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Jacqueline Bhabha

Migration als Krise?

Wie ein Umdenken möglich ist

Aus dem Englischen
von Ursel Schäfer

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Für Rafa und Sebas, unsere Zukunft

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2019 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-951-5

© der deutschen Ausgabe 2019 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-329-2

© der Originalausgabe 2018 by Jacqueline Bhabha

This edition is published by arrangement with

Polity Press Ltd., Cambridge

First published by Polity Press

Titel der Originalausgabe: »Can We Solve The Migration Crisis?«

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Vorwort

IEine einzigartige Krise?

IIDie Pflicht, sich zu kümmern

IIIDas System droht zu zerbrechen

IVFunktionierende und humane Lösungen finden

Weiterführende Literatur

Bibliografie

Dank

Zur Autorin

Vorwort

Das Ausmaß der derzeitigen Migration ist atemberaubend: Pro Minute müssen 24 Menschen ihr Heim verlassen. Die Summe dieser weltweiten Wanderungsbewegungen ist genauso dramatisch. Mit 65,3 Millionen übersteigt die Zahl der Vertriebenen die der Einwohner Kanadas, Argentiniens, Australiens oder Kenias. Würden all diese Menschen eine Nation bilden, dann wäre sie nach der Bevölkerungszahl ungefähr auf Platz 21 weltweit.

Weil die moderne Welt in Staaten mit Grenzen aufgeteilt ist, die ein starkes Interesse haben, die Einreise von Nicht-Staatsbürger_innen zu kontrollieren, ist diese enorme unregulierte Migration zu einem weltweiten politischen Thema von höchster Dringlichkeit geworden. Nach wie vor beherrscht es die internationale wie die innenpolitische Agenda vieler Staaten. Es hat eine der hoffnungsvollsten politischen Innovationen der Nachkriegszeit schwer und womöglich irreparabel beschädigt, die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union, und auf dem gesamten Kontinent aggressive Fremdenfeindlichkeit freigesetzt. Es hat massive politische Auswirkungen gehabt und in Großbritannien den Sturz von Premierminister David Cameron mitverursacht sowie zum überraschenden Wahlsieg des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump beigetragen. Und es hat die politische Verhandlungsmacht ganzer Länder verändert – am augenfälligsten ist das bei der Türkei, obwohl das Land rasch in eine autoritäre, undemokratische Herrschaft abgleitet. Selbst die zunehmend nationalistische und vom Kommerz getriebene Welt des internationalen Sports hat reagiert. Bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 2016 trug erstmals nicht die Vertreterin oder der Vertreter eines nationalen Teams die olympische Fackel ins Stadium, sondern ein Flüchtling, Mitglied des ersten Flüchtlingsteams, das jemals bei Olympischen Spielen angetreten ist.

Nicht nur das Ausmaß der gegenwärtigen Migrationsbewegungen erregt Aufmerksamkeit, sondern auch die vielfältigen und bis vor Kurzem noch undenkbaren Reaktionen. Wer hätte 2014 vorhergesagt, dass Deutschland über 1 Million Asylsuchende aufnehmen und damit innerhalb eines Jahres de facto zum Gewissen Europas werden würde? Oder dass Mitgliedstaaten der EU Stacheldrahtzäune errichten würden, wo zuvor der freie Grenzübertritt die Regel gewesen war, eine schmerzhafte Erinnerung an Europas dunkelste Stunde? Oder dass ein einziges, unvergessliches Bild eines ertrunkenen dreijährigen syrischen Jungen, dessen Verwandte in Kanada für ihn und seine Familie als Sponsor_innen bereitstanden, einen schuldbewussten jungen Staatschef dazu veranlassen würde, über Nacht die Quote seines Landes für die Aufnahme von Geflüchteten massiv zu erhöhen? Oder dass ein frisch gewählter amerikanischer Präsident versuchen würde, explizite religiöse Diskriminierung bei der Aufnahme von Immigrant_innen zu legitimieren und Menschen, die vor einem der tödlichsten Bürgerkriege seit Jahrzehnten geflohen waren, auf unbestimmte Zeit die Einreise zu verwehren?

Viele dieser Entwicklungen sind allmählich, als immer neue menschliche Tragödien bekannt wurden und die politische Instabilität zunahm, aus den Schlagzeilen verschwunden. Aber weil das Flüchtlings- und Migrationsproblem so offensichtlich unlösbar ist und seine Auswirkungen die aktuelle geopolitische Ordnung betreffen, erzeugt es bei Politiker_innen und Wähler_innen gleichermaßen weiterhin ein Gefühl angsterfüllter Panik und löst dramatische Reaktionen aus. Während nach wie vor schlimme Konflikte wüten und eklatante politische und wirtschaftliche Ungleichheit für alle sichtbar ist, erscheint die Migration, so gefährlich sie auch sein mag, für Millionen Menschen als einer von wenigen möglichen Auswegen. Mit Blick auf beide Seiten müssen wir fragen: Gibt es bessere Alternativen und wenn ja, welche?

Ich schlage die Untersuchung von vier Fragenkomplexen vor, um zu einer Antwort zu gelangen. Erstens: Wann stellen Bevölkerungsbewegungen eine »Krise« dar und sind nicht mehr das Auf und Ab normaler Migration? Gibt es frühere Beispiele massiver Bevölkerungsbewegungen und einer ähnlichen Angst vor Migration, die als erhellende historische Datenpunkte angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen und Dilemmata dienen können? Zweitens: Wenn wir gegenüber Geschichte und Politik einen Schritt zurücktreten, was sollte unserer Meinung nach dann geschehen – oder, grundsätzlicher gefragt: Wie bewerten wir die mit der gegenwärtigen Situation verbundenen ethischen Fragen? Was erachten wir als die Ansprüche und Forderungen von Menschen, zu denen wir keine oder fast keine Beziehung haben, an uns selbst, an unsere Regierungen, an unsere gemeinsamen Ressourcen? Umgekehrt gefragt: Welche moralische Berechtigung sollten die Angehörigen einer Gemeinschaft haben, über deren Zusammensetzung zu bestimmen und Außenstehenden, die in ihrer Mitte leben möchten, den Zugang zu verwehren – sollten sie überhaupt eine solche Berechtigung haben? Joseph Carens, ein prominenter Ethiker, der sich mit Migrationsfragen beschäftigt, verweist auf die Zurückweisung der aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohenen jüdischen Menschen als extremen und, wie er vermutet, nach allgemeiner Überzeugung inakzeptablen Grenzfall, um die verfügbaren Optionen zu prüfen. Wenn wir keine Vorstellung haben, welche Alternativen denkbar sind, um die »Krise« von Flucht und Migration zu »lösen«, und welche Strategien aus dem definierten Feld herausfallen, können wir die Frage nicht zufriedenstellend beantworten.

Drittens werde ich zentrale Elemente des rechtlichen und bürokratischen Rahmens skizzieren, den Staaten auf die Bewegungen von Menschen über Grenzen hinweg anwenden. Dabei beziehe ich offizielle Reaktionen auf erzwungene Migration mit ein, wie die Flucht aus humanitären Gründen und den Flüchtlingsstatus, aber auch den politischen Umgang mit Migration, die als »freiwillig« gilt und im Gegensatz zur Flucht vor Verfolgung oft als Wirtschaftsmigration bezeichnet wird. Abschließend untersuche ich die Haupttriebkräfte der heutigen erzwungenen Migration1 und positive, funktionierende Strategien für die Zukunft. In dem Zusammenhang werden auch Themen über den Bereich des Umgangs mit Migration und Geflüchteten hinaus zur Sprache kommen. Ich vertrete die Auffassung, dass eine gangbare, gerechte und nachhaltige Lösung für die gegenwärtige Situation bei Flucht und Migration nur erreicht werden kann, wenn man sich um die Faktoren kümmert, die Menschen dazu bringen, vorübergehend oder dauerhaft ihre Heimat zu verlassen. Alle Maßnahmen, die Verzweiflungsmigration einzudämmen, werden mittel- und langfristig scheitern, wenn wir dem legitimen Streben nach mehr sozialer, politischer und wirtschaftlicher Gleichheit nicht Beachtung schenken. Ich werde einige Punkte dieses weitreichenden Reformprogramms skizzieren und verknüpfe sie mit Initiativen, die gegenwärtig bereits im Gang sind.

1Auf den folgenden Seiten verwende ich den Begriff »Verzweiflungsmigration« für die großen Migrationsströme geflüchteter Menschen und anderer, die entstehen, weil die Situation in der Heimat den Betreffenden unerträglich erscheint, und die in den Gastländern ein Gefühl von Krise verursachen. Ich definiere den Begriff in Kapitel 3 und erläutere, was er umfasst, durch die Gegenüberstellung anderer gebräuchlicher Begriffe.

IEine einzigartige Krise?

Das chinesische Wort für »Krise« besteht aus den Schriftzeichen für »Gefahr« und »Chance«. Damit wird ein Stück weit die Dualität erfasst, die beim Gebrauch dieses Wortes ins Spiel kommt: ein Augenblick der Bedrohung, der Druck ausübt, neue Wege zu suchen. Von Krisen ist in vielen Zusammenhängen die Rede – in politischen, wirtschaftlichen, organisatorischen, persönlichen. Unter den verschiedenen Anmerkungen zu »Krisen« sind im Hinblick auf die Migration vor allem zwei relevant. Laura Henderson schreibt, das Ziel des Krisendiskurses sei es, vorhandene Narrative auszuhebeln und durch ein neues Narrativ zu ersetzen, das Lösungen anbietet: angesichts der Gefahr vorhandene Heilmittel verwerfen und neue suchen.2 Ein zweiter Ansatz analysiert die krisengetriebene Rhetorik durch den Bezug auf drei Schlüsselfaktoren: einen verantwortlichen Schurken, ein betroffenes Opfer und eine Retterin oder einen Retter, die oder der die Krise überwindet. Während der Schurke eine Krise für das Opfer verursacht, interveniert die Retterin oder der Retter, um die Situation zu lösen, und nutzt die Gelegenheit, dass gehandelt werden muss, um den Konsens herbeizuführen, der nötig ist, um Wandel zu erreichen.3

In den Reaktionen auf aktuelle Migrationsereignisse finden wir einige dieser narrativen Strategien. Der Begriff »Krise« ist allgegenwärtig, dient als Kürzel für die einzigartigen Merkmale der Gegenwart und als Legitimation für radikale Maßnahmen bei der Reaktion darauf. Ich werde darlegen, dass die aktuelle Situation keineswegs einzigartig ist und dass wir statt rascher Lösungen beim Thema Migration (die zum Teil durchaus nötig sind) einen integrierten Ansatz entwickeln müssen, wie wir mit den Faktoren umgehen, die Verzweiflungsmigration in großem Stil verursachen. Ein historischer Blick auf die menschliche Mobilität fügt den aktuellen Druck in das langfristige Auf und Ab komplexer Migrationsmuster ein. Diese Perspektive zeigt Beispiele auf, wie wir die vielfältigen Welleneffekte der Wanderungsbewegungen, die wir heute beobachten, antizipieren und darauf reagieren können.

Lehren aus der Geschichte: Ein kurzer Überblick über die longue durée der Migration

Im Gegensatz zu den dominierenden aktuellen Schilderungen der Flüchtlings- und Migrationskrise bietet uns der Blick in die Geschichte der Migration Anknüpfungspunkte, menschliche Wanderungen nicht nur als Überschreitung von Grenzen zu betrachten.4 Die Geschichte belegt vor einem breiten zeitlichen und räumlichen Hintergrund, dass die Faktoren, die die menschliche Mobilität beeinflussen, über die Jahrhunderte (sogar über Jahrtausende) hinweg bemerkenswert stabil waren. Ebenfalls gleich geblieben sind die Mechanismen, wie auf Mobilität reagiert wurde, Mechanismen, die durch ungleiche Machtverteilung und Eigeninteresse gekennzeichnet sind. Historische, linguistische und archäologische Befunde sprechen dafür, dass nur dort, wo wandernde Bevölkerungsgruppen überlegene technische Fähigkeiten oder unbekannte Keime mitbrachten, ihre Ankunft mit tödlichen Bedrohungen oder langfristigen Sicherheitsproblemen für die einheimische Bevölkerung verbunden war.5 Das ist ein hilfreiches Korrektiv angesichts der inflationären Warnungen vor einer Krise der Zivilisation, die oft in Verbindung mit der gegenwärtigen Migration zu hören sind.

Die Aussage »Menschen sind zu allen Zeiten gewandert« ist eine Selbstverständlichkeit. Benedict Anderson schrieb vor über 30 Jahren in einem bekannten Buch, Nationen seien »vorgestellte politische Gemeinschaften«, kulturelle Produkte individueller menschlicher Bemühungen und kollektiver Organisation und nicht Tatsachen über ein inhärentes oder permanentes Band zwischen einem Ort und einem Volk.6 Nationen sind außerdem junge Erfindungen, genau wie die Grenzen, die sie definieren.

Unsere Spezies, der Homo sapiens, tauchte erstmals vor 150000 bis 200000 Jahren in Afrika auf. Durch genetische und archäologische Forschungen ist inzwischen erwiesen: Eine »afrikanische Eva« war »die Mutter der Menschheit«.7 Die Wanderungen früher Menschengruppen hingen damit zusammen, dass sie immer besser in der Lage waren, zwei Bestände an natürlichen Ressourcen auszubeuten, nämlich die durch Wasser (Seen, Flüsse, Meer und Ozeane) und die durch Boden erzeugten. Der Imperativ, das Überlebensnotwendige zu sichern und sich an Veränderungen und Chancen in der eigenen Umgebung anzupassen, war immer eine entscheidende Triebkraft der menschlichen Mobilität. Von den frühesten Anfängen der Geschichte an ermöglichten die menschliche Migration und ihr Zusammenspiel mit immer vielfältigeren physischen und klimatischen Umweltgegebenheiten am Ufer von Gewässern und im Inland dramatische Durchbrüche und die Verbreitung neuer Techniken der Vieh- und Pflanzenzucht. Überleben, Innovation und Ehrgeiz sind bis heute Triebkräfte der menschlichen Mobilität geblieben.

Die frühen Fortschritte bei der Ressourcennutzung hatten komplexe Auswirkungen auf die Migration. Einerseits begünstigte die Abkehr von Jagd und Sammeln zugunsten der Landwirtschaft einen sesshaften Lebensstil, weil zur Landwirtschaft gehörte, das Land zu bestellen und Tierherden zu hüten. Damals wie heute verbrachte die überwältigende Mehrheit der Menschen ihr Leben an ein und demselben Ort (selbst heute sind nur 3 Prozent der Weltbevölkerung internationale Immigrant_innen). Andererseits lieferte damals wie heute die Zerstörung der traditionellen agrarischen Lebensgrundlagen einen Anreiz für Migration.

Um 3000 vor unserer Zeitrechnung war die Kultivierung von Pflanzen bereits so weit verbreitet, dass bis dahin unbebaute Gebiete zur Pflanzenzucht genutzt wurden. In der Folge wuchs die Bevölkerung und damit das Potenzial für Eroberungen, Handel und Erforschung. Lasttiere erleichterten den Transport von Menschen und unterschiedlichen Gütern zum Zweck des Handels. Neue Formen des Transports zu Wasser entstanden, unter anderem Segelschiffe und geruderte Schiffe. Um 2000 vor unserer Zeitrechnung waren Menschen an alle bewohnbaren Orte vorgedrungen.

Archäologische und historische Befunde sprechen dafür, dass damals wie heute hauptsächlich junge Wandernde Kontakte zu neuen Gemeinschaften knüpften und zuvor unbekannte Techniken, Sprachen und Gewohnheiten übernahmen, wenn sie ihren Aktionsradius erweiterten. Faszinierende archäologische Forschungen mit Einsatz von DNA-Analysen erlauben, die komplexen Wanderungsbewegungen nachzuvollziehen, die durch Knochen und Reste von Nahrungsmitteln aus unterschiedlichen Regionen dokumentiert sind.8 All das zusammen ergibt ein detailliertes Bild der synkretistischen Produkte des vielfältigen Austausches dank der Wanderungsbewegungen im Lauf der Zeit.

Wir können diese Bewegungen als Beleg für wachsende weltweite Vernetzung oder für fortschreitende regionale oder kontinentale Abgrenzung verstehen. Welchen Schluss wir ziehen, hängt davon ab, welchen Maßstab wir bei der menschlichen Mobilität anlegen.9 In der Vergangenheit wie heute trennte Migration über weite Strecken hinweg Familien und führte zu wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Unterscheidungen von der ursprünglichen Gemeinschaft und Veränderungen in der neuen Gesellschaft. Aber sie schuf auch neue Verbindungen und kappte die alten nicht immer. Wirtschaftliche, militärische und politische Faktoren wirkten in unterschiedlicher Weise zusammen und brachten Verbindungen oder Abgrenzungen, Integration oder Abspaltung, genau wie das auch heute der Fall ist.

Vier große Triebkräfte von Migration im Lauf der Jahrtausende

Hilfreich ist die Unterscheidung vier großer, nicht ausschließlicher Triebkräfte menschlicher Migration über einen sehr langen Zeitraum hinweg. Eine solche Typologie ergibt ein einfaches Schema als Hintergrund, um die heutigen Herausforderungen einzuordnen und einzuschätzen, ob es sich bei der aktuellen Migrationssituation um eine außergewöhnliche »Krise« handelt.

Der Historiker Patrick Manning schreibt: »Migration ganzer Gemeinschaften war gewöhnlich eher eine Migration aus Verzweiflung denn aus Hoffnung: Meistens waren es Flüchtlinge, die durch Dürre oder Eroberung vertrieben wurden.«10 Das 20. Jahrhundert liefert, wie wir sehen werden, zahlreiche Beispiele für diese erste Triebkraft, Migration aus Verzweiflung, bei der nur die Menschen zurückblieben, die zu alt oder zu krank waren. In der gesamten Geschichte der Menschheit finden wir Beispiele, dass Menschen ihren Wohnort verlassen haben, um zu überleben.

Ohne solche Verzweiflung handelten Bevölkerungsgruppen meist selektiver. Wenn sie hinreichend zuversichtlich waren, wendeten sie eine zweite Strategie an, Migration zur Kolonisierung von Gebieten, ein Prozess, zu dem vorübergehende und dauerhafte Wanderungen gehörten und Bewegungen in viele Richtungen. Um 1000 vor unserer Zeitrechnung begannen indoeuropäische und semitische Volksgruppen mit der Domestizierung von Pferden, die Wagen ziehen und Krieger tragen konnten. Diese Entwicklungen veränderten die Möglichkeiten für militärische Eroberungen entscheidend, und das hatte einschneidende politische Folgen in Eurasien und im Süden bis hin zum indischen Subkontinent. Mit der kulturellen Stabilisierung gingen große Bauprojekte einher – Pyramiden, Tempel, Straßen und Wasserwege –, die wiederum die Mobilität von Arbeitskräften in großer Zahl förderten, viele davon Sklavenarbeiter_innen. Zehn Jahrhunderte lang, vom 5. Jahrhundert vor bis ins 5. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung, entstanden durch Migration mit dem Ziel von Eroberungen große Reiche, von der Han-Dynastie in China über das Römische Reich im Mittelmeerraum bis nach Nordafrika. Mit den Bauprojekten kamen die Befestigungen, und die ersten Mauern dienten als frühe technische Möglichkeit, um Fremde von Städten und anderen Siedlungen fernzuhalten – ein bis heute beliebtes Verfahren.

In Amerika entstand im 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Peru ein stark zentralisiertes Andenreich, das über benachbarte Völker herrschte, dabei zwangsweise Menschen umsiedelte und andere als Saisonarbeitskräfte für große Bauprojekte wie etwa in Cuzco hereinholte, wo 40000 Arbeitskräfte über zehn Jahre hinweg eingesetzt waren. Ab dem 15. Jahrhundert veränderte die Kolonisierung durch Großbritannien, Portugal, Holland, Russland und Japan Kontinente über viele Generationen hinweg, brachte die Ausbeutung von Rohstoffen, verheerende Epidemien, die die eingeborene Bevölkerung dezimierten, und skrupellose Plünderungen. Durch die Kolonisierung entstanden auch neue Handelswege, neue Formen von Produktion und Geschäftsverkehr sowie vielfältige, komplexe Varianten des sozialen und kulturellen Austausches zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, Muster, die damals Migrationsströme prägten und bis heute prägen.

Für die damalige Zeit waren das große Wanderungsbewegungen. Zum Beispiel gingen zwischen 1500 und 1650 fast eine halbe Million Spanier_innen nach Amerika. Die spanische und portugiesische Kolonisierung Amerikas hatte dramatische Bevölkerungsveränderungen zur Folge – Krankheiten und Eroberung dezimierten die Bewohner_innen der mexikanischen Halbinsel innerhalb eines Jahrhunderts von 25 auf 2 Millionen, ein »Beinahe-Genozid«, der heutige Folgen von Migrationsbewegungen weit in den Schatten stellt. Jahrhunderte später, im 19. Jahrhundert, erlebte Lateinamerika mit dem Übergang zum Agrarkapitalismus, der hauptsächlich durch den Anbau von Kaffee und Bananen und die Entwicklung der Eisenbahnen angetrieben wurde, eine massive Binnenwanderung auf dem Kontinent, wozu auch die zwangsweise Umsiedlung eingeborener Völker gehörte. In dieser Situation waren durch Migration verursachte »Krisen« oder schädliche Entwicklungen die Folge von Beherrschung und Ausbeutung weniger mächtiger Gruppen durch die Mächtigen und nicht umgekehrt.

Ähnliche Vorgänge spielten sich auch in Nordamerika ab, wo die Ureinwohner_innen ebenfalls durch eingeschleppte Krankheiten, brutale Eroberung und erzwungene Umsiedlung litten. Entwicklungen in der Landwirtschaft und ein hoher Bedarf an Arbeitskräften, die ausgebeutet werden konnten, trieben eine weitere erzwungene Migration voran: die der brutal versklavten Menschen aus Afrika. Gleichzeitig wurden weiter im Süden die Silberminen in den Anden zu Schauplätzen der gewaltsamen Umsiedlung eingeborener Bevölkerungen, die als billige Arbeitskräfte im aufkeimenden weltweiten Handel dienten. Chinesische Migrant_innen hatten ebenfalls daran teil; so kamen asiatische Arbeitskräfte und Handeltreibende in dieses zunehmend globalisierte Spiel, eine Entwicklung, die auf die großen asiatischen Exilgemeinden der heutigen Tage vorausweist.

Obwohl an der Kolonisierung relativ wenige Menschen beteiligt waren (nach dem indischen Zensus von 1891 lebten lediglich 100000 britische Staatsbürger_innen in Indien), hinterließen die kolonialen Migrationsbewegungen dauerhafte Spuren, nicht nur bei den Ureinwohner_innen und den Migrant_innen, sondern auch in Form von Bindungen zwischen den kolonisierenden und den kolonisierten Bevölkerungen.