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Celeste Ealain

Der Schicksalsträger - Seelenbruch


Dieses Buch enthält Passagen, die für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet sind! Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Dieses Dokument ist doppelt urheberrechtlich geschützt!


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Danksagung

Diesmal muss ich dem Schicksal selbst Danke sagen. Denn es hat mich auf harte Weise gelehrt, die Dinge, die einem geschenkt werden, mehr zu schätzen, den Prüfungen des Lebens mit erhobenem Haupt zu begegnen und die stillen Tränen ohne Gesellschaft zu vergießen.

 

Menschen treten tatsächlich nur aus drei Gründen
 in unser Leben:

als Prüfung,

als Strafe oder

als Geschenk.

Die Kunst ist es, relativ rasch zu erkennen, in welche Kategorie die Menschen fallen.

 

Und zuletzt danke an Zoe. Ohne dass es ihr womöglich bewusst ist, hat sie durch ihren Glauben an mich und
meine Storys wieder Leidenschaft zum Schreiben in mir geweckt, die ich so dringend benötigt habe.

 

In diesem Sinne, viel Spaß bei Teil 2 der zu wahren Fantasystory.

Prolog

Gänsehaut durchfuhr sie, als diese vertrockneten, alten Hände nach ihr packten, als würde es ums Überleben gehen.

„Hör mich an! Hör mich an, mein Kind! Es geht um deine Seele“, krächzte diese verzweifelte Stimme.

„Wow, wow, schön langsam. Lassen Sie die Finger von ihr!“, hörte sie Marcel neben sich sagen, der alles daran setzte, Cattleya aus dem festen Griff, den man dieser hageren Frau partout nicht zugetraut hätte, zu befreien. Doch alles, wozu Cattleya in der Lage war, war, diese trüben Augen zu fixieren. Die Iriden ließen keinen Rückschluss mehr auf eine Farbe oder ein Pupillenspiel zu. Nur rauchige Wolken schmiegten sich über einst sehende Sinne und ließen weise Gedanken dahinter erahnen. Diese Frau musste eindeutig blind sein.

„Warte, Marcel. Ich glaube, sie will mir nichts tun“, verteidigte Cattleya die Fremde, die ihnen in einer Seitengasse des Praters entgegengestürmt war. Es schien sich um eine Zigeunerin zu handeln, da sie einen verwaschenen dunklen Rock trug, über dem ein weinrotes Tuch gewickelt war, mit kleinen glänzenden Pailletten an den Enden, die charakteristisch für alle Klischees daran baumelten und klimperten. Darüber ein schwarzes langärmeliges Top, das von bunten Flicken zusammengehalten wurde. Ein mit Blumen gemustertes Kopftuch bändigte die grau melierte Haarpracht und die Haut hatte gewiss noch nie Kosmetikartikel außerhalb des Topfes von Mutter Natur genossen. Die Frau wirkte so klein, dass es Cattleya ein Bedürfnis war, sich ein wenig zu ihr hinab zu lehnen. Ihr Instinkt sagte ihr, es gebe eine Botschaft, die sie nicht verpassen sollte.

„Dass sie dir nichts tun will, glaube ich gerne, aber für deine Geldbörse würde ich nicht garantieren“, konterte Marcel und ging in seiner Beschützerrolle auf, indem er den Griff der Zigeunerin um Cattleyas Arm löste und sich zwischen die beiden stellte.

Nun wurde die Frau weinerlich und flehte weiter in Cattleyas Richtung. „Bitte hör mich an, du arme Seele. Es ist wichtig. Ein Schicksalsträger hat dich beraubt und du wirst nie wieder Frieden finden, wenn du nicht auf mich hörst.“

„Ja, genau. Und diesen speziellen Ratschlag gibt es für nur großzügige dreißig Euro. Nein, danke, wir verzichten. Aber wir sind gewarnt und ich glaube, wir können das Böse gewiss auch zu zweit abwehren“, scherzte Marcel und zwinkerte Cattleya bei einem kurzen Blick über seine Schulter zu. „Hab’ ich nicht recht, mein Schatz?“

Doch Cattleya befiel eine dunkle Vorahnung, die sich einfach nicht abschütteln ließ.

Was meint diese alte Dame bloß?

Und was ist ein Schicksalsträger?

1 | Blinde Ignoranz

„Hey, schon wieder keine Zeit für ein gesundes Frühstück?“, rief Marcel vor sich hin, weil er wusste, Cattleya würde es bis ins Schlafzimmer hören. Und als ob man vom Teufel sprach, lief sie etwas gehetzt aus dem angrenzenden Raum zum hübsch dekorierten Tisch, um sich beim Weg zur Küchenspüle noch ein frisches Croissant von Marcels Teller zu klauen.

„Ich wusste, dass ich nicht viel davon haben würde“, seufzte er mehr amüsiert als ernst, als sie sich ungeduldig ein Glas aus der Abtropfvorrichtung nahm, mit kaltem Wasser füllte und es in einem Zug austrank. Cattleya hatte sich bereits zum Gehen vorbereitet und wie jeden Morgen würde er sie nicht lange halten können. Marcel beobachtete mit Argusaugen, wie sie ungalant ein Riesenstück von ihrer Beute biss. Ihr rasches Schlucken und das genießende „Mmmh!“ waren unüberhörbar. Marcel musste schmunzeln, als sie sich erneut von der Spüle aufmachte, in seine Richtung jagte und ihm mit halb vollem Mund noch einen Kuss auf die Lippen drückte.

„Okay, ich hab mich geirrt, die letzten Überreste lässt du mir natürlich da“, scherzte er. Rasch schnappte Marcel sich ihr rechtes Handgelenk, bevor sie wie jeden Morgen ins Vorzimmer rauschen, ein Chaos beim Schuhregal hinterlassen würde und die Wohnung verließ, um sich in der Arbeit einzuloggen.

„Stopp, mein Fräulein, hast du nicht noch etwas vergessen?“ Cattleya hielt inne und sah ihn mit großen Rehaugen verdutzt an.

„Ähm … ich steh’ gerade auf der Leitung? Muss ich heute etwas besorgen oder kommt jemand zu Besuch und ich muss schon früher wieder hierherkommen?“

Wenn sie das so sagte, schmerzte es kurz in der Brust, denn trotz der glücklichen Zeit zusammen war Cattleya noch immer nicht bereit, dieses Heim als ihr gemeinsames anzuerkennen. Sie wollte ihre viel zu klein geratene ‚Zwischenlösung‘, wie sie sie selbst abwertend titulierte, einfach nicht aufgeben und fix zu ihm ziehen.

Marcel zog ihre Hand an sein Gesicht, um zärtlich einen Kuss darauf zu setzen. Das reichte aus, um bei ihr den gestressten und fragenden Ausdruck in ein breites Lächeln und rosafarbene Wangen zu verwandeln. Er liebte es, sie so strahlen zu sehen. Es gab ihm das Gefühl, zumindest etwas richtig zu machen, auch wenn er hier und da den Eindruck hatte, nicht ganz bis in die hintersten Ecken ihrer Persönlichkeit vorzudringen. Cattleya hielt noch immer etwas im Verborgenen vor ihm.

„Nein, aber du hast vergessen, deinem hochgradig engagierten Lover, talentierten Koch und Hobbymasseur einen herzerwärmenden Abschiedskuss zu geben, der ihn den Rest des grauen Arbeitsalltages besser überstehen lassen würde.“ Er ließ kokett die Augenbrauen springen in dem Wissen, dass sie nun laut auflachen müsste. Und so war es. Ihr Lachen war nicht zu überhören. Leise Emotionen auszudrücken oder durch die Wohnung zu schleichen, gehörte nicht zu ihren Talenten. Aber genau dafür liebte er sie.

„Aaahhh, Hobbymasseur?“, wiederholte Cattleya mit einem keck hochgezogenen Mundwinkel.

„Mindestens. Du solltest erleben, wie ich massiere, wenn ich mal so richtig in Fahrt komme.“ Marcel ließ sie nicht aus den Augen. Er genoss jede Sekunde mit ihr und war so froh, dass letztendlich ihre Wege zueinandergefunden hatten und er nun eine Beziehung mit ihr führen konnte. Denn diese nackten Wände hatten ihn so lange an seinen harten Verlust erinnert und Cattleya brachte wieder Farbe und Wärme hinein.

Sie umfasste zärtlich sein Gesicht und küsste Marcel auf eine langsame, innige Weise, die ihn jedes Mal schwach werden ließ. Cattleya wusste, dass sie ihn damit um den Verstand brachte und er sich für eine längere Zeit nicht auf etwas Sinnvolles konzentrieren konnte. Er öffnete die Augen und sah sie frech grinsen und erkannte, dass sie erneut zur Wohnungstür sprinten würde. Doch bevor sie sich von ihm lösen konnte, packte er sie an den Hüften, um sie auf seinen Schoß zu setzen und eine Kitzelattacke zu starten.

„Du glaubst also, ich lass’ das so stehen? Mich schwach machen und dann einfach gehen? Zu hoch gepokert!“

Das Quietschen und das Lachen füllten den Raum. Cattleya wehrte sich so gut es ging, doch sie kam trotz ihrer unerwarteten Stärke nicht gegen ihn an. Wie jedes Mal. Und das Spiel ging so lange, bis beide außer Atem waren und meistens eine Sturmfrisur trugen.

„Puh, jetzt könnte ich eine Dusche gebrauchen. Und ich wollte doch heute früher im Büro sein, um Gleitzeit aufzubauen. Du machst mir immer einen Strich durch die Rechnung. Noch dazu bin ich hundemüde und geschafft, bevor ich überhaupt deine Wohnung verlassen habe“, beschwerte sich Cattleya halbherzig.

Und da war es wieder ‚deine Wohnung‘. Es brannte auf Marcels Zunge, sie erneut zu fragen, warum es so war und ab wann sich das ändern würde ... doch es würde nur zu einer unnötigen Diskussion kommen, deren Ende er bereits auswendig kannte.

Aber irgendwann muss sie doch zu mir ziehen. Es wäre billiger, vernünftiger und sie hasst das Hin- und Hertragen ihrer Sachen sowieso. Das ist keine Dauerlösung …

Da fiel Marcel etwas anderes ein, was ihn in letzter Zeit zum Grübeln brachte und ihm den erholsamen Schlaf erschwerte. „Kein Wunder, dass du hundemüde bist. Wenn ich wie du jede verfluchte Nacht an Albträumen leiden, mich schweißgebadet umherwälzen und mir den Mund dabei fusselig reden würde, wäre ich morgens auch völlig gerädert.“

Und mit Abschluss dieses Satzes folgten ihr genervtes, lautstarkes Ausatmen und das altbewährte Sich-mit-beiden-Händen-durch-das-Gesicht-Reiben. Sie tat das immer, wenn ihr ein Gespräch unangenehm wurde, als könnte sie der anstrengenden Situation damit entfliehen. Diesmal löste sie sich etwas harscher aus seiner Umarmung, um anzudeuten, dass der Alltag wieder angebrochen war. Kurz sah er ihr an, dass sie zu einer Antwort ansetzen wollte, doch dann überlegte sie es sich anders. Ihre Frisur war zerzaust, ihr bunt bedrucktes Shirt hing schief und ihre Halskette mit glänzendem Anhänger hatte sich verdreht. Trotz der Zeichen der vor wenigen Augenblicken noch spürbaren Belustigung kam nun der Ernst in ihrem Gesicht durch.

„Vielleicht hättest du deine Therapie nicht abbrechen sollen, Leya“, versuchte er vorsichtig bei ihr durchzudringen. Er wollte sachte nach einer Hand fischen, doch sie wich ihm aus.

„Ich dachte, wir hätten dies ausreichend besprochen …“, begann Cattleya, doch Marcel wollte und konnte das nicht so stehen lassen: „Nein, DU hast diese Entscheidung für dich alleine getroffen und ich akzeptiere es. Es ist dein Leben, deine Vergangenheit und du musst selbst sehen, wie du Dinge bewältigst oder verarbeitest, aber vielleicht hast du dich geirrt und brauchst Unterstützung. Und wenn ich als dein Partner dir das nicht offen sagen kann, dann läuft etwas schief. Deine Albträume dauern schon viel zu lange an. Zuerst kamen sie ja nur ab und zu, aber seit dieser komischen Gauklerin …“

Diesmal wurde er von ihr unterbrochen: „Du meinst die Wahrsagerin? Ich dachte, du glaubst nicht an so etwas und wir haben es beide als völlig lächerlich ad acta gelegt. Also warum fängst du immer wieder damit an? Wie soll ich denn da jemals zur Ruhe kommen?“, fragte sie anklagend. Ihre Augen hafteten wie Magnete an ihm.

„Ich habe dich noch nie im ruhigen Zustand erlebt, Cattleya. Vielleicht musst du dir eingestehen, dass du nicht alles alleine meistern kannst. Warum lässt du dir nicht helfen?“ Marcel konnte genau erkennen, wie ihr Kieferknochen nervös arbeitete.

„Was erwartest du? Ich bin nach fünfzehn Jahren aus einem goldenen Käfig herausgefallen. Ich musste mit meiner Vergangenheit, einem Großteil meiner neu gewonnenen Familie und Freunden abschließen, die angeblich große Liebe abhaken und völlig neu anfangen. Ich musste das erste Mal alleine klarkommen. Dann kam diese viel verspätete Sturm- und Drangzeit, die ansonsten nur Teenager plagt und ich dachte mich austoben zu müssen und bin sogar in eine verdammte Samenbank gelaufen, weil ich für ein paar Wochen der Meinung war, genau das wäre nun der richtige Weg. Dann der Wunsch ein Grundstück zu kaufen und ein Haus zu bauen, dann wieder die nächste hirnrissige Idee. Ich hatte ein Schleudertrauma von all diesen Veränderungen und glaubte, alles nachholen zu müssen und Dinge neu anzugehen. Einmal unvernünftig und anders zu sein, um herauszufinden, wer genau ich war und was diese langjährige Beziehung aus mir gemacht hat. Das war alles etwas viel auf einmal. Aber dann kamst du …“ Sie knabberte verunsichert an ihrer Unterlippe und konnte ihm plötzlich nicht mehr in die Augen sehen. Marcel stand behutsam auf und stellte sich direkt vor sie. Er unterdrückte den Impuls noch, sie einfach in den Arm zu nehmen, denn sie war aufgewühlt und er kannte diese Platte bereits. Zudem wollte er sie auch nicht unterbrechen.

Vorsichtig streichelte er ihr über die rechte Wange und wartete auf ihre Reaktion, die sogleich folgte. Ihre Arme klammerten sich um ihn und sie vergrub ihr Gesicht in seiner Brust, damit er nicht sehen konnte, dass sie feuchte Augen bekam.

„Entschuldige bitte. Ich wollte davon eigentlich nicht mehr anfangen. Ich bin damit durch und total dankbar, dass du in mein Leben getreten bist. Du bist wie der Fels in der Brandung, der mich bei all dem Chaos stabil hält. Und ich verspreche dir, mit etwas Geduld schaffe ich das.“

Nun blickte sie zu ihm auf, und wenn sie diesen treuen, bettelnden Augenaufschlag aufsetzte, war Marcel entwaffnet. Wie jedes Mal. „Denn mit dir kann ich alles schaffen. Absolut alles. Und weißt du warum? Weil ich dich über alles liebe.“

2 | Der Beobachter bricht das Schweigen

„Denkst du, ich bin blind? Hattest du tatsächlich auch nur eine einzige Sekunde daran geglaubt, dass dein Eingreifen damals unentdeckt bliebe?“, flüsterte der Führer bedrohlich und genoss es, wie die Augen seines Gegenübers sich weiteten und wie er einen Kampf gegen den Kloß in seinem Hals austrug.

Der Führer schritt nun dichter an den Richter heran, der in der Zwischenwelt noch weitere zwölf Jahre das Sagen haben würde und das Oberhaupt der Schicksalsträger darstellte. Sein Gegenüber erhob stolz sein Haupt und schien sich die passenden Argumente zur Verteidigung parat zu legen, doch der Führer konnte nur hämisch darüber grinsen. „Du bist nichts Göttliches und brauchst deshalb auch nicht Gott zu spielen. Diese grellen Blitze, die den Rächer damals vom Träger des Lichts ferngehalten hatten, als er seinen Schützling Cattleya mit diesem erbärmlichen Marcel zusammengeführt hatte, stammten von dir und nicht vom Licht höchstpersönlich. Egal, wie gut du es vertuschen wolltest.“

Kalkulierend stand er vor diesem dunkelhäutigen Mann, dessen Robe so strahlend weiß war, dass es seine empfindlichen Augen schmerzte. Dem Führer war bewusst, dass seine lodernden Feuerpupillen jeden einschüchterten, selbst sein Gegenüber, der noch immer mit den Worten rang, was ihn diesen Schiedsrichter zwischen Gut und Böse noch mehr verabscheuen ließ. Dem Führer wurde kotzübel bei so viel Schwäche und fehlendem Rückgrat. Es war einfach nur erbärmlich, so eine Person an der Macht zu spüren, die seinem Gegenpart nicht Paroli bieten konnte, wie er es verdient hätte. Zu gerne hätte er dem Richter ins Gesicht gespuckt, um endlich mal herauszufinden, ob er kontrolliert oder schlichtweg nur unfähig war.

„Zügle deine spitze Zunge! Mir ist nicht entfallen, dass du von Anfang an kein Freund von dem Konstrukt der Zwischenwelt warst. Du wärst lieber die linke Hand des Schattens geblieben. Doch ich werde nicht zulassen, dass wieder Mord und Gewalt an der Tagesordnung stehen und auf den Straßen der Welt der direkte Kampf von Licht und Schatten ausgetragen wird. Die Menschen haben es verdient, in Frieden zu leben, ohne die Spielchen auf ihre Kosten, die zwei Urexistenzen tagein, tagaus aus Langeweile treiben.“

Sieh an! Zumindest etwas Verachtung ist in seinen Pupillen, die der Erde gleichen, abzulesen.

Der Führer musste breit grinsen, da er sich geschmeichelt fühlte. Er liebte die Konfrontation. Endlich passierte in dieser langweiligen Zwischenwelt etwas. Seit dieser eine ganz spezielle Schicksalsträger es gewagt hatte, die Weltordnung aufzurütteln, indem er eine Frau entweiht und menschliche Emotionen entwickelt hatte, schien sich etwas verändert zu haben. Wie ein kleiner Bazillus, der sich in einen intakten Wirt geschlichen hatte, fraß dieser Störfaktor, wuchs stetig und ließ beide Seiten – sowohl die Rächer unter seinen Füßen als auch die Träger des Lichts auf dieser Seite der Zwischenwelt – tuscheln und rätseln. Selbst wenn alles offensichtlich wieder in geregelten Bahnen lief, Schicksalsträger ihren verlorenen Schützlingen halfen, ihr Schicksal zu finden und Rächer alles daran setzten, sie dabei zu stören, war etwas anders. Und alle, absolut alle konnten es bis in die kleinsten Poren spüren.

„Über ein Jahr ist diese Sache her, mein geschätzter Mitstreiter. Und wenn du ganz, ganz aufmerksam in dich hineinlauschst, wirst du erkennen, dass der Schicksalsträger … Ähm, wie nennt er sich nun gleich? Lumpen?“, witzelte der Führer und bekam kurz einen Lachanfall, vor allem, als er erkannte, wie der Richter vor ihm gedehnt lange ausatmete und seine vor sich verschränkten Hände nervös zu arbeiten begannen.

„Die Träger des Lichts haben keine Namen, wenn ich dich erinnern darf“, kam es jetzt etwas brummend zurück, wodurch der Führer sich ein weiteres Grinsen nicht verkneifen konnte. Geradezu freundschaftlich legte er nun seine linke Hand auf die Schulter des Richters und lehnte sich dichter zu ihm, um ihm ins Ohr zu flüstern: „Tja, dann bist du wohl schlecht informiert, mein Guter, denn das kleine Techtelmechtel mit dieser Cattleya hat ihm einen Namen gemacht, der in aller Munde steht. Jeder deiner … kleinen … nichtsnutzigen Schicksalsträger wünscht sich inzwischen, die gleiche Erfahrung gemacht zu haben, um nur ein einziges Mal noch zu erfahren, was Leidenschaft und Gefühle bedeuten. So viel zu deiner einschneidenden Bestrafung von ihm, sodass es ein Exempel für die restlichen Schwachköpfe darstellt.“

„Genug! Weiche von mir!“, brüllte der Richter ihn nun atemlos an und schob ihn wie ein lästiges Insekt von sich. Gerade noch rechtzeitig konnte der Führer einen lodernden Feuerball, den er in seiner rechten Hand hinter seinem Rücken erzeugt hatte, im Zaum halten. Es war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort dafür und er wusste das. Niemals würde der Schatten ihm zugestehen, sich über den Richter zu erheben. Vor allem, da er vor einem Jahr versagt hatte, das Konstrukt der Zwischenwelt so enorm ins Ungleichgewicht zu stürzen, sodass der Beweis für Licht und Schatten erfolgt wäre, sie zu zerstören. Dies hätte ihm wieder die Macht in die Hände gelegt, die er Jahrtausende davor genossen hatte.

 

Nur mit Mühe konnte der Führer sich ein demütiges Verneigen abgewinnen und starrte auf diesen weißen Boden, der in Nebel getaucht war.

„Wage es ja nicht, noch einmal meine Position und meine Entscheidungen infrage zu stellen, sonst wirst du es bitter bereuen. Cattleya wurde zu ihrem ursprünglichen Schicksal mit Marcel zurückgebracht, der Rächer wurde erlöst und der Schicksalsträger wird bis in alle Ewigkeit seine Schuld bezahlen, ohne auch nur die Möglichkeit zu haben, ihr Leben zu betrachten. Ich würde meinen, für ein Individuum, das schmerzlich Emotionen erlernt hat, sollte diese Strafe genug sein. Wenn du mich noch einmal anzweifelst, werden es nicht MEINE Blitze sein, die dich treffen werden“, flüsterte der Richter mit scharfer Zunge.

Bedächtig hob der Führer sein Haupt, um ihn, ohne zu blinzeln, anzusehen. Er konnte die Sicherheit in seinen Worten erkennen, obwohl der Führer wusste, dass seine vorlauten Bemerkungen von eben gewiss innerlich an dem Richter nagten.

„Selbst wenn du mir drohst und es nicht wahrhaben willst, die Zeiten der Zwischenwelt sind gezählt. Sie wird zerplatzen wie eine Seifenblase, denn sie ist kein Vorhof zum Himmel, sondern nur ein Art Gefängnis und sie liefert die Wärter, um die Gefangenen auf dem rechten Weg zu halten. Nicht mehr und nicht weniger.“ Mit diesen Worten richtete der Führer sich wieder auf, straffte seine Schultern und wandte sich zum Gehen. Mit jedem Schritt, den er sich vom Richter entfernte, schwor er sich, das anbrechende Chaos zu schüren, bis er wieder all seine Fähigkeiten und die Macht zurückhätte wie von Anbeginn. Denn nichts anderes hatte er verdient.

 

 

„Ich hoffe, dir ist bewusst, wie wichtig diese Mission ist. Wenn jemand sensibel, aufmerksam genug und zudem noch mit dieser Gabe gesegnet ist, dann du. Ich möchte, dass du ein Auge auf Lumen, Cattleya und Marcel wirfst und mich bei der kleinsten, verdächtigen Änderung unverzüglich darüber unterrichtest. Hast du mich verstanden?“

Der Getreue nickte hektisch, als dieser bedeutsame Blick des Richters ihn gefangen hielt. Er musste daran denken, dass er bereits bei den ersten Veränderungen von seinem Lehrling Lumen versagt hatte, ihn in Schutz genommen und das Vertrauen in ihn gesteckt hatte, seine Grenzen zu kennen. Schon damals war er mehrfach daran gescheitert, ihn wieder auf den goldenen Pfad zurückzuführen. Sein Versagen hatte ihn nicht nur weitere zwanzig Jahre als Schicksalsträger gekostet, sondern ihm auch misstrauische Blicke vom Rest der Gemeinde eingebracht, da er wie ein Verräter des Systems dastand. Und Lumen? Er hatte sogar die Frechheit besessen, ihn einmal bewusstlos zu schlagen, als er versucht hatte, seinen Schützling davon abzuhalten, weiteren Unsinn zu treiben. Eigentlich hatte der Getreue gehofft, dass er nach all den Verfehlungen als Spion in solchen Dingen aus dem erlesenen Kreis der Optionen herausgefallen wäre. Doch der Richter sah es offenbar anders.

„Enttäusche mich nicht noch einmal und behalte alles, was du gesehen hast und weißt, für dich. Besonders Lumen soll keinen Verdacht schöpfen, dass etwas nicht stimmen könnte. Ich kann es mir nicht leisten, wenn er Schwierigkeiten macht. Das ist mein bitterer Ernst!“

Der Getreue schluckte laut und die nachhallenden Worte hatten sich bis in seine Knochen gefressen.

Nein, diesmal werde ich alles richtig machen …

3 | Gedächtnissplitter

Es war gerade halb fünf, als Cattleya den Heimweg antrat. Ihr Kreuz schmerzte vom langen Sitzen und sie fluchte über die kleinen Schottersteine auf dem Gehsteig. Sie sollten wohl jegliches androhende Eis in die Flucht schlagen, obwohl es erst November war und die letzten Wochen kein Tag unter fünf Grad plus verzeichnet worden war. Es erschwerte jedoch das Gehen jeder Frau, die versuchte, trotz der kalten Witterung ein modisches Schuhwerk zu bändigen. Und so auch Cattleya.

Als sie in Richtung U-Bahn-Station aufblickte, sah sie rechter Hand ein großes, graues Gebäude ohne Fenster und wunderte sich, um was es sich dabei handeln könnte. Jeder neue Außendienst bescherte ihr die Erkenntnis, wie wenig sie sich in Wien auskannte und es immer lohnenswerte Ecken gab, die entdeckt werden mussten. Ein paar Schritte weiter lugte sie ums Eck und ein merkwürdiges Gefühl befiel sie. Erinnerungsfetzen eines verregneten Tages, an dem sie in verwirrtem Zustand den Weg nach Hause hatte finden müssen, kamen ihr in den Sinn. Dieses Ungetüm von Gebäude, in Reklame eines Möbelgiganten gehüllt, schien diese Erinnerung auszulösen, doch der Versuch, einen Bezug zu einem vorgelagerten Erlebnis, einer Situation oder jenem Tag herzustellen, scheiterte kläglich.

Cattleyas Neugier ließ nicht locker und so beschloss sie, einen Umweg zu machen. Ein paar Meter mehr Bewegung und einige Minuten verschwendeter Zeit zusätzlich würden den Tag nicht trüben.

Ihre Finger glitten über die kalten Wände des Gebäudes und eine Gänsehaut überfiel sie. Wie ein Flashback spürte sie den kalten Regen über ihren Nacken in das Shirt laufen und sie fröstelte. Cattleya roch das nasse Gras um sich herum, als wäre es wie im Sommer frisch gemäht worden. Sie fühlte sich urplötzlich alleingelassen, blickte sich immer wieder um, als würde ihr etwas fehlen oder sie etwas suchen … oder jemanden. Ihr Herz schien in sich zu schrumpfen und eine tiefe Trauer überrollte sie, die sie überhaupt nicht zuordnen konnte.

Als machten sich ihre Beine selbstständig, wurden sie schneller und liefen in Richtung des großen Tors, das nach nur wenigen Metern rechter Hand zum Vorschein kam. Und Cattleya war felsenfest davon überzeugt, dass sie exakt hier schon einmal herausgekommen war.

Doch wann soll das bitteschön passiert sein? Was hätte ich hier zu suchen gehabt?

Cattleya las beim Eingang ‚Zutritt nur für Angestellte‘. Daneben war das Schild eines Möbelriesens samt Abholzeiten für Lagerware angebracht.

„Es ist eine Lagerhalle? Wie soll ich da reingekommen sein? Die Abholschleusen sind auf der anderen Seite abgebildet.“ Cattleya kratzte sich ungläubig an der Stirn und ein zartes Pochen entstand von all dem Grübeln hinter ihren Schläfen. Wehmütig strichen ihre Finger über die Türklinke, als könnte dort die Antwort auf einen vergessenen Augenblick ihres Lebens schlummern, als plötzlich ohne Vorwarnung die Türe aufsprang und sie vor Schreck beinahe nach hinten stürzte.

„Hoppla! Das wollte ich nicht! Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine alarmierte Stimme und Cattleya erkannte einen jungen Lehrling mit Zahnspange, der sie verlegen ansah. Hastig schüttelte sie den Kopf, da ihr partout keine passende Erklärung einfiel. Zudem war sie kurz abgelenkt, als die offene Türe ihr einen Einblick in die geschäftig wirkende Halle gewährte. Ihre Augen fuhren rasch die hohen Regale ab, die in Cellophan verpackten Möbel, die Gabelstapler, die gedämpften Scheinwerfer … und ihr Instinkt sagte ihr, dass sie all dies hundertprozentig schon einmal gesehen hatte.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, wollte indes der junge Mann wissen, der sie nun verwundert anstarrte.

„Ähm, ja! Ja, alles bestens. Ich war nur erschrocken, dass sich diese Türe gerade öffnet, als ich vorbeiflaniert bin. Kein Ding, alles gut“, tat sie es ab, während ihr ganzer Körper unter Strom stand, weil sie es verstehen wollte und die einzige Quelle, die einen Sinn daraus spinnen konnte, ihr ausgerechnet jetzt keine Antworten liefern wollte.

Kann ich jetzt schon an Alzheimer erkrankt sein?, ärgerte sie sich, während sie sich halbherzig verabschiedete und den Weg zurück zur U-Bahn anvisierte. Denn hier würde sie offenbar nicht weiterkommen.

 

 

Der Getreue hielt sich starr die Brust und kämpfte mit seiner Atmung. Bisher hatten ihn viele Visionen heimgesucht. Zumeist konnte er sie nicht bewusst erzeugen. Sie folgten einem unwillkürlichen Muster, hatten nicht immer mit aktuellen Gegebenheiten zu tun und oftmals konnte er sich auch erst viel später einen Reim darauf machen. Doch was ihm jetzt vor seinen Augen tanzte, ließ mehr als nur eine ungute Vorahnung zurück. Dabei wollte er nur wie tagtäglich auf seiner Schalttafel die Inhalte der Schicksalsfäden seiner Schützlinge durchspielen. Ziel war es gewesen, sich neue Wege zu überlegen, um nicht glücken wollende Schicksale zu erfüllen, doch die Worte des Richters, ein wachsames Auge auf Cattleya, Marcel und Lumen zu werfen, hatten seine Konzentration gestört. Und schlagartig erschien die Akte Samuel Fichter vor ihm auf dem Display.

Ein Ding der Unmöglichkeit! Denn dieser Akt sollte eigentlich endgültig geschlossen sein. Ein Toter konnte keinen Platz im Plan des Schicksals haben und zudem war Lumen als Schicksalsträger aus dem Rennen, noch ein eigenes Schicksal zu verdienen. Also warum sah der Getreue dann dessen menschliche Akte? Wie konnte er überhaupt Zugriff darauf haben?

Der Getreue rieb sich ungeduldig die Augen, blinzelte mehrmals, doch das Ergebnis blieb das gleiche. Nervös blickte er sich im Sichtraum der Träger des Lichts um und fühlte sich beobachtet.

Ist es tatsächlich nur eine meiner Visionen oder spielt mir jemand diese Informationen bewusst zu? Aber warum nur? Die anderen Schicksalsträger wirkten jedoch unauffällig, hatten ihre Häupter geneigt und waren vollkommen auf die Inhalte ihrer Schalttafeln konzentriert.

Der Getreue musste laut schlucken und starrte erneut auf die Tafel. Um sicherzugehen, dass es sich nicht um ein Hirngespinst handelte, fuhr er die Zeitlinie mit einem Finger auf und ab und verschob so die Ereignisse in Samuels Leben. Er sah das Kennenlernen mit Tabea, den Moment, an dem sie ihm gebeichtet hatte, schwanger zu sein und dann den tragischen Augenblick, als sie regungslos auf der Bordsteinkante lag und ihr Blut vom Regen fortgespült wurde.

Doch was ist das?

Der Getreue erkannte plötzlich weitere parallel untereinanderliegende Zeitlinien, die es sonst bei keinem anderen Individuum je gegeben hatte. Verunsicherung kroch aus all seinen Poren und erneut blickte er sich um.

Warum immer ich?, fragte er das Universum und ärgerte sich, dass diese wenigen Jahre, die ihn noch in diese Strafposition zwangen, nicht unkompliziert verlaufen konnten. Denn obwohl er extra seine Finger von der Schalttafel genommen hatte und sich bemühte, nicht hinzusehen, sprang die Zeitlinie nun auf eine Version darunter und der Getreue wurde Zeuge einer ganz anderen Zukunft, die Samuel eigentlich geblüht hätte.

 

 

Cattleya konnte dieses Gefühl nicht abschütteln. Es war wie ein umgekehrter Ohrwurm, der sie quälte. Also nicht ein Lied in Endlosschleife, sondern die fragende Stille, die viel zu laut wurde. Warum konnte sie in ihrem Gedächtnis etwas nicht herauskramen, das offensichtlich da gewesen war? Wie ein Titel eines längst vergessenen Liedes oder der Name eines Schauspielers, der vor Jahren noch wie aus der Pistole geschossen mental zur Verfügung gestanden hatte. Ist das jetzt wirklich der Beginn des geistigen Verfalles? Es ließ sie nicht mehr los.

„Hey, mein Schatz? So redselig heute? Normalerweise bombardierst du mich mit dem notwendigen Klatsch und Tratsch aus deinem Büro und diesmal angenehme Stille?“, zog Marcel sie breit grinsend direkt im Vorzimmer auf, als sie gerade dabei war, ihre Stiefeletten auszuziehen. Aufmerksam half er ihr aus der taillierten Jacke und hängte sie auf, nur, um sie erneut zu piesacken: „Verstehe, du überlegst noch, wo du bei den Unmengen an Neuigkeiten anfangen sollst. Kein Problem.“

Doch als er sie nun in den Arm nahm und ihr einen Kuss auf die Lippen setzte, erwachte sie aus ihrer Trance und wurde seiner erst jetzt wirklich gewahr. Cattleya blickte Marcel intensiv an und auf einmal spiegelte sich das Licht der Vorzimmerlampe in seinen Augen und überdeckte seine Pupillen. Die sonst grün und braun gesprenkelten Nuancen formten sich zu leuchtenden Erdbällen, sodass sie bei dem Anblick zusammenzuckte.

„Wow! Ist alles in Ordnung mit dir?“ Nun wirkte Marcel besorgt und strich ihr liebevoll über die Oberarme. Sein Ausdruck wollte eine Reaktion herauskitzeln und alles, was ihr aus dem Mund purzelte, war: „Ich weiß, das klingt merkwürdig, aber deine Augen haben gerade ausgesehen, als würde mir die Welt zu Füßen liegen.“ Und als der  Satz draußen war, hätte sie die Worte liebend gerne wieder zurückinhaliert, so grotesk hörten sie sich einmal ausgesprochen an.

Cattleya bemühte sich um ein verlegenes Lächeln, doch zum Glück kam es bei Marcel ohnehin ganz anders an: „Ach! Ist das so? Ich muss zugeben, das ist das schönste Kompliment, das mir jemals jemand gemacht hat.“ Er lächelte sie an und fädelte seinen Arm um ihre Taille, um sie mit ins Wohnzimmer zu ziehen. Der Geruch einer würzigen Kräutermischung, gepaart mit einer Kokosnote, sprang ihr entgegen und sie wusste, dass Marcel offenkundig für sie gekocht hatte. Da ihr Magen sich nur knurrend bedankte, legte sie ihren Kopf auf Marcels Schulter und atmete all ihre kreisenden Gedanken aus.

„Du bist einfach unglaublich. Du überraschst mich immer wieder. Wenn es so schmeckt, wie es riecht, glaube ich dir das mit dem Hobbymasseur nun auch aufs Wort.“ Sie lugte frech zu ihm auf und brachte ihn dadurch zum Lachen. Die Welt schien zumindest jetzt in Ordnung zu sein.