Die Drucklegung dieses Buches wurde ermöglicht durch die Südtiroler Landesregierung / Abteilung Deutsche Kultur und die Gemeinde Klausen.

2018

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia Buch GmbH, Bozen

Fotos: Privatarchive, Maria Gall Prader, Klaus Peterlin (S. →)

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: Athesia Druck, Bozen

ISBN 978-88-6839-346-5

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

INHALT

VORWORT

„Nicht die Welt macht diese Menschen, sondern die Menschen machen diese Welt“, so treffend weist Elfriede Hablé auf die Wirkung von uns selbst und unserem Tun und Handeln auf die Mitwelt hin. Und was für die große Welt gilt, gilt auch für die kleine Realität einer Stadt, einer Gemeinde.

„30 bsundere Leit“ skizziert die Autorin in diesem Buch, schaut ihnen ins Herz, lässt sie sprechen und entlockt ihnen Aussagen, die uns zum Nachdenken anregen, Erinnerungen in uns wach werden lassen oder bestenfalls eine neue Sichtweise mancher Dinge in uns breitmachen.

Wir kennen Frau Maria Gall Prader, die in jungen Jahren der Liebe wegen nach Klausen gekommen ist, als langjährige engagierte Lehrerin an der Grundschule, als Frau, die lebenslanges Lernen durch ihr Studium bis hin zum Forschungsdoktorat und nun das Lehren als Dozentin an der Fakultät für Bildungswissenschaften als Beispiel vorgibt. Wir kennen sie als Frau, die gerne etwas von dem, was sie kann, verschenkt. Ein Beispiel des Schenkens ist dieses schöne, lebendige Buch, denn all die Zeit des Schreibens, des Vorbereitens, ist in ehrenamtlicher Arbeit geschehen. Dafür gebührt ihr ein aufrichtiger, großer Dank.

Wir wünschen uns, dass dieses Buch viele aufmerksame Leserinnen und Leser findet und als wertvolles Dokument der Zeitgeschichte auch für die zukünftigen Generationen erhalten bleibt.

Maria-Anna Gasser Fink
Bürgermeisterin Klausen

DIE LANDÄRZTIN

MATHILDE RIEPER MÜLLER

„Ich möchte keineswegs das Glück entbehren, an eine künftige Fortdauer zu glauben, ja, ich möchte mit Lorenzo von Medici sagen, dass alle diejenigen auch für dieses Leben tot sind, die kein anderes hoffen.“ Die tiefgründigen Worte stammen aus der Feder des großen Dichters Johann Wolfgang von Goethe. Mathilde Rieper Müller, Ärztin für Allgemeinmedizin und Klausner Bürgerin, bewahrte sie in ihrem Nachlass auf.

Sie hatte das Herz am rechten Fleck und immer Zeit für die Patienten. Den Klausner und Klausnerinnen bleibt sie unvergessen, die „Frau Doktor Müller“. In der Titulierung „die Frau Doktor“ steckt der Respekt mehrerer Generationen vor einer erstaunlichen Frau, die zwei Männer verlor, zwei Kinder großzog, nach dem Tod des zweiten Mannes die Praxis weiterführte und ihren Beruf zum Lebensinhalt machte. Mathilde Müller starb im Dezember 2012. Das ist nun einige Jahre her, doch kommt bei den Leuten das Gespäch auf die Allgemeinmedizin und die Hausärzte im Besonderen, so fällt unweigerlich ihr Name. Sie stand für den Landarzt des alten Schlags, der eine persönliche Beziehung zu den Familien pflegte und seine Arbeit als Lebensaufgabe sah. Dass die Frau Doktor Müller ein weiblicher Arzt war, war zu ihrer Zeit schon sehr außergewöhnlich, aber dass sie trotz ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau in der Arbeit aufging, war noch gewöhnungsbedürftiger.

Die Seelenleserin

Mathilde Müller war aktives Mitglied der „Deutschen Balint-Gesellschaft e. V.“, deren Ziel es ist, durch Erfahrungsaustausch die Arzt-Patient-Beziehung zu fördern und „schwierige“ Patienten besser zu verstehen. Die Vereinigung richtet europaweit Treffen für Ärzte, Psychotherapeuten und Studenten aus und sorgt für den kollegialen Austausch über patientenbezogene Selbsterfahrung. In diesem Kreis war Mathilde Müller unter ihresgleichen.

Die Ärztin schaute in die Herzen der Patienten. Sie verstand es, sich in ihre Ängste zu versetzen, und war mit mütterlicher Anteilnahme imstande, so manche Sorge zu zerstreuen. Welche Klausner Mutter erinnert sich nicht an die tröstenden Worte, mit denen sie von der „Frau Doktor“ aufgemuntert wurde, wenn sie verzagt am Bett ihres fiebernden Kindes saß? Wer könnte ihre praktischen Tipps vergessen? Essigwickel und Zwiebelpackungen gehörten neben Medikamenten zu den bewährten Heilmitteln der Mathilde Müller. Sie war keine dogmatische Medizinerin. Sie war eine Frau mit Hausverstand und wusste um die Wirkung alter Hausmittel. Medikamente verordnete sie sorgsam. Im Gespräch mit den Patienten versuchte sie die wahre Ursache der Störungen zu erfassen und zu behandeln. Sie verstand es wahrlich, in den Seelen der Menschen zu lesen.

Mathilde Rieper Müller wuchs behütet auf. Sie entstammte der Unternehmerfamilie Rieper, die seit 1860 in Vintl die Riepermühle, eine weit übers Land hinaus bekannte Getreidemühle, betreibt.

Kein freies Wochenende

Wenn die „Frau Doktor Müller“ gerufen wurde, kam sie unverzüglich ins Haus. Auch sonntags. Sie kannte kein „freies Wochenende“ und zählte keine Amtsstunden. In einer Zeit, in der man nur mit dem „Kopf unter dem Arm“, also in den allerschlimmsten Fällen, ins Krankenhaus ging, hatte sie als Vertrauensärztin alle Hände voll zu tun. In der ersten Zeit, als sie noch mit ihrem Mann gemeinsam in der Praxis arbeitete, waren längst nicht alle Dörfer durch eine Fahrstraße erschlossen, sodass sie auf einem Pferd zu den Hausbesuchen reiten musste. Mathilde Müller war eine sportliche Frau, die nichts so leicht erschütterte. Wohin sie auch kam, strahlte sie Sicherheit und Kompetenz aus. Sie war mit Leib und Seele Ärztin. Die persönlichen Schicksale der Menschen lagen ihr am Herzen.

In der damaligen Zeit gab es auch noch keine allgemeine Krankenversicherung. Mathilde Müller kannte die schwierige finanzielle Lage der Landbevölkerung. Da die Leute kein Geld hatten, bezahlten sie oft mit Naturalien. Mit Würsten, Eiern, Speck oder lebenden Hühnern.

Lebenslanges Lernen

1998 übergab die Landärztin der Tochter Inge die Praxis. Die Pensionierung und der Abschied von der geliebten Berufstätigkeit fielen ihr nicht leicht. Sie freute sich aber, dass ihre Tochter die Praxis weiterführte und zeigte noch lange Interesse am Beruf. Ein Leben lang wollte sie ihren Horizont erweitern.

Nie hatte sich Mathilde Müller dazu berufen gefühlt, als Hausfrau und Mutter ausschließlich die Familie zu verwöhnen. Sie war eine der wenigen Personen, die zu ihrer Zeit ein Studium absolvierten, und eine der wenigen Frauen, die Medizin studierten. Eine ungewöhnliche und starke Frau. Als Tochter der angesehenen Rieperfamilie aus Vintl durfte sie die Handelsschule in Brixen besuchen, Sprachen lernen und Klavier spielen. Sie arbeitete im väterlichen Betrieb mit, wie es die Familie erwartete. Doch dem jungen Mädchen, das alle mit dem Kosenamen „Tilletolle“ riefen, wurde das Leben in Vintl bald viel zu eng. Es kaufte sich vom ersten ersparten Geld ein Fahrrad und radelte mit der Schwester und einer Freundin durch Europa. Auf diese Weise lernte Mathilde ihre große Liebe und ihren ersten Mann kennen, welchen sie zu Kriegsbeginn am Brenner heiratete. Anschließend zog sie mit ihm in seine Heimat an die holländische Grenze. Während der Kriegsjahre arbeitete sie in einem Lazarett in Russland und kehrte nach Kriegsende als Witwe in die Südtiroler Heimat zurück.

Der Lebenskreis schließt sich: Mathilde Müller in liebevoller Umarmung mit ihren beiden Enkelinnen.

Die Erfahrungen im Lazarett hatten die junge Frau reifen lassen. Sie beschloss zu studieren, machte in Meran das Abitur und schrieb sich in die Medizinische Fakultät in Innsbruck ein. Während der Studienzeit lernte sie bei einem Praktikum am Krankenhaus Bruneck Karl Müller kennen, der dort in der Chirurgischen Abteilung tätig war. Sie heirateten und bekamen ihr erstes Kind, Walter. Nach dem Studium und der Geburt ihrer Tochter Inge führte sie mit ihrem Mann die Landarztpraxis in Klausen, die sie nach dessen Tod übernahm und bis zur Pensionierung umsichtig leitete.

Das Vermächtnis

In den Jahren nach der Pensionierung war Mathilde Müller gerne mit ihren Enkelinnen Hanna und Sophie zusammen, die sie sehr liebte. Sie nutzte die Zeit aber auch, um an Vorlesungen der Theologischen Hochschule Brixen teilzunehmen. „Ich durfte Vertiefung, Erweiterung und Erhellung meiner geistigen Räume erfahren“, schrieb sie in ihrem Nachlass dankbar. Auch im Alter achtete sie bei ihren täglichen Spaziergängen auf einen aufrechten Gang und eine gepflegte und elegante Erscheinung. So zierlich sie war, so quirrlig und lebensbejahend sie durchs Leben ging, so beharrlich versuchte sie den existenziellen Fragen des Lebens auf den Grund zu gehen. Bescheiden nahm sie auch ihre letzte Lebenszeit als Lernprozess an.

Mathilde Müller war eine starke Persönlichkeit. Und eine Suchende. Sie hörte nie auf, sich weiterzubilden und sich mit Sinnfragen zu beschäftigen. Im Kontakt mit interessanten Menschen aus dem In- und Ausland erfuhr sie noch in hohem Alter große Bereicherung. „Mir wurde in der Begegnung mit bemerkenswerten Menschen Resonanz in meinem existenziellen Suchen zuteil“, erzählte sie dankbar. Bis zuletzt ließ sie sich von ihrer Tochter aus einer politisch-theologischen Zeitung vorlesen.

Ja zum Leben, ja zum Mitmenschen, ja zu den Freuden, aber auch zu den Enttäuschungen, ja zur eigenen Gebrechlichkeit, ja zur Demut und ja, ein Leben lang lernen zu müssen: Das sind die Herausforderungen, denen sich Mathilde Müller bis zu ihrem Tode gestellt hat. Es ist das Vermächtnis, das sie allen, die sie kannten, hinterlassen hat.

HANDWERK HAT GOLDENEN BODEN

MARTIN NÖSSING

Obwohl erst nach dem Zweiten Weltkrieg aus Kastelruth zugewandert, gilt Martin Nössing mittlerweile als „alter Klausner“, der nicht mehr aus dem Städtchen wegzudenken ist. Er installierte in der Nachkriegszeit in vielen Häusern der Altstadt die Wasseranschlüsse und werkelte bis zu seinem 93. Geburtstag in seiner Spenglerwerkstatt.

Wer in Klausen über den Marktplatz zum Brixner Tor geht, entdeckt in der Nähe des Tourismusbüros eine kleine, kunterbunte Auslage mit Kupferwaren. Da stehen Gießkannen und Eimer, Siebe und Laternen, Kerzenständer, Seiher und Pfannen in fröhlichem Durcheinander. Alle handgefertigt. Wer Lust hat, die drei Stufen hinabzusteigen, befindet sich unvermittelt in der Werkstatt des Spenglers Martin Nössing.

Bis vor zwei Jahren arbeitete der alte Spengler noch Tag für Tag in den dämmrigen Kellerräumen. Er betrieb einen Detailhandel, fertigte Gießkannen und Laternen an und reparierte Blechgeschirr. Von der bunten Auslage angezogen, „stolperten“ die Leute geradezu ins Ladenlokal. Aus Neugier, auf einen Plausch und manchmal auch, um etwas zu kaufen. Sie schauten sich zwischen den Gerätschaften, Rohren, Fensterscheiben und Blechplatten, Maschinen und Handwerksbänken nach einem besonders originellen Mitbringsel um und stellten viele Fragen. Wie viel eine kupferne Gießkanne koste, woher Nössing das Material beziehe, warum er sich nicht zur Ruhe setze, ob sich für ihn die Arbeit lohne, mit welchen Maschinen er die Geräte anfertige, warum man in Klausen Deutsch spreche und ob die Südtiroler tatsächlich so stur seien, wie behauptet.

Nössing ist ein geselliger Mensch. Er arbeitet nicht nur gerne und viel, er erzählt auch immer schon gern. In akzentfreiem Italienisch erklärte er den Gästen verschmitzt, dass die Sturheit der Einheimischen durchaus ihre Grenzen habe: „Wir schätzen eine Reihe italienischer Annehmlichkeiten – den Espresso, die Spaghetti, das Eis und die ,dolce vita im ferragosto‘. Wie ihr seht, lernen wir auch dazu.“ Eigentlich hätte er beim Eingang eine kleine Büchse aufstellen sollen, lachte er manchmal: „Wenn ich von jedem, der hier hereinblickt, zehn Cent bekäme, wäre ich längst reich.“

In seiner geliebten Werkstatt fand Martin Nössing noch in hohem Alter eine Arbeit, die ihn ausfüllte und beglückte.

Nun, Eintritt hat Martin Nössing für die Besichtigung seiner kuriosen Werkstatt nie verlangt, dennoch hat er es durch Arbeit und Fleiß zu Wohlstand und einem florierenden Betrieb für Heizungs- und Sanitäranlagen gebracht. Er war nicht nur in Klausen, sondern auch in den umliegenden Dörfern als tüchtiger Spenglermeister und Installateur bekannt.

Fließendes Wasser für die Altstadt

Heute drehen wir den Wasserhahn auf, und schon sprudelt frisches Wasser ins Trinkglas. Wir drücken den Knopf der Waschmaschine und hören, wie sauberes Wasser in die Trommel schießt. Wenn wir uns unter die Dusche stellen, brauchen wir nur an einem einzigen Griff zu drehen, und schon rieselt warmes Nass über unseren Körper. Alles funktioniert schnell, reibungslos und sauber. Wasser ist immer zur Stelle. Doch es war nicht immer so.

Die Klausner holten sich das Wasser lange von den Brunnen. In der Chronik der Freiwilligen Feuerwehr von Klausen wird berichtet, dass 1889 eine neue Wasserleitung mit Eisenrohren von der Ansbacher Wiese ausgehend in die Stadt verlegt wurde. Laut Stadtarchivar Christoph Gasser erfolgte auch 1901 eine Renovierung der städtischen Wasserleitung, 1908 wurden neue Quellen in die Leitung eingespeist, und zwischen 1911 und 1913 wurde das Wasserleitungsnetz der Stadt erweitert.

Der Bau der Wasserleitungen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Häuser weitgehend ohne Wasseranschluss blieben. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in der Klausner Altstadt noch zweiundzwanzig Häuser ohne fließendes Wasser. Die Leute mussten bei den öffentlichen Brunnen in der Tränkgasse und beim „Schuhhaus Fill“ Wasser schöpfen und es mühsam in Eimern in die Häuser schleppen. Um einen Badezuber zu füllen, liefen die Frauen viele Male zum Brunnen. Genauso musste das Wasser auch fürs Wäschewaschen ins Haus getragen werden, um es anschließend mit viel Lauge in großen Kesseln auf dem Herd zu erhitzen. Manche Frauen aus der Unterstadt brachten noch in den 1950er-Jahren die Wäsche zum Waschtrog in die Mühlgasse, wo sie „öffentlich“ gewaschen wurde. Frauen der Oberstadt trugen ihre Wäsche durch die unterirdischen Gänge der Vorgärten ans Eisackufer, um sie zu waschen, wie Arnold Delmonego berichtet.

Einige der verspotteten „Klausner Orgelpfeifen“, Plumpsklos an der Promenadenseite, waren in Ermangelung eines Wasseranschlusses noch in den 1960er-Jahren in Gebrauch. Nach und nach versorgte Martin Nössing die Haushalte der Altstadt mit Wasseranschlüssen. Allerdings reichten diese nur hinter die Hausmauer, wo das Wasser erneut geschöpft werden musste. Küchen, Bäder und Toiletten blieben in vielen Wohnungen weiterhin ohne fließendes Wasser, bis in den 1960er-Jahren die ersten Umbauten erfolgten.

Viele Häuser im Stadtkern waren nach dem Krieg in einem desolaten Zustand: Lichthauben waren beschädigt, Dachrinnen und Rohre kaputt, und viele Fensterscheiben waren durch den Luftdruck des Bombenabwurfes vom 24. Februar 1945 zerborsten. Bis 1954 verrichtete Nössing ausschließlich Reparaturarbeiten an Lichthauben der Altstadthäuser, an Fensterscheiben, defekten Rohren, Dachrinnen und Dächern. Eine Herausforderung war die Reparatur des Gewächshauses der Kapuzinerpatres, das während des Zweiten Weltkrieges arg in Mitleidenschaft gezogen wurde, und für die Bevölkerung wichtig war, weil in ihm Setzlinge für die gesamte Umgebung gezogen wurden. Glas war nach dem Krieg noch viele Jahre lang Mangelware, daher war es gar nicht so einfach, eine derart große Glasfläche zu reparieren.

Da Holz teuer war, behalfen sich die Leute mit Spänen und Sägemehl beim Heizen, und Martin Nössing erhielt viele Aufträge für den Bau geeigneter Öfen. Zum Glück gab es in Klausen und Umgebung in der Nachkriegszeit große Sägewerke, so beim Gamper und beim Prader in der Bahnhofstraße, die die Gasthäuser und Haushalte jeden Samstag mit Sägespänen belieferten.

Martin Nössing 1925 am Fotografenstuhl mit Muschel

Verlorene Kindheit

Zu arbeiten hatte Martin Nössing früh gelernt. Als er acht Jahre alt war, bestellte der Vater bei einem Schuster auf der Stör ein paar Schuhe für den Buben und ermahnte ihn: „Dass du mir ja darauf aufpasst und sie nicht alle Tage trägst.“ Dann schickte er ihn den ganzen Sommer lang auf die Seiser Alm zur Römerschwaige zum Hüten. Der kleine Martin nahm sich den Auftrag des Vaters so zu Herzen, dass er im Herbst die Schuhe nagelneu heimbrachte. Dafür hatten seine Fußsohlen eine dicke Hornschicht erhalten.

Martin (links) als Hüterbub mit acht Jahren beim „Römer“ auf der Seiser Alm, neben ihm Toni Schmalzl (Sommerfrischler)

Zwanzig Stück Großvieh und mehrere Kalbinnen musste der Junge hüten und bei jedem Wetter, auch beim ärgsten Gewitter, die Tiere beisammenhalten. Er besaß nur eine Hose, eine kurze, wie sie damals die Bauernbuben trugen. Der Störschneider hatte sie aus einem Arbeitskittel seines Vaters genäht. Martin war auf sich selbst angewiesen, denn der Senner hatte wenig Verständnis für die Bedürfnisse eines kleinen Jungen, der seine Mama vermisste und sich kaum getraute, aus der gemeinsamen Pfanne zu essen. Für ein Kind, das abends pitschnass vom Hüten in die Hütte kam und nichts zum Wechseln hatte. Das sich vor Blitzen fürchtete und dennoch bei strömendem Regen mit dem Vieh im Freien ausharren musste.

Im ersten Sommer schickte ihn der gutmütige Gutsbesitzer der Alm fünfmal mit einem Brief zur Post nach Pufels ins Grödner Tal hinab. Trotz der Blasen an den Füßen war Martin glücklich darüber, weil er fünf Lire und ein Schwarzbrot mit Honig für den Botendienst bekam. So viel Geld hatte er noch nie in seinem Leben gesehen, geschweige denn besessen.

Im zweiten Jahr durfte Martin sogar die Butter ins Grödner Tal tragen. Da begegnete er seiner Tante Philomena Lardschneider, die im Fremdenverkehrsort St. Ulrich die gesamte Wäsche für die Grödner Gäste besorgte. Als sie ihn sah, schlug sie erschrocken die Hände über dem Kopf zusammen, so verwahrlost war er. Kurz entschlossen steckte sie ihn in einen Zuber mit warmem Wasser und rieb ihn kräftig mit einer Bürste ab. In diesem Sommer brachte Martin einen schönen Batzen Trinkgeld zusammen. Auf die „Wasserkuren“ seiner Tante freute er sich weniger.

Sobald Martin zehn war, musste er auch im Winter bei den Bauern arbeiten. Das war nicht einfach, weil er noch schulpflichtig war. Für Hausaufgaben gab es keine Zeit. „Ich lernte melken, und das hat mir später in der Kriegsgefangenschaft das Leben gerettet“, erzählte er einmal, „wie gerne hätte ich studiert, aber ich musste wie mein Vater Spengler werden. In meiner Kindheit zählte nur die Arbeit. Italienisch habe ich in der Schule gelernt, meine Muttersprache hingegen im Kuhstall.“

Arbeit als Lehrling in der Werkstatt des Josef Hartmair in St. Lorenzen 1938

Die schönste Zeit

Mit Unterstützung seiner Mutter erhielt Nössing 1935 eine Lehrstelle beim Spengler Hartmair in St. Lorenzen. An das Jahr erinnert er sich noch ganz genau, weil in St. Lorenzen gerade die Römersiedlung ausgegraben wurde.

Hartmair war ein strenger und gerechter Lehrmeister. Im ersten Lehrjahr musste der Vater für die Unterkunft bezahlen, im zweiten Lehrjahr zahlte er nichts, weil Martin der Hausfrau in der Freizeit im Haushalt half, im dritten Jahr bekam er vom Lehrherrn fünf Lire pro Woche. Davon kaufte er sich gelegentlich Obst. Er war süchtig nach Obst und hatte schon als Hüterbub die Obstkerne aufgesammelt und abgelutscht, die die Gäste weggeworfen hatten.

In der Freizeit spielten die Lehrlinge auf der Wiese unter der Sonnenburg mit Steinen Mühle. Im Sommer ging Nössing jeden Sonntag zu Fuß zum „Schuhplatteln“ nach St. Vigil ins Gadertal, wo schon damals viele Gäste urlaubten. Nach den Auftritten sammelten die jungen Männer bei den Sommergästen mit einem Hut Geld ein. Bereits im zweiten Jahr hatten sie davon so viel gespart, dass sie sich ein altes Fahrrad leisten konnten. Leider hatten die alten Dürkopp-Räder keine Bremsen, weshalb Nössing für die Talfahrt von Zwischenwasser nach Montal einen dicken Ast als Bremsvorrichtung an das Hinterrad hängen musste. Im dritten Jahr konnte er sich vom Trinkgeld sogar ein Zelt leisten. Gelegentlich verbrachten die Lehrlinge den Sonntag auf einer Alm bei Geiselsberg. Sie reparierten die Hütte, und die reichen Jugendlichen aus Bruneck, denen die Hütte gehörte, teilten dafür den Proviant mit ihnen. „Es heißt immer, ‚Lehrjahre sind keine Herrenjahre‘“, sagte Martin Nössing oft, „aber für mich waren es die schönsten.“

Schwieriger Start

Über seine Zeit im Krieg wollte Martin Nössing nie reden. Er versuchte stets die schrecklichen Ereignisse zu verdrängen. Niemandem wollte er seine schlimmen Erfahrungen wünschen, selbst dem größten Feinde nicht. Die Gefangenschaft war nicht minder bitter wie der Kampf an der Front, und die Heimkehr 1946 wurde zur Enttäuschung. Seine Familie hatte ihn längst verschollen geglaubt; seinen Platz im väterlichen Betrieb hatte mittlerweile der jüngere Bruder eingenommen. Damit stand Martin Nössing mittellos da, ohne Dach über dem Kopf, ohne Geld und ohne Arbeit. In seiner Verzweiflung wandte er sich an den Spenglermeister Ander Schmidt in Bozen und bat um Arbeit. In der Nachkriegszeit gab es in Bozen für Spengler reichlich Reparaturarbeiten: an der Rössler-Mühle, beim Deutschen Orden, am Hotel „Greif“ … Martin Nössing wurde angestellt und setzte als erste Arbeit über zweitausend kleine Fensterscheiben in die vom Krieg beschädigte Josef-von-Aufschnaiter-Schule ein. Mit dem verdienten Geld belegte er einen Abendkurs in Fachzeichnen.

Die ersten Jahre in Klausen – Martin Nössing mit Frau Marianna und den Töchtern Ines (links) und Waltraud vor der Werkstatt 1952

Endlich war ihm das Glück hold. Als er an einem Sonntag im Herbst 1946 zu einer Pater-Haspinger-Feier nach Klausen kam, lernte er den Getränkehändler Josef Oberrauch kennen. „Wir brauchen in Klausen einen Spengler“, ermunterte ihn Oberrauch und begleitete ihn zum damaligen Bürgermeister Sepp Prader, der ihm zu einer Werkstatt verhalf. Einen Tag lang klopften sie an jede Haustür, um ein Zimmer zu finden. Als sie sich abends erschöpft bei einem Gläschen Roten beim „Postwirt“ niedersetzten, räumte die gutmütige Postwirtin Midl die Gartenstühle aus einem „Dachbodenkammerle“ und gewährte dem jungen Mann für einige Monate Unterkunft. Am 14. März 1947 begann Martin Nössing seine Arbeit als selbstständiger Spengler in Klausen. Hier fühlte er sich schnell daheim. Ihm gefiel der Zusammenhalt der Leute, und er engagierte sich im Landesverband der Handwerker, bei der Musikkapelle und im Tourismus-, Alpen- und Arbeiterverein.

Unterhalb der Staatsstraße haben sich Martin Nössing und seine Frau Marianne ein idyllisches Plätzchen geschaffen.

Es kamen die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs, und auch Nössings Betrieb begann zu blühen. Heute blickt er auf ein reiches und erfülltes Leben zurück.

„TANTE LAURA

LAURA VON LUTZ

Wer ist die Frau, die in Klausen von allen liebevoll „Tante Laura“ genannt wird, selbst von Leuten, die mit ihr keineswegs verwandt sind. Die betagte Dame, die drei Klausner Künstler in regelmäßigen Abständen als Ehrengast zu Vernissagen einladen. Die leicht gebeugte, immer noch stattliche Frau mit dem strahlenden Lächeln, das das Herz erwärmt?

Wenn in Klausen von alten Zeiten erzählt wird, dann fällt früher oder später ihr Name. „Tante Laura“ ist die liebevolle Anrede für Laura von Lutz, verheiratete Fink, die eine Generation gestandener Klausner und Klausnerinnen als Kindergärtnerin erzogen hat. Gleichzeitig ist es die respektvolle Bezeichnung für eine gradlinige Frau, die nach dem frühen Tod ihres Mannes eine Tankstelle führte und alleine für den Lebensunterhalt der Familie sorgte.

„Tante Laura“

Es war das Kriegsende 1945. Zu dieser Zeit arbeitete Laura von Lutz gerade im Auftrag des Deutschen Reiches als Kindergärtnerin in Schlanders. In den ersten Maitagen nach Hitlers Selbstmord stand auch in Südtirol alles in Auflösung: die bisherige Verwaltung, der Kindergarten, die Schule. Keiner wusste, wie es weitergehen sollte. Die Alliierten hatten das Land besetzt; die politische Situation war extrem unsicher. Es gab keinen Halt mehr, keine Führung, nichts. Durch die allgemeinen Wirren des Zusammenbruchs verunsichert, beschloss Laura von Lutz unverzüglich, ihre bisherige Arbeitsstelle zu verlassen. Hals über Kopf packte sie ihre Habseligkeiten zusammen, setzte sich aufs Rad und fuhr von Schlanders nach Klausen.

Wie sie als junges Mädchen so alleine zwischen den Truppen, die in Auflösung waren, durch den Vinschgau radelte, starrten die Leute sie entgeistert an. In Meran hielten verängstigte Menschen die junge Frau auf und fragten nach der Lage im Vinschgau: „Gibt es Kämpfe? Sind schwarze Soldaten auf den Straßen? Wurden Sie belästigt?“ Doch wenn Laura von Lutz auf ihrem Rad saß, fürchtete sie sich nie. Belästigt wurde sie auch nicht. Sie kam nach hundert Kilometern Fahrt wohlbehalten in Klausen an und wurde dort wie eine Heldin gefeiert. Selbst heute stuft sie ihre Fahrt nicht als abenteuerliches Wagnis ein. „Ich strahle keine Fraulichkeit aus; ich wurde immer in Ruhe gelassen“, winkt sie bescheiden ab. Aber froh war sie schon, wieder zu Hause bei ihren Eltern zu sein.

Laura von Lutz als kleines Mädchen mit Körbchen im Blumengarten

Im Herbst kamen die Mütter von Klausen zu ihr und sagten: „Laura, wir wissen uns keinen Rat mehr. Unsere Kinder lungern ohne Aufsicht herum. Der Kindergarten ist geschlossen, und wir haben keine Zeit, um auf die Kinder aufzupassen. Die Kunden und Gäste können wir beim besten Willen nicht warten lassen; du hast doch die Kindergärtnerinnenausbildung gemacht. Bitte hilf uns.“ Laura von Lutz ließ sich erweichen und half aus, wo sie konnte. Zuerst betreute sie die Kinder der Frau Trocker, dann baten immer mehr Frauen um Hilfe, und auf einmal hatte sie vierzig kleine Kinder zu beaufsichtigen. Geld erhielt sie dafür keines, denn nach dem Krieg war ja nirgendwo Geld zu holen.

Hinter der Pfarrkirche arbeitete zu dieser Zeit der Möbeltischler Luis Auer. Er hatte eine couragierte Frau. Als sie von Lauras unentgeltlichem Dienst hörte, beschloss sie einzugreifen. Sie sprach bei Sepp Prader vor, der zu Kriegsende von den Alliierten wegen seiner Unparteilichkeit als Bürgermeister eingesetzt worden war und der jüngste Bürgermeister des Landes war. Resolut sagte sie: „Seppl, du musst den Klausner Frauen und der Lutz-Laura helfen. Unsere Kinder verwahrlosen.“ Sepp Prader half unbürokratisch und sofort. Er stellte den Frauen den damals leeren Raum des alten Kindergartens zur Verfügung. Dann beauftragte er eine Frau, für die Kinder und Laura zu Mittag zu kochen. Er sorgte dafür, dass der Raum geputzt und notwendige Reparaturen durchgeführt wurden. Aber Laura bezahlen konnte auch der Bürgermeister nicht, dazu waren ihm die Hände gebunden, weil die Dienstverhältnisse der Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen dem Staat unterstanden. So arbeitete die „Kindergartentante“ Laura von Lutz weiterhin um Gottes Lohn. Doch bald wurde in Südtirol ein Abkommen zur Kindergärtnerinnenumschulung mit der Provinz Trient getroffen, und Laura von Lutz durfte mit anderen deutschen Kindergärtnerinnen für drei Monate zur Fortbildung nach Trient. Danach wurde sie vom Staat als „richtige“ Kindergärtnerin in Klausen angestellt und erhielt einen Lohn.

Laura mit den Eltern und den beiden Brüdern Egon und Camillo

Laura im Kindergarten 1928; sie ist das stehende Kind hinter den beiden hockenden und hat ein Kreuzchen auf der Schürze.

Laura von Lutz erzog die Kinderschar mit Güte und vielen kleinen pädagogischen Tricks. In den 1940er- und 1950er-Jahren gab es im Kindergarten beispielsweise noch keine Liegematten für den Nachmittagsschlaf der Kleinen. Dennoch waren die Kinder nach dem Mittagessen oft müde und sollten ein bisschen ruhen. So setzte „Tante Laura“ sie auf die Stühlchen um die Tische und befahl ihnen, die Augen zu schließen und die Köpfe auf die verschränkten Arme zu legen. Jeden Tag durfte ein anderes Kind „wach bleiben“, um den Zeiger des Weckers zu kontrollieren. Sobald der Zeiger die vereinbarte Stelle erreicht hatte, rief das Kind: „Köpfchen hoch“, und alle Kinder waren aus dem „Dornröschenschlaf“ erlöst.

Die Kinder schauten zu „Tante Laura“ nicht nur wegen ihrer Güte auf, sondern auch wegen ihrer großen Gestalt, die alle bewunderten. So groß ihre Statur war, so groß und weich war auch ihr Herz. Sie achtete auf die Bedürfnisse der Kinder und erlaubte ihnen auch, sich manchmal zurückzuziehen und Tagträumen nachzuhängen. Spielerisch lernten die Kinder, die Ohren, den Hals und die Hände zu waschen, und staunten über die hygienischen Regeln der Kindergartentante. Heute noch wird Laura von Lutz von ihren „ehemaligen Kindergartenkindern“ Marius Spiller, Irmgard Gamper und Horst Steinhauser als Ehrengast zu den gemeinsamen Vernissagen eingeladen.

Behütete Kindheit

Laura von Lutz stammte aus einem gebildeten Elternhaus. Die Familie von Lutz gehörte zum ländlichen Kleinadel und hatte einmal viele Güter besessen. Durch die Enteignung großer Teile des Familienbesitzes unter dem Faschismus war sie verarmt. Der Vater war ein vielseitig, aber vor allem technisch begabter Mensch, den eine enge Freundschaft mit Guglielmo Marconi, dem Erfinder der drahtlosen Telegrafie, verband. Lauras Mutter, eine geborene Tatz aus Eppan, kam aus wohlhabendem Hause und war künstlerisch begabt und sehr fleißig. In der harten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg versuchte sie, die Familie durch Zeitungskolumnen über Wasser zu halten. Sie verfasste unter anderem jeden Mittwoch die Kulturbeilage der Tageszeitung „Dolomiten“, aber das Geld reichte nie. Der Großvater mütterlicherseits, der ein Sägewerk in Eppan führte, hatte dem Stift „Klösterle“ in Lienz, in das eine seiner Töchter als Dominikanerin eingetreten war, eine Mädchenschule gestiftet. Dort durfte die junge Laura von Lutz nach Abschluss der italienischen Grundschule in Klausen unentgeltlich die Mittelschule besuchen. Ihre Tante, die Lehrerin geworden war, förderte sie nach Leibeskräften.

Ausbildung in Österreich

Nach dem Abschluss der zweijährigen Mittelschule kehrte Laura von Lutz nach Klausen zurück und meldete sich nach der Optionszeit zur Ausbildung für Kindergärtnerinnen an, die in Österreich stattfinden sollte. Für diese Ausbildung konnten in ganz Südtirol eigenartigerweise nur fünfunddreißig Mädchen ausfindig gemacht werden. Die Mädchen aus der Klausner Gegend starteten am 20. Juni 1940 mit dem ersten Sonderzug. Heute noch erinnert sich Laura von Lutz an diesen Tag. Eine riesige Menschenmenge versammelte sich am Bahnhof in Klausen, um die Mädchen zu verabschieden. Der Abschied fand im Garten des Gasthofs „Krone“ statt, wo die Mädchen in ihren Dirndln musizierten und für Abschiedsfotos posierten. Auf dem Steig eins tanzten die Mädchen einen letzten Volkstanz, bevor sie in den eigens für sie reservierten Zug stiegen. Die Leute winkten ihnen bei der Abfahrt mit den Armen und Fahnen begeistert zu. Die Mädchen schoben die Fensterscheiben der Abteile herab und winkten genauso enthusiastisch zurück. Laura war bewegt und sehr traurig zugleich.

Abschied von der Heimat 1940 – die jungen Mädchen der Volkstanzgruppe Klausen auf dem Bahnhofsgelände

In Innsbruck blies plötzlich ein anderer „Marsch“. Alle Südtirolerinnen mussten sich unverzüglich im Gänsemarsch zur Gesundheitskontrolle anstellen und wurden gezwungen, sich vor einer Wärterin zur „Desinfizierung“ völlig zu entkleiden. Die Mädchen waren über die menschenunwürdige Behandlung geschockt. Laura von Lutz hatte wie die anderen Mädchen bei der Abfahrt geglaubt, dass die Südtirolerinnen als Tirolerinnen aufgenommen würden, dass sie in Österreich „dazugehören“ würden. Dass Nordtirol ein Stück weit Tiroler Heimat sei, nur eben eine, die ein bisschen nördlicher gelegen ist. Aber Laura erlebte, dass dies nicht stimmte. „Ich wurde als Mensch zweiter Klasse betrachtet, als etwas, das nicht wertvoll ist, eben so, wie es heute wohl Migranten ergeht. Ich habe mich wahnsinnig alleine gefühlt und hatte das Gefühl, kein richtiger Mensch mehr zu sein, sondern ein Stück Ware“, erzählte sie einmal rückblickend.

Die Mädchen kamen zuerst in eine Ausmusterungsschule nach Jenbach. Von den fünfunddreißig Mädchen bestanden nur neun die Prüfungen. Laura gehörte dazu. Von dort wurde sie mit acht anderen Südtirolerinnen in die Lehrerbildungsanstalt nach Feldkirch geschickt, wo fünfhundert Schülerinnen untergebracht waren. Die meisten Mädchen waren viel jünger als die Südtirolerinnen. An der Schule gab es einen Direktor, der Kunkel hieß und mit Herz und Seele Pädagoge war. Er wollte den jungen Mädchen die Liebe zur deutschen Kultur beibringen, nicht das Gedankengut des Nationalsozialismus. Um die Schule zu retten, ging er viele Kompromisse mit den Nationalsozialisten ein.

Bei der Ausbildung in Feldkirch

Wie viele es waren und wie sehr sie ihn belasteten, kann Laura von Lutz heute nur erahnen. Am Abend vor der Diplomübergabe im Jahre 1942 kam Direktor Kunkel zu den Südtirolerinnen ins Zimmer und setzte sich in ihren Kreis. Er legte ihnen ans Herz, stets auf die deutsche Kultur, die humanistischen Ideale und die Menschenwürde der Kinder zu achten. Dann erzählte er ihnen, warum er oft gegen seine Ansichten handeln musste und wie schrecklich dies für ihn war. Am nächsten Tag kümmerte er sich noch eigenhändig darum, dass alle Südtiroler Kindergärtnerinnen ein ordnungsgemäßes Diplom und eine Lehrbefähigung erhielten, die ihnen die sichere Ausübung des Berufes garantierte. Nach Kriegsende erfuhr Laura von Lutz, dass sich Direktor Kunkel sofort nach der Niederlage der Deutschen vor Scham umgebracht hatte.

Tante Laura (rechts) im Kindergarten Klausen 1949

Laura von Lutz hatte großes Glück, denn ein Jahr nach ihrem Schulabschluss schlugen in der Schule und im Heim Bomben der Alliierten ein, verschütteten den Mädchentrakt völlig und töteten einundvierzig Mädchen und drei Lehrerinnen.

Kindergärtnerin während des Zweiten Weltkriegs

Laura von Lutz arbeitete nach der Entlassung aus der Lehrerbildungsanstalt kurze Zeit in Landeck und erhielt dann einen Platz als Kindergärtnerin in Ried im Oberinntal. In Ried blieb sie zwei Jahre und war sehr unglücklich. Die Menschen mochten Hitler nicht, und Laura hatte Angst, dass ihre Abscheu auch auf sie als Kindergärtnerin des nationalsozialistischen Systems übertragen würde. Um diese Angst zu überwinden, aber auch weil sie sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln fürchtete, fuhr sie nie mit dem Bus oder Zug, sondern immer mit dem Rad. Auch in Schlanders, wo sie ebenfalls zwei Jahre blieb, spürte Laura anfangs die Feindseligkeit der Bauern. Diese legte sich aber mit der Zeit, weil die Mütter merkten, dass die Kindergärtnerin, die von der Wehrmacht eingesetzt worden war, „gar nicht so böse“ war, wie sie zuerst befürchtet hatten.

Die Tankwartin

Lauras Mutter lebte in einer Bücherwelt. Sie verfasste neben Artikeln für die „Dolomiten“ auch Beiträge für die Zeitschrift „Der Schlern“. Mit ihren Gedichten hätte sie Bücher füllen können. Aber Kontakt mit den Menschen hatte sie wenig. Die Mutter war eine bemerkenswerte Frau und durch und durch eine Dame. Da der Familie das Geld fehlte, stand sie bereits um vier Uhr am Morgen auf, um zu putzen. Niemand sollte erfahren, dass sie sich kein Personal leisten konnte. Als sich die Tochter in Luis Fink verliebte, war die Mutter entsetzt: „Was, ein Bauernsohn, ein Mechaniker, klein, mager. Du hast eine schlechte Wahl getroffen.“

Laura war viel mit ihrem Bruder Camillo unterwegs, der sie oft zu Festlichkeiten mitnahm. Auch der Vater feierte gerne, und so traf sie Luis Fink immer wieder. Laura mochte ihn, weil er bescheiden war und sie bei ihm keine Minderwertigkeitsgefühle hatte, sondern sein durfte, wie sie war. Allmählich arrangierte sich ihre Mutter mit dem jungen Mann, und Laura durfte ihn heiraten. Laura war immer ein stilles und bescheidenes Mädchen gewesen. Sie hatte in ihrer Jugend stets nur als Tochter der klugen Frau von Lutz gegolten. Mit Luis an der Seite fühlte sie sich endlich glücklich und wertvoll. Seine Tankstelle lief gut; Laura half viel im Betrieb mit. Als Luis früh starb, führte Laura den Betrieb weiter. Damit sorgte sie für das Einkommen der Familie – und erzog nebenbei ihre drei Kinder.

Die Tankstelle Fink am Tag der Eröffnung

Ein ganzes Leben lang war Laura von Kindern umgeben, zuerst von denen der anderen Familien, dann von den eigenen, schließlich von den Enkeln, und nun hat sie Urenkel, die die Enkelinnen auf Besuch ins Seniorenheim bringen. Der Kreis hat sich geschlossen.

VERLIEBT IN DIE ORGEL

GEORG HASLER

Früher war das Orgelspiel in der Regel einem Lehrer anvertraut. Nicht so in Latzfons, wo zu Beginn des Zweiten Weltkrieges ein Junge aus der Spenglerfamilie Hasler zum Organisten ausgebildet wurde. Georg Hasler verliebte sich so sehr in die Kirchenorgel, dass er nicht mehr davon lassen konnte.

Georg Hasler war gerade mal vierzehn Jahre alt und soeben ausgeschult, als in Latzfons der damalige Organist Gregor Hasler schwer erkrankte. Bartholomäus Terzer, der Dorfpfarrer, wusste eine Lösung: Er stattete der „Spanglerfamilie“ einen Besuch ab und erklärte dem überraschten Vater: „Ab jetzt spielt der Jörgl auf der Orgel.“

Sprung ins kalte Wasser

Georg Hasler stammt aus einer musikalischen Familie, in der die Volksmusik von alters her gepflegt wurde. Der Vater hatte sechzig Jahre lang Violine gespielt, und die Mutter sang mit drei von Jörgls Schwestern im Chor. Jörgl selbst stand dem Chor ab 1942 als Leiter vor. Solange, bis er 1992 von seinem Sohn Georg abgelöst wurde.

Mit Pfarrer Terzers Entscheidung wurde der junge Jörgl sprichwörtlich ins kalte Wasser geworfen. Natürlich hatte er schon ein wenig auf der Gitarre gespielt; er war begabt und konnte sich auf sein Gehör verlassen. Aber auf der Orgel zu spielen, das war schon „ein anderes Paar Schuhe“. Auf der Königin der Instrumente! Wie sollte er nach Noten spielen, wenn er sie nicht lesen konnte? Pfarrer Terzer wusste wie immer Abhilfe. Er schickte den Jungen nach Klausen, wo er zweimal in der Woche beim Priester Emmerich Kostner Unterricht in Stimmbildung und im Orgelspiel erhielt. Wie sehr der Latzfonser Pfarrer auf das Talent des Jungen setzte und wie wichtig ihm dessen gediegene Musikausbildung war, zeigt, dass er den ehemaligen Präfekten des „Johanneums“ von Dorf Tirol, Adolf Veit, zusätzlich als Musiklehrer für Jörgl engagierte.

Immer schon wurde in der Familie Hasler viel gesungen und musiziert (im Vordergrund Jörgl mit der Gitarre).