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Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

© Querverlag GmbH, Berlin 2019

© Autorenfoto Nachwort, Gernot Schubert

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von Fotolia/Adobe (© Fotoeventis).

ISBN 978-3-89656-658-4

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Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

von Jan Stressenreuter im Querverlag erschienen

Love to Love You, Baby

Ihn halten, wenn er fällt

Und dann der Himmel

Mit seinen Augen

Aus Rache

Aus Angst

Aus Wut

Wie Jakob die Zeit verlor

Haus voller Wolken

„Figgn, Alda!“ und andere Geschichten

Aus Hass

Weil wir hier sind

Vorwort

Seit ich in der Schule George Orwells Klassiker 1984 las, habe ich Dystopien verschlungen: Romane wie Cormac McCarthys Die Straße, Doris Lessings Die Memoiren einer Überlebenden, Texte von Philip K. Dick, die „MaddAddam“-Trilogie von Margaret Atwood und – ebenfalls jüngeren Datums – Michel Houellebecqs Unterwerfung. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, denn Dystopien haben in der Literatur eine lange Tradition.

Ich fand die pessimistischen, ja geradezu düsteren Zukunftsprognosen dieser Autoren spannend, in denen die Menschheit ihren dunklen Reflexen erliegt, autoritäre Regime herrschen, Gewalt, Katastrophen und Kriege die Welt zerstören oder die Wissenschaft Amok läuft. Besonders fasziniert aber hat mich, dass Dystopien durchweg moralische Lehrstücke sind. Immer wieder wird in ihnen die Frage gestellt, wie Menschen in Grenzsituationen reagieren: Behalten wir im Angesicht des Untergangs unsere Menschlichkeit, unsere Fähigkeit zum Mitgefühl, oder werfen wir diesen „Ballast“ im Überlebenskampf einfach über Bord? Was macht uns Menschen aus? Eigentlich ist die Dystopie also die hässliche Schwester der Utopie, aber – zumindest in meinen Augen – sehr viel interessanter.

Dystopien üben auf den Leser eine seltsame Anziehungskraft aus, eine Mischung aus Lust am Untergang und Angst genau davor: Wir alle wissen, dass unsere Existenz zerbrechlich und das ökologische Gleichgewicht unseres Planeten in Gefahr ist. Dass selbst stabile politische Systeme leicht zu erschüttern sind und über Nacht vergehen können. Wir können uns von diesen Geschichten genauso wenig losreißen wie das Kaninchen von den Scheinwerfern eines heranrasenden Autos. Und mal ganz ehrlich – wer will schon etwas über eine Zukunft lesen, in der es weder Armut noch Krankheiten oder kriegerische Konflikte gibt und in der sich alle Menschen liebhaben? Langweilig.

Gleichzeitig sind Dystopien immer auch spekulative Fiktion. Das heißt, Möglichkeiten werden ausgelotet, Hypothesen aufgestellt, vorhandene Entwicklungen zu Ende gedacht und, je nachdem, auf die Spitze getrieben. Dystopien basieren auf der Frage „Was wäre, wenn …?“ und erwarten vom Leser so etwas wie einen Glaubenssprung. Und dennoch: Ein Funken Wahrheit liegt ihnen immer zugrunde.

So ist es auch mit Weil wir hier sind.

Natürlich leben wir – zumindest in der westlichen Hemisphäre – zurzeit in einer der freiheitlichsten Gesellschaftsformen, die es jemals gegeben hat. Doch es gibt unübersehbare repressive Tendenzen: das Aufkommen islamistischen Terrors, anti-demokratische und populistische Strömungen in Amerika, Europa und Russland. Was wäre, wenn diese Entwicklungen bereits das Ende des Zeitalters der Demokratie einläuten?

Natürlich besteht in der Wissenschaft zurzeit kein Konsens über die Ursachen von Homosexualität. Weder die Gen- noch die Verhaltensforschung können schlüssig nachweisen, wie die sexuelle Orientierung eines Menschen entsteht. Die gängigsten Erklärungsversuche propagieren ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Aber was wäre, wenn sich die Homo-, Bi- oder Transsexualität eines Menschen tatsächlich erkennen ließe, auf den sprichwörtlichen ersten Blick? Man muss dabei nicht einmal an die rosa Winkel der Nationalsozialisten denken, denn es ist nur wenige Jahrzehnte her, dass ein Virus hier vor allem schwule Männer infizierte und – im Vollbild der Erkrankung – auch äußerlich stigmatisierte.

Und was wäre, wenn beide Hypothesen tatsächlich und gleichzeitig ein- und aufeinanderträfen? Dieses erschreckende Szenario ist die Ausgangslage in Weil wir hier sind.

Die Idee zu diesem Buch entstand, als ich in der Anthologie From a Burning House die Kurzgeschichte „The Vanishing“ las, deren Autor Rick Hoyt-McDaniels mir großzügigerweise erlaubt hat, „das Verschwinden“ zu verwenden und weiterzuentwickeln. Die ersten Seiten des Romans basieren auf seiner Geschichte.

Jan Stressenreuter, Köln, im Dezember 2018

Quoth the raven: Nevermore!

Sprach der Rabe: Nimmermehr!

(Edgar Allan Poe: Der Rabe)

Ned: We all have that one thing we’re ashamed of.

The memory of the one thing so embarrassing

we don’t know if we’ll ever be able to forget it.

A single moment, when not only do we betray everyone around us but we betray ourselves too, in the most terrible way.

Ned: Wir alle haben etwas, wofür wir uns schämen.

Die Erinnerung an etwas so Unangenehmes,

dass wir nicht wissen, ob wir es jemals vergessen können.

Einen Moment, in dem wir nicht nur alle
um uns verraten, sondern auch uns selbst,

auf die schlimmste Art und Weise.

(Handsome Devil. Regie: John Butler. Irland 2016)

John und Willow

Der Erste

Da war nichts Ungewöhnliches beim Blick in den Spiegel. Anfangs. Ein wenig Schlaf in den Augenwinkeln, die rötlichen Haare wie jeden Morgen kaum zu bändigen, ein paar Sommersprossen auf der Nase. Nichts deutete darauf hin, dass sich von nun an alles ändern würde. Früher hatte er sich seiner irisch-chinesischen Wurzeln geschämt. John Zhu! Promenadenmischung! Schlitzauge! Tomatenschopf! Mehr als ein Mal war er heulend nach Hause gerannt, wenn ihn die anderen Kinder gehänselt hatten. Die Erinnerung daran schien ein ganzes Leben zurückzuliegen.

Erst als er den Rasierer ansetzte, entdeckte er die drei konfettigroßen Flecken am Hals. Wobei Flecken nicht der richtige Ausdruck zu sein schien. Das Ganze sah eher nach einer Abwesenheit aus. Drei winzige Bestandteile seines Körpers waren einfach nicht mehr vorhanden. Als hätte sie jemand ausgestanzt und eine merkwürdige Leere zurückgelassen. Ein Fehlen von etwas. Keine Wunde, keine Haut, einfach – nichts. Er war sicher, dass die Stellen am Abend zuvor noch nicht dagewesen waren … weggewesen waren? Er hätte sie beim Zähneputzen bemerkt.

Stirnrunzelnd ließ John den Rasierer sinken und berührte die Stellen mit den Fingerspitzen. Sie fühlten sich an wie gewöhnliche Haut, weder erhaben noch schmerzhaft. Er drückte auf eine von ihnen und ließ wieder los; als das Blut zurückfloss, verschwand der konfettigroße Punkt. Für einen Moment trat auf der Stelle eine leichte Rötung ein, und er war wieder vollständig. Erleichtert atmete er auf. Doch als sich der Blutstrom normalisierte, kam das kreisrunde Stück Nichts wieder zum Vorschein. Vielleicht ein dermatologisches Problem, eine Art Pigmentstörung? Aber er hatte noch nie von einer Hauterkrankung gehört, bei der die befallenen Stellen einfach verschwanden, unsichtbar wurden. Vielleicht war er der Erste, der sie entwickelt hatte? Ein Gedanke, der ihn beunruhigte.

Er sah auf die Uhr und bemerkte, dass er Gefahr lief, zu spät zur Arbeit zu kommen. Er war froh über seinen Job, auch wenn es eine unterfordernde und schlecht bezahlte Tätigkeit war. Früher hatte er studiert, hatte gelernt, Computerprogramme zu entwickeln, komplizierte Algorithmen zu schreiben, Datenstrukturen zu erstellen. Jetzt war er damit beschäftigt, banale Webseiten zu pflegen, Dinge, die im Zweifelsfall ein mittelmäßig begabter Vierzehnjähriger bewerkstelligen konnte. Aber in seiner Situation konnte man nicht wählerisch sein. Statt eines T-Shirts nahm er ein Hemd aus dem Schrank, damit der Kragen die Stellen überdeckte.

Sein Freund und er waren erst vor wenigen Wochen in die neue Stadt geflohen, gerade außerhalb des Einflusses von Elysium. Er wusste nicht, wie es sein Freund bewerkstelligt hatte, ihn dort her­auszuholen, was er dafür hatte tun müssen, und er wollte es auch nicht wissen. Stopp. Natürlich wusste er es, er wollte nur nicht darüber nachdenken. Noch immer betäubt vor Entsetzen wollte John eigentlich gar nicht mehr an das Vergangene erinnert werden. Es hatte lange genug gedauert, bis die Verletzungen geheilt waren. Die Panikattacken würden ihn wohl für den Rest seines Lebens begleiten. Genauso wie die Furcht, die ihm die Brust zuschnürte, wenn er schnelle Schritte hinter sich hörte.

Schwindelig vor Angst und Erleichterung hatten sie die Grenze passiert, später Jobs gefunden, eine Wohnung bezogen – eigentlich zu klein für sie beide, aber sie waren froh, dass man ihnen überhaupt etwas zugewiesen hatte. Der Strom der Menschen, die vor dem Letzten Gesandten und dessen Schergen aus Elysium flohen, schwoll stetig an. Es gab Berichte über Hausdurchsuchungen, Verschleppungen, über willkürliche Verhaftungen und tödliche Unfälle. Noch nahm das Nachbarland im Süden Asylsuchende auf, zähneknirschend und mit einer gewissen Schadenfreude, aber die Diskussionen nahmen zu.

Die Straßen der neuen Stadt waren ungewohnt; schon mehrmals hatte sich John auf dem Weg zur Arbeit verirrt. Gerade noch rechtzeitig kam er ins Büro, in dem die Hitze des Sommers mit Ventilatoren und einer scheppernden Klimaanlage bekämpft wurde. Unter all den fremden Menschen fühlte er sich einsam, gestrandet, wie ein Schiffbrüchiger, der im letzten Moment das rettende Ufer erreicht hatte. Die Charaktere der Kollegen waren noch nicht abschließend beurteilt, ein Freundeskreis noch nicht aufgebaut. Ihn verunsicherten die Blicke, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, das Getuschel, das abrupt verstummte, sobald er in Hörweite kam. Seinem Freund fiel die Umstellung leichter, er war extrovertierter, vielleicht kam ihm auch sein hispanisches Erbe zugute. Er stürzte sich in das neue Leben mit einer Verbissenheit, als hätte er etwas gutzumachen, organisierte Protestmärsche und Demonstrationen, unterschrieb Petitionen, koordinierte Boykottmaßnahmen. John dagegen wollte nur in Ruhe gelassen werden. Er vermisste seine Trompete. Wie so viele andere Dinge hatte er sie zurücklassen müssen.

Tagsüber vergaß John die Flecken, beantwortete die Post, nahm an einem Meeting teil, verbrachte die Mittagspause in einem kleinen Restaurant bei einem Teller chiles en nogada mit einem Kollegen, der vom Besuch des Fußballspiels Monterrey gegen América am Wochenende erzählte. John lächelte an den richtigen Stellen und nickte seine Zustimmung, obwohl er sich noch nie für Fußball interessiert hatte. Am späten Nachmittag kaufte er in einem Supermarkt Fleisch und Gemüse, weil er seinem Freund versprochen hatte, am Abend zu kochen. Sie öffneten eine Flasche Wein, redeten über die Anschaffung eines Bettes anstelle der Matratzen, die ihnen gespendet worden waren, und wuschen nach dem Essen das Geschirr mit der Hand ab. Zu Hause hatte er die Spülmaschine im Studentenwohnheim nutzen können, hatte einen Flachbildschirm besessen, all die Annehmlichkeiten, die man erst zu schätzen weiß, wenn man sie aufgeben muss. Jetzt besaßen sie nicht einmal mehr ihr Zuhause.

„Wir sind mit dem Leben davongekommen“, rief ihm sein Freund ins Gedächtnis.

„Wir?“, erwiderte John. „Ich. Ich bin mit dem Leben davongekommen. Dein Überleben stand niemals infrage.“ In letzter Zeit hatte er immer öfter das Bedürfnis, seinen Freund zu verletzen.

„Wir haben uns“, murmelte sein Freund. „Wir sollten dankbar sein.“ Aber John empfand keine Dankbarkeit.

Erst als er wieder vor dem Spiegel im Badezimmer stand, erinnerte er sich an die merkwürdigen Stellen an seinem Hals und schlug den Kragen zurück. Die drei Flecken waren zu einem großen verschmolzen, er war auch nicht mehr kreisrund, sondern hatte eine amöbenartige Form angenommen. John schloss die Tür ab, zog sich vor dem Spiegel aus und kontrollierte den Rest seines Körpers. Da war eine Stelle, wo vorher sein linker Fußknöchel gewesen war, und eine an seiner Hüfte, so groß wie ein Taschentuch. Wieder drückte er die Stellen mit dem Finger ein, wieder wurden sie einen Augenblick lang durch die Rötung der betroffenen Haut sichtbar, und wieder verschwanden sie, sobald sich der Blutfluss normalisiert hatte. Er fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Als er ins Schlafzimmer ging, schaltete er das Licht aus, bevor er sich auszog und auf die Matratze legte, damit sein Freund sein Verschwinden nicht bemerkte. Am nächsten Morgen versteckte er seinen Hals unter einem Rollkragenpullover, obwohl draußen die Sonne schien, und als ihn seine Arbeitskollegen darauf ansprachen, entschuldigte er den Rollkragen mit Halsschmerzen: „Tengo resfriado.“ Die schmunzelnden Gesichter verstand er nicht, bis ihn jemand berichtigte: „Estoy resfriado.

In den nächsten Wochen kamen immer mehr Stellen hinzu: am linken Oberschenkel, an der Wirbelsäule, unter dem rechten Fußballen. Er bemerkte, dass sich das Nichts wie ein Geschwür ausbreitete, sobald es an einer Stelle seines Körpers aufgetaucht war, dass es sich zu größeren Inseln des Verschwindens zusammenschloss. Er fragte sich, ob er an einer seltenen Krankheit litt, aber er fühlte sich nicht krank, litt weder unter Fieber noch Erschöpfung. Er wurde nur jeden Tag ein Stück weniger, als hätte er die befallenen Teile seines Körpers wie ein Paar Handschuhe irgendwo versehentlich liegenlassen, als wären sie ihm einfach abhandengekommen. Im Büro konnte er sich kaum noch auf seine Arbeit konzentrieren, dachte nur noch über seine Abwesenheit, die verschwundenen Teile seines Körpers nach. Mehrmals am Tag lief er zur Toilette, schloss sich in einer Kabine ein und überprüfte seine Flecken.

Aus Angst, jemand könnte ihn darauf ansprechen, ging er nicht mehr zum Sport und trug nur noch lange Hosen und Hemden mit langen Ärmeln, auch in seiner Freizeit. Zum Schlafen streifte er Socken über. Sein Freund zog ihn damit auf, hielt sein ungewöhnliches Verhalten für einen neuen Spleen. Er fragte: „Ist dir nicht zu warm?“, und John antwortete mit einem unwirschen Gesichtsausdruck: „Es geht mir gut“, obwohl er sich furchtbar fühlte. Er kämpfte mit sich, ob er seinem Freund die Wahrheit sagen sollte, aber er konnte sich nicht dazu überwinden. Er hatte Angst, dass er ihn verlassen würde, vielleicht würde er den Kopf schütteln und grußlos die Tür hinter sich zuziehen. Wer wollte schon einen unvollständigen, lückenhaften Mann an seiner Seite? Außerdem hoffte er noch immer, entgegen allem Anschein, dass diese Flecken des Nicht-Vorhandenseins ihrerseits genauso überraschend verschwinden würden, wie sie gekommen waren. Dass er eines Tages plötzlich wieder vollständig war. Er vermisste sich.

Er überlegte, ob er sich einem Fachmann anvertrauen sollte, aber instinktiv wusste er, dass kein Arzt der Welt etwas mit diesem Nichts, diesem Fehlen von etwas, anfangen konnte. Außerdem befürchtete er, unter Quarantäne gestellt zu werden; er hatte in Büchern gelesen, wie hysterisch die Öffentlichkeit damals auf das Aufkommen von Aids reagiert hatte. Aber er glaubte nicht daran, dass sein Verschwinden ansteckend war – weder sein Freund noch seine Arbeitskollegen änderten wie er plötzlich ihre Kleidungsgewohnheiten. Vielleicht war das, was ihm passierte, einfach eine Laune der Natur, etwas Spontanes, Unheilbares? Fast jeden Tag wuchs das Verschwinden, stahl ihm ein wenig mehr seines Körpers, und jeden Tag fühlte er sich ein wenig leichter, ein wenig weniger.

Er versuchte sich abzulenken, indem er sich wie sein Freund in der Flüchtlingshilfe engagierte, die alles tat, um so viele Lesben und Schwule wie möglich aus Elysium herauszubekommen. Aber selbst dort, inmitten all der Empörung und Angst, inmitten der Geschichten von Verfolgung und Unterdrückung, die noch vor einigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wären, gelang es ihm nicht, sich zu konzentrieren. Immer öfter hatte er den Eindruck, dass es seinen Mitmenschen schwerer fiel, ihn wahrzunehmen, seine Anwesenheit zu registrieren. Wenn er sich räusperte oder etwas zum Gespräch beitragen wollte, wandten sich ihm überraschte Blicke zu, als wollten sie sagen: Ich hatte gar nicht gemerkt, dass du auch hier bist! Vielleicht hinterließ er aufgrund seiner fehlenden Körperstellen keinen bleibenden Eindruck mehr?

Und dann, an einem Morgen, an dem der Himmel ausnahmsweise grau und schwer über den Bürotürmen der Stadt hing und ein Gewitter ankündigte, entdeckte er das Verschwinden auf seiner Stirn, etwas unterhalb des Haaransatzes, ein Fleck so groß wie eine halbe Hand. Er würde seinen Zustand nicht länger verheimlichen können. Mit einem Kloß im Hals rief er im Büro an und meldete sich krank, dann zog er sich an und versteckte das Verschwinden unter einer Wollmütze, die er sich tief in die Stirn schob. Anschließend klemmte er sich einen Regenschirm unter den Arm und machte einen langen Spaziergang durch die Stadt. An einem Teich verfütterte er Brotreste an ein paar Enten, am Kanal sah er einem Ausflugsdampfer mit bunten Fahnen nach.

Als er am Nachmittag nach Hause kam, saß sein Freund auf der Couch und las die neusten Meldungen über Elysium auf seinem Handy.

„Es wird immer schlimmer“, sagte er. „Wir sind gerade noch rechtzeitig herausgekommen.“ Dann erst bemerkte er den merkwürdigen Gesichtsausdruck seines Freundes. „Ist was? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

„Ich muss dir etwas zeigen“, antwortete John und holte tief Luft. Dann nahm er seine Mütze ab.

Sein Freund stand auf und betrachtete das Nichts auf seiner Stirn von allen Seiten. „Seit wann hast du das?“

„Dies hier seit heute Morgen. Ich habe noch andere Stellen, verteilt auf dem ganzen Körper. Es hat vor ein paar Wochen angefangen.“

„Warum hast du mir nichts gesagt?“

„Weil ich Angst hatte, dass du gehst.“

„Was für ein Unsinn“, sagte sein Freund.

John begann zu weinen, aus Erleichterung, dass er nicht allein sein würde; weil er seinem Freund endlich die Wahrheit gesagt hatte; weil er zum ersten Mal seine größte Angst artikulieren konnte: „Was ist, wenn ich ganz verschwinde? Nach all dem, was wir durchgemacht haben?“

Als er sich beruhigt hatte, gingen sie zusammen ins Badezimmer, wo John sich auszog und seinen Freund die Flecken begutachten ließ. Inzwischen fehlten große Teile von ihm, waren nicht mehr zu sehen: sein linker Oberschenkel, ein Teil seiner Brust, beide Oberarme. Es sah merkwürdig aus, als ob seine Unterarme und Hände in der Luft hängen würden, als ob sie nichts mehr mit ihm zu tun hätten. Ein wenig kam er sich vor wie eine Marionette, deren Gliedmaßen von unsichtbaren Fäden dirigiert wurden. Als er sich im Spiegel musterte, bemerkte er ein leichtes Glimmen um seinen Körper, wie eine Reflexion von Licht, nur dadurch konnte er seinen Umriss im Spiegel noch erkennen.

Mit Einbruch der Dunkelheit legten sich die beiden Männer zusammen auf die Matratze, und John kuschelte sich an seinen Freund. Es war schön, seine Nähe zu spüren, die beruhigende Unversehrtheit eines Körpers unter seinen Fingern zu ertasten. Er war nicht länger wütend auf ihn.

„Ich kann dich kaum noch sehen“, flüsterte sein Freund.

„Vielleicht bin ich nicht mehr da, wenn du morgen früh aufwachst“, erwiderte John traurig.

„Nein, nein!“, protestierte sein Freund mit großen Augen. „Ich habe zu viel … wie soll ich denn jemals …?“

„Was?“

Aber sein Freund starrte nur vor sich hin. Später, während er langsam in den Schlaf sank, wagte John nicht einzuschlafen, kämpfte gegen die Müdigkeit an, betrachtete seinen Freund, um sich jede einzelne Faser seines Körpers einzuprägen, jedes Muttermal, jeden Muskel, jede noch so kleine Falte. Mitten in der Nacht fühlte er, wie ein leichtes Fieber von ihm Besitz ergriff, ein kurzer Anstieg der Körpertemperatur. Etwas zog an ihm, zerrte ihn fort. Er wusste, dass es so weit war.

„Luis!“, flüsterte er, doch sein Freund murmelte nur leise im Schlaf. John strich ihm sanft die Haare aus der Stirn. „Sei glücklich“, sagte er.

Als die ersten Sonnenstrahlen des nächsten Tages in das Zimmer fielen, wachte Luis auf und bemerkte, dass er allein war.

„John?“, fragte er die Stille.

Und so beginnt es …

Paradoxon

In dem Moment, in dem wir zu verschwinden begannen, wurden wir für jeden sichtbar.

All die Mühe, die wir darauf verwendet hatten, zu sein wie alle anderen, unauffällig und angepasst unsere Leben zu leben, nachdem uns der Zeitgeist erneut die kalte Schulter gezeigt hatte – umsonst! Wie ein Chamäleon, das urplötzlich seine Fähigkeit zur Tarnung verliert, waren wir nicht mehr in der Lage, uns zu verstecken. Welch eine Ironie, vom eigenen Körper verraten zu werden! Welch Pathos! Du hast das wahrscheinlich komisch gefunden. Noah hat immer gesagt, du hättest einen ziemlich schrägen Sinn für Humor.

Als wir verschwanden, hilflos, in Schockstarre, ungläubig an uns herabsehend, lieferten wir ihnen den perfekten Vorwand, gegen uns vorzugehen. Wie Schafe haben sie uns zusammengetrieben; wir haben noch nicht einmal geblökt. Das zumindest hast du vorhergesehen.

Und wir – wir hätten auf dich hören sollen.

Hattest du Angst, als sie kamen? Oder warst du erleichtert? Erleichtert, dass es endlich vorbei war? Dass die Wochen der Flucht und des Versteckens ein Ende gefunden hatten? Ein wenig von beidem, nehme ich an.

Vielleicht hast du schon tagelang im Dunkeln gelegen, die Hände so auf den Rücken gebunden, dass dir die Fesseln schmerzhaft in die Haut schnitten. In einem kahlen, verdreckten Raum, der nach Fäkalien und Erbrochenem stank, weil sie dir keine Toilette oder wenigstens einen Eimer zur Verrichtung der Notdurft überlassen haben. In ihren Augen haben Menschen wie du keine würdevolle Behandlung verdient. Wir alle sind wieder Abschaum, Bodensatz. Weil wir anders sind. Weil wir hier sind. Weil wir existieren. Frauen, Männer, Schwule, Lesben, Transgender, ganz egal. All die vielen Buchstaben, mit denen wir uns früher geschmückt haben, die unsere Eigenarten betonen, unsere Unterschiede herausstellen sollten: LGBTIQ … manchmal hatte ich Angst, dass uns das Alphabet eines Tages nicht mehr ausreicht. Für unsere Schlächter spielten diese Feinheiten sowieso keine Rolle: Hauptsache registrieren, kasernieren und zum Schluss – eliminieren.

Aber du, du warst ihnen ein besonderer Stachel im Fleisch. Weil du vor ihnen gewarnt hast wie der oft zitierte Rufer in der Wüste. Sie haben dir das Pamphlet um die Ohren geschlagen, in dem du sie vor aller Welt bloßgestellt hast, weswegen sie nun ein Exempel an dir statuieren wollen. Hochverrat haben sie deine Worte genannt. Verunglimpfung der Staatsgewalt. Zersetzung der öffentlichen Moral. Vielleicht hast du ihnen ins Gesicht gelacht. Vielleicht hättest du besser geschwiegen. Noah hat gesagt, dass du noch nicht einmal besonders stolz darauf warst, sie mit deinen Zeilen demaskiert zu haben. Eine Notwendigkeit hast du es genannt, eine Pflicht. Obwohl das für mich ein wenig eitel klingt – nichts für ungut. Dir gegenüber fällt es mir schwer, meine Objektivität zu wahren. Dabei war ich es, der dich zu dem gemacht hat, was du nun bist: ein Märtyrer.

Wenn du nachts in deinem Verlies nicht schlafen konntest, hast du versucht, die Geräusche zu identifizieren, die durch die Mauern drangen? Der Auspuff eines Autos, Stimmen, die Befehle brüllten, einmal – es muss früher Morgen gewesen sein – vielleicht sogar das Zwitschern eines Vogels. Es klang wohl irgendwie irreal, eine kurze Erinnerung an eine Welt, der du schon nicht mehr angehörtest.

In den Tagen zuvor haben sie dich vielleicht misshandelt. Nein, nicht vielleicht. Mit Sicherheit. Wir haben all das schon zu oft gehört, mit angesehen, miterlebt: Deine Lippen waren ausgetrocknet und rissig. Wahrscheinlich hast du kaum zu essen bekommen und nur hin und wieder ein wenig Wasser. Wenn ihnen danach war, haben sie dich geschlagen, haben dir voller Hass ihre Fäuste ins Gesicht getrieben, dich mit Tritten malträtiert. Dein linkes Auge zugeschwollen und dein Körper übersät mit Blutergüssen. Eine deiner Rippen könnte gebrochen worden sein, denn du hattest Schmerzen beim Atmen. Einer deiner Finger war zerquetscht, die Knochen unter den Sohlen eines schweren Stiefels zertrampelt wie Stroh. Vielleicht hast du deshalb ihre Gesichter nie gesehen, vielleicht waren sie deshalb immer darauf bedacht, sich zu vermummen. Anonym lässt sich Gewalt ungehemmt ausleben. Andererseits … vielleicht war tief in ihren Seelen ein wenig Scham, saß dort ein Rest Erkenntnis, dass es falsch war, was sie taten. Sie haben sich wohl auch davor gefürchtet, dass du dir ihre Gesichter einprägen könntest. Vor den Stellen deines Körpers, auf denen sich das Verschwinden manifestiert wie ein Schandmal – kleine durchsichtige Kreise, vielleicht auf der Schulter, auf dem Oberschenkel –, sind sie allerdings zurückgeschreckt. Und wenn sie sie doch einmal versehentlich berührt haben, sind sie zusammengezuckt, als wären sie verbrannt worden.

Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld …

Streich das Letzte aus deinen Gedanken. Manchmal befürchte ich, dass mir mein schlechtes Gewissen den Verstand raubt. Es ist sinnlos, sich auf die Brust zu schlagen und um Vergebung zu bitten. Alles, was ich wollte, war, John zu retten. Wie sich herausstellte, war ich ein Narr. Du weißt, dass ich alles tun würde, um auch dich zu retten? Für Noah?

Ich stelle mir vor, dass sie nicht in der Lage waren, deinen Willen zu brechen, aber tatsächlich weiß ich es nicht. Es ist schwer, sich der Hoffnungslosigkeit zu erwehren, wenn man allein ist. Eine Weile hast du vielleicht versucht, die Abfolge der Tage ins Mauerwerk zu ritzen, um sie zu dokumentieren oder wenigstens eine Spur zu hinterlassen, wie unbedeutend auch immer, aber irgendwann ist dir bestimmt jedes Gefühl für Zeit abhandengekommen. Darin gleichen wir uns.

Und natürlich haben sie dich missbraucht, vergewaltigt. Ist es nicht das, was sie immer tun? Den Körper des Opfers unterjochen, als ultimative Machtdemonstration. Manchmal haben sie dir vielleicht einen Gewehrlauf in den Darm getrieben, und über dein Brüllen und Schreien und dein verzweifeltes Betteln um Mitleid hast du ihr Lachen und das verräterische Klicken gehört, wenn sie den Abzug der Waffe entsichert haben. Dann hast du unwillkürlich den Atem angehalten und auf den Schuss gewartet, der deinen Körper von innen zerfetzt. Aber dazu ist es nie gekommen, denn sie wollten dich fliegen sehen. Manchmal sind sie wohl auch einfach so über dich hergefallen, zu zweit oder dritt, im Schutz der Dunkelheit, damit niemand erfährt, dass sie dir genau die Dinge antun, die sie an dir so hassen. An uns allen.

In ihrer Anwesenheit hast du dir deine Verzweiflung verboten; du wolltest ihnen nicht auch noch diese Genugtuung bieten. Stattdessen hast du versucht, wenigstens in deiner Vorstellung an einen anderen Ort zu fliehen, hast deine Gedanken mit Widerhaken in die Vergangenheit gebohrt, in die Idee von ihm. Sein Gesicht, sein Lächeln, seine Berührungen. Nur wenn du allein warst, hast du dir Tränen gestattet – denn in der Dunkelheit ist es dir schwerer und schwerer gefallen, dich an ihn zu erinnern. Du hattest Angst, dass alles nur ein Traum war, dass nichts davon tatsächlich passiert ist. Zum Schluss hast du dich kaum an den Klang seiner Stimme erinnert, an den Geschmack seines Kusses. Du hattest Angst, dass dir irgendwann auch sein Name entfällt: Noah.

Und nun sind sie da. Sie reißen dich zu zweit nach oben, aber du bist zu schwach, um zu laufen, deine Beine knicken ein. Flüche ausstoßend schleifen sie dich aus dem Raum, und dann geht es viele Treppen nach oben. Drei, vier, fünf Etagen. Zum ersten Mal seit Tagen spürst du Wind auf deinem Gesicht und in deinen blutverkrusteten Haaren, und du siehst ein Stück Himmel zwischen grauen Betonmauern aufblitzen. Du begreifst, dass sich das Gebäude, in dessen Keller sie dich gefangen gehalten haben, noch im Rohbau befindet. Immer höher hinauf geht es, höher und höher, bis du schließlich auf das flache Dach des Hauses gezerrt wirst.

Sie führen dich an den Rand des Gebäudes, bis deine Fußspitzen darüber hinausragen, und für einen Moment treffen sich deiner und der Blick eines deiner Folterer, der dir seine Hand auf die Schulter legt, damit du nicht in letzter Sekunde versuchst zu entkommen. Schwarze Uniform, weißes Christuskreuz. Tausende wie er haben das Land wie eine Plage überzogen. Er ist der jüngste deiner Peiniger, wahrscheinlich noch ein halbes Kind. Du siehst Zweifel in seinen Augen aufblitzen, dann wendet er hastig den Blick ab. Aber dieser eine Moment, so kurz wie der Flügelschlag eines Vogels, gibt dir neue Kraft. Sie werden nicht für immer die Oberhand behalten, auch ihre Macht ist endlich.

Jemand dreht deinen Kopf so, dass du nach unten sehen musst, auf die Straße tief unter dir, wo sich nach und nach Menschen in gebührendem Abstand versammeln, klein wie die Figuren eines Brettspiels. Manche schauen nur stumm nach oben, die Hände in den Taschen ohnmächtig zu Fäusten geballt, die anderen grölen mit hassverzerrten Mündern Wortfetzen, die der Wind davonträgt, aber du kannst dir denken, was sie rufen: „Flieg, Schwuchtel, flieg!“ und „Spring endlich!“ Sogar Fernsehkameras kannst du sehen, dein Tod ist ein Ereignis von öffentlichem Interesse. Du reißt deinen Blick los von dem Mob, der auf das blutige Spektakel deines aufschlagenden Körpers wartet, schaust über die Dächer der Stadt. Die hässlichen Spuren des Umsturzes sind längst getilgt: die Fassaden wieder adrett hergerichtet, die Einschläge der Kugeln verputzt, der Asphalt von den Blutlachen befreit. Der Friedhof besitzt eine ganze Reihe hastig ausgehobener Gräber, die langsam absinken. Gegenüber an einer Hauswand ist auf einem riesigen Plakat das Konterfei des Letzten Gesandten abgebildet, graue Haare, ein ebensolcher militärisch kurzer Bart, stechende, mitleidslose Augen, und darunter der Slogan des neuen Regimes: Für Elysium! Für das wahre Amerika! Vielleicht bemerkst du auch den Raben, auf der Regenrinne des Hauses gegenüber, sein schwarzes Federkleid glänzt wie Satin. Du siehst, wie er den Kopf zur Seite legt, dich anstarrt und ein Mal krächzt – Nimmermehr! –, und du glaubst an ein Zeichen. Aber Noah hat gesagt, dass es nur eine Geschichte ist.

Und dann gewinnt deine Furcht doch die Oberhand. Du fängst plötzlich am ganzen Körper an zu zittern, so wie du noch nie gezittert hast in deinem Leben. Dein Herz rast, es ist, als wollte es deinen Brustkorb sprengen, und dein Atem kommt flach und stoßweise. Ein Wimmern entflieht deinen Lippen. Du spürst, wie sich deine Blase entleert – eine letzte Erniedrigung. Dein Mund ist wie ausgetrocknet. Du begreifst, dass du trotz allem nicht bereit bist zu sterben, willst ihn ein letztes Mal sehen, ihn ein letztes Mal in deinen Armen spüren. Panisch drehst du den Kopf …

Und dann bekommst du einen Stoß, verlierst den Halt, ruderst wild mit den Armen, und die Erde rast auf dich zu.

Leb wohl, mein Freund!

Er ist auf der Suche nach dir, aber er wird dich nicht finden. Nichts als Worte sind von dir geblieben.

All das ist meine Schuld. Verzeih mir.

Universität Helsinki, Forschungszentrum Homosexualität im Historischen Archiv, Prof. Dr. Joona Mäkinen

Abteilung VIII. Geschichte des 21. Jahrhunderts. Ära des Populismus und Fundamentalismus (PopFun)

Sektion 2: Relevante Dokumente zu Widerstands- und Untergrundbewegungen, Klassifizierung III (sexuelle Minderheiten)

Dokument A. „Die Prophezeiung“ Herkunft: Geneviève Bardeau, Anwaltskanzlei Mecken, Bardeau et Grandin, Genf

Ursprung: Unbekannt

Datierung: ca. 2030-2034 (?)

Autor: Willow (?)

Sie werden kommen.

Sie werden kommen aus dem Westen, aus Gottes eigenem Land, mit Bibeln in den Fäusten und Hass in ihren Herzen, die Mägen gebläht vor Selbstgefälligkeit, die Blicke brennend vor Sendungsbewusstsein, auf den Lippen die Botschaft vom Armageddon.

Kreationisten, Fundamentalisten, Bibeltreue, Wiedergeborene, Evangelikale, Reaktionäre, Eiferer – das Gesindel Amerikas.

Sie glauben: dass Gott den Menschen nach seinem Antlitz erschaffen hat und mit ihm die Welt in sieben Tagen.

Sie glauben: Wenn man ihnen sagt, dass die Welt eine Scheibe ist und die Erde der Mittelpunkt des Universums, dann glauben sie auch das, weil sie sich fürchten, über den Tellerrand ihrer Existenz zu schauen.

Sie werden kommen, im Namen der Scheinheiligkeit und unter dem Deckmantel von Sitte und Anstand. Sie werden behaupten, dass unsere Art zu leben widernatürlich ist, dass wir der Abschaum des Universums sind, ein Irrtum der Natur, Träger tödlicher Krankheiten. Sie werden sagen, wir gefährden ihre Kinder – und kaufen selbst Minderjährige für Sex. Sie werden sagen, wir verderben die Jugend – und befriedigen selbst ihre Geilheit beim Anschauen von Kinderpornos, je jünger, desto besser! Sie werden sagen, dass wir einen unmoralischen Lebenswandel haben, zügellos sind und wahllos unsere Partner wechseln, während sie heimlich ihre Ehefrauen betrügen in heruntergekommenen Motels, in Wohnwagen, Bordellen und dunklen Hauseingängen. Und ihre Doppelmoral wird ihnen zur zweiten Natur geworden sein.

Sie werden sagen, dass unsere Art zu lieben eine Sünde ist, schmutzig, pervers, krank, abartig, nicht gottgefällig. Sie werden kommen und uns verdammen.

Sie werden kommen, und sie werden nicht eher ruhen, bis sie uns sprachlos gemacht und entrechtet haben, ausgestoßen und ausgemerzt.

Sie werden Gesetze beschließen, die es uns verbieten, ihre Geschäfte zu betreten. Sie werden uns verbieten zu heiraten, als Mann und Mann, als Frau und Frau, sie werden uns verbieten, Kinder zu zeugen und großzuziehen. Sie werden uns ausgrenzen, an den Pranger stellen, vor ihre Gerichte zerren. Sie werden uns verbieten, uns zu lieben, und uns aus ihren Dörfern und Städten jagen. Und zum Schluss werden sie uns verbieten zu leben.

Sie scharren schon mit den Hufen, sammeln hinter sich die Idioten dieser Welt, die Kleingeister, die Ewiggestrigen, all die, die Angst vor Veränderung haben. Sie werden kommen.

Sie werden kommen aus den Wüsten dieser Welt, die sie mit Terror und Angst in die Knie zwingen. Junge Männer mit langen Bärten und verblendetem Geist werden Gewehre und schwarze Fahnen schwenken, die Gesichter vermummt, die Leiber mit Sprengstoffgürteln geschmückt, die rachsüchtige Lehre eines missverstandenen Gottes und seines Propheten schreiend. Sie werden unsere Welt mit Bomben in Schutt und Asche legen, sie mit Krieg und Tod und Zerstörung überziehen und nichts als Ruinen hinterlassen.

Islamisten, Extremisten, Dschihadisten, Salafisten, Terroristen – die Fanatiker des Nahen Ostens.

Sie glauben allen Ernstes: dass nach dem Tode 72 Jungfrauen auf sie warten.

Sie glauben: dass sie durch Selbstmordattentate zu Märtyrern werden und dass ihr Gott der einzig Wahre ist.

Sie glauben: Wenn man ihnen erzählt, dass es so etwas wie einen heiligen Krieg gibt, dann glauben sie auch das und erschaffen doch nur ihre eigene Hölle.

Sie werden kommen und uns aus unseren Wohnungen treiben, aus unseren Betten zerren. Sie werden behaupten, dass wir in Sünde leben, während sie selber Frauen vergewaltigen, Kinder verkaufen und mit irrem Glanz in den Augen durch das Blut Unschuldiger waten. Sie werden behaupten, wir wären ein Stachel im Fleisch ihres Glaubens, dass unsere Art zu lieben eine Perversion ist, während sie selbst nur noch fähig sind zu hassen.

Sie werden kommen, Antithese allen Glaubens und aller Religion, „Allahu akbar!“ rufend, „Gott ist groß!“, und sie werden uns zur Schau stellen, sie werden uns misshandeln und schlagen, sie werden uns foltern, sie werden uns verstümmeln. Sie werden uns mit verbundenen Augen auf die Dächer von Häusern treiben, an Händen und Füßen gefesselt, und uns unter Gejohle und freudigen Gewehrsalven in die Tiefe stürzen, während eine aufgepeitschte Menschenmenge Beifall klatscht und lechzend unsere Leichen fotografiert. Die Bilder unserer Hinrichtungen werden sich weltweit in Sekundenschnelle verbreiten, doch kaum jemand wird sich empören. Weil wir es nicht besser verdient haben. Weil wir doch nur wenige sind. Weil wir nicht so sind wie sie.

Sie haben schon begonnen, sie sammeln hinter sich die Psychopathen dieser Welt, die Zukunftslosen, die Enthemmten, die Ausgestoßenen.

Sie werden kommen.

Sie werden kommen aus dem kalten Osten, aus einem Land, das sich seit Jahrhunderten in der Unterdrückung und Ermordung von Andersdenkenden gefällt. Mit geschwellter Brust die Hymne ihres Nationalstolzes singend, werden sie kommen und uns zertrampeln, geduldet von einer Obrigkeit, die uns als Inbegriff moralischer, westlicher Verderbtheit betrachtet.

Altkommunisten, Neonazis, orthodoxe Popen, die Gestrandeten eines untergangenen Regimes, Autoritätshörige, Soldateska – der Mob des großrussischen Reichs.

Sie glauben: dass ein Zurück in die Vergangenheit ein Schritt in eine glorreiche Zukunft ist. Sie glauben: an einen starken Führer, der ihnen das Blaue vom Himmel verspricht und ihnen ihren Stolz zurückgibt.

Sie glauben: Wenn man ihnen sagt, dass Andersdenkende den Staat untergraben, dann glauben sie auch das.

Sie werden kommen, die Biedermänner, die Speichellecker der Mächtigen, die Bewunderer von Zucht und Ordnung und vergangener Größe. Oligarchen, die ihre Chance wittern, Faschisten und Militaristen im Sonntagsstaat, sie alle werden die Gunst der Stunde ergreifen und das Rad der Geschichte zurückdrehen, die Aufklärung niedermachen, die Toleranz verspotten.

Sie werden kommen und unsere Rufe nach Gleichberechtigung verbieten, werden unsere Protestmärsche niederknüppeln und uns blutig prügeln, verhöhnen und bespucken. Wenn wir demonstrieren, werden sie uns unter fadenscheinigen Gründen in ihre Gefängnisse werfen und dort verrotten lassen, zu Zwangsarbeit verurteilen, in Arbeitslager verfrachten.

Im Namen einer schweigenden Mehrheit werden sie Gesetze zum angeblichen Schutz ihrer Jugend erlassen und wollen doch nur jeden Keim von Anderssein im Ansatz ersticken. Sie wollen die Hygiene einer Gesellschaft gewährleisten, tragen das traditionelle Familienbild wie eine Monstranz vor sich her und sind doch selbst verderbt, dass es zum Himmel stinkt.

Sie werden kommen, weil sie glauben, dass unsere Art der Liebe die Grundfesten des Staates erschüttert. Sie werden kommen und uns verfolgen, weil wir in ihren Augen verdorben, degeneriert und asozial sind.

Sie haben ihre Propagandamaschinen schon angeworfen, sie sammeln schon ihre Kohorten aus Verständnislosen, Sadisten, Zuchtmeistern, Populisten, sozialen Verlierern, Träumern von vergangener Größe.

Sie werden kommen.

Sie sind schon hier.

Anmerkungen

Dieses und weitere Dokumente wurden dem Forschungszentrum Homosexualität der Universität Helsinki vor Kurzem von einer schweizerischen Anwaltskanzlei überstellt, in deren Tresor sie weisungsgemäß fünfzig Jahre ungeöffnet lagerten. Die Echtheit wird zurzeit von Experten eingehend geprüft und verifiziert. Die Autoren der Texte sind entweder unbekannt oder ihre Identität ist – wie im Falle der „Prophezeiung“ – nicht zweifelsfrei geklärt; wahrscheinlich handelt es sich um mindestens zwei Personen. Damit stellt diese Textsammlung eine der wenigen überlieferten Quellen von Betroffenen dar, in dem noch immer kaum untersuchten Kapitel der Homosexuellenverfolgung und ihrer Untergrundbewegungen in der Ära des Populismus und Fundamentalismus (PopFun).

Die bisherige Forschung konnte sich nur auf offizielle, staatliche Quellen stützen: Personenregister der sogenannten „Schutzzonen“, Dekrete und Verlautbarungen der beteiligten Regierungen, Behördenunterlagen, Aussagen von Verantwortlichen, Polizei- und Gerichtsakten, geheimdienstliche Aufzeichnungen, Informationen staatlich gelenkter Medien usw. (s.a. Sektion 1: Ausgesuchte Quellen zur Politik der Verfolgung homosexueller Minderheiten. A. Republik Elysium, B. Russische Patriotische Föderation, C. Pan-Arabisches Kalifat).

Vorläufige Bewertung

Dokument A – besser bekannt unter dem Titel „Die Prophezeiung“ ist der historisch und chronologisch älteste Text der Sammlung. Aufgrund der inhaltlichen Bezüge – insb. der auffälligen Auslassungen – ist eine Datierung des Texts auf die Jahre 2030 bis 2034 am wahrscheinlichsten, wenn auch nicht unumstritten. Zum einen werden die kurz darauf eintretenden weltweiten Ereignisse zwar beinahe prophetisch antizipiert, hatten aber zum Zeitpunkt des Verfassens offenbar noch nicht stattgefunden oder waren nur ansatzweise zu erkennen. Hieraus ergibt sich eine Datierung auf die Zeit vor dem Jahr 2034, dem Gründungsjahr der Republik Elysium.

Zum anderen sind die ersten Fälle des „Verschwindens“ nachweislich für das Jahr 2035 erfasst. Da im Text auch hierauf keinerlei Bezug genommen wird, obwohl die Veränderungen eine immense Auswirkung auf die betroffenen Personengruppen hatten, ist es durchaus akzeptabel anzunehmen, dass der Autor dieses Texts noch keine Kenntnis davon besaß.

Nachsatz: Die Abfassung des Dokuments im Stile eines Pamphlets oder einer Predigt legt nahe, dass es als Warnung gedacht war. (Religiöser oder spiritueller Hintergrund des Verfassers?) Daher auch der geläufigere Titel „Die Prophezeiung“, der sich schon jetzt in der Öffentlichkeit eingebürgert hat. Über den Autor der „Prophezeiung“ ist außer seinem Namen nichts bekannt. Alle Hinweise auf seine Identität wurden von der Republik Elysium ausgelöscht. Evtl. vorhandene, weiterführende Informationen gingen in den Wirren der Kriege verloren, die Elysium zuerst mit seinem nördlichen Nachbarn, später mit der abtrünnigen Republik Kalifornien führte.

Inwieweit der Text zirkuliert wurde, ist unklar. Fragmente davon sind allerdings auch in den Überresten von Tel Aviv sowie in Berlin, Johannesburg und New York aufgetaucht, zum damaligen Zeitpunkt Zentren sexueller Minderheiten und einer Untergrundbewegung, außerdem auf den verschiedenen sogenannten „Fluchtinseln“. Die Echtheit eines weiteren Fragments aus St. Petersburg wird zurzeit untersucht.

(P. Korhonen, Archivarin)

Querverweis: Die tripolare Welt der Militärtheokratien in der PopFun-Ära des 21. Jahrhunderts

Querverweis: Zerfall der US-amerikanischen Demokratie und Geschichte der Republik Elysium, Gründung und Frühphase bis zum Großen Massaker von 2048

Querverweis: Geschichte des unabhängigen Kalifornien

Querverweis: Die Herrschaft des Pan-Arabischen Kalifats

Querverweis: Die Russische Patriotische Föderation (RPF)

Querverweis: Die Ablehnung der Vielfalt: Die Verfolgung des Anderen während der populistisch-fundamentalistischen Ära. III. Sexuelle Minderheiten

Querverweis: Das Verschwinden. Genese einer Veränderung