Christian Tielmann

Unsterblichkeit ist auch keine Lösung

Ein Goethe-Schiller-Desaster

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Christian Tielmann

Christian Tielmann, geboren 1971 in Wuppertal, hat sich nach seinem Studium der Germanistik und Philosophie als Kinder- und Jugendbuchautor einen Namen gemacht. Seit fast zwanzig Jahren ist er auf Lesereisen unterwegs. An einem der einsamen Abende in der ortsansässigen Pizzeria kam ihm ein Gedanke: Wie würden wohl die beiden größten Klassiker der deutschen Literaturgeschichte solche Reisen wegstecken? Auf Zetteln und Bierdeckeln sammelte er Ideen und Szenen für sein Roman-Debüt.

Über das Buch

Im Jahr 2014 bringt der krisengeschüttelte Buchmarkt auch die Absätze der deutschen Klassiker Goethe und Schiller zum Sinken, deshalb werden die beiden Herren (der eine ist mittlerweile 265 Jahre alt, der andere 255 Jahre) von Verleger Cotta auf eine Lesereise durch den Harz geschickt. Das Motto lautet: »Klassiker zum Anfassen«. Krönender Abschluss soll die Lesung des ›Faust‹ auf dem Brocken sein. Nur widerwillig lässt sich Goethe darauf ein, warten doch in Weimar weitaus wichtigere Geschäfte auf ihn. Umso ärgerlicher, dass sich Kollege Schiller im Umgang mit verspäteten ICEs, überbuchten Hotels, desinteressierten Zuhörern und vor allem auch mit der attraktiven mitreisenden Buchhändlerin deutlich geschmeidiger zeigt. Bei den Lesungen entpuppt er sich als wahre Rampensau und behauptet auch noch, er schreibe seit Neuestem an einem Fantasyroman. Allerdings verschlechtert sich Schillers Gesundheitszustand von Tag zu Tag. Muss man sich Sorgen machen?

Impressum

Originalausgabe 2019

2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Brauer, München

Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43550-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28188-1

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423435505

Weimar

Wie froh bin ich, dass ich wegkann, dachte Goethe am Sonntag auf dem Bahnsteig in Weimar, wo er einerseits auf den Regionalexpress und andererseits auf Schiller wartete. Dabei hatte er zunächst überhaupt nichts von dieser Reise gehalten, hatte sich mit Händen und Füßen oder genauer mit Aussitzen und Abwarten dagegen gewehrt. Aber Cotta, vertreten durch seine unverschämt junge und unverschämt selbstbewusste Assistentin, deren Namen zu merken Goethe sich als kleine Klassiker-Allüre weigerte, hatte darauf bestanden.

»Wir müssen ein bisschen was für Ihre Bücher tun«, hatte Cotta ausrichten lassen. »Ein bisschen was tun«, dieser Satz kam normalerweise einen Monat vor dem Ramsch-Brief. Schlimmer war nur, wenn der Satz gar nicht erst kam. Dann waren die Bücher gleich auf der Makulatur-Liste und mithin im Schredder gelandet. Alle hatten damit zu kämpfen, dass die Absatzzahlen runtergingen, nun also auch Goethe. Unfassbar. Seine Deutschen kauften den ›Werther‹ und auch den ›Faust‹ nicht mehr, ja, selbst als Pflichtlektüre in den Schulen stand sein Werk mittlerweile zur Disposition. Cotta war in seiner Verzweiflung sogar dazu übergangen, eine Art Bilderbuch zum Götz entwickeln zu lassen. »Graphic Novel« heiße so etwas, hatte er durch seine unmögliche Assistentin ausrichten lassen.

Der ICE von Leipzig rauschte inzwischen jenseits des Ettersbergs weiträumig an Weimar vorüber, um erst in Erfurt zu halten. Auch so eine Frechheit, dachte Goethe. Uns hier sozusagen aufs nationale Abstellgleis zu verschieben. Er hätte damals eben doch intervenieren sollen, hätte sich diesen Bahnchef mal zur Brust nehmen müssen, oder besser noch seine Frau, falls er eine hatte. Über die Frauen ließ sich meistens viel mehr ausrichten, denn die wirklich großen Entscheidungen fielen nun mal beim Dessert oder im Bett. Und von Frauens verstand Goethe was. Aber er war zu der Zeit nicht besonders interessiert an der Bahn und ihren ausufernden Neubauprojekten gewesen, schließlich hatte man ihm gerade erst den neuen Dienstwagen samt Fahrer vor die Tür gestellt, gesponsert von seinem Freund dem Ministerpräsidenten. Auf den Fahrer konnte Goethe meist verzichten, weil er, sofern er nicht selbst hinter dem lederbezogenen Lenkrad dieser unglaublich breiten, unendlich komfortablen Limousine Platz nahm, den Eckermann fahren ließ. Der könne nicht viel kaputt machen, hatte der Fahrer gesagt, schließlich gebe es für alles und jedes Assistenzsysteme. Nun saß der Fahrer, der arme Tropf, meist auf Abruf im Café gegenüber der Denkmalschutzbehörde, während Eckermann sich mit dem Wagen abmühte. Natürlich haben der Fahrer einerseits und die Maschinenbauer andererseits das Fehlleistungspotenzial des Eckermann bei Weitem unterschätzt. Wie überhaupt alle das eckermannsche Fehlverhaltenspotenzial unterschätzten. Eckermann war es gewesen, nicht etwa er selbst, der die Schrammen und die Beule in den nagelneuen Wagen gefahren hatte. Das hatte er Christiane gegenüber immer wieder betont. Die Einfahrt am Frauenplan war einfach zu schmal und obendrein verwinkelt. Was der großmütige Herzog Carl August nach goetheschen Ideen (und auf Carl Augusts Kosten) für eine Kutsche gebaut hatte, passte eben, Assistenzsysteme hin, Rückfahrkamera her, nicht unbedingt auch für so ein Geschoss von einem Automobil. Darum wollte Goethe sie ja auch ändern lassen, die Einfahrt ins Haus. Das war Teil des größten Umbauvorhabens, das das Haus am Frauenplan seit der klassischen Zeit von Carl August erleben würde. Goethe wollte einen Wintergarten im gehobenen Standard mit Dreifachverglasung, Solarmodulen und Fußbodenheizung, eine gescheite Isolierung der Außenfassade und des Dachs und endlich, endlich eine Einfahrt, die den mangelhaften Fahrkünsten Eckermanns einerseits und der Autorität des Dienstwagens andererseits gerecht werden würde. Diese Einfahrt sollte selbstverständlich mit einem sich automatisch öffnenden und geräuschlos schließenden Rolltor versehen sein sowie einer Illumination der lackierten Oberflächen nach goetheschen Plänen, die das Einfahren als schwebend-sphärisches Spiel erscheinen ließe. Aber Herr Heinrichs von der Denkmalschutzbehörde, mit dem Goethe allein das Gefühl der wechselseitigen Verachtung verband, hatte auf das Thüringer Gesetz zur Pflege und zum Schutz der Kulturdenkmale gepocht, deren Paragraf 13 den dicksten Strich durch Goethes Rechnung mache, den je ein Rechtsstaat einem seiner Bürger gemacht habe. Mit diesen Worten hatte Heinrichs Goethe seine Pläne, versehen mit dem Stempel »abgelehnt«, buchstäblich vor die Füße geworfen. Da kannte dieser Heinrichs Goethen schlecht. Gesetze und Verordnungen waren inzwischen sein Steckenpferd. Denn sosehr er die Juristerei auch immer gehasst hatte – Gesetze waren nicht so schlimm; man musste nur wissen, wie man sie umgehen oder ändern konnte.

Sein erster Versuch, ausgerechnet einen Knochen wie diesen Heinrichs und seine Kollegen mit Lustreisen in die Toskana zu bestechen, war leider ziemlich gründlich gescheitert. Alles hatte Heinrichs genommen. Nichts wollte er geben.

Das aber hatte Goethe nicht verzagen lassen. Im Gegenteil: jetzt sollten sie bluten. Heinrichs, seine Kollegen und die Steuerzahler. Goethes Haus vor Goethe zu schützen, das war doch an Absurdität nicht zu überbieten.

Er hatte beste Kontakte in die Landespolitik, da war so ein Paragraf 13 in egal welchem Gesetz kein echtes Hindernis. Goethe hatte kurz entschlossen einen kleinen Zusatz erfunden, den Paragrafen 13a des Thüringer Gesetzes zur Pflege und zum Schutz der Kulturdenkmale. Der Kern des Paragrafen war so einfach wie genialisch: Er stellte den Schutz und die Pflege lebendiger Kulturdenkmale über den Schutz und die Pflege nicht-lebendiger Kulturdenkmale. Und selbstverständlich gab es nur ein einziges lebendes Kulturdenkmal: Johann Wolfgang von Goethe! In den zugehörigen Verordnungen sollte dann noch geregelt werden, dass die Kosten für die Erhaltung, Pflege, Erweiterung und Erneuerung nicht-lebendiger Kulturdenkmale durch lebendige Kulturdenkmale in gleichen Teilen von Land und Kommune zu tragen waren. Sein Freund der Ministerpräsident war mit allem einverstanden, solange Goethe ihn erneut im Wahlkampf in der Schulpolitik unterstütze. Denn seine Mehrheit im Landtag war etwas bröckelig, weshalb der Ministerpräsident den goetheschen Zusatz zu Paragraf 13, den er liebevoll »Lex Goethe« nannte, erst nach einer erfolgreichen Wahl in den Landtag einbringen wollte.

Also war Goethe noch einmal für den Freund in den Wahlkampf gezogen.

»Keine Experimente an unseren Kindern!«, hatte er immer wieder in die Kameras und Mikrofone gesagt, und der Ministerpräsident hatte die Goethe-Kommission ins Leben gerufen, die im Grunde nichts tat, aber hochkarätig besetzt war. Das kam erstaunlich gut an beim Volk. Die Umfragewerte schossen hinauf zu einer Zweidrittelmehrheit. Sein Freund der Ministerpräsident, freute sich und versprach ihm jede Unterstützung, die er brauche. Mit Goethe ließen sich Wahlen gewinnen. Und mit seinem Freund dem Ministerpräsidenten ließ es sich Häuser umbauen.

Und Auto fahren.

Goethe war froh, dass ihm diese Lesereise eine kleine Pause von den doch recht anstrengenden Wahlkampfauftritten und den politischen Ränkespielen verschaffen würde. Nur war es ein Jammer, dass er den Wagen nicht nutzen konnte.

»Die Reise steht unter dem Motto: ›Klassiker zum Anfassen‹«, hatte die Assistentin von Cotta schnippisch bemerkt. »Da ist Volksnähe gefragt, Herr Goethe.«

Von Goethe, hatte Goethe innerlich verbessert und bescheiden die multiplen Ehrendoktorwürden und Professorentitel unter den Tisch fallen lassen. Aber dieser Assistentin war nicht beizukommen. Die hielt ihn – das konnte Goethe, der sich auch mit dieser Sorte Frauen leider, leider auskannte, selbst durchs Telefon spüren – für einen eitlen, alten, im Grunde lächerlichen Greis, der nichts zum positiven Verlagsergebnis beitrug. Eine Art Leidenschaft des Verlegers, bar jeder Vernunft, ein Zopf, den man längst hätte abschneiden sollen. Allein schon die Art, wie sie »Herr Goethe« sagte! Vermutlich hatte sie noch keine Zeile von ihm gelesen … Aber nein, das war zu viel der Unterstellung. Immerhin war sie die Assistentin von Cotta, und er, Johann Wolfgang von Goethe, war immerhin der Klassiker, das größte lebende Kulturdenkmal Deutschlands. Sie hatte mindestens den ›Zauberlehrling‹ in der Schule gelesen – wenn auch, offensichtlich, nicht verstanden. Vermutlich hatte sie den ›Faust‹ im Abitur gehabt und den ›Werther‹ unter der Bettdecke verschlungen. Als Goethe sich Cottas Assistentin unter der Bettdecke vorstellte, fiel ihm Steffi ein. Steffis Rücken. Steffis Bauch. Steffis Arme, Hände und Beine; natürlich … ihre Augen. Steffis Silhouette im Gegenlicht der Toskana, Goethe am Küchentisch sitzend – »Sonnentautropfendes Glück«, hatte er in sein Notizbuch geschrieben und eine Zeichnung gemacht. Es sollte der Beginn eines kleinen Gedichtes werden. Auch das hatte sich dann zerschlagen.

Zu dumm, dass Christiane die Zeile mit der Zeichnung gefunden hatte, nachdem er von seiner italienischen »Dienstreise« mit der Praktikantin der Denkmalschutzbehörde nach Weimar zurückgekehrt war. Nun hing der Haussegen schief, und Goethe war einmal mehr froh, dass er für ein paar Tage weg sein würde. Er würde Christiane etwas Schönes mitbringen müssen. Ein Collier vielleicht, falls er im Harz so etwas finden könnte. Außerdem hatte er ja aller Voraussicht nach bald den offiziellen Stempel für den Umbau, und dann würde er sie in den Wintergarten setzen. Zwischen die Zitronen und Orangenbäume, nein, nicht noch einen Ginkgo. Das würde sie milde und froh stimmen, und sie würde die Sache mit Steffi bald vergessen, da war sich Goethe sicher. Zur Not würde er eben noch ein neues Gedicht drauflegen. Oder einen Zyklus. Nein, das wäre vielleicht doch ein bisschen viel, würde ein zu schlechtes Gewissen simulieren, die Sache mit Steffi mithin größer erscheinen lassen, als sie Christiane erscheinen sollte.

Wo nur der Schiller blieb? Der würde ihn doch wohl nicht im Stich lassen?

Der Zug wurde von der gesichtslosen Automatenstimme, die ebenso selbsttätig sprach, wie die Türen der Züge sich gewöhnlich schlossen, für Gleis 2 angekündigt.

Von Schiller keine Spur. Zehn Doppellesungen mit Schiller standen auf dem Programm. Vor Schülern. Ausgerechnet. Und er sollte den ›Werther‹ lesen oder den ›Faust‹. Nur an einem einzigen Abend dürfe er Gedichte auspacken. Zum Abschluss würde er noch den kompletten ›Faust‹ lesen. Auf dem Brocken. Zumindest das schien eine größere Sache zu werden.

Niemals hätte sich Goethe auf so eine Ochsentour durch die Schulen der Provinz eingelassen, niemals. Aber Schiller und Cotta waren sich mal wieder einig gewesen. Schiller hatte es angeblich auch ganz passend gefunden, dass sie mit dem Zug reisten. Und dass es kein Honorar für die Lesungen geben sollte, das ging vermutlich auch auf das Konto seines Freundes.

»Herr Goethe, die Schulen im Harz sind pleite«, hatte die Assistentin von Cotta gesagt. »Das müssen Sie bitte verstehen. Und die Absatzzahlen Ihrer Bücher sind ja auch nicht so rosig, da ist ein bisschen Publicity ganz in Ihrem Interesse. Außerdem haben Sie doch eh genug Geld!«

Publicity im Harz … Für wie blöd hielt sie ihn? Sie war durch und durch eine Frechheit, diese Dame. Aber Cotta mochte sie. Wer weiß, was da läuft, dachte Goethe. Der Cotta, die Sau. Dabei hatte er diese Assistentin noch nie gesehen. Immer nur am Telefon gehabt. Und E-Mails natürlich. Unmengen, meist ohne Anrede. Es war schon ein Glück, wenn sie die Betreffzeile ausfüllte.

Der Regionalexpress fuhr ein. Der Wagen der ersten Klasse markiert mit einem gelben Strich. Wo zum Teufel blieb Schiller? Ein paar Jugendliche und ein paar ältere Touristen mit zu breiten Rollkoffern drängelten sich hektisch an Goethe vorbei, um sich einen guten Ausgangspunkt für den Einstieg und die sich anschließende Schlacht um die Sitzplätze zu sichern.

Hören Sie mal!, wollte Goethe sagen. Aber er kannte das Volk. Das Volk war dumm wie das Vieh und würde niemals Anstand lernen. Selbst die härtesten Aufklärer aller Nationen würden dem Volk keinen Anstand beibringen. Nicht mal Schiller. Da konnte er noch so viele Ästhetische Briefe, Spam-Mails und Blogs verfassen. Und »Hören Sie mal!« hatte Goethe zuletzt zu zwei jungen Männern gesagt, die ihre Notdurft an der Ecke seines Hauses verrichteten, gerade als er nach einem deprimierenden Theaterabend nach Hause gekommen war. Die hätten doch ein paar Meter in die Seifengasse laufen und ans Haus der von Stein schiffen können. Aber sein »Hören Sie mal!« hatte bei diesen Lümmeln nur Kichern und Achselzucken hervorgerufen. Der eine hatte seinen Kumpan gestoßen und gesagt: »Du hast das Goethehaus angepisst! Dabei ist das schon pissgelb.«

Der andere hatte gekichert, und dann waren ein paar Worte aus dem Maul dieses Dummkopfes getorkelt. Es klang wie: »Respektlos. Krass respektlos!«

Volk eben. Unerträglich, letztlich.

Aber Cotta glaubte ja, dass es seinen Büchern guttäte, wenn er sich mehr den Menschen zuwenden würde. Was für ein Blödsinn. Wann war je ein Stück wahrer Literatur entstanden, das nicht in der Einsamkeit der Studierstube geschrieben wurde?

»Schneller, Lotte! Schneller! Wo ist Caroline? Adieu, meine Lieben. Adieu!«

Das war Schillers Organ. Wie immer einen Tick zu laut, einen Tick zu spät und daher, bei allem Pathos, einen Tick zu hektisch. Goethe schob sich in den Wagen, drehte sich nach dem Freund um. Tatsächlich kam er, gefolgt von seinen Frauen, die den Koffer schleppten (manchmal haperte es eben doch ausgerechnet bei seinem Freund mit der Würde), aus dem Aufzug gestürzt, der ihn barrierefrei auf den Bahnsteig gehoben hatte. Schiller blieb stehen, strich das schulterlange, schlohweiße Haar zurück, küsste die geliebten Schwestern und sah über die Köpfe des Volkes.

Goethe winkte.

Schiller grinste.

Charlotte und Caroline schnappten nach Luft.

Der Zugbegleiter pfiff.

Schiller griff sich den Koffer und stürmte plötzlich erstaunlich behände mit wehendem Mantel in den nächstbesten Waggon, eine Tür von Goethes Einstieg entfernt.

Während sich die Türen schlossen, stieg Goethe die Stufen im Innern des Wagens empor zur ersten Klasse. Das Volk quetschte sich in der unteren Etage auf die engen Sitze. Es roch nicht gut, dieses Volk. Es hatte noch nie gut gerochen. Schweiß, Parfum (zu viel vom falschen, wie immer bei Leuten, denen Geschmack einfach abging), Ausdünstungen der letzten Mahlzeiten, selbst Fuß- und Mundgeruch konnte Goethe ausmachen. Es war ekelhaft. Die erste Klasse hingegen war leer und olfaktorisch akzeptabel.

Er nahm Platz und wartete auf seinen Freund und Seelenverwandten. Endlich ein Gespräch unter Männern. Frei von Eifersucht und gekränkter Eitelkeit. Selbst einem Schlagabtausch über die wichtigsten Neuerscheinungen (wer zum Henker konnte noch das »Wichtige« vom »Unwichtigen« unterscheiden?) fühlte er sich einigermaßen gewachsen. Er hatte in den letzten Wochen die Feuilletons von zwei Monaten aufgearbeitet, statt fernzusehen. Das war harte Arbeit gewesen. Jetzt wollte er die Früchte ernten.

Aber Schiller ließ auf sich warten.

Stattdessen erschien ein missmutiger Zugbegleiter, der in barschem Ton die Fahrkarte zu sehen verlangte.

Goethe zog das Kuvert, in dem Cottas Assistentin die Reiseunterlagen geschickt hatte, hervor. Er reichte dem Griesgram das Ticket und sah aus dem Fenster.

»Haben Sie auch noch ein Erste-Klasse-Ticket?«, fragte der Uniformierte mit professionellem Desinteresse.

Goethe sah den Mann an. »Sie halten es in Händen!«

Der Zugbegleiter zeigte Goethe die Fahrkarte. »Das ist ein Ticket für die zweite Klasse.«

Goethe sah den Mann an. Er sah das Ticket an. Zweite Klasse.

»Das muss ein Missverständnis sein«, sagte er.

Der Zugbegleiter baute sich vor ihm auf. »Das sagen sie alle.«

Goethe stellte sich stur. Das konnte nur ein Missverständnis sein. Er zückte sein Mobiltelefon und wählte Cottas Nummer.

Die Assistentin war dran. Natürlich.

Er solle sich nicht so haben. Das habe alles seine Richtigkeit. Zweite Klasse sei volksnäher. Den Zuschlag für die erste Klasse müsse er selber zahlen.

»Nichts werde ich bezahlen!«, herrschte Goethe sie an. »Nennen Sie mir einen Grund, einen, warum ich nicht sofort aussteigen sollte!«

Der Griesgram von einem Schaffner unterbrach ihn: »Es gibt keinen. Sie sollen ja hier raus. Oder Sie lösen den Zuschlag nach!«

»Ich denke nicht dran!«, sagte Goethe.

Die Assistentin zeigte sich gelassen. Cotta habe einen Vertrag mit ihm geschlossen. Und für den Fall, dass Goethe den nicht halten wolle, sei sie angewiesen, ihm die aktuellen Verkaufszahlen auf sein Handy zu schicken. Täglich.

»Ich möchte das eigentlich nicht tun. Aber wenn Sie mich dazu zwingen … Die App ist programmiert. Das geht vollautomatisch. Ich kann das dann auch nicht mehr so leicht stoppen.«

So ein Unfug. Das war ja entwürdigend! Er drückte sie weg, erhob sich und stieg hinab in die zweite Klasse.

Das Rennen um die Sitzplätze hatte Goethe im Grunde schon auf dem Bahnsteig verloren. Schiller hatte dasselbe Schicksal ereilt, aber es schien ihm nichts auszumachen. Er saß auf der Treppe, hatte bereits eine Flasche Wein dekantiert und Freundschaft mit zwei jungen Männern geschlossen.

»Große Reise, Sie und ich! Und Cotta bezahlt uns auch noch dafür!« Er bot Goethe die Flasche an. Noch nicht mal ein Glas.

Wieso bezahlte Cotta Schiller? Goethe wurde nervös. Wurde hier mit zweierlei Maß gemessen? Schiller bekam ein Honorar, Goethe aber nicht? Hatte er etwa das erste Mal in seinem Leben schlecht verhandelt? Noch dazu schlechter als ausgerechnet Schiller? Aber er konnte Schiller unmöglich nach seinem Honorar fragen. Niemals würde ihm diese Frage über die Lippen gehen. Erst recht nicht unter Zeugen.

Die zwei jungen Männer musterten Goethe.

Schiller gab sich volksnah. Ob sich diese Schleimerei in den Niederungen der Bevölkerung in den Absatzzahlen abbilden würde? Wohl kaum. Schiller hatte immer schlechter verdient als er. An Buch und Staat. Aber jetzt bekam er ein Honorar, und Goethe ging leer aus. Und da wagte es dieser Freund, ihm einen Schluck Wein aus der Flasche anzubieten?

Andererseits kannte Goethe das Leben im Feldlager. Als Waschlappen wollte er nicht gelten. Nicht vor Schiller und nicht vor diesen jungen Männern. Also nahm er die Flasche wie ein echter Kerl und trank.

»Na also, Opi. Na also!«, kommentierte einer der jungen Männer.

Respektlos, dachte Goethe. Krass respektlos.

Göttingen

»Heine hat Göttingen schlechter gemacht, als es je war.«

»Wenn Sie mich fragen, hat er es ganz gut getroffen. Wie überhaupt Heine ja ein Meister darin war, alles gut zu treffen. Hat je einer vor oder nach Heine so eine spitze Feder mit einer solchen sprachlichen Brillanz verbunden?«

»Ich mag die Gedichte lieber als die Prosa.«

»Aber diese zeitlose Pfiffigkeit, die ist schon enorm. Wenn man bedenkt, wie alt die Reisebilder sind. Dieser Stil, der ist noch immer so frisch, als wären die Worte gerade erst zum Strauß geschnitten, wenn ich das mal so poetisch ausdrücken darf.«

Dürfen Sie nicht, dachte Goethe.

»Dürfen Sie«, sagte Schiller.

Göttingen war ein Drecksnest. Spieß- und Bildungsbürger verklumpten sich hier fröhlich mit diesen Umweltschützern von der falschen Partei, die es in Thüringen zum Glück kaum gab, zu einem unerträglichen Beamtenkonglomerat mit einer Universität in der Mitte. Einzig die Aussicht auf den Abend im »Bären« mit zwei Ministerpräsidenten, denen der Länder Thüringen und Niedersachsen, stimmte Goethe so milde, dass er zu dem Gewäsch dieser sieben Lehrerinnen und Lehrer schwieg. Sie nannten sich die Göttinger Sieben, sahen so aus, als würden sie zu diesen Umweltschützern gehören (oder zu noch schlimmeren Gruppen, so es diese gab), hatten aber allesamt eins gemeinsam: Sie bewunderten Heinrich Heine. Aber Heine war tot. Tot wie Iffland, Wieland, Herder, die Frau von Stein und die Humboldte. Vor ihnen standen Goethe und Schiller. Die Klassiker. Leibhaftig und lebendig wie eh und je.

Goethe wusste nicht genau, was er erwartet hatte. So eine Art ehrfurchtsvoller Schockstarre vielleicht, ganz sicher eine Eingangsfrage nach dem werten Befinden angesichts des auch für Klassiker doch recht hohen Alters oder was Anstand und Kommunikationstrainer sonst anrieten. Aber auf diesen Wortschwall über Heinrich Heine, von dem er höchstens zwei Zeilen gelesen und selbst die für schlecht befunden hatte, war er nicht eingestellt. Auch in den Feuilletons der letzten Monate war kein Buch von oder über Heine besprochen worden. Jedenfalls konnte er sich an keines erinnern.

Die Namen der Sieben konnte sich Goethe unmöglich merken. Er versagte beim ersten Versuch und merkte sich stattdessen Eigenschaften. Da war der Jäger mit der grünen Hose, der Kaktus mit dem stacheligen Bart, der schweigende Fisch mit den Glupschaugen und dann die Frauen: die halbe Professorin mit dem Schwerpunkt »Romantik«, die Physikerin, die sich nur um die Kasse der Sieben kümmerte, die Lyrik-Heulsuse und die lustige Handarbeitslehrerin mit den Brüsten, die ihn an die hängenden Gärten der Semiramis erinnerten. Nein, das war nicht nett. Das war unfair. Nur weil er aus diesem stinkenden Regionalexpress in ein stinkendes Taxi gestiegen war, was seine Laune weiter gedrückt hatte, musste er diese Menschen nicht gleich so niedermähen. Im Grunde waren sie nett und aufgeweckt, sie hatten ein Literaturfestival organisiert, und über der Fußgängerzone hing dieses Banner: »Klassiker zum Anfassen!«

»Wir hatten auch überlegt, ob wir zwei Banner machen, eins mit der Aufschrift ›Goethe kommt‹ und eins mit ›Schiller kommt‹.«

»Hübsche Idee«, sagte Goethe.

»Ja, aber das klingt so nach Wahlkampf«, sagte der Kaktus. »Und das wollten wir im Augenblick vermeiden. Sie verstehen schon, so kurz vor den Wahlen in Thüringen.«

»Für mich klingt das eher nach Sex«, kicherten ausgerechnet die hängenden Gärten der Semiramis. Wer hätte das gedacht?

Schiller lachte schallend und nahm dieses Weltwunder in den Arm.

So zogen sie durch die Fußgängerzone auf das Rathaus zu. Goethe wurde vom Jäger und der halben Professorin eingekeilt. Die anderen gruppierten sich um den lachenden Schiller.

Immerhin, dachte Goethe, als er bemerkte, dass die paar Passanten, die sich an einem Sonntagnachmittag in die Göttinger Innenstadt verirrt hatten, stehen blieben, um zu sehen, wer da durch die Stadt lief. Immerhin.

»Haben Sie die Reiseroute schon studiert?«, fragte der Jäger.

Goethe nickte. »Steht ja alles in den Unterlagen von Cotta.«

Der Jäger grinste in sich hinein. »Ja, aber ist Ihnen nichts aufgefallen?«

»Sie meinen den ›Faust‹ auf dem Brocken? Ich freue mich sehr darauf«, log Goethe. Tatsächlich hatte er Lampenfieber wie ein kleiner Junge vor dieser gewaltigen Veranstaltung am Freitag. Zum Glück würde es der Abschluss werden, sodass er sich gleich danach ins Hotel im Ilsetal zurückziehen oder, wenn es ganz schlecht lief, schon nach Hause fahren könnte.

»Tausendfünfhundert Karten sind schon weg. Wir werden noch etwas anbauen«, sagte der Jäger. »Alle wollen Sie noch einmal hören.«

Goethe nickte. Und er wurde etwas ruhiger. Zwei alte Frauen entdeckten Schiller. Klar, der war einfach zu groß gewachsen und machte ja auch immer einen ziemlichen Radau mit seinem lauten Organ. Dann aber sahen sie auch Goethe, zeigten mit dem Finger auf ihn, stießen sich an und kicherten wie schüchterne kleine Mädchen. Egal, wie alt die Schachteln waren, dieses Kichern hellte Goethes Laune merklich auf. Und mit dem vertrauten Ton freudiger Weiblichkeit im Ohr erschien ihm ganz Göttingen nicht mehr so übel. Irgendwie waren sie doch nett, diese Göttinger. Und so dämlich konnte eine Stadt mit einer so alten Universitätsgeschichte ja gar nicht sein. Irgendwo zwischen den Straßen hing der Geist und strahlte auf die Bewohner ab. Die konnten sich kaum wehren. Nein, im Grunde war Göttingen immer eine seiner Lieblingsstädte in deutschen Landen gewesen. Hier hätte er studiert, wenn der Vater ihn gelassen hätte. Hier und nicht in Leipzig.

Schiller bemühte sich mit heftigen Scherzen, die er mit ausladenden Bewegungen seiner langen Arme unterstrich, aus der Umklammerung der Semiramis zu befreien. Allein: Die Dame schien wie eine Fliegenfalle zu sein, aus der kein Entrinnen mehr möglich war. Goethe fühlte sich mit einem Mal sicher und geborgen zwischen seiner halben Professorin und dem Jägersmann.

»Sehen Sie mal, was meine Studenten sich ausgedacht haben«, sagte die halbe Professorin. Sie zeigte Goethe eine Postkarte. Ein gelbes Ortsschild von Göttingen. Nur dass es bearbeitet war zu »Goethingen«.

»Lustig«, lobte Goethe und dachte bei sich: Welch trefflicher Scherz!

Auf dem Platz vor dem Rathaus tobte eine ausgelassene Klasse von Schülern. Allesamt ziemlich klein, keine zehn Jahre alt, schätzte Goethe grob.

»Sind das unsere?«, fragte er.

Der Jäger nickte. »Ist das nicht toll? Zweihundert Grundschulkinder und ihre Eltern werden heute kommen, um Sie zu hören.«

»Grundschule?«

»Von der ersten bis zur vierten Klasse, die sind aber pfiffig. Und sie kommen sogar an einem Sonntag!«, begeisterte sich der Jäger.

»Weil sie müssen«, fügte die halbe Professorin etwas realistischer hinzu.

»Was soll ich denen denn erzählen?«, fragte Goethe.

Der Jäger blieb kurz stehen. Er sah Goethe an. Sehr ernst plötzlich und mit diesem Vorwurf im Blick, den Goethe nur von seiner eigenen Mutter und Charlotte von Stein kannte und der ihn irgendwie an einer Stelle traf, auf die sich ein Lindenblatt gelegt haben musste, als er seine Seele im heißen Blut seines Genius gebadet hatte.

»Sie haben doch unser Konzept gelesen, oder?«

Goethe sah zu Boden und nickte. Natürlich hatte er es nicht gelesen. Es war Wahlkampf; er musste seinem Ministerpräsidenten unterstützen, wo er nur konnte. Hatte pausenlos über menschliche Bildungseinrichtungen schwadroniert. War im Fernsehen und im Netz aufgetreten. Ferner war er mit Steffi beschäftigt gewesen. Obendrein wollte er im Grunde ja einen neuen Roman oder wenigstens ein Drama schreiben; stattdessen hatte er den Paragrafen 13a, die Lex Goethe, entworfen. Kurz: Er hatte kein Konzept der sieben Göttinger Oberlehrer gelesen. Natürlich nicht.