scheitel waren sie nicht mehr Jackson Crowler und Crockie Fleming, der Freak, sondern Lars Strømberg und Marvin, der Nerd. Crockie schlurfte nicht mehr, er ging stocksteif wie dieser Marvin, dem er die Identität geklaut hatte. Jackson hielt den Atem ständig auf halber Strecke an, damit er das viel zu enge Hemd von Lars nicht sprengte. Mit dieser Maskerade hatten sie es gerade erst geschafft, die scharfen Kontrolleure bei der Einreise nach Ocean City an der Nase herumzuführen. Und jetzt das!

Sie waren aufgeflogen, waren keine 500 Meter weit gekommen. Sie standen beide am Eingang zur Subway. Ihre Freunde Lou, Scout und Matt Fuller hatten die Gefahr rechtzeitig erkannt und waren abgehauen. Aber Jackson und Crockie waren zu langsam gewesen.

Hinter ihnen hatte jemand ihre Namen gerufen. Nicht »Lars« und »Marvin«. Laut und deutlich sagte die Stimme ihre richtigen Namen: »Jackson« und »Crockie«!

Sie drehten sich beide um.

Heather Blue stand vor ihnen.

Jackson atmete auf, wusste aber gleichzeitig nicht, was er davon halten sollte.

»Was macht ihr hier?«, fragte Heather.

»Dasselbe könnten wir auch fragen«, nuschelte Crockie und kratzte sich so nervös am Kopf, dass die Perücke verrutschte. Seine mandelförmigen Augen zuckten nach links und rechts. Auch Jackson hielt möglichst unauffällig Ausschau nach Agenten der Abteilung Z. Aber da war niemand. Jackson sah noch nicht mal eins ihrer schwarzen Autos. Ein paar Passanten liefen runter zur Subway. Ansonsten war da Heather. Wie aus dem Nichts. Sie hatte sie erkannt.

»Los, los, Jungs, es ist hier zu gefährlich für euch! Folgt mir!« Heather steuerte zielstrebig auf den Abgang zur Subway zu. »Sie sind hinter euch her!«

»Was? Wo sind sie?«, hauchte Jackson.

»Drüben, andere Straßenseite, oben auf dem Dach und direkt hinter euch, einfach überall!«, murmelte Heather. Sie lief die Stufen zu den Gängen der Subway-Station hinunter. Jackson suchte Crockies Blick, aber der legte den Kopf schief und starrte nur zurück. Er wusste genauso wenig, was er von der Situation halten sollte. Auch er konnte niemand Verdächtigen entdecken, sicherheitshalber liefen sie dennoch hinter Heather her. Hatten sie ihre Fähigkeit, die Agenten der Abteilung Z zu erkennen, auf dem Festland verloren?

Heather konnten sie vertrauen. Wobei sie Jackson schon einmal gewaltig an der Nase herumgeführt hatte. Kennengelernt hatte Jackson sie als Pförtnerin seiner Schule, der feinen Clark Kellington Highschool. Ein Rädchen im Getriebe. Meistens nett, manchmal ungeduldig und nur richtig übel drauf, wenn man um ein paar Minuten mogeln wollte. Heather Blue hatte ihren langweiligen Job an der Eliteschule immer besonders ernst genommen und jeden Decoder der Schüler noch einmal extra gescannt, auch wenn sie alt genug waren, das selbst ordnungsgemäß zu machen. Hilfe brauchten eigentlich nur die Starter, wenn sie mit ihren gerade neun Jahren in der Primary School ihren ersten eigenen Chip und Decoder bekamen.

Genüsslich konnte Heather die Daten auf dem Bildschirm betrachten – und wer zu spät kam, durfte mit Abzügen auf dem Konto rechnen. Das war die allen bekannte Heather Blue. In Wahrheit gehörte sie jedoch ebenso zum Rebellenkommando um Matt Fuller wie er und Crockie später auch. Wenn ausgerechnet Heather Blue, die von allen im Kommando nur »Boss« genannt wurde, auftauchte, dann musste es schon verflixt brenzlig sein.

Aber woher konnte sie wissen, dass er und Crockie um diese Zeit und mit diesem Shuttle ankommen würden? Ihre neuen Identitäten waren geklaut!

Heather trug nicht die Uniform, die sie während ihrer Dienstzeiten als Herrscherin der Eingangspforte zur Clark Kellington Highschool auswies, und auch nicht eines ihrer luftigen, auffälligen Blumenkleider. Auffällig war an Heather jetzt ihre absolute Unauffälligkeit: blauer schlichter Rock, hellblaue Bluse, Gesundheitstreter, die bei jedem Schritt leise quietschten.

Wo steckten nur Lou und die anderen? Wen oder was hatten die bemerkt, dass sie sich so schnell aus dem Staub gemacht hatte?

»Abteilung Z?«, nuschelte Crockie, als sie den muffigen Gang zur Subway betraten.

Heather antwortete nicht auf seine Frage, ging einfach weiter. Unauffällig. Routiniert. Zügig, weil hier niemand Zeit verschwendete, aber nicht rennend, weil hier niemand zeigen würde, wenn er knapp mit der Zeit war.

Jackson sog den Atem tief ein, egal ob die Knöpfe nun vom Hemd platzen würden. Er hatte diesen Duft, diese Mischung aus Subway-Muff, dem etwas fischigen Geruch, den die Fliesen aus Algenverbundstoff auch nach Jahrzehnten noch ausdünsteten, und der leichten Meeresbrise, die Ocean City immer umgab, als kleiner Junge geliebt. Für ihn war das der Duft der großen weiten Welt gewesen. Die geheimnisvolle Welt unter dem Meeresspiegel. Freiheit und Abenteuer, das war es, was Jackson als Kind in der Nase gekitzelt hatte.

Enttäuscht stieß er die Luft wieder aus.

Jetzt roch es nur noch wie eine zu lange getragene Socke eines Fischers und war kein Stück aufregend. Die Welt von Ocean City bedeutete für ihn inzwischen das glatte Gegenteil von Freiheit. Seine Eltern waren von der Abteilung Z verhaftet worden, seine kleine Schwester befand sich immer noch in der Hand eines gestörten alten Mannes. Jackson und seine Freunde waren auf dem Festland nur knapp dem Tod entronnen. Jimmy, Fjodor und Grischa hatten es nicht geschafft. Von solchen Abenteuern hatte Jackson die Nase gestrichen voll.

Der Tunnel war leer. Heather Blue bog um eine Ecke. Jackson und Crockie folgten ihr.

Seit auf Crockie geschossen worden war, hatte Jackson sich angewöhnt, jeden Ort nach einem Fluchtweg abzusuchen. Instinktiv und mit schnellen unauffälligen Blicken. Erster Fluchtweg: Sie konnten sich umdrehen und aus der Subwaystation rennen. Wenn er Heather glauben durfte, lauerte da draußen jedoch eine ganze Mannschaft von Agenten oder Polizisten. Ausweg Nummer zwei: runter zum Bahnsteig. Wenn sie beobachtet wurden, würden sie Abteilung Z auch dort in die Arme laufen. Und überhaupt mussten sie es erst mal so weit schaffen. Vorher mussten sie noch ihre Decoder am Handgelenk auf den Trafficpoint legen. Und wer wusste schon, ob die geklauten Decoder nicht sofort als das erkannt wurden, was sie waren? Ein Betrug, der eine Warnung ans System absetzte. Einen dritten Ausweg gab es nicht. Heather führte sie direkt in eine Sackgasse.

»Wohin bringst du uns?«, flüsterte Jackson.

Heather beantwortete auch diese Frage nicht. Sie blieb vor einer Wand stehen. Sie zählte ein paar der popelgrünen Fliesen ab. Dann drückte sie auf die Ecke einer dieser unglaublich hässlichen Rechtecke. Eine versteckte Tür schwang auf.

»Schnell! Rein da!« Heather hielt ihnen die Tür auf.

Der Durchgang schloss sich sofort wieder hinter ihnen. Pechschwarze Nacht umgab Jackson und Crockie.

 

Rebecca Montgomery versuchte, auf dem Festland einen klaren Kopf zu bekommen. Sie legte das letzte Kleidungsstück in den Koffer. Sie hatte es in der Nacht noch getragen, dieses verwaschene Nachthemd. Aus dem Pink war mit den Jahren ein Zartrosa geworden, den Ärmelansatz hatte sie schon einmal annähen müssen, weil sich die Naht gelöst hatte. Sie nahm das Geschenk ihrer Tochter immer mit auf Reisen. Megan hatte es ihr von ihrem allerersten Guthaben auf dem Decoder gekauft, kurz nach der Aufnahme ins Starter-Level 1. Fünf Jahre war das her. Aus dem schüchternen, etwas pummeligen Mädchen war ein ziemlicher Dickschädel geworden. Mit allen Unberechenbarkeiten einer 14-Jährigen, die sehr genau weiß, was sie will, und die fast immer Wege fand, ihren Kopf durchzusetzen. Rebecca hatte am Morgen noch eine Teleport-Verbindung aufbauen lassen, um mit Megan zu sprechen, bevor sie zur Schule aufbrach. Sie hatte es ihr nicht ausreden können, nachmittags in den Ankunftsterminal von Ocean City zu kommen, um sie abzuholen. Rebecca wusste genau, dass dafür mindestens eine der Pflicht-AGs draufgehen würde. Nur Rebeccas Lebensgefährtin Susanne ließ sich nicht von Megan um den Finger wickeln.

Eigentlich war das Nachthemd eher ein übergroßes T-Shirt, von dem einen Jayjay-Jellyfish angrinste, dieses immer fröhliche Vieh mit den viel zu großen Augen. In Ocean City besaßen alle Mädchen im Alter zwischen fünf und zehn Jahren irgendeinen Gegenstand mit diesem Wesen darauf. Die Augen bestanden aus weichem Muschelkalk-Carbonoplast, was dem Gesicht manchmal etwas Gespenstisches gab. Auch diese Dinger hatte Rebecca schon mehrfach wieder ankleben müssen. Es war das hässlichste Kleidungsstück, das Rebecca besaß, aber sie liebte diesen Talisman, der ihr auf den vielen Einsätzen außerhalb von Ocean City Glück bringen sollte.

Als eine der herausragenden Ingenieurinnen aus dem Konstruktionsdepartment war sie ständig unterwegs. Wissenschaftler und Techniker, die ihr Handwerk im Team von Richard Blue gelernt hatten, scheffelten Devisen in die Kassen der Firma, also wurden sie gegen Zahlungen in Edelmetallen und seltenen Rohstoffen »ausgeliehen«. Manchmal standen auf der Rechnung für einen solchen Einsatz auf dem Festland oder in anderen Floating Citys schlichtweg Lebensmittel, die sie in den Laboren der City nur mangelhaft synthetisieren konnten. Für einen dreitägigen Rettungseinsatz auf einer künstlichen Landwirtschaftsinsel eines Herrschers in der Golfregion hatte sie im vorigen Jahr eine Schiffsladung bester Kaffeebohnen erwirtschaftet. Ihr selbst füllten diese Jobs das Zeitkonto.

Die Abwicklung des Bezirks 404 brachte ihr zum normalen, schon recht ordentlichen Einkommen einen Bonus über mindestens zwölf Monate. Damit würde sie endlich die heiß ersehnte mehrmonatige Reise mit Susanne antreten können.

Wenn sie den Mund hielt.

Und das konnte sie nicht.

Oder doch?

Viel Zeit blieb ihr nicht mehr. In einem der letzten Shuttles vom Festland hinüber zur City, die sich nach dem Abdocken langsam entfernte, waren zwei Plätze reserviert. Einer für sie und einer für ihren Kollegen Haruki Ishiguro. Das Personal in der Außenstelle, die alle die »Burg« nannten, wurde ungewöhnlich stark reduziert. Offensichtlich war die Lage im Stadtbezirk, der von dem Warlord Aristide beherrscht wurde, zu unsicher geworden. Eigentlich hatte Ocean City mit diesem Größenwahnsinnigen immer gute Geschäfte gemacht. Darauf verstand sich Lydia Tremont, die mächtigste Frau der City, die an der Spitze der Zeitagentur stand.

Rebecca fand Lydia Tremont hochgradig unsympathisch, aber auch ebenso effizient. Ihre Ziele mit dem geringstmöglichen Aufwand zu erreichen – das konnte Tremont. Und jemanden zu überreden, das gesamte giftige Material eines weitgehend ausgebrannten Stadtteils zu übernehmen, war eine Meisterleistung. Vielleicht waren die meist schwer bewaffneten Truppen dieses Warlords ihr doch noch im letzten Moment auf die Schliche gekommen. Vielleicht war das der Grund für die übereilte Abreise.

Rebecca hatte diese Abreise so weit wie möglich hinausgezögert, um noch die letzten Versuchsreihen durch ihre mobilen Kontrolllabore laufen zu lassen. Dass dieser Schrott, dessen Ablieferung sie überwacht hatte, hochgiftig war, wusste sie, aber sie hatte noch etwas entdeckt. Die Ablösung der Module von den Strukturen der City war so kompliziert gewesen, dass sie keinen Kopf für dieses Detail gehabt hatte: diese Zersetzung des Materials, die sich nicht erklären ließ. Sie hatte Proben ans Labor des Lambda Colleges in Ocean City geschickt. Sie hätten mehr Zeit gebraucht, um sicherzugehen.

Zu ihrer Absicherung hatte Rebecca ihren Chef informiert, aber der hatte sie direkt mit Lydia Tremont verbunden – natürlich über einen geschützten und doppelt verschlüsselten Teleport. Rebecca schüttelte es noch immer bei dem Gedanken an dieses Gespräch. Die Anweisungen der mächtigen Frau waren unmissverständlich gewesen.

Details seien im Nachhinein nicht mehr interessant. Bezirk 404 war nun das Problem von Aristide, der alle Risiken kenne. Sie solle ihren Bericht schließen und Aristide den Rest überlassen.

Schluss. Aus. Basta.

Aber es blieb der Zweifel in Rebecca. Musste man denn Aristide nicht sagen, was vor sich ging? Und was, wenn sich das Problem nicht, wie Tremont annahm, auf die 404 beschränkte? Eigentlich zwang diese Reaktion in den Petrischalen sie, ihren vorgefertigten Abschlussbericht in die Tonne zu treten.

Oder zu schweigen. Wie Tremont es verlangte. Bezirk 404 war entsorgt. Auf dem Festland. Problem gelöst. Auftrag erfüllt. So sah die Tremont das offenbar.

Sie würden hier vermutlich erst in Jahren wieder vorbeikommen. Das war allerdings nicht ihre einzige Sorge. Wichtiger war, ob es noch einen zweiten Bezirk 404 in Ocean City gab. Und einen dritten. Und vierten, fünften? Was war mit den Bezirken, die an die 404 angrenzten und um die gleiche Zeit entstanden waren?

Nun hatte sie zwei Berichte. Ihre tatsächlichen Forschungsergebnisse mit allen offenen Problemen, von denen Tremont nichts hören wollte. Und die offizielle Version, die sie schon rüber ins Büro geschickt hatten. Von ihren Vermutungen und den Beobachtungen in den Petrischalen stand darin nichts. Das stand alles nur in ihrem ehrlichen Bericht. Gesichert auf einem der externen Datenträger des Labors. So gut wie unverwüstlich.

»Bist du so weit?«

Rebecca zuckte zusammen.

Haruki stand in der Tür.

»Ich …« Rebecca biss sich auf die Unterlippe. »Ich komme gleich. Geh schon mal vor.«

Sobald Haruki die Tür geschlossen hatte, nahm Rebecca das Jayjay-Jellyfish-Shirt noch einmal aus dem Koffer. Vorsichtig löste sie das rechte Auge ab. »Sorry, Kleines, das muss sein.« Mit einer Nagelfeile trennte sie die kleine runde Scheibe aus Muschelkalk-Carbonoplast auf. Rebecca drückte den winzigen Datenträger hinein und befestigte das Teil wieder an dem Nachthemd. Sie musste vorsichtig sein, dass der Sekundenkleber den Datenträger nicht verklebte. Das ist nur für den Notfall, dachte sie. Ich pule das wieder raus, wenn ich drüben bin und alles glattgelaufen ist. Und vielleicht kommt das Labor ja doch noch zu einer simplen Erklärung. Vielleicht war es besser, den Rat von Richard Blue einzuholen. Er war längst nicht mehr im aktiven Dienst. Für eine seiner besten ehemaligen Studentinnen hatte er aber bestimmt ein offenes Ohr. Sie schloss den Koffer und übergab ihn dem freundlichen Jungen vom Etagendienst, den alle Bucks nannten.

»Der geht mit dem letzten Shuttle rüber nach Ocean City«, sagte sie.

 

Jackson musste die Augen kurz zukneifen. Ein kaltes, leicht violettes Licht blitzte auf und erhellte den schmalen Gang, der sich hinter der gefliesten Wand erstreckte.

»Los, los!«, drängelte Heather.

»Was ist passiert?«, fragte Jackson. »Wer hat uns verpfiffen?«

Heather Blue schien nicht auf eine Plauderei mit ihnen aus zu sein. Als unten im Bahnhof eine Bahn einfuhr, schob sie Jackson und Crockie mit sanftem Druck durch den Gang.

»Nun spuck es schon aus, was ist passiert?«, hakte auch Crockie nach.

»Jede Menge, Jungs. Jede Menge ist passiert. Und es passiert noch immer.« Mit diesen völlig unverständlichen Worten mussten sich Jackson und Crockie wohl oder übel fürs Erste begnügen. Heather Blue lief voraus. Der Gang führte an einigen Türen vorbei, bis sie abermals vor einer gefliesten Wand stehen blieb.

Wieder zählte sie die Fliesen ab und diesmal zählte Jackson mit. Die dritte Reihe vom Boden aus. Zweite Fliese rechts, vom letzten Türrahmen aus gesehen. Sie drückte. Eine weitere versteckte Tür schwang auf. Dahinter wartete ein gläserner Fahrstuhl mit einer eiförmigen Kabine. Die Schiebetüren öffneten sich mit einem Zischen.

Jackson warf nur einen Blick rein. Selbst der Boden war aus mehreren Panzerglasschichten aufgebaut und man sah in eine schier endlose, dunkle Tiefe. Kein Licht am Ende dieses Tunnels, der ebenfalls eine gläserne Röhre zu sein schien.

»Vergiss es, Boss!«, sagte Crockie. »Du sagst uns jetzt sofort, wohin die Reise geht, oder wir hauen ab.«

Crockie suchte Jacksons Blick. Glasklar und hellwach schaute er seinen besten Freund an. Vorsicht!, stand in diesen Blick geschrieben.

Auch Jackson setzte keinen Fuß in dieses schwindelerregende Gebilde.

Heather Blue lächelte verständig. »Klar, das ist ein bisschen viel auf einmal für euch, aber vertraut mir. Ihr werdet erwartet. Und wir haben noch viel zu tun.« Sie deutete in den Aufzug.

Jackson schüttelte den Kopf: »Geht’s vielleicht ein bisschen konkreter?«

Heather grinste und hob entschuldigend die Schultern. »Leider nein.«

»Willst du uns verarschen?«, fauchte Crockie.

Heather Blue machte keinerlei Anstalten mehr, weitere Fragen zu beantworten. Sie schwieg und stieg in den Fahrstuhl, als wolle sie beweisen, dass er nicht sofort abstürzen würde.

»Bewegt eure Ärsche«, befahl sie in demselben Tonfall, den sie manchmal an der Schulpforte anschlug.

Jackson und Crockie sahen sich an.

Das hier könnte der größte Fehler meines Lebens sein, schoss es Jackson durch den Kopf, als er den Fuß über die Schwelle in den Fahrstuhl setzte. Sich auf dem Festland herumzutreiben, sich einem völlig unberechenbaren Warlord anzuschließen, sich alleine, nachts mit Straßengangs anzulegen – all das fühlte sich plötzlich vernünftiger an. Er stieg trotzdem ein.

Crockie folgte ihm. Kaum standen sie im Fahrstuhl, schlossen sich die Türen. Heather Blue bot ihnen Oktopus-Kaugummis mit Limonengeschmack an und steckte sich selbst einen in den Mund.

»Kaut die. Gibt sonst nur Probleme mit den Ohren.«

Dann drückte sie auf den einzigen Knopf, den dieses gläserne Ei hatte. Das Ei gab ein wenig nach. Jacksons Knie und sein Magen auch. Ein Lüftungsgerät blies Atemluft in die Kabine. Dann glitt das Ding abwärts.

Jackson spürte sofort den Druck auf den Ohren. Er kaute sein Octo-Lemon, von dem die Werbung versprach, dass es garantiert nicht nach Fisch schmeckte. Warum musste Heather Blue ausgerechnet die ekelhafteste Geschmacksrichtung wählen, die die Lebensmittelchemiker in den Laboren von Ocean City zusammengebraut hatten?

Je tiefer sie ins Meer abtauchten, desto sicherer wurde sich Jackson, dass die Geschmacksrichtung des Kaugummis sein bei Weitem geringstes Problem war. Der Aufzug fuhr rasend schnell.

»Wie tief sind wir?«, fragte Crockie nach einer Weile bange.

Heather Blue lächelte. »Tiefer! Genießt die Fahrt. Diesen Ausblick haben nicht gerade viele Menschen.« Sie schaltete mit einer Fernbedienung die Außenbeleuchtung des Fahrstuhls ein.

Jackson stockte der Atem. Sie waren wirklich tiefer als tief. Diese Röhre reichte noch unter die Schwimmkörper, auf denen die Straßen, Gebäude, Plätze und Gärten von Ocean City ruhten. Fischschwärme tauchten, erschrocken vom plötzlichen Licht, ab in die Tiefe. Jackson glaubte einen der großen Propeller zu sehen, der in der Ferne arbeitete, um die gewaltige schwimmende Stadt von der Küste wegzubringen. Das Wasser war trotz der nahen Küste erstaunlich klar. Jackson hätte nach allem, was er an Land erlebt hatte, mehr Schmutz erwartet. Nur Sonnenlicht drang nicht hier herunter, denn Ocean City über ihnen wirkte wie ein riesiger Schirm.

»Das ist tiefer als das Unterwasserlabor der Schule!«, sagte Crockie erstaunt.

Jackson nickte. Auch er hatte bislang geglaubt, dass das Labor seiner Biologielehrerin in der Kellington High zu den tiefsten Punkten von Ocean City gehörte.

Der Fahrstuhl sauste weiter mit unverminderter Geschwindigkeit abwärts in den Ozean. Über ihnen lag die Stadt, in der sie geboren waren und dennoch nicht so recht zu Hause sein konnten, weil sie gesucht wurden wie Schwerverbrecher.

Ocean City war ein Meisterwerk von Generationen begabter Ingenieure, Techniker und Erfinder. 15 Millionen Menschen wurden auf hoher See versorgt, arbeiteten Tag und Nacht für die Firma Ocean City Inc. und führten alles in allem ein recht komfortables Leben – wenn sie nicht gerade wie Jackson, Crockie und die anderen ins Visier der Abteilung Z gerieten oder sich mit Lydia Tremont, der Generalsekretärin der Zeitagentur, anlegten. Genau das hatten sie leider getan. Lydia Tremont mit einem gar nicht so aufwendigen Trick ein Kuckucksei in ihr angeblich totsicheres Zeiterfassungssystem zu schmuggeln, war schon eine bodenlose Frechheit und nach den Regeln der City auch ein schweres Verbrechen gewesen. Die makellose Herrin über jede Sekunde der City anschließend mit einem Sack über dem Kopf in einem schmuddeligen Lieferwagen zu entführen – das war ganz sicher unverzeihlich.

Aus der Schwärze der See unter ihnen tauchte ein rot blinkender Ring auf.

»Gleich sind wir da. Haltet euch fest. Es ist meist etwas ruppig beim Andocken.« Heather Blue lächelte unergründlich.

Der Ring unter ihren Füßen wurde größer und größer. Bald erhellte die Außenbeleuchtung des Fahrstuhls ein Gebäude, das von oben wie eine Riesenmuschel aussah. Insgesamt führten vier gläserne Aufzugröhren aus dem gewölbten Muscheldach nach oben. Die Landeports der drei anderen Fahrstühle waren von grün blinkenden Ringen umgeben und aus jedem von ihnen ragte die eiförmige Kuppe der Fahrstuhlkapsel empor. Kabel oder Halteleinen konnte Jackson nicht ausmachen.

»Die Röhren laufen mit Unterdruck«, erklärte Heather Blue, die den Gedanken von Jackson erraten hatte. »Wie eine Rohrpost.«

»Und wir sind die Pakete«, sagte Crockie.

Heather Blue lachte. »Das hätte ich nicht besser ausdrücken können.«

Mit einem Schlag, der Jackson fast von den Beinen geholt hätte, dockte die Kapsel an.

»Wartet noch kurz. Der Druckausgleich zwischen Fahrstuhl und Studio dauert immer einen Augenblick.« Heather Blue verstaute die Fernbedienung in einem Fach über dem Fahrstuhlknopf.

»Studio? Was für ein Studio?«, fragte Crockie.

Auch diese Frage perlte an Heather Blue ab. Sie gab ihnen ein beruhigendes Handzeichen und deutete mit einer unauffälligen Geste auf die Ecke links über der Tür.

Jackson entdeckte die kleine Kamera sofort. Sie wurden also beobachtet. Aber warum? Und von wem?

Crockie wartete ungeduldig darauf, dass sich die Tür endlich öffnete. Enge, abgeschlossene Räume konnte er seit seiner Zeit im Knast der Abteilung Z nur sehr schwer ertragen, das wusste Jackson. Er sah, wie sich Crockies ganzer Körper anspannte.

Endlich öffneten sich die Türen mit einem leichten Ächzen.

»Das Licht hier unten ist etwas gedämpft«, sagte Heather. »Wir wollen die ökologischen Gegebenheiten so wenig wie möglich beeinflussen.«

Wir? Wer ist wir?, schoss es Jackson durch den Kopf. Aber er war vorsichtig genug, diese Frage jetzt nicht zu stellen. Die Luft war klimatisiert und erstaunlich frisch. Die Böden, die Wände, alles in Weiß gehalten. Hygienisch einwandfrei. Schön war das nicht, vermutlich jedoch zweckmäßig oder schlicht der eigenartige Geschmack des Erbauers.

Heather Blue führte sie in einen Raum, dessen Schiebetür sich automatisch öffnete, als sie ihren Decoder an den Scanner neben dem Türrahmen hielt.

»Wow!«, hauchte Jackson, als er den Raum betrat.

Auch Crockie lächelte für einen Augenblick sehr zufrieden.

Der Raum war das glatte Gegenteil von dem sterilen Flur: Mit Teppich ausgelegt, öffnete er sich zu einer breiten Fensterfront hin, die geradewegs den Blick auf den Ozean freigab. Ein halbrundes Sofa lud dazu ein, sich hinzufläzen und Fischen beim Leben und Sterben zuzuschauen. Crockie sprang direkt über die Lehne und ließ sich auf die weichen Kissen plumpsen. Wie auf Kommando zog ein Hai am Fenster vorbei und linste mit seinen listigen kleinen Augen in Crockies Richtung. Jackson schluckte. Wer beobachtete hier wen? Crockie den Hai oder der Hai Crockie?

»Er kann euch nicht sehen«, sagte Heather. »Wie gesagt, wir wollen so wenig wie möglich in das Ökosystem eingreifen.«

Jackson fragte sich, wie das funktionierte, wenn man die fast undurchdringliche Schwärze der Tiefsee dermaßen ausleuchtete. Sie konnten mindestens einen halben Kilometer weit sehen, vielleicht sogar weiter. »Und diese Festtagsbeleuchtung?«, fragte er.

»Kein Lux Lichtstärke dringt nach draußen. Wir leuchten nicht hinaus, die Scheiben haben einen Nachtsichtfilter. Früher gab es dafür Kameras und Objektive, durch die jeder Einzelne schauen musste und dann grünstichige Bilder geliefert bekam. Jetzt sind nanotechnologische Sensoren in das Glas integriert. Eine nicht ganz unwichtige Erfindung, wenn man von der Oberfläche wegwill. Längerfristig gesehen.« Heather lächelte. »Richard, mein Mann, hat das entwickelt.«

Heather war verheiratet? Sie war für Jackson immer nur die Frau in der engen Uniform am Eingang der Schule gewesen. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass sie ein Privatleben haben könnte.

»Richard Blue?«, fragte Crockie.

Jackson schaute ihn erstaunt an.

Heather nickte.

»Der Richard Blue?«, fragte Crockie nach.

Heather nickte wieder.

Jetzt kapierte es auch Jackson. Natürlich! Wer sonst sollte hinter einer Konstruktion wie dieser Unterwasseranlage stecken? Richard Blue, einer der schrägsten und schlauesten Köpfe von Ocean City. Alle Jahre wieder entsprangen der Denkfabrik dieses Genies bahnbrechende Erfindungen, gleichzeitig galt er als ein begnadeter Lyriker, dessen Gedichte Jackson im Unterricht jedoch eher gequält hatten. Außerdem war er einer der elf Inhaber eines Golden Chips und damit auf Lebenszeit Angehöriger des Rats der Ältesten, dem Gremium, das auf den großen Teilhaberversammlungen über die Geschicke von Ocean City Inc. bestimmte.

»Mein Mann ist ziemlich ungehalten, dass der sehnlichst erwartete Neuzugang für sein Team, ein gewisser Lars Strømberg, noch nicht an seine Tür geklopft hat.« Heather lächelte vielsagend.

»Wir haben getan, was getan werden musste«, erwiderte Jackson und fragte sich wieder, woher sie wusste, mit welchen Identitäten sie eingereist waren. Er trat in die Mitte des Raums und schaute sich weiter um.

An der linken und an der rechten Wand gingen ebenfalls Schiebetüren ab. Sie waren verschlossen. Etwas altmodische Sessel befanden sich vor den Wänden, deren gelber Farbton perfekt zu dem Strauß Sonnenblumen passte, der in einer Kristallvase auf einem niedrigen Tisch stand. Eine kleine Bar rechts im Raum hielt Getränke bereit. Der Spiegel dahinter verdoppelte das Angebot.

Die Tür, durch die sie den Raum betreten hatten, schloss sich mit einem sanften Schnaufen automatisch. Alle drei Türen hatten keine Türdrücker, wie Jackson mit seinem ersten Fluchtwege-Check feststellte. Alle drei ließen sich offenbar nur über die Scanner öffnen, die in Ocean City so selbstverständlich waren wie die Luft zum Atmen.

»Sorry, Jungs, ich konnte oben nicht offen sprechen. Hier sind wir abhörsicher. Es ist viel passiert, während ihr Matt Fuller drüben gesucht habt.« Heather Blue öffnete den Kühlschrank und warf Jackson zielsicher eine Dose Hubackle und dem etwas verdutzten Crockie einen eiskalten Tang-Tee zu. »Aber zunächst mal Glückwunsch, dass ihr das geschafft habt! Und dass ihr wieder heil zurückgekommen seid!«

Jackson stellte sich an die kleine Bar. Er betrachtete sich im Spiegel und konnte sich kaum wiedererkennen. Er sah nicht mehr wie ein Floaty aus, der bequem und sicher in einer der Floating Citys lebte. Irgendwie hatte er noch den Staub und Dreck des Kontinents in den Poren der Haut, die Angst der ständig in Lebensgefahr schwebenden Bewohner noch im Blick.

»Jimmy, Grischa und Fjodor haben es nicht geschafft«, gab Jackson zu. Das Bild hatte sich tief ins Gedächtnis eingebrannt. Ihr Schiff vor der Brandung, die Strandräuber mit dem Schnellboot, Jimmy, der völlig planlos herumballerte, dann das Maschinengewehr und schließlich die Explosion, die die drei nicht überlebt hatten.

Heather Blue schaute Jackson und Crockie teilnahmslos an. Irgendwas stimmte nicht an diesem Blick. Jackson hätte eine andere Reaktion erwartet. Erschütterung, Trauer, Wut, wenigstens aber Überraschung. Da wurde ihm klar: Heather wusste, was mit Jimmy passiert war! Sie reagierte so seltsam, weil sie nicht überrascht war. Woher konnte Heather Blue das wissen? Sie hatten alle keinen Kontakt zu ihr gehabt.

»Woher wusstest du das?«, fragte Jackson sie ganz direkt.

»Sie wusste, dass Jimmy, Fjodor und Grischa …?« Crockie hob den Kopf und starrte erst Jackson, dann Heather Blue ungläubig an.

Heather wiegelte ab. »Spielt im Augenblick keine Rolle. Wir haben ganz andere Sorgen. Ihr seid aufgeflogen. Und ihr seid möglicherweise nicht ganz gesund. Wir müssen euch durchchecken.«

»Das haben die Ärzte bei der Einreise doch erledigt«, sagte Crockie.

Heather Blue lächelte etwas überheblicher, als es angenehm war. »Diese Pappnasen vom medizinischen Grenzdienst übersehen ganz gerne was, wenn die Schlange am Terminal lang genug ist.« Sie hielt Jackson einen mobilen Scanner hin. »Zeig mal deinen Decoder! Hoffentlich ist wenigstens mit dem alles in Ordnung. Soweit man da überhaupt von ›in Ordnung‹ sprechen kann.«

Wieder dieser vielsagende Blick. Sie wusste doch ganz genau, wessen Identität gleich auf dem Display erscheinen würde. Da war sich Jackson sicher. Trotzdem legte er seinen Decoder auf den Scanner.

Heather nickte. »Nun, da muss mein Mann sich nicht wundern, dass sein neues Genie noch nicht in einem der Labore steht und Quallen unterm Mikroskop betrachtet. – Willkommen in Ocean City, Lars.« Bei Crockie wiederholte sie den Vorgang. Wieder nickte sie zufrieden. »Okay, dann entspannt euch. Genießt das Kino.« Sie deutete auf die große Scheibe, vor der gerade ein Schwarm Barrakudas vorüberzog. »Die Ärzte kommen gleich.«

Heather hielt ihren Decoder an den Scanner der rechten Tür. Die Tür zischte auf, Heather trat hinaus, wieder ein Zischen, Stille. Jackson bemerkte jetzt erst, wie geräuschlos es in dem Raum war.

»Moment mal!« Jackson wollte hinter Heather her. Er hielt seinen Decoder an den Scanner.

Der Scanner blinkte rot: ERROR. Die Tür blieb verschlossen.

Crockie trat neben ihn, versuchte es mit seinem Decoder. ERROR, blinkte es wieder auf dem Display.

»Scheißtechnik!«, fauchte Jackson und probierte es an den anderen Türen. Auch die ließen sich mit seinem Decoder nicht öffnen.

Er sah auf seinen Decoder. Er drückte auf dem Display herum. Es leuchtete kein Name auf. Kein Lars Strømberg. Kein Zeitkonto. Kein Alter. Einfach gar nichts. Heather Blue war durch die Tür gegangen und hatte alles mitgenommen: ihre Zeit, ihre Geburtsdaten, die neuen Namen.

Es gab keinen Jackson Crowler und nun auch keinen Lars Strømberg mehr. Sie hatte die gesamte Identität gelöscht. Auch Crockie starrte auf das leere Display seines Armbands.

Die Barrakudas drehten noch eine Runde vor dem Fenster.

»Verdammt!« Crockie riss sich die Perücke vom Kopf und pfefferte sie quer durch den Raum. »Wir Idioten sind am Arsch.«

Ein erneutes Zischen und eine blasse und ungesund schlanke Frau stand in der Tür. Sie trug eine Art Turban, den sie sich aus einem lachsfarbenen Seidentuch um den Kopf gewunden hatte. Die Hände vergrub sie in den Taschen ihres weißen Kittels. »Ich möchte euch bitten, mir zu folgen. Es dauert nicht lange, die meisten Werte ermitteln wir mit einem Full-Body-Scanner«, brachte sie in einem leisen Singsang ohne jede Betonung hervor. Gespenstisch, dachte Jackson.

Überhaupt nicht gespenstisch wirkten die beiden Muskelmänner, die die Ärztin begleiteten. Das waren keine wabernden Geistgestalten, sondern handfeste Typen, die zupacken konnten. Und es sicher auch würden, falls Crockie und er auf die Idee kommen sollten, nicht zu gehorchen. Mit einem Blick auf die beiden Kerle sagte die Ärztin: »Am besten lasst ihr es schnell über euch ergehen. Reine Routine. Angst müsst ihr nicht haben.«

»Vor den Untersuchungen habe ich auch keine Angst«, knurrte Crockie mit einem Blick auf die beiden Wärter.

2

Im Hof der Burg wartete ein schwerer Geländewagen auf Rebecca. Durch die schwarz getönten Scheiben konnte sie nicht sehen, ob schon jemand auf der Rückbank saß, allerdings roch sie es, als sie in die Nähe des Wagens kam. Ihr Kollege Haruki neigte zur Übertreibung, wenn er sich morgens mit seinem Deo von Kopf bis Fuß einsprühte.

»Ich habe es mir noch einmal überlegt.« Rebecca kam gleich zur Sache. Sie wusste, dass Haruki so oder so anderer Meinung war als sie. Formal waren sie einander gleichgestellt. Befehle konnte Rebecca ihren Kollegen nicht erteilen. Als ehemalige Studentin von Richard Blue gehörte sie jedoch zu den Rittern der Tafelrunde, zu den Auserwählten. Denen widersprach man nicht.

»Was heißt das: ›Ich habe es mir noch einmal überlegt‹?«, fragte Haruki.

»Wir sollten den Abschlussbericht noch nicht abgeben.«

Haruki schluckte. Er wurstelte sich aus dem für die brütende Hitze des Festlands viel zu warmen Wollsakko. Ein Wolke seines Deos waberte durch den Wagen. Rebecca wedelte sich Luft zu, aber das machte es noch schlimmer.

»Haben Sie Wasser hier?«, fragte Haruki den Fahrer.

Der starrte nach vorne und versuchte, den Geländewagen durch das Gewühl auf der Straße zu bewegen, ohne ein Kind unter die Profilreifen zu bekommen. »Bin ich hier der Kellner?«, murrte er, fischte jedoch aus der Ablage in der Seitentür eine Dose. »Hubackle hätte ich. Is’ aber nich’ kalt.«

Haruki winkte ab. »Ich … ich …«, stotterte er und räusperte sich.

»Was denn?«, fragte Rebecca ungehalten.

»Ich habe … den Bericht schon abgeschickt.«

»WAS HAST DU?« Rebecca schlug gegen die Kopfstütze vor sich.

Der Fahrer zuckte zusammen, zog das Lenkrad für den Bruchteil einer Sekunde nach rechts. Er kam von der staubigen Piste ab, konnte den Wagen aber wieder fangen und zog ihn zurück auf die Spur.

»Ich dachte …«

»Verdammt, kannst du nicht ein einziges Mal an der richtigen Stelle denken?«, schrie Rebecca.

Das war ungerecht. Haruki war in seinem Fachgebiet ebenso hervorragend wie sie selbst. Nur fehlte ihm der Überblick, den man brauchte, um ganz vorne mitzuspielen.

»Also bitte, du hast selbst gesagt, dass wir die neuen Ergebnisse so niemandem zeigen können«, wehrte sich Haruki zaghaft.

»Aber das heißt doch nicht, dass wir einen definitiv irreführenden, ach was, einen falschen Abschlussbericht abliefern! Wie sieht das denn aus? Als ob wir nicht wüssten, was wir tun, verdammt noch mal.«

Das konnte das Ende ihrer Karriere als Wissenschaftlerin bedeuten. Ihr wurde schlecht. Das widerliche Deo, der Ärger, das Geruckel auf der miesen Piste – das war zu viel.

»Halten Sie an, schnell!«