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KATRIN BÖNING

WIE
HANNIBAL.

NUR
OHNE

ELEFANTEN

MEINE ABENTEUERLICHE
TRANSALP MIT
DEM MOUNTAINBIKE

DELIUS KLASING VERLAG

 

 

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EINLEITUNG

TAG 1
DAS ERSTE MAL

TAG 2
»WANDERTAG«, ALSO QUASI EIN RUHETAG? NA JA.

TAG 3
HINTEN WIRD DIE ENTE FETT!

TAG 4
IT´S »SCHMANKERL«-TIME

TAG 5
DIE NIEMALS VERSIEGENDE FLEISCHQUELLE

TAG 6
EINE SCHNAUBENDE MOUNTAINBIKE-KOLONNE

TIPPS VOM PROFI
IM GESPRÄCH MIT BIKE-GUIDE LISA STEFFELBAUER

DER MENSCH LERNT AN SEINEN GRENZEN

FRAUEN SIND ANDERS – AUCH BEIM MOUNTAINBIKEN!

1.000 WEGE FÜHREN ÜBER DIE ALPEN

PACKMEISTER

MUSKELN, HERZ-KREISLAUF, KOPF: FIT FÜR DEINE ALPENÜBERQUERUNG!

ERNÄHRUNG

SCHÖNE NATUR – GEWALTIGE NATUR!

WAS ICH GERN VORHER SCHON GEWUSST HÄTTE …

 

 

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Seit fünf Jahren versuchte man mich bereits davon zu überzeugen, dass eine Transalp, cooler ein Alpen-X, genau das Richtige für mich sei. Fünf Jahre lang fand ich mehr oder weniger geschickte Ausreden und Ausflüchte. Mal war es das schmerzende Knie, im nächsten Jahr der zeitraubende Job. Einmal sagte ich motiviert zu und Monate später kleinlaut wieder ab. Es war ein ständiges Hin und Her, ein Yin und Yang in mir mit dieser Alpen-Cross. Warum das so war? Ich habe es mir einfach nicht zugetraut! »Die anderen sind bestimmt wesentlich fitter!« (Waren sie dann auch – aber das machte gar nichts.) – »Ich weiß nicht, wie ich trainieren soll!« – »Ich halte bestimmt nur alle auf und werde deswegen gar keine Freude an der Tour haben!« Das waren meine Glaubenssätze. Das war meine innere Überzeugung. Selbstwirksamkeitserwartung nicht existent!

In diesem Jahr will ich es besser machen und es endlich durchziehen. Aber was hat sich eigentlich inzwischen verändert? Definitiv ist er da, der berühmte »Klick« im Kopf. Ich habe einen Schalter umgelegt. Ich glaube daran, dass ich es schaffe und habe ständig das imposante Panorama der Dolomiten vor meinem inneren Auge! Den weiten Blick über die Berge. Und natürlich auch das leckere Essen. Ich visualisiere und antizipiere die schönen Momente der Tour. Ich vertraue meinem Körper und darauf, dass er mich mit der richtigen und insbesondere strukturierten Vorbereitung mehr oder weniger spielerisch über die Alpen tragen wird. Ich bin bereit, Zeit zu investieren und hart zu trainieren. Ich packe es an, und ich werde es packen!

So etwa war der Stand im Frühjahr 2016. Es hat dann auch wunderbar geklappt und war eine unglaublich schöne Erfahrung, von der dieses Buch noch ausführlicher erzählen wird. Das Ausarbeiten der knappen, dafür ziemlich emotionalen Notizen hat etwas gedauert, und dann wollte ich ja auch ein paar wichtige Informationen zur richtigen Herangehensweise dazu stellen. Damit nicht nur hoffentlich ansteckende Begeisterung rüberkommt, sondern auch ein bisschen handfestes Knowhow. Etwas Vorwissen senkt die Hemmschwelle nämlich auch. Darüber ging dann ein weiteres Jahr ins Land, mit einem weiteren Sommer. Und, was soll ich sagen? Es war ein Sommer mit einer weiteren Alpenüberquerung. Was wiederum dem Knowhow in diesem Buch zugutegekommen ist.

Im Nachgang lässt sich noch ergänzen, dass ein intensives Training in Vorbereitung auf eine Alpenüberquerung toleranter Familienmitglieder und Freunde und, ja, sogar toleranter Geschäftspartner und Kunden bedarf. Sätze wie »Du radelst ja nur noch«, beziehungsweise »Kati, machst du eigentlich auch noch irgendetwas anderes außer radeln?« oder der Klassiker: »Du bist doch verrückt!« kamen insbesondere von Seiten der nicht so radsportaffinen unter meinen Freunden gern mal über den Tisch geflogen, waren aber immer mit einem zwinkernden Auge gemeint. Gut so. Danke für euer Verständnis.

Was Kundentermine betrifft, so wurden sie meinerseits wenn irgend möglich so gelegt, dass abends noch eine kurze Tour machbar war. Und die Familie bekam mich sowieso nur noch nach den Trainings zu Gesicht. Sagt sie. Stimmt aber gar nicht. Also jedenfalls nicht ganz.

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Selbst die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Naja, oder mit dem ersten Foto.

Es ist 5:45 Uhr. Der Wecker klingelt. Der Klingelton erinnert mich an meine Uni-Zeit. Ich habe ihn seither nicht verändert, obwohl die schon eine Weile zurückliegt und er mir schon damals ein Gräuel im Ohr war. Ich bin offensichtlich ein Meister der Prokrastination. Aber das ist für heute die falsche Strategie: Raus aus den Federn! Ich habe kaum geschlafen. Bis in die späten Abendstunden hinein wurde der Rucksack etliche Male umgepackt. Die wasserdichten Socken wurden ein- und wieder ausgepackt, Wetterberichte immer wieder abgefragt, letzte Whatsapp-Nachrichten in die Gruppe versandt. Der Bauch grummelt, aber Hunger habe ich keinen – ich bin aufgeregt. Sehr sogar. Heute soll es tatsächlich losgehen. Heute ist der 27. Juli und ein Sonntag. Seit Anfang März trainiere ich für das, was mich in den kommenden sechs Tagen an Höhenmetern, Streckenkilometern und traumhaften Bergpanoramen erwarten wird.

Um 6:55 Uhr sitze ich pünktlich und in voller Montur auf meinem Rad, übrigens ein Hardtail. Fünf Minuten sind es nur bis zum Treffpunkt, der Gerner Brücke in München. Hier treffe ich Andrea und Alexis, um mit ihnen gemeinsam zum Hauptbahnhof zu rollen. Die beiden haben ihre bezaubernden Töchter gut bei den Großeltern untergebracht und sind der lebende Beweis dafür, dass man trotz Familienleben und den daraus entstehenden Verpflichtungen Zeit für das Training finden und sich im Sport verwirklichen kann. Alexis ist ein ganz besonderes Exemplar von Mountainbiker. Er prägte den Begriff »Schmankerl«, aber hierzu später mehr. Am Bahnhof unter der Anzeigetafel wollen wir Markus und Vaso treffen. Und richtig: Da stehen die beiden.

Markus ist der Mann einer lieben Kollegin und Freundin. Für ihn ist die Alpenüberquerung mit dem Mountainbike eine alte Bekannte. Elfmal ist er bereits zum Gardasee geradelt. Seinen Überredungskünsten und seinem niemals enden wollenden Optimismus in Bezug auf meine Ausdauerleistungsfähigkeit habe ich den ganzen Trip überhaupt zu verdanken. Er hat mir immer wieder versichert, so eine Alpenüberquerung sei locker zu schaffen und ich wäre definitiv fit genug. In der Vorbereitungszeit sind wir gemeinsam unzählige Tagestouren gefahren, er kennt meine Stärken und Schwächen, und ohne seinen Zuspruch würde ich jetzt definitiv nicht hier unter der Anzeigetafel stehen.

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Vaso kam ebenfalls durch Markus in die Gruppe. Seine Yogastunden sollen der absolute Hammer sein, er ist ein guter Tänzer und im echten Leben macht er irgendwas mit Zahlen. Das ist alles, was ich zu Beginn der Tour über ihn weiß, und am Ende dieses ersten Tages werde ich durch ihn eine wichtige Lektion lernen.

Mit dem Zug fahren wir in knapp zweieinhalb Stunden die rund 150 Kilometer von München nach Jenbach ins Zillertal. Hier sind wir mit dem Rest der illustren Truppe verabredet – Klaus und Flo stoßen aus Innsbruck dazu.

Klaus ist im Herzen Rennradfahrer, er liebt den Asphalt. Wenn’s ihn packt, fährt er mit seinem Renner schon mal an einem Tag von München nach Torbole. Technische Mountainbike-Abfahrten sind dagegen nicht so sehr seins. Das bekommt dann auch jeder mit. Seinen Sarkasmus richtet er auch mal gegen sich selbst und sorgt damit bei mir immer wieder für größte Erheiterung.

Flo ist unser Nesthäkchen, topfit und unkompliziert. Er ist noch mitten im Studium, und seine Freundin ist mit ihrem Pferd über die Alpen geritten. Ich bewundere sie dafür und lasse auf der Tour keine Gelegenheit aus, ihn dazu zu befragen.

Dank Markus´ grandiosem Netzwerk kommen wir auch noch in den Genuss einer vormittäglichen »Leberkassemme«, bevor es bei bestem Wetter und weiß-blauem Himmel dann tatsächlich so weit ist. Plötzlich geht alles ganz schnell: Noch mal kurz auf die Pipibox, Sonnencreme auftragen, Rucksack aufsetzen, Sattelhöhe der Einrollphase auf Asphalt anpassen und los. Über Monate fieberte ich diesem Moment entgegen, und mit einem Mal bin ich mitten drin im Abenteuer Alpencross.

Vom »weiß-blauen Prunk-Baldachin der Gemütlichkeit«, wie der bayrische Literaturwissenschaftler Carl Amery die vermeintlich behäbig-gemütliche Grundstimmung von uns Bayern beschreibt, ist plötzlich wenig zu spüren: In rasantem Tempo fahren wir die ersten noch ebenen Kilometer in Richtung Mayerhofen. Vorn geben Alexis, Flo und Klaus das Tempo vor. Das ist echt schnell, ich tue mich schwer, da mitzuhalten. Unter »Einradeln« habe ich mir ehrlicherweise etwas anderes vorgestellt. Zweifel flackern in mir auf. Geht das jetzt die ganze Woche so weiter? Vielleicht bin ich doch nicht fit genug? Vielleicht hat Markus mich einfach überschätzt? Ich bin mir sicher, dass ich dieses Niveau nicht über eine ganze Woche durchhalten kann. Meine Oberschenkel brennen, der Rucksack fühlt sich viel zu schwer an, und meine Lunge findet, sie bekäme zu wenig Luft. Hinter mir fällt Vaso immer weiter zurück. Ich denke daran, aufzugeben.

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Kletterparadies, Naturoase, Wasser- und Energiereserve: Der Schlegeisspeicher im Zillertal hat viele verschiedene Gesichter.

Dann der erste Anstieg zum Schlegeisspeicher, einem Stausee im Zillertal auf 1.800 Metern Höhe. Das Kopfkino hat mit einem Mal ein Ende – ich muss mich aufs Radeln konzentrieren und mich bewusst am Riemen reißen, mein eigenes Tempo zu fahren. Auch wenn das bedeutet, dass ich Alexis, Andrea, Klaus, Flo und Markus schon bald nicht mehr sehe. Lustigerweise entspannt mich das. Der Druck ist plötzlich weg. Ich habe meinen Tritt und damit auch mein Selbstbewusstsein wiedergefunden. Positive Gedanken kommen zurück. Jetzt freu ich mich auf die kommenden Tage! Hinter mir schiebt Vaso sein Rad.

Die 13,3 Kilometer lange Alpenstraße führt durch diverse einspurige Natursteintunnel, vorbei am Wesendle-Wasserfall zum beeindruckenden smaragdgrünen Schlegeis-Stausee. Die Serpentinenstraße ist auch bei Motorradfahrern äußerst beliebt; das laute Knattern ihrer Maschinen ist der gut hörbare Beweis und geht mir etwas auf den Geist.

Zusammen mit der imposanten Staumauer mit 131 Metern Höhe ist der Stausee ein äußerst beliebtes Fotomotiv. Auch ich muss, zum Leidwesen meiner Mitradler, diese grandiose Fotokulisse nutzen. Zuerst ein Selfie auf der Staumauer, dann Kati mit Rad, Kati ohne Rad – Markus ist ein ausgesprochen geduldiger Auftragsfotograf. Hier hat seine liebe Frau beste Vorarbeit geleistet; ich kenne nicht viele Männer, die so viel Verständnis mitbringen.

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Ist die verblockte Stelle nur kurz, dann reicht die einfache Tragetechnik am Sattel völlig aus. Andernfalls tut´s bald weh.

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Nach dem Shooting finden wir die anderen am Kiosk bei Pfannkuchen-Suppe und Pfirsichkuchen vor. Eine willkommene Stärkung, die wir uns auf keinen Fall entgehen lassen können. Dass Vaso nahezu verstummt ist und sehr in sich gekehrt seinen Kuchen zu sich nimmt, nehme ich zwar war, mache mir aber weiter keine Gedanken dazu. Zu sehr bin ich mit mir selbst und meinem Essen beschäftigt.

Noch ein Kaffee, dann geht es weiter in Richtung Pfitscher-Joch. Jetzt lassen wir auch den Stausee mit seinen vielen Motorrädern und Bustouristen hinter uns. Es dauert ein wenig, bis ich richtig begreifen kann, dass wir wirklich unterwegs sind und nicht abends wieder nach München zurückfahren müssen. Wir radeln vom Schlegeisspeicher parallel zum wilden Zamser Bach durch den Zamser Grund, vorbei an der kleinen Lafitzalm (auch Rotmoosalm genannt) auf etwa 2.100 Metern Höhe. Hier wäre eine Einkehr möglich, für uns geht es aber direkt hinauf zum Joch.

Oberhalb der Baumgrenze schrauben wir uns durch die beeindruckende hochalpine Welt immer weiter nach oben. Karge Wiesen liegen zwischen schroffen, bizarren Felsformationen. Wilder Thymian säumt den Weg und duftet fantastisch. Wir genießen die traumhafte Aussicht über das grüne Pfitschertal, die warme Sonne und die trotzdem erstaunlich frische Luft.

Ich verliebe mich in die »grünen Steine« der Region und komme aus dem Staunen über die Landschaft gar nicht mehr heraus. Also muss Markus wieder und wieder mit meinem Smartphone bewaffnet für mich den Fotografen spielen. Nach unserer Rückkehr recherchiere ich, wie es zu der reizvollen, fast neonfarben anmutenden Grünfärbung kommt. Nachdem ich in den einschlägigen Suchmaschinen nicht fündig werde, versuche ich mein Glück beim Tourismusverband der Zillertaler Alpen. Dort gibt man mir die Nummer von Willi Seifert. Der freundliche Geograf arbeitet für den Naturpark Zillertaler Alpen und kann mir sofort sagen, wie die Steine grün werden. Verantwortlich für diese Farbexplosion sind Flechten mit einem etwas eigenwilligen Namen: sogenannte Landkarten- oder Geographenflechten, eine Pionierart, die sich auch im Gletschervorfeld rasch wieder ihren Lebensraum sichert, wenn das Eis schmilzt.

Wie auch ich (dazu später mehr) ist die Landkartenflechte eine Schnecke. Sie wächst je nach Standort pro Jahr nur 0,25–0,6 mm radial nach außen und kann ein Alter von über 1.000 Jahren erreichen. Somit können Geographen anhand der Landkartenflechte den Rückgang von Gletschern datieren. Ist die Wachstumsrate an einem Standort erst einmal bekannt (Beobachtung), kann anhand der größten Exemplare das Ende der letzten Eisbedeckung berechnet werden. Ich finde diese Informationen zur Natur in den Bergen faszinierend und spannend. Mein Freund lacht mich deswegen aus.

Weiter oben wird der Weg steiler, verblockt und steinig. Man muss streckenweise auch mal schieben oder tragen. Bei dieser Gelegenheit merke ich, dass ich das Tragen meines Rades nie gezielt ausprobiert habe, ganz zu schweigen vom Üben. Ein Fehler! Markus erklärt mir, wie er es macht, aber für seine Taktik ist mein Körper offensichtlich etwas zu zwergenhaft gebaut – ich bleibe ständig an irgendwelchen steinernen Stufen hängen. Er erklärt mir eine zweite Variante, bei der man das Rad über Kopf hievt und auf dem Rucksack ablegt. Für diese Variante fehlt mir dann allerdings das Vertrauen in meine Muskelkraft.

Ich improvisiere also und entdecke, dass es sich nahezu perfekt anfühlt, wenn ich die Sattelspitze auf den Träger des Rucksacks platziere und mit der Hand das Unterrohr greife. Grandios! Mit dieser einfachen Tragetechnik und kleinen Schritten wandere ich dem heutigen Etappenziel entgegen. Die uns entgegenkommenden Fußgänger sind mitunter zwar verwundert, aber immer freundlich, und manche haben sogar aufmunternde Worte zur verbleibenden Wegstrecke parat. Von einem Mountainbike-Hass ist hier definitiv nichts zu spüren. Überhaupt habe ich selbst von dem Zwist zwischen Bikern und Wanderern noch nie etwas mitbekommen. Wenn man verantwortungsvoll Rad fährt, sich rechtzeitig und freundlich bemerkbar macht und dann mit einem netten Gruß und einem Lächeln vorsichtig den Wanderer passiert – wer soll da schon grantig werden. Ich denke, es ist wie so oft: »Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus«.

Vor etwa 150 Jahren entdeckte der Alpinismus das Gebiet des heutigen Naturparks Zillertaler Alpen und prägt ihn bis heute mit zahlreichen wunderbar urigen bewirtschafteten und unbewirtschafteten Schutzhütten, Höhenwegen und Gipfelanstiegen. Ein besonders schönes und ebenso prägendes Element der Naturparkregion sind die vielen Almen, die im Sommer zur Viehwirtschaft und Käseherstellung genutzt werden. Die Almbauern tragen ihren Teil zum charakteristischen alpinen Landschaftsbild bei, indem sie die Landschaft pflegen und offenhalten. Durch die Beweidung der hochgelegenen Flächen werden Hangrutschungen verhindert und eine Verwaldung verzögert, was auch dem Tourismus in die Karten spielt. Denn auch der Bergtourist liebt das heutige alpine Landschaftsbild mit den grünen Almen.

Die Weiden werden durch den Kot der Tiere gedüngt, und interessanterweise ist die Artenvielfalt auf den so bewirtschafteten Almwiesen höher als auf den nicht bewirtschafteten. Die Bergbauern produzieren fast ausschließlich Heumilch, verarbeiten sie zu hochwertigen nicht-industriellen, naturnahen Produkten und verzichten auf Silofutter und Gentechnik. Die glücklichen Kühe fressen im Sommer Gräser und Bergkräuter, im Winter das von den Bergbauern selbst eingebrachte Heu, das diese in mühevoller Arbeit in sogenannten Tristen aufschichten. Dieses Heu duftet lecker und schaut auch ganz anders (nämlich grüner) aus als das Heu, das ich vom heimischen Reitstall kenne.

Mein linkes Knie zickt. Dieses Gezicke kenne ich von der einen oder anderen Trainingsfahrt und erinnere mich daran, dass es Entlastung schafft, wenn ich den Sattel etwas höher stelle. Tatsächlich – der Schmerz verschwindet. Eine schmerzstillende, entzündungshemmende Salbe, deren Namen wir alle kennen, habe ich dabei, und eine ausgiebige heiße Dusche wird die Muskulatur rund ums Kniegelenk lockern. Also entspanne ich mich wieder und genieße die Anstrengung, denn es fehlen nur noch wenige Höhenmeter, dann sind wir in Italien. Eine entgegenkommende, profihaft ausgemergelte Bikerin spürt meine Strapazen und weist mich darauf hin, dass mein Sattel zu hoch sei und ich mich so noch schwerer täte. Dabei ist die Sattelhöhe gerade mein geringstes Problem. Ich überlege, ob ich mich über diesen gut gemeinten, dennoch überflüssigen Ratschlag innerlich entrüsten soll, entscheide mich dann aber gezielt dagegen. Diese Spezies, die ungefragt ihren Senf zu allem abgeben muss, scheint in allen Sportarten beheimatet zu sein, und es ist meine Sache, wie viel gedanklichen Raum ich übergriffigen Ratschlägen zugestehe. Also lege ich ein neutrales Grinsen auf und kämpfe mich mit einem »Guter Tipp – danke!« an der drahtigen Beraterin vorbei.

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Die Zillertaler Alpen sind reich an Kristallen. Leider habe ich keinen gefunden – war von der rauen Schönheit der Natur abgelenkt.

Am Pfitscher Joch verläuft nicht nur die österreichisch-italienische Staatsgrenze, das Joch trennt vor allem auch zwei unterschiedliche Landschaften. Es ist beeindruckend, wie unterschiedlich die Vegetation und die Felsformationen im kargen Hochtal einerseits und dem südlich exponierten Berghang andererseits sind.

Nahe am Joch, aber bereits auf italienischer Seite, liegt das Pfitscher-Joch-Haus mit seinen roten Fensterläden und einem riesigen Radabstellraum für bis zu 30 Mountainbikes. Man sieht sofort, dass das Pfitscher Joch für Mountainbiker ein wichtiger Übergang auf ihrem Weg über den Alpenhauptkamm ist.

In den kleinen Jochseen spiegeln sich der Himmel, die Berge und die untergehende Sonne. Hinter dem Haus grasen ein paar »glückliche Kühe«.

Abgekämpft wie ich bin räumt Markus mein Bike in den Radkeller. Ich beziehe ein Einzelzimmer und gehe endlich unter die lang ersehnte heiße Dusche. Als ich zum Essen herunterkomme, sitzen die anderen bereits um den Tisch beim ersten Getränk. Nur Flo fehlt. Sein Magen rebelliert. Durchs Fenster sieht man, wie der Sohn der Gastgeberfamilie wie jeden Tag die hölzerne Marienstatue aus der kleinen Kapelle ins Haus hinein holt, um sie vor der Witterung zu schützen.

Jetzt erst realisiere ich, wie sehr Vaso den Tag über gekämpft hat. Er hat eine Entscheidung getroffen – die Würfel sind gefallen. Er wird seine Alpenüberquerung nach dem heutigen Tag beenden und morgen von Sterzing mit dem Zug nach München fahren. Eine starke Entscheidung. Stark? Möglicherweise ist jemand verleitet, sie einem »Aufgeben« gleichzusetzen, aber mich hat Vaso mit seinem Entschluss wirklich beeindruckt. Entschlusslosigkeit sehe ich, nicht nur an mir selbst, viel zu häufig. Entschlusslosigkeit macht passiv, zögerlich und zaudernd. So mancher vertraut seinem Gefühl nicht, oder trifft aus Angst vor einer falschen Entscheidung lieber gar keine. Er plagt sich mit der Entscheidungsfindung herum und muss dann erleben, dass andere über ihn bestimmen. Vaso ist anders. Er besitzt die Fähigkeit, sich klug zu entscheiden. Er lässt sich nicht abbringen und ist sich absolut sicher. Das ist unbedingt zu bewundern. Und für mich eine Erinnerung daran, öfter mal auf mein Gefühl zu hören und getroffene Entscheidungen notfalls auch vor anderen zu verteidigen.

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Unbedachtes Herumfuchteln kann als Bedrohung missverstanden werden. Zwischenfälle mit Kühen in den Bergen beruhen fast immer auf Verhaltensfehlern des Menschen.

ÜBER NACHT: PFITSCHER-JOCH-HAUS