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Tilman Thiemig

Ahrenshooper

TODHOLZ

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Für Leander-William

VORAB

»Ahrenshooper Todholz« erzählt eine fiktive Geschichte, die auf einem realen Ereignis, dem Verschwinden des Malers Alfred Partikel im Oktober 1945, basiert. Zur Ahrenshooper Wirklichkeit zählen auch die historischen Künstlerpersönlichkeiten. Das Romangeschehen führt die Leserschaft überdies zu zahlreichen existierenden Schauplätzen. Die dort anzutreffenden zeitgenössischen Personen sind jedoch Gestalten meiner Fantasie, mögliche Ähnlichkeiten somit lediglich dem Zufall geschuldet. Die Kapitelüberschriften verweisen auf Gemälde und andere Arbeiten Alfred Partikels.

Inhalt

1. Waldinneres

2. Märzsonne

3. Paar mit Hund

4. Namenlos

5. Dorfstraße

6. Blick aus dem Atelierfenster

7. Gartenbestellung

8. Kleiner Flügelaltar

9. Boddenlandschaft

10. Bauer im Frühling

11. Mit Schwan

12. Landschaft mit Scheune

13. Hafen von Königsberg

14. Stillleben mit Krug

15. Fischland

16. Kämpfende

17. Vollmondnacht

18. Der Pflüger

19. Wiesenpflanzen

20. Winter auf dem Fischland

21. Dorfstraße im Winter

22. Frauenbildnis im Profil

23. Bauernmädchen

24. Finnland

25. Heuwenderin

26. Dornenhaus

27. Badende

28. Am Strand

29. Boddenblick

30. Waldinneres

31. Frau mit zwei Ziegen

32. Niehagen

33. Landschaft mit Regenbogen

34. Erntedank

Quellen und Literatur

DANK

1. Waldinneres

Augen. Es waren Augen, die er dort inmitten des Waldes sah. Schwarz, funkelnd. Und dann die langen Wimpern. »Klimperwimpern«, hatte Großmama Ruth nach seiner Geburt gesagt, »wie bei so einem Charlestongirl.« Charleston war schon lange kein Modetanz mehr. Und seine Augen hatten vor Jahrzehnten ihr Funkeln verloren. Nahmen die Geschehnisse, die sie im Lauf der Zeit sahen, sehen mussten, den Blicken der Menschen ihren Glanz? Oder war es einfach nur das Alter?

Bob A. Zimmermann kehrte zurück. Bildbetrachtung:

Waldinneres

Alfred Partikel. Um 1936.

Sepia, Wasserfarbe auf Leinwand.

160,3 x 116,0 cm Privatbesitz Hamburg.

Der kleine Robert Aaron hatte die Arbeit schon gesehen, als die Farben gerade erst getrocknet waren. Auf Partikels Staffelei. Im Atelier. Zusammen mit Nele, wie er sie nannte, Hansi, Fritz. Manchmal waren die Großen dabei: Adrian, Bärbel, ihre Freundin Mine, Ute Marcks, die Saatmänner, Olaf auch. Der Maler begrüßte sie gerne dort, gab ihnen Papier, Stifte, Anregung, Begeisterung. Tante Doro kam mit Kakao und Streuselkuchen.

Über 80 Jahre waren seit diesen Nachmittagen im Juni, Juli, August vergangen. Zimmermanns waren bis auf Ausnahmen nur in der Sommerfrische nach Ahrenshoop gekommen. Hatten auch kein eigenes Haus errichtet. Obgleich sich das sein Vater Josef hätte leisten können. Durchaus. Als die Familie Ende der Zwanzigerjahre das Künstlerdorf am Ostseestrand für sich entdeckt hatte, lief sein Verlag in Berlin tadellos. Tadellöser sogar. Noch.

Josef Zimmermann hatte aber schon so seine Ahnungen gehabt. Wollte bereit sein. Auf dem Sprung. Außerdem kannte er Gott und die Welt. In Berlin wie in Ahrenshoop. Künstler, Schriftsteller selbstredend, aber auch Fischer, Bauern, einige Kapitäne. So wechselten sie die Quartiere. Wohnten hier, dort. Seine Freunde und er waren sowieso am liebsten draußen. Am Strand. In den Dünen. Im Wald.

»Also dieses Waldstück, das ist schon schön, toll gemacht. Aber mir ist das irgendwie zu unheimlich, das wirkt so bedrohlich, wenn ich das so sagen darf. Als ob da ein Magnet ist, hinter den vielen Bäumen, der einen hineinzieht. Und dann diese Gesichter, die sich im Dunkel verstecken … Ich für meinen Geschmack mag ja lieber die Bilder mit Wasser. Besonders die von dem Malchin. Der konnte malen! Da möchte man gleich rein springen und nass werden. Das ist richtig erfrischend!«

Auch Zimmermann fühlte sich wie von kaltem Wasser aus Erinnerungen an verlorene Zeiten aufgeschreckt. War wieder im Hier und Heute. Im März der Gegenwart. Inmitten moderner Architektur und klassischen Bildwerken. »125 Jahre Künstlerkolonie Ahrenshoop«. Mit einem erfrischenden Sonntag zur Seite. Richard Sonntag. »Ihr Taxi zwischen Ahrenshoop und Zingst. Seit 1990« wie es das eingeschweißte Kärtchen verkündete. Stolz präsentierte es der Mann neben ihm am Revers seines Blazers mit den Messingknöpfen. Fast ein Chauffeur alter Schule. Zimmermann hatte ihn für die Zeit seines Aufenthalts engagiert. Er war nun seit Jahrzehnten nicht mehr in Deutschland gewesen. Daher verspürte er wenig Lust, seine Defizite im hiesigen Straßenverkehr mit Schweißperlen auf kahlem Schädel zu bezahlen.

»Entschuldigung, Herr Zimmermann, aber wie sieht es aus, wollen wir weiter? Sie haben ja noch das andere Museum auf dem Plan, das mit der Ausstellung zum Verschwinden von diesem Partikel.« Sonntag besann sich auf das in ihn gesetzte Vertrauen als Fahrer wie Gefährte und drängte dezent zum Aufbruch.

»Gerne, lieber Herr Sonntag, möchten Sie mich begleiten?«

»Ach nein, eher nicht. Diese ganzen Modernen mit ihren Perforierungen, Installationen und dem anderen Klempnerkrams, das ist nicht so mein Fall.« Sonntag schien den Kunstgeschmack eines Großteils seiner Zeitgenossen zu teilen. Bedauerlicherweise.

Das fand auch Zimmermann. »Schade, aber gut. Dann möchten Sie ja vielleicht nebenan in der Bibliothek warten?«

»Nee, ich husche in der Zeit mal zum Fischer rein, Lore hat mir ja noch ’ne Liste mitgegeben. Danach gönne ich mir vielleicht was an der Bude. Aber keinen Brathering. Eher was mit Matjes.« Er lächelte verschmitzt.

Lore Bradhering war Zimmermanns Pensionswirtin und zugleich Sonntags Schwägerin. Beide waren seit Längerem verwitwet. Eigentlich ein ideales Paar, was sich aber weder Lore noch Richard eingestehen wollten. Richard war sowieso in erster Linie mit seinem alten Mercedes verheiratet. Den letzten, Gustav genannten Wagen, aus seiner einst stattlichen Flotte von sieben Taxen, hegte er wie einen Schatz.

Ungeachtet des Schmuddelwetters war der Benz daher tadellos gepflegt, den die beiden vorm Kunstmuseum Ahrenshoop bestiegen und bereits nach zwei Kilometern wieder verließen. Zimmermann übernahm das Parkticket und suchte Münzen hervor. Er kämpfte gerade mit dem Automaten, als ihm unter den zahlreichen Bustouristen und farbenfroh gegen den Regen gewappneten jungen Familien ein älterer Mann auffiel. Nicht nur, dass er von auffallend kleiner Statur war und ein kleines Körbchen unter dem Arm trug, auch seine Mütze und seine Tuchhose schienen eingelaufen. Eine zu kurze Hose bei einem so kleinen Mann erschien Zimmermann merkwürdig. Er schaute dem Männlein nach, das tippelnden Schrittes die Dorfstraße entlangeilte. Dann beeilte auch er sich, gab Sonntag den Parkschein und machte sich auf den Weg zum Neuen Kunsthaus.

Während des Fluges von Halifax nach Berlin vor einigen Tagen hatte Zimmermann viel über Zufälle und Parallelitäten nachgedacht. Was hatte es zu bedeuten, dass gerade jetzt, über 70 Jahre nach dem rätselhaften Verschwinden Alfred Partikels, sich nicht nur er, sondern zahlreiche Künstler mit diesem Fall beschäftigten? Sollte es womöglich zu Überschneidungen kommen? Könnte ihm die aktuelle Ausstellung weiterhelfen? Wäre sein Auftrag, sein wirklich allerletzter als Anwalt, das hatte er sich geschworen, vielleicht schon in wenigen Tagen erfüllt? Die Lösung gefunden?

Gespannt betrat er das Haus am Bernhard-Seitz-Weg. Die junge Frau am Empfang erklärte ihm wortreich, was ihn dort erwartete. Er hörte zu, nickte beflissen, lächelte. Dankte. Sein Wissen, seine Rolle, sein Hintergrund taten nichts zur Sache. Noch nicht. Er war nur ein alter Mann im Tweedanzug mit einem Gehstock. Sehr alt. Freundlich. Neugierig.

Aufmerksam beschritt er die Räume. Schaute hier, las dort. Verweilte. Hörte zu. Fand diese Arbeit interessant. Entdeckte dort eine spannende, wenn auch fiktive Spur. Verwarf manches als zu absurd, zu verwegen. Oder aber banal. Schön zum Beispiel die nie geschriebenen Briefe Partikels an die eigene Gattin Dorothea. Ebenso die Vitrine der Fundstücke, Fotografien, Rechnungen, Aufzeichnungen. Wie ein Blick in die Truhe seiner eigenen Familie. Ihrer Auflösung. Seines eigenen Verlustes.

Auch der schwarze Reiter fand seinen Blick. Doch forderte der Erlkönig nicht das Leben des Sohnes statt jenes des Vaters? Vielleicht ging es ja darum? Oder um die Angst im Allgemeinen. Die Angst im Wald. Die Angst vor der Auflösung. In einem, in etwas anderem. Größerem? Zimmermann fing an zu pfeifen.

Überhaupt. Jene Werke, die mehr dem Wesen des Verschwindens nachspürten, als denn den konkreten kriminalistischen Spuren, Theorien, Möglichkeiten im Fall Partikel, sprachen ihn besonders an. Auch wenn sein eigentliches Anliegen ja ein anderes war und er zunächst gehofft hatte, die Sache schnell über die Bühne zu bringen, um bald nach Kanada zurückfliegen zu können. Doch vielleicht gefielen ihm solche mehr philosophischen Arbeiten sogar deswegen? Lockte ihn dort etwas hinter den Spiegeln?

Wie hatte schon Partikel selbst es einst in einem Brief an seinen Freund, den Bildhauer Gerhard Marcks, als Aufgabe formuliert: »Manches ist in dieser Zeit entstanden, vieles verworfen, doch das meiste bleibt doch noch zu tun übrig, das zu finden, was hinter den Dingen einer Landschaft steht.«

Warum sollte es nicht auch eine Herausforderung sein, jenes zu finden, was hinter den Dingen, sprich Fakten, Tatsachen, einzelnen Elementen eines mutmaßlichen Kriminalfalls wartete? Für den Künstler wie für den Menschen. Was wohl jene neun Personen, als Künstler wie Menschen, mit der Aufgabe anfangen, die er ihnen morgen stellen würde? Zimmermann spürte, wie ihn dieser Auftrag immer mehr fesselte, auch wenn es ihm ursprünglich davor gegraust hatte, in das Land seiner Kindheit zurückzukehren. Aber Eindeutigkeit hatte noch nie zu seinen Stärken gezählt.

Schade, dass Sonntag nicht mitgekommen war. Zumal keine der von ihm gefürchteten Perforierungen, besser gesagt, Performances angeboten wurde. Er hätte gern sein Urteil gehört, seine Meinung erfahren. Das würden sie nachholen. Bestimmt!

Plötzlich erwachte ein großer Monitor zum Leben. In Schwarzweiß zeigte er einen Ausschnitt aus einem Waldstück. Und einen kleinen Weg. Zimmermann erkannte ihn. Den Eingang zum Ahrenshooper Holz. Im linken unteren Bildschirmeck die genauen Koordinaten.

Zugleich ertönte blechern, aber deutlich ein Gespräch. Zwei Spaziergänger. Ausgezogen, um das Gruseln zu lernen. »Und hier soll der Maler verschwunden sein? Einfach so? Ob hier nachts sein Geist umgeht?«

»Klar, das müssen wir mal testen. Sonst ist ja nicht viel los in dem Kaff. Aber, wenn es die Kasse bezahlt, warum dann nicht sechs schicke Wochen Reha in Meckpomm? Schau mal, dort …!« Die Stimme des Mannes brach ab.

Bildwechsel. Eine andere Einstellung. »Emil, nun komm her, auf den Weg und lass die Blätter da! Die piksen nur. Und giftig sind sie auch. Fiete, hast du nicht gehört, ihr sollt nicht so weit weggehen! Da gibt es Wildschweine. Jetzt aber los, Emil!«

Eine etwas überfordert wirkende Mutter mit zwei Jungen, etwa sechs, sieben Jahre alt. Sie eilte sich, der Wildnis zu entkommen, die ihren Söhnen als Märchenwald erschien. So wie ihm und seinen Freunden. Damals.

Neuerlich kam eine andere Kamera ins Spiel. Eine ruhige Aufnahme.

Buchen. Birken. Jede Menge Totholz. Und im Hintergrund Stechpalmen. Wie Zuschauer im Halbrund gruppiert. Als Zimmermann sah, wie zwei große dunkle Vögel ins Bild schossen, erschrak er für einen Moment. Schwarzspechte hatte er schon lange nicht mehr gesehen.

Insgesamt konnte Zimmermann sechs verschiedene Perspektiven zählen, die sich dem Betrachter im permanenten Wechsel als Installation zeigten. Eine großartige Vermessung der Vermutungen. Das gefiel ihm. Doch die Wachposten gaben ihre gefangenen Eindrücke in Bild und Ton wieder. Das gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht. Sein Geheimnis sollte noch gewahrt bleiben. Zimmermann wünschte sich verschwiegene Plätze.

Da fing Kamera 1 den Blick eines Suchenden ein. Ein Mann, etwa Mitte 50. Lichtes Haar. Beginnender Bauchansatz. Leicht verschwitzt, trotz geringer Temperaturen. Rauchend. Nervös, ungeachtet der frühen Nachmittagsstunde. Er musste Kempowski anrufen.

2. Märzsonne

Einige Kilometer weiter schwitzte Kempowski stärker. Die Sonne war inzwischen hervorgekommen und ein abenteuerlicher Marsch lag hinter ihm. Sehr unwegsam, das Gelände. Warum ihn der sonderbare Anwalt aus Kanada nur zu diesem abgelegenen Hochsitz gelotst hatte? Auch wenn der Blick auf den Bodden schon schön war. Das Glitzern der kleinen, leicht bewegten Wellen. Die ganze Angelegenheit war ihm von Anfang an merkwürdig vorgekommen. Doch das in Aussicht gestellte Honorar war überaus verlockend. Seine Kanzlei in Rostock lag nahezu brach. Sein Konto ebenfalls. Beides durchaus eigenes Verschulden. Fehlte ihm doch nicht nur jegliche Konzilianz im Umgang mit Klienten wie Kollegen. Er hatte schlichtweg keine Lust mehr auf die Banalitäten des juristischen Alltags. Schrieb stattdessen lieber. Träumte in den Tag. War auf der Suche nach dem Besonderen. Dem Ungewöhnlichen.

Und ungewöhnlich war das Ansinnen des Mannes aus Halifax schon. Ebenso wie dessen Gebaren. Er hatte ihm tatsächlich einen Brief geschrieben, in dem er ihn um seine Unterstützung bei einer »etwas außergewöhnlichen Testamentsangelegenheit« gebeten hatte. Da Kempowski auf dem gediegenen Briefkopf keine E-Mail-Adresse entdecken konnte, hatte er anrufen müssen, um sein Interesse zu bekunden. Aber in dem Gespräch hatte er nicht viel mehr als den heutigen Termin und Treffpunkt erfahren. Sowie einen Honorarbetrag, der seine Bedenken dann entscheidend relativiert hatte.

Vor einer Stunde hatte ihn dann Zimmermann angerufen. Tatsächlich von einem Smartphone. Der Bursche schien endlich in der kommunikationstechnischen Neuzeit angekommen zu sein. Blieb aber nach wie vor geheimnisvoll. Meinte nur, »dass er den Treffpunkt aus Sicherheitsgründen modifizieren möchte«. Und beschrieb ihm dann einen Weg, den es nicht gab. Nicht mehr gab, vielleicht. Kempowski hatte sich trotzdem durchgeschlagen und dann doch den von Zimmermann erwähnten Hochsitz gefunden. Warum man ein solches Gespräch unbedingt mitten in der Pampa führen musste, war ihm ein Rätsel. Komischer Kauz.

Dieser Eindruck verstärkte sich, als Kempowski einen älteren Herrn über die Wiese herankommen sah. Wehende Mantelschöße, verwegener Hut, ein energisch geschwungener Spazierstock. Später würde Kempowski wissen, dass Zimmermann bei ihrer ersten Begegnung eine gewisse Ähnlichkeit mit den Malern der ersten Künstlerkolonie gehabt hatte. Als ob er dem Bodden entstiegen wäre, den Wassern der Vergangenheit.

Zimmermann begrüßte Kempowski schon aus der Ferne mit einem freundlichen Winken. Als er den noch immer schwitzenden, deutlich jüngeren Mann erreicht hatte, meinte er lakonisch: »Ist das nicht herrlich, an so einem wundervollen Frühlingstag durch die erwachende Natur zu schreiten? ›Vom Eis befreit sind Strom und Bäche, der alte Winter in seiner Schwäche, zog sich in raue Berge zurück.‹ Von denen es ja hier nur so wimmelt.« Mit weiter Geste wies er zu einem nahen Hügel, der von einem Sendemasten gekrönt wurde. »Ja, schön, Herr Kempowski, dass Sie den Weg gefunden haben.«

»… auch wenn wir, beziehungsweise Sie es bequemer hätten haben können. Ein Treffen bei mir in Rostock vielleicht, wenn es denn um eine so geheimnisvolle Angelegenheit geht? Sie sind, mit Verlaub gesagt, ja auch nicht mehr der Jüngste.« Kempowski wischte sich abermals den Schweiß von seiner Stirn.

»Ach wissen Sie, Herr Kempowski, deutsche Jungen meiner Generation sind seinerzeit ja unter dem Wahlspruch ›Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl‹ herangewachsen. Das galt auch in gewisser Weise für uns ›Judenbengels‹. Hat manch einem von uns sogar geholfen, diese Haltung. Später dann. Zudem habe ich darüber hinaus eine durch und durch deutsche bildungsbürgerliche Erziehung genossen. Ich bin halt immer noch ein Romantiker, liebe die Natur ebenso wie Inszenierungen. Das mag ich von meinem Vater geerbt haben. Er war nicht nur Germanist und Verleger, sondern hat auch Theater gespielt. In den wilden Zeiten. Sogar mit Gründgens und dem kleinen Mann. Doch, bevor ich ins Plaudern gerate, lassen Sie uns zum Geschäftlichen kommen!«

Behände kletterte Zimmermann die Leiter des Hochsitzes hinauf. Oben angelangt platzierte er Mantel und Hut an einem rostigen Nagel und setzte sich. Es sah malerisch aus. Anschließend holte er eine silberne Taschenflasche aus dem Jackett. »Zum Wohl, werter Kempowski, auf eine gute Zusammenarbeit!«

Kempowski schätzte Brandy. Vor allem guten. Auch am frühen Nachmittag. Nach dem zweiten war er bestens vorbereitet und ganz Ohr für Zimmermanns Erörterungen dieses mysteriösen Auftrags.

»Jenes Wäldchen, das Sie soeben im Schweiße Ihres Angesichts durchquert haben, nennt man das Ahrenshooper Holz. Ein gut 50 Hektar großes Paradies, das vor allem durch seine vielen Stechpalmen charakterisiert ist. Es heißt, dort gibt es den größten Ilexbestand des gesamten europäischen Festlandes. Überdies zeichnet es sich durch sein starkes Schwarzwildvorkommen aus, wie Sie vielleicht bemerkt haben werden. In jenem idyllischen Winkel soll im Oktober 1945 der Maler Alfred Partikel verschollen sein. Spurlos.«

Kempowski schaute leicht besorgt zum Wald. Auch ihm war es dort nicht ganz geheuer vorgekommen und die vielen aufgeworfenen Wildschweinsuhlen hatten ihn schon nervös gemacht.

»Partikel stammte aus Ostpreußen. Wurde 1888 in Goldap geboren und setzte es durch, eine Ausbildung zum Zeichenlehrer zu machen. Nach Studien in Königsberg, München und Weimar verschlug es ihn zunächst nach Berlin. Und Anfang der Zwanzigerjahre schließlich nach Ahrenshoop, das seinerzeit gerade einen Generationswechsel als ›Künstlerkolonie‹ erlebte. Bei Partikel war es jedoch zunächst ein Weg des Herzens. Er heiratete seine Dorothea, baute ein Haus. Kinder kamen, drei an der Zahl, zwei Mädchen, ein Sohn. Sicherlich hat er auch Bäume gepflanzt. Als Künstler galt er als Landschaftsmaler, wobei er, für meinen Geschmack, mehr geschaffen hat, als nur ›nach der Natur‹ zu malen. Mir erscheint bei seinen Arbeiten oft eine zweite Ebene hinter dem scheinbar zu Sehenden. Doch ich bin kein Kunstwissenschaftler. Falls es Sie interessiert«, Zimmermann suchte in seiner Manteltasche und holte zwei Bücher hervor, »hier sind zwei Arbeiten zu ihm. Eine von einem Hamburger Experten und dann ein schönes Buch von der Leiterin des hiesigen Kunstmuseums. Dort finden Sie etliche Werke Partikels. Lohnenswert!«

Kunstabhandlungen waren für Kempowski eigentlich zumeist eher langweilig. Er mochte Bilder, auch Skulpturen. Doch das ganze »Gewese« drumherum … Dennoch nahm er beide Bände, blätterte in ihnen und dankte Zimmermann.

Dieser setzte seine Ausführungen fort. »Einige frühe Werke Partikels erhielten von den Nazis sogar das ehrenvolle Etikett ›entartet‹. Partikel gönnte sich das zweifelhafte Vergnügen, die berüchtigte Ausstellung in München zu besuchen. Seine Haltung im sogenannten Dritten Reich ist schwer zu fixieren. Distanz, innere Emigration, der Spagat zwischen bürgerlicher Grundhaltung und dem Wunsch zum Widerstand – ich möchte mir kein Urteil erlauben. Noch nicht. Auf jeden Fall erhielt er bereits 1929 eine Berufung als Professor für Landschaftsmalerei an die Kunstakademie Königsberg, die er bis 1944 behielt. Dann eine kurze Episode im Volkssturm. Schließlich im Februar 1945 die Flucht mit dem Fahrrad nach Ahrenshoop. Dort erlebte er das Kriegsende, die Befreiung, Besetzung durch die Sowjetarmee. Eine schwierige Zeit, da die Russen ein recht eigenwilliges Regiment führten. Stetig wechselnde Truppen, bisweilen willkürliche Kommandanten. Übergriffe. Plünderungen auch. Schlimmeres ebenso. Dann wieder gemeinsame Konzerte. Immer jedoch Mangel und Entbehrungen. Partikel scheint aber nicht nur künstlerisch in der Natur zu Hause gewesen zu sein. Neben seiner Tätigkeit als Zeichenlehrer an einer provisorisch eingerichteten Aufbauschule für die älteren Kinder des Dorfes erwies er sich als Überlebenstalent. Er fischte, angelte, organisierte Fleisch, sammelte Beeren, Brennholz, Pilze. Letztere sollen ihm zum Verhängnis geworden sein. Am Morgen des 20. Oktobers brach er, noch vor dem Unterricht, Richtung eben jenes Ahrenshooper Holzes zum Pilze sammeln auf. Und ward nicht mehr gesehen. Das Gelände wurde durchsucht, ja, seine Gattin ließ nichts unversucht, um ihren Mann zu finden. Vergeblich. Seitdem gilt er als verschollen. Spurlos. Natürlich schossen nun die Vermutungen, Verdächtigungen, auch Gerüchte wie eben jene Pilze aus dem Boden. Wilderer, marodierende Soldaten, vielleicht Schmuggler. Manch einer meinte auch, er sei mit dem Boot über die Ostsee geflüchtet, um ein neues Leben zu beginnen …«

Kempowski wurde langsam unruhig. Sicherlich eine spannende Geschichte, spannender als Scheidungen, Unterhaltsangelegenheiten oder Klagen gegen irgendwelche Autokonzerne. Wesentlich. »Doch«, er meldete sich dezent zu Wort, »was ist nun unser Part? Und wozu brauchen Sie mich? Soll ich diesen Wald umgraben, um nach seinen Knochen zu suchen? Oder in Russland nach irgendwelchen Veteranen der ruhmreichen Roten Armee?«

»Gemach, gemach, ich möchte Sie nur gründlich auf unsere Arbeit vorbereiten. Die ein weites Feld ist. Die womöglich sogar mit solchen Aufgaben, wie jenen, die Sie eben anführten, zu tun hat. Nur dass wir uns nicht die Hände schmutzig machen werden. Und auch keinen Wodka in traurigen russischen Seniorenheimen trinken müssen. Lassen Sie mich fortfahren! Obgleich, apropos …« Er schenkte nach und reichte Kempowski einen weiteren Brandy. Einen guten. »Wie erwähnt, gab es vielerlei Theorien zum Verschwinden Alfred Partikels. Allerdings keine stichhaltige Aufklärung, Lösung, keine Beweise. Selbst sein Fahrrad, seine Kleidung, sein Korb sind seitdem nicht mehr gesehen worden. Alfred Partikel scheint sich am 20. Oktober 1945 in Luft aufgelöst zu haben.« Zimmermann hielt für einen Augenblick inne und nahm einen winzigen Schluck aus seinem silbernen Flachmann. Dann fuhr er fort: »Nun kommt mein Mandant ins Spiel. Ben Goodman und mich verband, verbindet nicht nur eine lange Freundschaft. Wir haben auch ähnliche Wurzeln. Das sogenannte ›assimilierte‹ deutsch-jüdische Bürgertum. Man könnte auch sagen Preußentum. Unsere Väter legten zum Beispiel keinen sonderlichen Wert auf die Brit Mila, also die Beschneidung ihrer Söhne. Meiner meinte zu diesem Thema nur, dass für ihn jeder Gott armselig ist, der einen beim Pinkeln daran erinnert, dass man an ihn glauben soll.«

»Entschuldigung, aber da Sie gerade das Stichwort liefern. Ich müsste mal kurz …«, unterbrach ihn Kempowski. Fünf Minuten später war er wieder auf der Kanzel und Zimmermann nahm den Faden auf.

»Ben, oder damals noch Benjamin, und ich verbrachten beide unsere Kindheit in Berlin. Und die Sommer in Ahrenshoop. Hier lernten wir uns kennen. Nur, Bens Familie erkannte die Zeichen der Zeit später als meine. Zu spät. Sein Vater vertraute einfach auf seine Verdienste als Wissenschaftler. Und jene im Ersten Weltkrieg. Sein Eisernes Kreuz. Ben überlebte trotzdem. Als einziger seiner Mischpoke. Fand den Weg nach Kanada. Sein gelobtes Land. – Wir liefen uns erst in den Fünfzigerjahren wieder über den Weg. Da war er bereits ein gemachter Mann. Seine Unternehmungen mehrten sich in der folgenden Zeit: Fabriken, Banken, Geschäfte aller Art. Frauen umschwärmten ihn wie das vielzitierte Licht. Nur dass Ben alleine blieb. Und schließlich hochbetagt starb. In diesem Januar. Kurz zuvor hatte er mich um ein Gespräch gebeten, in dem er mir sein Vermächtnis darlegte, vorstellte. Eines der erstaunlichsten, nein, das allererstaunlichste Testament, mit dem ich jemals zu tun hatte. Im Unterschied zu mir hat Ben, ungeachtet seiner wirtschaftlichen Erfolge in der neuen Heimat, die alte nie ganz vergessen können. Sie wohl auch nie wirklich verlassen. So beschäftigte er sich auch in jener Zeit, in der er bereits jenseits des Atlantiks lebte, weiterhin intensiv mit der Geschichte Ahrenshoops. Was er alles gesammelt hat, an Katalogen, Büchern und auch Bildern! Sein Haus in Edmonton glich, gleicht einem Heimatmuseum. Besonders hat er sich wohl mit dem Fall Alfred Partikels beschäftigt. Womöglich weil er ihm als Parabel auf sein eigenes Verschwinden aus dieser Welt erschien …« Zimmermann spürte Kempowskis Ungeduld, der sich erneut eine Zigarette angezündet hatte. Immerhin hatte er einen kleinen Taschenaschenbecher bei sich. Da wiederum die Taschenflasche inzwischen leer war, bemühte sich der alte Mann nun, auf den Punkt zu kommen. »Kurzum, Ben Goodmans Testament ist eine Art Rätsel, ein Wettbewerb, eine Ausschreibung. Hierzu hat er neun Personen aus verschiedenen Kunst- und Kultureinrichtungen Ahrenshoops eingeladen, die, auf drei Gruppen aufgeteilt, den Fall Partikel lösen sollen. Hieb- und stichfest. Mit Beweisen. Als Preis winkt die stattliche Summe von 25 Millionen Euro sowie ein Grundstück am Schifferberg. Überdies weitere sieben Millionen, die sich in unterschiedliche Posten aufteilen. Unter anderem unser Honorar. Spesen natürlich auch.«

Kempowski war nun hellwach. Und sichtlich irritiert. »Was ist das denn für ein Testament? Da gibt es doch nur Probleme. Und wieso das Grundstück?«

»Sicherlich ist eine solche Mission nicht ohne Probleme zu bewältigen. Darum habe ich ja auch Sie dazu gebeten.«

»Und was hat Sie dazu bewogen, mir diese – Ehre zuteilwerden zu lassen? Ich bin ja nun alles andere als ein großartig erfolgreicher Jurist. Nicht einmal ein besonders guter Winkeladvokat«. Kempowski schien die Situation unbehaglich zu werden.

»Ihr Name gefällt mir. Ich kannte mal einen Kempowski. Auch wenn ich inzwischen weiß, dass Sie nicht mit ihm verwandt sind. Doch, die Dinge werden noch komplizierter. Denn das ausgelobte Preisgeld ist mit weiteren Konditionen verbunden. Das siegreiche Team soll mit dieser Summe entsprechend der Vorgaben und nach Abzug der nicht unerheblichen Belohnungen für die Ermittler sowie unserer Honorare und Spesen eine Stiftung gründen. Deren Aufgabe und Ziel ist es, im Anschluss auf dem erwähnten Grundstück einen Gebäudekomplex namens Partikel-Hof zu errichten, sozusagen ein Museum des Verschwindens zu gewährleisten. Zu diesem Zwecke sind außerdem bestimmte, in einer Liste angeführte Bilder Partikels aus privaten wie öffentlichen Sammlungen anzukaufen und ein geregelter Ausstellungsbetrieb zu installieren. Überdies soll ein Stipendiatenwesen entstehen, ein Garten angelegt werden und derlei mehr. Ach ja, Ben legte auch Wert darauf, dass ausschließlich regionale Materialien verwendet werden, das Dach reetgedeckt wird und dass das Erdgeschoss Klöntüren erhalten soll. Bestimmt habe ich noch einige belanglose Details vergessen. Und für all dies benötige ich einen versierten Notar, denn wie Sie wissen, werter Kollege, darf ich als Kanadier in Deutschland kein Notariat ausüben.«

»Aber, aber das ist doch vollkommener Wahnsinn!« Kempowski nestelte die nächste Zigarette aus seinem Etui.

»Mit Sicherheit. Aber, es geht auch um wahnsinnig viel Geld. Und, ich weiß nicht, wie es um ihre Berufserfahrung aussieht, doch für mich ist das der interessanteste Fall, den ich bislang hatte. Und ich mache den Job nun bereits seit über 60 Jahren.« Zimmermann zögerte einen Moment und hielt seine markante Nase in den Wind. Gleich einem Hund, der eine Witterung aufnimmt. »Doch, lassen Sie uns abbaumen, es dämmert bereits. Hier in der Nähe war früher eine Brücke. Da kommen wir flugs zum Koppelweg. Dort wartet mein Fahrer. Wo haben Sie geparkt?«

»Oben, an der Hauptstraße, kurz vorm Weg ins Holz.«

»Gut, dann warten Sie nachher noch ein wenig im Verborgenen und gehen später kurz den Koppelweg hoch und am Ende noch ein paar Schritte nach rechts. Heute möchte ich noch nicht, dass man uns zusammen sieht. Für meinen Fahrer und auch meine Pensionswirtin in Born habe ich die Legende aufgebaut, dass ich auf einer ›sentimental journey‹ zu den Paradiesen meiner Kindheit bin. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, sozusagen. Morgen, nach der offiziellen Testamentseröffnung werde ich mit ihm zunächst für einige Tage nach Berlin fahren. Vorausgesetzt natürlich, dass Sie mein Mann sind und bis zu meiner Rückkehr als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Alles weitere findet sich.«

›Legende! Als ob Zimmermann ein Geheimagent wäre.‹ Kempowski seufzte. Er wirkte mitgenommen. Die aberwitzige Geschichte beschäftigte ihn über alle Maßen. Unzählige Fragen schwirrten durch seinen Kopf.

Der alte Knabe schien hingegen der Ansicht zu sein, genug verraten zu haben. Sonderbar schweigsam schritt er voran. Wechselte die Richtung. Hier entlang. Dann dort. Riedgras. Bemooste Baumrelikte. Dunkle Wasser. Nur hin und wieder fluchte er leise. »Dammich, ich werd’ noch meschugge. Hier muss doch eine Brücke sein …«

Sein designierter Partner stolperte abwesend und schwitzend hinter ihm her. Er malte sich gerade aus, was so eine Geschichte alles für Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Allein aus juristischer Sicht. An alle anderen Komponenten wollte er noch gar nicht denken.

Zimmermann schien seine Gedanken gelesen zu haben. Er hielt kurz an. »Nun schauen Sie nicht so bedröppelt drein. Juristisch ist das Testament wasserdicht. Ich gebe Ihnen morgen eine Abschrift. Wir haben an alles gedacht, keine Sorge!«

Da hatte Kempowski so seine Zweifel. Zum zweiten Mal irrte er nun heute schon auf Pfaden durch die Wildnis, von denen Zimmermann behauptet hatte, dass sie zum Ziel führten. Er hingegen hatte den Eindruck, dass sie sich immer mehr in den Wald hinein schraubten. Wenigstens wurde der Boden jetzt trockener. Obgleich er sowieso bereits mehrmals bis über die Knöchel in Sumpflöchern eingesunken war. Soviel zum Punkte ›wasserdicht‹. Passend zu seiner Stimmung stimmte irgendein Vogel sein dunkles Lied an.

»Ein Steinkauz. Oder, nein, ein Raufußkauz. Es ist wirklich schon spät geworden.« Zimmermann zauberte nun aus seinem Mantel eine Taschenlampe hervor.

Kempowski war ein bisschen versöhnlicher gestimmt. Zumal er sich auf den letzten Metern allen Vorbehalten zum Trotz entschlossen hatte, bei dieser wirren Geschichte mitzuwirken. Das war ja letztendlich genau das, was er an Abwechslung gesucht hatte. Das Geld spielte natürlich auch seine Rolle. Er holte tief Luft und verkündete entschlossen. »Okay, ich bin dabei. Aber nur, wenn ich Sie jederzeit anrufen kann, ich meine, wegen Ihrer Berlinfahrt …«

»Wunderbar! Ich habe aber auch nichts anderes erwartet. Wissen Sie, man entwickelt mit der Zeit schon so ein Gespür für Menschen.«

Anscheinend auch für verwunschene Pfade. Denn dank Zimmermanns Lampe fanden beide schließlich doch den Weg aus dem finsteren Forst. In wenigen Metern Distanz sahen sie die Lichter einiger Häuser. Und ein Taxi. Allerdings mussten sie zuvor noch einen letzten Streifen sumpfigen Geländes passieren. Zimmermann schritt voran. Kempowski wartete wie abgesprochen einige Minuten hinter blickdichten Stechpalmen.

Richard Sonntag freute sich zunächst, als er Zimmermann sah. Er hatte sich schon Sorgen gemacht. Bald brach die Stunde der Wildschweine an. Als er aber erkannte, in welchem Zustand sich der eigentlich doch so seriöse ältere Herr befand, schlug seine Stimmung um. Nasse Hose bis zum Knie. Schlammverschmutzt die Stiefel. Der Mantel fleckenreich. Er fluchte leise vor sich hin. »Mein armer Gustav!«

3. Paar mit Hund

»Verdammte Schwarzkittel!« Eine knappe Viertelstunde später fluchte Richard Sonntag wesentlich lauter. Lauthals. »Und was machen diese Idioten da? Was soll das? Seid ihr lebensmüde?« Er trat auf die Bremse. Riss das Lenkrad herum. Bremste abermals. Der Wagen schlingerte für Augenblicke. Blockierte. Kam zum Stehen. Rechtzeitig. Im aufgeblendeten Fernlicht konnten Sonntag und Zimmermann eine Bache mit ihren Frischlingen erkennen. Und einen großen weißen Hund, den die aufgebrachte Mutter im Zickzack über den Asphalt verfolgte, bis er schließlich jaulend im Wald verschwand. Die Kleinen folgten. Spornstreichs. Folgsam.

Wenige Meter vorm Kühler lagen zwei Fahrräder. Und zwei grotesk kostümierte Gestalten. Sie erhoben sich. Mühsam. Die größere von ihnen nahm nun ihre Kopfbedeckung ab. Eine Art Tierschädel mit mehreren Geweihstangen. Zimmermann erinnerte der Mann an einen Kelten. Wilder roter Bart. Das lange Haar zu Zöpfen geflochten. Schwarze Zeichen auf Stirn und unter den Augen. Das aus Fellen bestehende Gewand unterstrich den Eindruck. Sein Fahrrad hingegen war ein modernes Mountainbike.

Auch seine Begleiterin, die schweren Brüste waren selbst unter ihrem weiten Kleid aus blauen, gelben, schwarzen Müllsäcken nicht zu übersehen, trug ihr Haar als Flechtwerk in Blond. Insgesamt wirkte sie zeitgenössischer. Wäscheklammern, farbige Fischernetze, Kabelbinder, Einwegflaschen, selbst rote Beutel fürs Geschäft des Hundes am Körper drapiert. Zwei Gesamtkunstwerke auf nächtlicher Landstraße. Kein Wunder, dass die Wildschweine wild geworden waren.

Zimmermann öffnete dennoch die Wagentür. Den Gehstock mit dem schweren Silberknauf griffbereit.

Auch Sonntag stieg aus. Er hatte seine Gaspistole prinzipiell stets am Mann. »Können wir Ihnen helfen? Sind Sie verletzt?« Auf Vorhaltungen verzichtete er. Die Begegnung mit dem Schwarzwild sollte lehrreich genug für künftige Ausflüge in die Nächte des Darßwaldes sein.

Die Frau erhob als Antwort ihre Hände zum Himmel. Sowie ihre Stimme. »Im Wald die Wahrheit die Suche. Feuchtes Laub, unter feuchtem Laub. Fragen eingewachsen. Durch die Jahre getragen. Immer wieder gesagt. Was wir nicht wissen. Nicht können. Das Verborgene bleibt. Sichtbar. Unsichtbar.«

Ihr Partner hatte parallel eine Digitalkamera gezückt. Filmte die Ruferin. Ein weiter Schwenk. Waldrand. Baumkronen. Wolkenmond. Zimmermann und Sonntag sparte er aus. Dann nahm er sein Rad. Schlug kurz kräftig auf den Sattel und radelte Richtung Ahrenshoop davon. Die Dame in Plastik folgte ihm. In der Ferne bellte ein Hund. Unsichtbar.

Die Verse kamen Zimmermann bekannt vor. Er war sich sicher, dass sie ihm vor gar nicht so langer Zeit begegnet waren.

»Auf den Schreck brauchen wir jetzt aber unbedingt eine Stärkung, nicht wahr? Kommen Sie, Herr Zimmermann, auf die Pferde! Lore hat bestimmt noch ein Häppchen für uns. Und ein Schlückchen. Vor allem das!« Sonntag unterbrach die Grübelei, startete den Motor und steuerte die Pension Kuhfuß seiner Schwägerin in Born an.

»Schuhe ausziehen, beide! Und, Entschuldigung, Herr Zimmermann, am besten auch die Hose! Ich habe Sie schon erwartet und ein paar Schnittchen vorbereitet. Sie mögen doch Matjes? Und dazu vielleicht einen Kümmel? Oder wie ist das bei Ihnen? Man kommt ja ganz durcheinander.«

Lore Bradhering begrüßte Zimmermann und den Schwager an der Tür ihres Kapitänshauses in der Nordstraße. Sie redete gern. Viel. Bisweilen auch mit sich selbst. Doch noch lieber mit ihren Gästen. Besonders mit älteren Herren. Die mochte sie. Da kümmerte sie sich gern. Viel. Bisweilen zu viel. Nachdem Zimmermann ihr am ersten Abend erzählt hatte, dass er einer jüdischen Familie entstammte, zeigte sie sich besonders bemüht. Seine Versicherungen, dass er durch und durch weltlich orientiert wäre, änderten daran wenig.

Das Haus hatte sie von ihrem Vater geerbt. Der tatsächlich als Kapitän zur See gefahren war. Auf den ganz großen Pötten. »Kap Horn, Kap der Guten Hoffnung. Bis nach Brisbane, Valparaíso und Shanghai!«, wie Lore oft mit Stolz hervorhob. Manche Mitbringsel in Gästezimmern wie ihren Privaträumen zeugten davon. Kugelfische, präpariert, Schildpattpanzer, riesenhaft, die Masken der Papuas, Schnitzereien aus Nippon, ein Walfischzahn, faustgroße Falter unter Glas. Sextanten auch, ein Steuerrad, Steingutzeug, Buddelschiffe. Natürlich ebenso. Nicht unbedingt geschmackvoll. Doch gemütlich. Zimmermann gefiel es sehr im Kuhfuß.

Der Name wiederum erinnerte als eine Art Reminiszenz an einen einstigen Nachbarn und guten Freund des alten Bradhering. Ein Maler, der einige Zeit in Born gelebt hatte. Der Kapitän und der Künstler waren oft zusammen durch den Darß gestromert. Hatten am Weststrand geträumt. Gebadet. Gebechert.

»Nun, auf einem Bein kann man nicht stehen.« Lore goss abermals nach. »Und morgen soll es dann nach Berlin gehen? Ja, da war ich auch schon lange nicht mehr. Die Pension lässt einen ja nie wirklich ruhen. Und dann noch Tante Wilhelm und ihr Haushalt. Dabei bin ich auch nicht mehr die Jüngste. Werde schließlich auch bald 68, im Sommer.«

»Also, das sieht man Ihnen ja nun wirklich nicht an, meine Beste.« Zimmermann verschwieg, dass er sie eigentlich auf Mitte Siebzig geschätzt hatte. Ein wenig anstrengend fand er die Dame schon. Allerdings genoss er ihre Erzählungen von früher. Manch bekannter Name war zu hören. Erinnerungen. Alte Fotografien. Ohne Abzüge.

Die letzten zwei Jahre vor ihrem Weg nach Westen hatte seine Familie die Sommer in Born verbracht. »Juden unerwünscht!« Den Banner über der Ahrenshooper Dorfstraße hatte sein Vater als persönliche Beleidigung empfunden. »Unerhört!« Obgleich sie weiterhin weitgehend unbehelligt geblieben wären. Die Ahrenshooper waren seinerzeit nicht »so« gewesen. Manch einer fand hier sogar Quartier und den Frieden, der ihm andernorts verwehrt wurde. Für den kleinen Robert hatte Born aber vor allem den Vorteil gehabt, noch schneller im Darßwald verschwinden zu können.

»… das ist ja mit ein Grund, weshalb ich nicht mehr nachts Auto fahre. Seit dem Unfall bei Ibenhorst vor ein paar Jahren kriegen mich bei Dunkelheit keine zehn Pferde auf die Straße.« Sonntag hatte seiner Schwägerin gerade von ihrem Erlebnis berichtet, was sie als willkommenen Anlass nahm, auf ihre eigenen Beschwerlichkeiten und Beschwerden umzuschwenken.

›Schade‹, dachte Zimmermann. ›Heute hat sie einen Klagetag erwischt.‹

»Wissen Sie, durch das Bremsen habe ich mir die Schulter ausgerenkt. Die schmerzt bis heute. War schon bei zig Ärzten. Sogar in der Klinik in Ahrenshoop. Zur ›Füsio‹. Doch genützt hat nichts. Und jetzt, wo ich mich doch so um Tante Wilhelm kümmern muss … Ach nee, schön ist das nicht.«

Tante Wilhelm war ihre Patentante Wilhelmine von Wustrow. Sie hatte wohl vor Kurzem ihren 97. Geburtstag gefeiert. Ganz groß. Im Walfischhaus. Mit Chören, Spielmannszug und Tanz. Eine etwas eigensinnige Dame. Die als »Kriegerwitwe« lernen musste, sich und ihren Sohn durchzuschlagen. Hart gegen sich. Und andere. Lore Bradhering bezeichnete sie als herrisch. Hing aber trotzdem an ihr. Zimmermann kannte sie. Weich. Von früher. Hatte sie als Mine, als Freundin von Bärbel bei Partikels kennengelernt. Im Atelier. Sie konnte sehr gut zeichnen. Daran erinnerte er sich. Vor allem Bäume. Die konnte sie besser als Onkel Alfred. Und sie war der Kunst treu geblieben. Bis vor wenigen Jahren hatte Tante Wilhelm sogar noch ihre eigene Keramikwerkstatt betrieben. Etliche Arbeiten von ihr fingen den nur selten anwesenden Staub in der Pension Kuhfuß.

»Nein, danke, für heute mag es gut sein. Ich will ja morgen früh raus, habe noch einen Termin, treffe einen Bekannten aus alten Tagen.« Zimmermann lehnte höflich den fünften Kümmel des Abends ab.

Sonntag war auch schon aufgebrochen. Er wohnte um die Ecke in einer Art Werkstattgaragenbüroeinliegerwohnung mit seinem Gustav unter einem Dach.

»Ach ja, liebe Frau Bradhering, bevor ich es vergesse: Ich habe heute einen netten Herrn aus Rostock kennengelernt. Einen Kollegen, auch Anwalt. Und der ist wohl gar nicht mit seinem Quartier in Ahrenshoop zufrieden. Da war ich so frei und habe ihm die Pension Kuhfuß empfohlen. Und natürlich die allerbeste Gastgeberin der ganzen Gegend. Sie haben doch noch etwas frei, oder?«

Lore Bradhering errötete zart und antwortete mit versonnenem Gesicht: »Herr Zimmermann, selbstverständlich doch. Und wenn Sie ihn empfehlen, muss der Herr ja sowieso tadellos sein. Wie heißt er denn?«

»Kempowski. Ist aber nicht mit dem Walter verwandt.«

»Verfluchte Scheiße! Diese dämliche Tür macht mich noch wahnsinnig!« Eine laute Männerstimme ertönte aus dem Flur. Jemand fuhrwerkte fluchend an der Haustür, die zugegebenermaßen schwierig zu handhaben war. Auch Zimmermann hatte mit diesen, Klöntür genannten, zweigeteilten und separat zu verriegelnden Gebilden so seine Probleme. Nun klirrte etwas, schien zu Bruch gegangen zu sein. Womöglich ein Wandteller aus Tante Wilhelms Werkstatt?

»Oh nein, schon wieder dieser Wittenborn. Ein grässlicher Kerl. Ganz das Gegenteil von Ihnen, lieber Herr Zimmermann. Ich hätte den ja schon längst vor die Tür gesetzt. Aber der hat für zwei Monate gebucht. Und im Voraus bezahlt. Ich brauch doch jeden Pfennig!«

Zimmermann hatte den erwähnten Gast bislang noch nicht kennengelernt. Neugierig wie er nun einmal war, verließ er die Küche, um das Versäumnis nachzuholen. Lore Bradhering folgte ihm.

»Guten Abend, Zimmermann mein Name, Bob A. Zimmermann. Gibt es Probleme?«

Wittenborn verzichtete seinerseits auf eine Vorstellung und grummelte unwirsch wie undeutlich. »Das Mistding hier will nicht zugehen. Wer sich so einen Blödsinn ausgedacht hat? Ach, versuchen Sie doch ihr Glück! Das ist mir einfach zu blöde.«

Ohne weiteren Gruß polterte er die Treppe hinauf. Stieß oben noch einige Male an Möbel. Schloss dann mit einem lauten Knallen die Tür.

Zimmermann nahm an, dass Wittenborn mehr als nur fünf Kümmel an diesem Abend getrunken haben musste.

»Jetzt haben Sie ihn ja selbst erlebt.« Die Wirtin kehrte bereits die Scherben zusammen, die tatsächlich zu einem Wandteller aus der von Wustrowschen Werkstatt gehörten. Eine ihrer ganz frühen Arbeiten. Ein Jahresteller. Weihnachten 1945. »Ich weiß auch gar nicht, was der hier so lange will. Hat nur kurz erwähnt, dass er wohl Hobbyornithologe ist und die Kraniche beobachten will. Gut, hat auch ein ziemlich starkes Fernglas dabei. Und eine Kamera mit einem Riesenobjektiv. Wenn er nüchtern ist, geht es ja noch. Doch wenn er säuft … Irgendwie kommt er mir ja auch bekannt vor …«

»Ja, die Kraniche. Die waren früher auch schon da.« Gerne dachte Zimmermann an die Ausflüge über den Bodden zurück. Mit seinem Vater, manchmal waren auch Nele und Fritz dabei. Zu den Inseln. Den glücklichen Inseln. Zwei Mal waren sie extra im Herbst und Frühling noch einmal hergekommen, um die Vögel zu beobachten. Oben am Bodstedter Bodden kamen sie zusammen. Sammelten, stärkten sich. Für den Flug nach Süden. Ins Winterquartier. Oder gen Norden. Zurück Richtung Sommerheimat. Schmidtbülten. Große Kirr. Insel Oie. Die Namen ihrer Refugien hatten seinerzeit für ihn einen märchenhaften Klang gehabt. »Ich habe neulich gelesen, dass Kraniche die Seelen toter Soldaten wären. Das ist ein schöner Vergleich.« Zimmermann erinnerte sich jetzt wieder, dass er die orakelten Worte der Seherin in Plastik am Morgen in der Partikel-Ausstellung gelesen hatte. In einem kleinen Büchlein, in dem auch die Metapher der Kraniche stand.

Lore Bradherings Synopsen arbeiteten ebenfalls gut zu später Stunde. »Jetzt fällt es mir wieder ein, jetzt ist der Groschen gefallen. Na klar, der Wittenborn, das könnte der ältere Bruder vom Doktor Hartwich sein, unserem Heimatpfleger. Allerdings ist der doch etwas seriöser. Und wesentlich gepflegter!«

4. Namenlos

Doch, Lore Bradhering hatte recht. Dr. Hartwich wies eine gewisse Ähnlichkeit mit Wittenborn auf, wirkte jedoch wesentlich gepflegter. Das weiße Haar, der Bart akkurat gestutzt. Ein Kaschmirpullover in Beige. Edler Janker zur dunklen Hose. Feiner Cord. Blank geputzt Budapester wie Brille. Mit Goldrand. Eine korrekte Erscheinung. Dazu passte auch, dass er als erster der eingeladenen neun »Erben« zum Termin im kleinen Besprechungsraum des Café Namenlos erschienen war. Nach einer kurzen Begrüßung war er sogleich bemüht gewesen, Zimmermann in ein vertrauliches Gespräch einzuspinnen. Der hatte ihn aber reserviert gebeten, sich noch etwas zu gedulden.

Er und Kempowski hatten sich bereits zwei Stunden zuvor im Hotelrestaurant in der Ahrenshooper Dorfstraße getroffen. Jener studierte noch immer die Abschrift des Testaments. Die etliche Seiten umfassende Akte musste erst einmal gründlich durchgearbeitet werden. Er schwitzte.

Der alte Anwalt hingegen sah dem nahenden Ereignis mit einer gewissen spitzbübischen Vorfreude entgegen. Er hatte über alle demnächst Anwesenden Erkundigungen eingezogen. Nicht nur zu ihren Funktionen und offiziellen Biografien. Auch private, persönliche, die menschlichen Komponenten hatten ihn interessiert. Daher ahnte, nein, wusste er, dass er im Verlauf der nächsten Stunden nicht nur Regisseur, sondern Zuschauer eines abgründigen Schauspiels werden sollte. Ranküne und Kabalen. Neid, Eifersucht, Leidenschaften – ihm würde sich ein Jahrmarkt der Eitelkeiten präsentieren.

Da waren zunächst Dr. Johanna Riese vom Kunstmuseum, Hans-Gerd Rotermund vom Kunstkaten sowie ein Malte Brockmann, als Vertreter der Kurverwaltung für die Strandhalle und die Ahrenshooper Kunstauktionen zuständig. Ben hatte sie in seinem Testament zur Blauen Gruppe zusammengefügt. Als Repräsentanten der vermeintlich etablierten Kunstinstitutionen. Wohl wissend, wie es um das Verhältnis der Häuser untereinander bestellt war. Sie zogen zwar alle an einem Strang. Doch durchaus in verschiedene Richtungen. Interne Grabenkämpfe wie die zwischen dem wertkonservativen Traditionalisten Rotermund und dem erfolgsorientierten Pragmatiker Brockmann verliehen der Zusammenarbeit ihre eigene Würze.

In der zweiten, der Gelben Gruppe hatte Ben den etwas progressiveren Flügel der Ahrenshooper Kunst versammelt. Außer Dörte Wahnschaffe als Leiterin des Künstlerhaus Lukas sollten dem Team der Bildhauer Joachim Majakowski vom Dornenhaus sowie die Keramikerin Ann-Kathrin Seegers von der Galerie Krempel Sieben angehören. Die Tatsache, dass diese Drei und manch ein anderer nicht nominiert worden waren, würde zusätzlich für Brisanz in der Szene sorgen. Da war sich Zimmermann sicher. Doch, Ben hatte wohl gewusst, was er macht.

Im letzten und dritten Team, der Weißen Gruppe, sollten die Freunde von Literatur und Geschichte vereint werden. Das waren, außer dem Historiker und Archivar Dr. Heinrich Hartwich vom Regionalarchiv, noch Elisabeth Müller-Paul von der Käthe-Miethe-Bibliothek sowie Gerhard Schiffers, der Inhaber der Bunten Stube.

Auch in dieser »bunten Tüte« wirkte eine ganz spezielle Chemie. Dr. Hartwich hielt sich wohl grundsätzlich für eine gottgleiche Instanz in allen Fragen der Regionalgeschichte, der keine anderen Götter neben sich duldete. Schon gar keine weiblichen. Auch wenn diese, wie Elisabeth Müller-Paul durchaus interessante Publikationen hervorgebracht hatten. Ihre Bücher zu Käthe Miethe, der Grande Dame der hiesigen Heimatliteratur, hatte Zimmermann bereits in der Bunten Stube interessiert durchgeblättert. Die Beziehung der schreibenden Bibliothekarin zu diesem Traditionsgeschäft war indes eine nicht nur literarische. Sie und Gerhard Schiffers waren über viele Jahre ein Paar gewesen, das sich erst im letzten Sommer getrennt hatte.

Schiffers, der die Bunte Stube nun in der dritten Generation als Familienbetrieb führte, war im Übrigen ein alter Bekannter von Kempowski. Als dieser bei der Durchsicht des Testaments auf dessen Namen gestoßen war, hatte er kurz aufgemerkt. »Na klar, den kenne ich doch. Von früher. Aus Wismar. Da war ich, ja heute würde man sagen, Referendar, und er hat in der Volksbuchhandlung gearbeitet. Wollte damals nie mehr zurück in dieses Kaff. Stattdessen lieber rüber machen. Wie ich ja auch. Da kommt er ja schon. Ich begrüße ihn kurz. Gehe dann noch eine rauchen.«

Ein wenig Zeit blieb noch. Inzwischen waren die Damen erschienen. Dr. Riese im eleganten Hosenanzug in Schwarz. Die Bibliothekarin in gleicher Farbwelt, nur als Kostüm. Burschikos hingegen, Cargohose, Shirt und Lederjacke, Dörte Wahnschaffe. Ebenfalls künstlerisch gewandet, aber mehr feminin, die Galeristin Seegers. Graues Langhaar, hochgesteckt. Ein weites Kleid. Der grüne Seidenschal in ihren Locken stand ihr gut.

Von den Herren hatten sich bereits Rotermund und Brockmann vorgestellt. Der dunkelblaue Dreiteiler mit Krawatte sowie Einstecktuch in Blauweißrot und das Jackett in Grellorange plus Sonnenbrille im gegelten Haar setzten sich demonstrativ an die beiden am weitesten voneinander entfernten Plätze.