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Walther von Hollander

Akazien

 

Saga

1

Genau wie damals, ganz wie immer, begann die Lokomotive schrill und hämmernd zu läuten, als der Zug um die Waldecke des Heuberges bog. Marianne von Schellemarr, die allein im einzigen Abteil zweiter Klasse saß, stand langsam auf. Vom Heuberg bis Langwede brauchte die Kleinbahn noch zwei Minuten, und darum war es Zeit, sich zurechtzumachen. Marianne zog die braune Kostümjacke an, setzte den hellen Frühlingshut so schräg, daß die kleine graue Strähne über dem rechten Ohr verdeckt wurde, und sah scheinbar prüfend in den Spiegel.

Aber sie sah nicht ihr Gesicht. Sie sah, von plötzlichem Herzklopfen befallen, die Landschaft hinter ihrem Gesicht vorbeifahren: den Buchenwald, steil ansteigend, mit kleinen Felsen durchsetzt, den Aussichtspavillon auf der winzigen Burgruine und den Kaffeegarten zu seinen Füßen. Die Bahnschranke ging mit einem weichen Läuten herunter. Der Zug polterte am Bahnwärterhaus vorbei. Der weißbärtige alte Deike mit dem Stelzfuß und dem Lederwams, den Schrankenwärterstab als Zeichen der Würde und gleichzeitig als Krücke unter die Schulter gestemmt, würde jetzt grüßen. Frau von Schellemarr drehte sich schnell um und sah lächelnd hinaus. Aber da stand ein junger, etwas feister Schrankenwärter, die Dienstmütze wie eine Reservistenkappe elegant auf das Ohr gedrückt. Er grüßte lachend, zwei Finger am Mützenrand, zurück. Frau von Schellemarr beugte sich weit hinaus. Merkwürdig: Deike, der Wachtposten vor Langwede, war tot. Aber die Birken, die schon im zweiten, kräftigen Grün standen, wehten wie immer über seinem Haus.

Die Sonne, die wechselnd mit Schatten über das Land fuhr, landete jetzt fast gleichzeitig mit dem Zug im Tal von Langwede. Ein heiteres Sonnen- und Wolkenspiel begann. Hellrot leuchtete das Schloß auf, um gleich wieder unter seinem schwarzen Schieferdach zu verschatten. Gelbweiß, fast sonnenfarben, blinkte die Kirche, die wie eine Glucke über den regellos ausgeschwärmten Villen am Bergwald hockte. Jetzt wischte ein tiefschwarzer Wolkenschatten über den Bergwald, über das weiße, langgestreckte Schellemarr-Haus am Waldrand, und dafür flammten die roten Dächer der Altstadt auf, die ringförmig dem runden Talkessel eingepaßt waren. Und jetzt, kurz bevor der Zug die langgestreckten Schuppen von Quandt & Küpper erreichte, lief der Sonnenschein, vom Winde getrieben, über die Obstplantage, den Stadtwald, den Steinbruch und erreichte zugleich mit den Eisenbahnwagen den Friedhof.

Ein paar denkmalartige Zypressen tauchten auf und verschwanden, eine Herde von Trauerweiden, Marmorengeln, Eisengittern, schwarzen, lastenden Gedenksteinen. Frau von Schellemarr sah den Hauptweg vorüberhuschen und stellte fest: es war nicht derselbe Weg. Er war in ihr Gedächtnis eingeätzt als breit, gelb, kahl, unendlich, unter einem unbarmherzigen Sonnenbrand liegend, in einem August, der die Wege gehärtet hatte und in Dürre aufspringen ließ. Die Gräber sackten in jenem Jahr schneller zusammen. Die Kränze waren in ein paar Stunden zu Heu gewelkt, und nichts wuchs auf diesem »frischen« Teil des Friedhofs.

Frau von Schellemarr setzte sich noch einmal. Die Hitze von damals färbte ihre Wangen. Die unbarmherzige Sonne jenes Weges ließ ihre Augen flirren, daß sie ein wenig tränten. Sie seufzte. Sie hielt ihr Herz fest, das schmerzhaft laut schlug.

War es denn nicht gut, daß der »frische« Teil des Friedhofs nicht mehr frisch war, sondern von Trauerweiden überschattet, die ihre rechten Trauergebärden meist erst dann entfalten, wenn die Trauernden schon eingegangen sind in die gut ausgerichteten Reihen der Betrauerten und neue Weiden von neuen Weinenden gepflanzt wurden?

Der Zug hielt.

Die Reisenden stiegen lärmend aus. Ein Lachen, ein Kuß wehten am Wagen vorbei. Ein Gepäckkarren knirschte über den Kies des Bahnsteigs. Jetzt wurde die Tür des Abteils aufgerissen. Ein alter Mann in Zivilrock, mit Eisenbahnermütze und Gehstock sah neugierig herein.

»Alles aussteigen«, sagte er und hob dienstlich die Hand an die Mütze. »Endstation!« Sicherlich erkannte er Frau von Schellemarr, und sie erinnerte sich auch an ihn. Er hieß Mettler, war Lademeister gewesen und verschönte sich jetzt die Alterstage mit einem amtlichen Getue. Bis zur Quarta hatte er mit Reinhold von Schellemarr die gleiche Schulbank gedrückt. Sie begrüßten sich, wenn sie einander begegneten, mit Handschlag, und wenn Mettler betrunken war, nahm er seinen Mut zusammen und läutete zuweilen am Schellemarr-Haus, verlangte Schellemarr zu sprechen, wünschte mit ihm den Abend zu verbringen, weil er der einzige Studierte war, der sich herabließ, mit einem Quartaner a. D. umzugehen.

Mettler stand und starrte Frau von Schellemarr mit seinen wäßrigen Altersaugen an. Er wagte nicht, sie anzureden.

Aber er bekam es auch nicht fertig, weiterzugehen. Frau von Schellemarr sprang, den Handkoffer in der Hand, auf den Bahnsteig und ging schnell durch die Sperre hinaus. Mettler sah ihr böse nach. In diesem Augenblick kam der Dienstmann Peddig vorüber.

Mettler deutete mit dem Daumen auf den Ausgang. »Jung ist sie ja geblieben, das muß man zugeben«, sagte er mit seinem tonnenhaften Baß. »Viel zu jung noch immer.«

Peddig schüttelte den Kopf: »Zu jung? Wo der Mann zwanzig Jahr tot ist«, murrte er.

Mettler blies sich auf: »Vierzehneinhalb Jahr ist er tot, mein Freund Doktor von Schellemarr. Ich könnte Ihnen Sachen erzählen, Peddig . . .«

Peddig stemmte sich in den Gepäckkarren und zog ihn pustend aus dem Wortbereich Mettlers. Er schien nicht gierig zu sein auf die alten Geschichten, die der Alte hätte erzählen können. Mettler merkte erst spät, daß er in den Wind hineinsprach. Er sah noch einmal mit Inspektorgebärden in das Abteil hinein, stocherte mit seinem spitzen Gehstock nach einem zusammengeknüllten Papier und angelte es schwungvoll heraus. Er entfaltete es, schob die Brille auf die Stirn und beugte sich über das Geschriebene. Es war ein angefangener Brief, in Eisenbahnschrift geschrieben. Man konnte die Stöße der Achsen, die Kurven der Kleinbahn daraus ablesen. Sonst aber war ihm nicht viel zu entnehmen.

»Liebe Melanie«, las Mettler, »je mehr ich mich Langwede nähere, um so banger wird mir. Das Ganze ist wahrscheinlich nichts als eine sentimentale Narretei. Man weiß erst, wie alt man ist, wenn man den Abstand zwischen dem Herzen und damals ermißt. Ich glaube . . .«

Jetzt war die Feder ausgerutscht, der Brief war weggeworfen, und der Stock hatte auch noch ein paar Worte zerstört.

Ärgerlich knüllte Mettler den Brief zusammen und ließ ihn auf die Schienen rollen. Dann warf er die Tür des Abteils mit Schwung ins Schloß.

Es war, als hätte der Zug auf dieses Zeichen gewartet. Denn er schob sich dampfend langsam rückwärts, um auf das Abfahrtgleis zu rangieren.

2

Frau von Schellemarr lag auf ihrem Liegestuhl ihres Balkons im Parkhotel. Sie hielt ihren Schreibblock auf den Knien und zeichnete in die Ecke des ersten Blattes ein kleines spöttisches Selbstporträt. Die krausen Haare vom Winde etwas zerzaust, die schwarze Brille ein wenig auf die Nase vorgeschoben, die Pelzjacke als Windschutz für den empfindsamen Hals aufgeschlagen, eine Decke um die Knie geschlungen (obwohl es eigentlich ganz hübsch warm war).

Sie setzte von neuem zu dem Brief an, den sie im Zug fortgeworfen hatte:

»Liebste Melanie, der Wind treibt immer wieder die Wolkenschatten über den Wald und über meinen Balkon. Dann fröstelt man. Wenn aber die Sonne scheint, dehnt sich das Holz des Balkons, knackt wie alte Knochen und riecht nach Harz.

Vorläufig spiele ich Sommerfremde. Es ist keine gute Rolle für mich. Denn weder ist es Sommer, noch bin ich fremd hier. Im Gegenteil. Gleich am Anfang traf ich einen Bekannten von Reinhold. Da überfiel es mich, daß er nun auch über Sechzig wäre, und die große Frage beschäftigt mich: Wird man so alt, wie man werden kann, das heißt: stirbt man dann, wenn man eine andere Gestalt nicht mehr erlangen kann, oder hätte er doch noch eine andere Gestalt erreicht, wenn er nur weitergelebt hätte?

Ich weiß, ich drücke mich schlecht aus. Aber Du wirst mich schon verstehen, obwohl Du knapp vierzig bist und ich schon sechsundvierzig und man doch eigentlich weise frühestens mit fünfundvierzig wird.

Was ich sagen wollte, ist dies: Reinhold mit seiner Schärfe, seiner Schneidigkeit und Zweischneidigkeit konnte seiner Natur nach nicht älter werden als fünfzig oder fünfundfünfzig. Als weiser Greis ist er nicht denkbar, ja nicht einmal als ein Sechziger, bei dem doch auch das Herz zu sprechen anfängt. Aber da sehe ich Dich schon lachen. Du weißt natürlich, worauf ich hinaus will. Ich will mich entschuldigen. Vor mir, vor Dir. Vielleicht sogar vor den Kindern. Aber ich sage doch nichts anderes damit, als was wirklich gewesen ist. Der Mensch stirbt meinem festen Glauben nach an sich selbst und nicht an anderen. Wenigstens ist das meine Hoffnung.«

Sie saß eine Weile bewegungslos und sah über die Blütenplantage von Kirschbaum und Flieder im Garten. Dann schrieb sie sehr schnell in ihrer winzigen Schrift, die sich fast runenartig ausnahm, den Brief zu Ende:

 

»Natürlich . . ., wenn man unsicher ist, drückt man sich möglichst heftig aus. Wenn ich irgendwas ernstlich glaubte, hätte ich nicht herzufahren brauchen. Und jetzt, hier auf dem Balkon des etwas schäbigen und altersschwachen Hotels, das einen verblichenen Glanz von lebensgroßen Fürsten-Fotografien her ausstrahlt (mit eigenhändiger Widmung und dem Zeugnis, daß der alte Fürst genau am 23. 6. 96 im Parkhotel vorzüglich gespeist hat, Mockturtle-Suppe als erstes natürlich) . . ., hier auf diesem Balkon begreife ich nicht mehr, was mich mit solcher Gewalt hergezogen hat.

Es ist alles hell, nüchtern und von einer, weil es Frühling ist, lieblichen Alltäglichkeit. Wer hier lebt, führt ein Leben ohne Hintergrund und Untergrund vor der grünen Kulisse des Heuberges, des Hirschfelsens oder des Nesselkopfes. Vielleicht, niemand (niemand?) hat mir ja befohlen, herzufahren, fahre ich genauso Hals über Kopf wieder weg, wie ich hergekommen bin. Die Gräber brauchen mich nicht. Für sie sorgt der Gärtner Bräutigam. Natürlich denkst Du wieder, dieser Name ist eine Erfindung oder Übertreibung von mir. Aber die Wirklichkeit ist erfinderischer als ich. Bräutigam ist nicht nur Friedhofsgärtner, sondern auch stellvertretender Totengräber, weil der amtliche krank ist. Und im übrigen gibt’s auch sonst noch allerlei gegenteilige Namen hier, die ich vergessen hatte. Der Konditor heißt Bitterlich. Der Kohlenhändler Kühl und Sohn, als ob so ein Sohn den unpassenden Namen wärmen könnte. Vielleicht also bin ich vor meinem Brief noch da, und Du kannst mich auslachen. Deine Marianne.«

 

Sie stand auf. Sie faltete das Blatt zusammen, steckte es in einen Umschlag, wollte ihn schließen, nahm den Brief noch einmal heraus und schrieb ganz schnell hinzu: »Kann aber auch sein, ich muß mich ausheulen.«

3

Als sie aus dem Wald herauskam und nun in den schmalen, stadtabgekehrten Friedhofsweg einbog, lag die Sonne scharf blendend auf ihrem Gesicht. Sie nahm die schwarze Brille aus der Handtasche und setzte sie auf. Hinter den Gläsern, die die Welt des Frühlings durch eine sanfte Trauerfarbe dämpften, fühlte sie sich sicherer.

Sie trug immer noch den leichten, halblangen Pelz, obwohl der Wind nachgelassen hatte und es ziemlich warm war. Hier auf dem schattenlosen Friedhofsweg war es sogar sehr warm. Merkwürdig, man ging doch unter Bäumen. Warum gab es keinen Schatten? Sie blickte auf. Wieder errötete sie, so daß die helle Haut aufflammte und die Sommersprossen der Stirn dunkler wurden. Natürlich: der Weg wurde ja von Akazien begleitet, deren Laub noch nicht herausgekommen war und die dicht vor der Blüte standen. Frau von Schellemarr ging schneller, so, als müßte sie den Akazien noch vor der Blüte entkommen.

Auf dem Friedhof nahm sie nicht den verschatteten Hauptweg, der hinüberführte zum »frischen« Teil des Friedhofs, sondern bog rechts ab. Gleich darauf stand sie vor dem Erbbegräbnis der Schellemarrs.

Der Engel, riesenhaft mit breiten, marmornen Flügeln, war gerade gereinigt worden. Kalkweiß leuchtete der Marmor über den alten Gräbern. Die Rechnung über dreiundfünfzig Mark und achtzig Pfennig trug sie in der Handtasche. Sie war der eigentliche Anlaß, wie man so sagt, hierherzufahren.

Links hinten, unmittelbar unter dem Engel, lagen Louis Freiherr von Schellemarr, Generalleutnant und Kammerherr, und seine Frau Louise, geborene Gräfin Chappron. Davor deren Sohn, Oberstleutnant Louis von Schellemarr, Hofmarschall beim Fürsten, gefallen bei Saint-Privat 1870, davor dessen Sohn, Oberstleutnant und Kammerherr Reinhold von Schellemarr, gefallen 1916 bei Verdun, davor deren beide Frauen, gestorben 1918 und 1922 (eine hatte Mann und Sohn, die andere nur den Mann zu betrauern, bevor sie hier zur Ruhe kam). Und hier vorn, vor ihren Füßen, lag Reinhold von Schellemarr, Rechtsanwalt, Rittmeister der Reserve a. D., Inhaber des Eisernen Kreuzes erster und zweiter Klasse, gestorben 1924, sechs Jahre nachdem er aus dem Krieg gekommen war, der seinen Vater im Alter von neunundsechzig Jahren genommen hatte und ihn verschonte, obwohl die Schellemarrs anstandshalber im Krieg zu bleiben pflegten und nie und nirgends Drückeberger gewesen waren.

Frau von Schellemarr legte den Kranz zurecht, den der Gärtner Bräutigam in ihrem Auftrage am Tage zuvor hier niedergelegt hatte, einen Kranz von gelben Rosen und weißen Strohblumen. Seit dreißig Jahren waren das die Maikränze, die Herr Bräutigam herstellte. Wer im Mai starb, bekam gelbe Rosen aus dem Treibhaus und weiße Strohblumen aus dem unerschöpflichen Vorrat auf dem Boden, und wer im Mai einen Kranz bestellte, der hatte eben auch gelbe Rosen und weiße Strohblumen zu nehmen.

Die Gräber waren übrigens tatsächlich, wie Herr Bräutigam versichert hatte, »tadellos gepflegt«. Der Efeu war gestutzt. Die Rosen, die die Steine umwuchsen, waren sauber geschnitten und mit Bast festgebunden. Die goldene Schrift auf den Kreuzen hatte man erneuert. Wie es schien, war der Maler bei seiner Arbeit unterbrochen worden. Denn auf dem Kreuz des Rechtsanwalts leuchtete nur der Vorname Reinhold in neuem Gold, und auch die Orden hatte man frisch bronziert. Familienname aber, Titel und Jahreszahlen lagen noch im Schatten.

Marianne fand jedenfalls nichts zu tun. Nicht einmal begießen konnte sie. Denn die Kanne war ordnungsgemäß und dem Paragraphen sechs der Friedhofsordnung entsprechend (»Der Bürgermeister, gez. Hollenbeck«) angeschlossen und der Schlüssel beim Friedhofswärter oder in dessen Behinderung bei seinem Stellvertreter gegen Ausweis abzuholen.

Witwen sind überflüssig, dachte Frau von Schellemarr. Sie sah schon, wie sie wieder eine Zeichnung für Melanie machen würde: eine Dame mit Eulenaugen, sieben Gräber, die Trauerweide, die hier, von drei Generationen gepflegt, zu gewaltigem Trauergehänge ausgewachsen war, die Steinkugeln, die alle vier Ecken der Grabstätte wehrhaft schmückten und durch stachlige Eisenketten miteinander verbunden waren, als sollten die Toten an diese Stätte gefesselt werden. Dazu die kleine Holzbank, weiß, mit grasgrünen Eisenbeinen und den Buchstaben v. S., damit nicht etwa ein anderer auf den Gedanken käme, sie zu Trauerzwecken auf sein eigenes Grab zu verpflanzen.

Einen Augenblick nahm Marianne Platz, schlug die Beine übereinander und zog den Rock etwas herunter. Gerade kamen ein paar ältere Herren vorbei, die, gebändigte Wehmut im Blick, die Beine der fremden Frau sorgsam prüfend betrachteten.

Es war alles scheußlich nüchtern und durchsichtig. Sie hatte hier nichts zu tun und kaum etwas zu fühlen. Mit einem Ruck stand sie auf, um endlich das »Eigentliche« zu unternehmen.

Sie ging schnell den Hauptweg hinunter. Die Trauerbäume streiften sie mit hängenden Ästen. Sie hätte auch mit geschlossenen Augen hingefunden. Vierhundert Schritte – dann mußte man rechts abbiegen. Fünfzig Schritte – dann kam die Mauer, die den Friedhof gegen den Sandsteinbruch abschloß. Richtig – da drüben sah man schon die Rundwipfel der vier hohen Akazien. Im scharfen Sonnenlicht entfalteten sie die schmalen Rispen der Blätter. Die Knospen hingen noch geschlossen wie winzige Trauben. Frau von Schellemarr ging durch ein Gebüsch von Schneeball, der gerade aufgeblüht war und ein wenig von seinem Schnee auf ihrem Haar abstreifte. Dicht neben einem großen Drahtgeflecht, in das man die verwelkten Kränze, die verwitterten Schleifen, die vermoderten Palmwedel, die verrotteten Wachsblumen und Perlkränze hineinwerfen sollte, das aber in dieser verlassenen Ecke leer stand, hier in der äußersten Ecke fand sie, was sie suchte: ein verlassenes, verrottetes Grab, von Unkraut überwuchert.

Eine einzige kleine Rose mühte sich, darauf fortzukommen. Ein einfaches schwarzes Marmorkreuz lag darauf, von Efeu übersponnen. Die Buchstaben leuchteten nicht mehr. Man hätte sich tief hinunterbeugen müssen, um sie zu entziffern. Aber Frau von Schellemarr las sie mit geschlossenen Augen: »Zum Gedenken an Friedrich von M.« Und darunter: »R.I.P.: Requiescat in pace.«

Sie stand und hörte, wie im Steinbruch die Drossel ihr Abendlied schlug. Die Meisen zwitscherten, die Rotkehlchen schilpten. Flatternd kam ein kleiner Zaunkönig angeschwirrt.

Er setzte sich auf den Efeu und sah die starre, bewegungslose Frau mit neugierigen blanken Augen an. Und jetzt schwirrte er erschreckt auf.

Denn die Frau war plötzlich niedergekniet. Fast fiel sie auf das Grab.

Sie legte das Gesicht in die Hände, die Hände in das Unkraut des Hügels. Die Brennesseln brannten. Die Butterblumen leuchteten gelb. Frau von Schellemarr weinte zum Gedenken an Friedrich von M.

4

Frau von Schellemarr spürte die Tränen durch die Finger rinnen. Sie hörte sich schluchzen, und schließlich hörte sie zu schluchzen auf. Die Erinnerung, die mit fast unerträglicher Gewalt ihr Herz gepackt hatte, verließ sie, ließ sie fast leblos zurück. Sie spürte das erst wie einen feinen Schmerz. Dann begann sie die Leere als wohltätig zu empfinden.

Sie richtete sich auf. Sie setzte sich auf den halbverfallenen Grabhügel wie auf eine Bank. Von dieser Stätte aus konnte sie das Drama sich noch einmal abrollen sehen. Und war es nicht vielleicht möglich – einen Augenblick hoffte sie das –, an den entscheidenden Stellen die Handlung zum Besseren zu wenden? Wenigstens für ihr Herz, das von den Erinnerungen wie von Ratten zernagt wurde.

Ja, wenn das nicht möglich sein sollte (so dachte sie erbittert), wozu dann überhaupt diese helle, wache, genaue Erinnerung, die sie ihr Leben lang geplagt und ihr nie gestattet hatte, im geringsten zu lügen. Selbst dort sagte sie sich die Wahrheit, wo fast alle lügen, in der Putz- und Flitterstube der Erinnerung, in der klägliche kleine Betrügereien als große Leidenschaften verkleidet werden, in der enttäuschte Männer sich als Helden kostümieren und abgewiesene Liebhaberinnen sich zu Asketinnen herausputzen.

Sie schüttelte ernst den Kopf. Nein, sie wollte nicht lügen. Das Drama war vollendet. Die Akteure, wenn sie noch einmal diese alte und so wenig veränderte Szenerie belebten, sie mußten nach dem gleichen Gesetz, nach dem das Drama aufgebaut war, nach dem Gesetz der Vergangenheit also, dasselbe tun, denken, handeln, das sie damals getan hatten. Wenn das aber so war, wozu dann die Qual, wozu dann die ganze Aktion? Sie konnte es jetzt nicht mehr beantworten.

Die Erinnerungen hatten sich lebendig gemacht, und das Spiel begann.

 

Die Bäume standen in vollem Laub, graugrün schon etwas. Denn es war Juli. Juli 1918. Die junge Frau von Schellemarr, sechsundzwanzig Jahre alt, war drüben am Erbbegräbnis gewesen. Vor ein paar Wochen hatte man Schellemarrs Großmutter begraben, einundneunzig Jahre alt. Der Hügel war noch frisch, und die junge Frau nahm die letzten verwelkten Kränze und ging mit ihnen in den leeren Teil des Friedhofs, damals noch nicht der »frische« Teil genannt, damals noch nicht von den Toten in Gebrauch genommen und als Wohnung erobert.

Sie ging, zwei welke Kränze über dem Arm. Das Drahtgeflecht im alten Teil des Friedhofs war übervoll. Denn man hatte fast jeden Tag Soldaten begraben, die an ihren Wunden im Lazarett gestorben waren oder von der Front hierher übergeführt wurden. Frau von Schellemarr stand jetzt unten am Wege, dort, wo er damals endete. Die Sonne blendete. Sie hatte die Augen geschlossen. Es war angenehm, lebendig zu sein, warm zu sein, die Sonne zu spüren, das rote Blut zu sehen, das in den Augenlidern pochte. Es war schön, allein zu sein. Das etwas staubige Hundsgras stach in ihre Strümpfe. Jetzt mußte sie gleich an der Mauer sein, über die sie die Kränze werfen wollte. Sie öffnete die Augen. Sie sah hier an der Ecke, ja hier, wo jetzt das Grab war, sah sie zum erstenmal Friedrich von M.

Er stand mit dem Rücken zu ihr. Er beugte sich und pflückte Blumen. Jetzt wandte er sich um und sah sie an. Er trug eine ziemlich zerschlissene Felduniform, graubraun von Regen und Schlamm, aber gut ausgewaschen und tadellos gebügelt. Ja, die Hosen hatten eine scharfe Bügelfalte. Das erinnerte sie etwas an ihren Mann, Reinhold von Schellemarr, von dem man behauptete, daß er sich vor einem Angriff die Nägel gestutzt und den Bart abrasiert hatte.

Jetzt erst erblickte Marianne sein Gesicht. Erst die Sonne und nun dieses Lächeln! War das eine täuschende Erinnerung? Borgte dies Lächeln seine verführerische, rührende Wärme, seine Herzlichkeit, seinen zarten Spott aus der später entdeckten Wärme des Herzens, aus dem späteren, herzlichen Lachen?

 

Frau von Schellemarr, die jetzige, sechsundvierzigjährige, erhob sich. Sie trat, als könnte sie damit die Frage beantworten, an den Platz, an dem sie damals stand. Ganz lebendig stand Friedrich von M. vor ihr, als wäre der schwarze Erinnerungsstein von seinem Grabe gehoben, stand vor ihr, dem Herzen nah und erfaßbar und nur mit den Händen nicht zu greifen. Sie ging auf die Sandsteinmauer zu. Sie lehnte sich gegen die rauhen Steine, die so besonnt waren, so warm wie damals, die sich überhaupt nicht verändert hatten. Ihre Hände hielt sie wie damals, hielt sie, als ob sie welke Kränze hielten, und in einem gespenstischen Nachhall des damaligen Tages warf sie die Schattenkränze über die Mauer. Sie wandte sich wieder zurück. Sie verwandelte sich wieder in die Erinnerte von 1918, in die Frau von damals.

 

Sie stand abwartend. Friedrich von M. hielt ihr den kleinen Strauß entgegen: Glockenblumen und Zittergras, kleine Grasrispen, an deren winzigen Stengelchen kleine, blütenbestaubte Herzen hingen. Er sagte: »Darf ich Ihnen das geben?« Sie antwortete: »Warum?« Er lächelte: »Ich hab’ mich nicht danach gefragt. Warum fragen Sie?«

Sie nahm den kleinen Strauß und stand unschlüssig. Er stellte sich dicht vor sie hin, nahm ihr den Strauß aus der Hand und steckte ihn ihr an den Gürtel, dicht unter dem Herzen. Frau von Schellemarr sah gespannt auf den Strauß hinunter, auf die Hände, die ihn befestigten, mit ein paar sicheren, geschickten, zarten Griffen.

Jetzt sah sie, wie die Herzen des Zittergrases unter ihren Herzschlägen zu schwingen begannen. »Auf Wiedersehen«, sagte Friedrich von M. Frau von Schellemarr antwortete nicht. »Warum schweigen Sie?« fragte der Mann.

Die junge Frau schüttelte verwirrt den Kopf. Sie strich mit etwas hilfloser Gebärde an ihrem Trauerkleid hinunter. Friedrich von M. sagte leise: »Trauern Sie wirklich so tief?« Und dann: »Warum klopft Ihr Herz dann so sehr?«

»Ich trauere gar nicht so sehr«, sagte Frau von Schellemarr. »Dies ist nur wegen einer ganz alten Frau.« Friedrich von M. nickte: »Und ich dachte Ihr Mann . . .« Er deutete auf seine Uniform: » . . . gefallen!«

Frau von Schellemarr sagte hart: »Was geht Sie das überhaupt an?« Friedrich von M. antwortete: »Es geht mich gar nichts an. Auf Wiedersehen.«

Damit wandte er sich um und ging schnell über die Grasnarbe, über den Weg, zögerte, kam zurück und sagte: »Verzeihen Sie . . ., hier geht mein Weg.« Er schwang sich mit einer Flanke über die Mauer und war verschwunden. Daran, daß die Stämme der Akazie ein wenig erzitterten, erkannte man, daß er den Abhang zum Steinbruch hinunterlief und sich dabei ein wenig an den Bäumen bremste.

 

Frau von Schellemarr, die jetzige, zog fröstelnd den Pelz zusammen. Denn ein Wind hatte sich aufgemacht, wehte über sie weg und sprang in die Akazienbäume, die sich zu neigen begannen, als stütze sich jemand im Hinablaufen gegen sie. Jetzt wandte sie sich schnell und lief über den »frischen« Teil des Friedhofs unter den Trauerbäumen hinweg und am Erbbegräbnis vorbei. Was gingen jene erbbegrabenen Toten sie an, nachdem sie einem wahrhaft lebendigen Toten wieder begegnet war?

5

Es war Abend. Frau von Schellemarr saß im Restaurant des Parkhotels. Sie hatte ihren breitrandigen Hut aufgesetzt und den Schleier zum Schutz so vorgezogen, daß er nur Lippen und Kinn frei ließ. Immer noch bediente der alte schleppfüßige Kellner Fritz. Immer noch versuchte er, sein kleines Hüftleiden durch besonders schneidige Bewegungen auszugleichen. Immer noch gingen seine kleinen schwarzen Mausaugen blitzschnell zwischen den Gästen hin und her. Nur die Neugier war aus ihnen gewichen. Fritz war nun an die Sechzig. Er hatte so viele Menschen bedient, daß es ihm nicht darauf ankam, wie der einzelne aussah, hieß oder was er war. Für ihn war ja sowieso nur wichtig, was der Gast bestellte. Fritz hatte seinen Garten vor der Stadt und beschäftigte sich seit zehn Jahren damit, schwarze Nelken zu züchten, was ihm bisher nicht gelungen war. Jedenfalls erkannte er Frau von Schellemarr nicht.

Oberamtsrichter Holzer, ein Freund ihres Mannes, erkannte sie auch nicht, und seine Frau, die an diesem Damenabend des Stammtisches zwischen ihm und dem Sanitätsrat Rommel saß, starrte nur deshalb empört herüber, weil Frau von Schellemarr rauchte und sich beim Rauchen kleine Tabakblättchen von den Lippen las. »Wer nicht rauchen kann«, sagte die Holzer, „soll’s bleiben lassen. Wenn ich die Regierung wäre . . .« Die Herren nickten flüchtig. Sie waren alle zufrieden, daß Frau Holzer nicht die Regierung war.

Frau von Schellemarr nahm vorsichtig ihren kleinen Handspiegel aus der Tasche. Sie mußte ihr Gesicht studieren. Sie mußte wissen, ob sie ebenso aufgedunsen war wie die Frau Oberamtsrichter, ebenso eingefallen wie Frau Stadtdirektor Trapp, ebenso gefältelt wie Frau Sanitätsrat Rommel, die doch alle einmal ganz hübsche Frauen gewesen waren. Wenn man täglich mit sich selbst umgeht, merkt man ja nicht, wie die Zeit das Gesicht umformt.

Sie holte aus ihrer Handtasche das kleine Leporello-Album mit den Fotografien ihrer Familie hervor und entfaltete es. Da waren die drei C, Claus, Clemens und Clara, ihre Kinder, und sie, Marianne, war in ihrem Aufwachsen und Großwerden mitfotografiert.

Sie verglich ihr Spiegelbild mit den Bildern von damals. Natürlich: auch sie hatte sich verändert. Das Gesicht von 1938 war nicht das Gesicht von 1918. Manche Linie war ausgewischt. Das zarte Tal zum Beispiel zwischen Stirn und Brauen war ausgefüllt. Aber andere Linien, die spöttisch-heitere Linie des Lächelns um den Mund, die Linie des Stolzes zwischen Hinterkopf und Nacken, waren klarer und freier geworden. Es war kein anderes Wesen zum Vorschein gekommen, sondern nur das gleiche Wesen hatte sich entwickelt. Dieselbe Frau, die damals ihre Kinder erzogen, ihren Haushalt geführt und ihre Einsamkeit ertragen hatte, die gleiche Frau mit den dunkelbraunen Haaren und den sehr hellen Augen (Meer-und-Watt-Augen, Möwen-Augen, Wald-Augen hatte sie Friedrich von M. genannt), die gleiche Frau saß hier am Tisch, und gegen die alten Damen da drüben, die gleichen Alters waren mit ihr, war sie eine junge Frau. Warum?

Friedrich von M. hatte ihr oft merkwürdige Sprüche gesagt, von denen er behauptete, sie seien chinesische Weisheitssprüche oder persische Dichtererkenntnisse. Erst viel später hatte er ihr gestanden, daß es seine eigenen Sprüche waren, die er mit etwas Patina versah, um ihnen eine größere Autorität zu verleihen. Weisheit wird nie gern genommen, hatte er behauptet. Aber Weisheit von gestern immer noch eher als Weisheit heutiger Menschen.

Einer der Sprüche jedenfalls lautete:

Leiden hat sie gegerbt,

Leid hat sie verjüngt,

Schmerz war ihre Nahrung,

Schmerzen machten sie schön.