Die Autorin

Martina Richter – Foto © Privat

Geboren wurde ich 1966 in Bielefeld, wuchs aber in Baden-Württemberg auf, wo meine Eltern eine Jugendherberge leiteten. Nach meinem Studium der Geographie in Tübingen begann ich ebenfalls in der Jugendherberge zu arbeiten. Bis heute lebe ich mit meinen beiden Töchtern und vielen Tieren in einem Bauernhaus in Sonnenbühl auf der Schwäbischen Alb. Nach dem Tod meines Sohnes im Jahre 2000 begann ich mit dem Schreiben. Mein erster Roman „Die Schimmelreiterin“ wurde im Herbst 2015 veröffentlicht. Meine eigentliche Liebe gilt aber dem klassischen Kriminalroman. Mein Detektiv ist ein junger Mops namens Holmes.

Das Buch

Es könnte alles so schön sein im beschaulichen Knieslingen. Kommissar Waterson bereitet mit seiner Braut seine Hochzeit vor und auch die Tochter von Holmes‘ Frauchen Marlene möchte Ja sagen. Mitten in den Vorbereitungen und im größten Trubel findet Mops Holmes auf dem Fußballplatz neben der Festhalle eine Leiche. Der Schiedsrichter aus dem ungeliebten Nachbardorf Gutthau baumelt erhängt am Fußballtor. Es scheint Selbstmord zu sein, doch Holmes nimmt dennoch die Ermittlungen auf. Und seine Spürnase täuscht den Mopsdetektiv nicht. Er kommt einem Skandal im Dorfkicker-Milieu auf die Schliche...

Von Martina Richter sind bei Midnight erschienen:
Mopshimmel
Mopswinter
Mopsfluch
Mopsnacht
Mopssturm
Mopshöhle
Mopsball

Martina Richter

Mopsball

Holmes und Waterson ermitteln in ihrem neusten Fall

Kriminalroman

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
April 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95819-233-1

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Jegliche Ähnlichkeiten mit Personen, Vorfällen oder Orten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

-1-

»Also langsam weiß ich wirklich nicht mehr, wo mir der Kopf steht.« Marlene ächzte schwer unter der der Last der Girlanden, die sie mit Hilfe von Jackie in der Knieslinger Festhalle aufhängen wollte. Doch sobald sie auf der wackeligen Leiter stand, krähte Josefine, ihre jüngste Tochter, laut los und verlangte die gesamte Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Neidisch blickte sie auf den Buggy der am Rande der Halle in einer Nische stand. Dort schlief Mara, Jackies Tochter, in aller Seelenruhe, und nur hin und wieder war ein leises Schnarchen von ihr zu hören.

Jackie blies sich eine Haarsträhne aus der verschwitzten Stirn und grinste ihre Freundin an. »Wie wäre es, wenn du jetzt doch endlich einmal die Hilfe von Miros Eltern in Anspruch nimmst? Sie haben es dir oft genug angeboten, und in der kurzen Zeit werden sie Josy nicht gleich fürs Leben verderben.«

»Aber sie füttern sie unentwegt mit Süßigkeiten, und sie darf einfach alles …«, murrte Marlene, die die Kleine mittlerweile zum fünften Mal von dem Stapel Bodenturnmatten herunterhob, auf dem die fast Einjährige immer wieder herumkletterte.

»Also zuerst einmal: Das ist das Privileg aller Großeltern, und die beiden sind zuckersüß und sehr lieb mit Josy. Und zweitens: So werden wir niemals fertig, also ruf sie jetzt an! Oder willst du Johannes erklären, dass unsere Doppelhochzeit ohne Dekoration stattfinden wird, weil du zu stolz bist, um Hilfe zu bitten?«

»Männer mögen gar keine Dekoration.« Marlene stieg brummelnd wieder auf die Leiter, doch bevor sie oben angekommen war, rollte der Wagen, auf dem die Turnmatten gestapelt waren ein kleines Stückchen vorwärts, und Josefine, die sich soeben daran hochgezogen hatte, verlor das noch wackelige Gleichgewicht und fiel nach vorne auf den Bauch. Neuerliches Geschrei war die unmittelbare Folge. Jackie zog nur eine Augenbraue hoch, als Marlene ihr einen genervten Blick zuwarf und sich wieder auf den Weg nach unten machte.

»Bläst Holmes immer noch Trübsal? Das ist so untypisch für einen Mops, ich finde das mittlerweile bedenklich. Sonst könnte er doch mit Josefine ein bisschen spielen.« Jackie drehte sich suchend nach mir um, was die Leiter, auf der sie stand, bedenklich ins Wanken brachte.

Ich beobachtete das Treiben aus sicherer Entfernung, um ja nicht einbezogen zu werden. Mir war so überhaupt nicht nach Spielen zumute. Am liebsten wäre ich zu Hause geblieben und hätte mich in meinem Körbchen zusammengerollt. Nichts hören, nichts sehen und nichts fühlen. Mein Papa Marquez fehlte mir so sehr.

Mein Leben war nicht mehr dasselbe seit dem Tag, an dem ich erfahren hatte, dass er morgens einfach nicht mehr aufgewacht war. Meine Mutter Nelly erzählte mir davon: Sie lag eng an ihn gedrückt, als es passierte. Sie war bei seinem letzten Atemzug an seiner Seite. So hatte er sich seinen Abgang gewünscht, und Nelly fand in dieser Gewissheit Trost. Sie ertrug den Verlust mit sehr viel stiller Würde, ich bewunderte sie dafür. Ich war voller Schmerz und Zorn und war auf alles um mich herum wütend. Endlich hatte ich mein Messerstich-Trauma weitgehend überwunden und hatte gehofft, ein ruhiges, zufriedenes Leben im Kreise meiner Familie führen zu dürfen. Nun war mein Vater fort, und ein Stein im Garten neben seiner ersten Frau Babette zeigte den Ort an, an dem er sich nun befand. In der feuchten, kalten Erde, Futter für die Würmer.

Meine Gefährtin Bena Hula hatte mittlerweile resigniert aufgegeben, mir erklären zu wollen, dass er nie wirklich sterben würde, solange er in unseren Gedanken und Herzen weiterexistierte. Alle Erinnerungen an ihn taten mir weh. Denn ich war nicht dabei gewesen, als er gegangen war. Immer wieder kochte heiße Wut in mir hoch, wenn ich darüber nachdachte, dass ich in der unendlichen Sonne der Provence gefaulenzt hatte, als er starb. Mein bester Freund Johannes Waterson hatte mir kein Wort gesagt. Erst als ich in freudiger Erwartung nach Hause zurückkehrte, begeistert die Treppe in unserem alten Bauernhaus hinaufsprang und in unsere Küche stürmte, erfuhr ich von seinem Tod. Die traurigen Blicke, mit denen mich Nelly und Bena begrüßten, machten mir schlagartig klar, dass etwas Schlimmes passiert war. Ich fühlte mich verraten und übergangen und weigerte mich seither sogar, Waterson an mich heranzulassen.

Ich hob den Kopf, als ich Schritte hörte. Marlene kam mit Josy auf dem Arm auf mich zu. Gleich würde sie wieder versuchen, mich dazu zu bringen, mit Josy zu spielen, um mich abzulenken und aufzumuntern. Wie so oft in den letzten Wochen ergriff ich die Flucht. Marlene versuchte erst gar nicht, mich zurückzurufen. Sie wusste, dass ich einfach weiterlaufen würde. Und dass ich nicht verloren gehen würde. Alle im Dorf kannten mich und waren mittlerweile den Anblick gewöhnt, dass ein Mops allein durchs Dorf streifte. Irgendwann kam ich wieder zu Hause an, bellte kurz, damit mich jemand ins Haus ließ, und verkroch mich wieder in meinem Körbchen.

Ich trabte durch den langen, kargen Gang der Sport- und Festhalle und drückte mich durch die angelehnte Tür nach draußen. Die spätherbstliche trübe Stimmung draußen passte besser zu meiner Verfassung als die emsige Vorfreude, die drinnen herrschte. Trostlos und umgeben von dem großen Sterben, das der Herbst mit sich bringt, trabte ich über den nahe gelegenen Fußballplatz, wohl wissend, dass ich damit ein Sakrileg beging. Der Rasen wurde vom Platzwart gehegt und gepflegt und durfte außerhalb der Spiele ausschließlich von ihm betreten werden. Doch es war niemand da, der mich verjagte. Die beiden Tore waren noch nicht für den Winter eingelagert worden und durch große Plastikhauben vor der Witterung geschützt. Am kommenden Sonntag war das letzte Heimspiel vor der Winterpause geplant. Die gegnerische Mannschaft aus dem etwa dreißig Kilometer entfernten Ort Reublein kannte ich nicht, aber im Bären, unserem Dorfgasthaus, wurde unserem FC Knieslingen eine reelle Chance eingeräumt. Die Gemüter erhitzten sich jedoch heftig darüber, dass der Schiedsrichter ausgerechnet aus dem verhassten Nachbardorf Gutthau stammte.

Miro nahm mich früher hin und wieder auf den Fußballplatz mit, und ich beobachtete mit Begeisterung, dass nicht nur Hunde Freude daran finden, einem Ball hinterherzujagen. Daher kannte ich ein paar Gesichter und natürlich den Stolz des FC Knieslingen: die erste Herrenmannschaft. Viel Ehrgeiz und Emotionen machten sich bemerkbar, vor allem wenn der Gegner SV Gutthau hieß.

Es herrschte eine lang gepflegte Fehde zwischen den beiden Dörfern. Ich hegte schon seit Langem den Verdacht, dass es sich einfach um eine alte Gewohnheit handelte, denn niemand hatte die tiefe Abneigung bisher begründen können. Es war halt schon immer so. Innerlich schüttelte ich den Kopf über dieses merkwürdige Verhalten. Wir Möpse begegneten allen Lebewesen zuerst einmal unvoreingenommen und freundlich. Wie so oft dachte ich daran, wie viel besser und friedvoller die Welt wäre, wenn sie von uns Möpsen regiert werden würde. Mein Vater hätte einen wundervollen Präsidenten abgegeben. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr mich, als ich an ihn dachte, und ich blieb neben einem der abgedeckten Fußballtore stehen, unfähig, mit meinem Schmerz zurechtzukommen.

Ein scharfer Wind kam auf und rüttelte an der hellen Plane. Unwillkürlich sah ich auf und erstarrte. Da war etwas in dem Tor, was da beim besten Willen nicht hingehörte. Ein schwarzer, unförmiger Schatten bewegte sich schemenhaft und stieß hin und wieder gegen die raschelnde Plane. Meine angeborene Neugierde siegte über meinen Frust, und ich robbte auf dem Bauch unter die Abdeckung. Als Erstes stieg mir ein scharfer Uringestank in die Nase. Der Verursacher hing aufgeknüpft an der Latte des Tores, und es gab keinen Zweifel daran, dass er mausetot war.

Ich trat ein paar Schritte näher und richtete mich an einem der beiden Pfosten auf, um besser in das Gesicht des Toten blicken zu können. Es war grotesk verzerrt. Die Augen waren weit aus den Höhlen getreten, und die Zunge hing wie ein dicker blauer Lappen aus dem Mund. Ich hatte bisher noch nie mit einem Erhängten zu tun gehabt, aber von Waterson wusste ich, dass es beim Erhängen zwei Todesarten gab. Schnell ging es bei Genickbruch, aber offensichtlich hatte der arme Kerl, der hier im Wind hin und her baumelte, nicht so viel Glück gehabt. Er zeigte die typischen Anzeichen eines langsamen und qualvollen Erstickungstodes. Nachdenklich starrte ich in das entstellte Gesicht. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Ein Knieslinger war er jedenfalls nicht, das wusste ich ganz sicher. Der Mann war etwa vierzig Jahre alt, recht klein, soweit ich das von hier unten aus beurteilen konnte, und trotzdem kräftig und sportlich gebaut. Sportlich, genau, da fiel bei mir der Groschen. Dort am Knieslinger Tor hing der Schiedsrichter, der eigentlich am Sonntag das Spiel Knieslingen–Reublein pfeifen sollte.

-2-

»Was soll ich bloß mit ihm machen? Wir haben es doch nicht geahnt, dass Marquez …« Marlene musste immer noch schlucken, wenn sie den Namen aussprach. »Ausgerechnet, als der kleine Kerl in Frankreich war, musste das passieren. Wir haben es doch nur gut gemeint. Ich hätte es wissen müssen, dass der Schock zu groß für ihn sein würde, und hätte ihn noch in Frankreich darauf vorbereiten sollen. Johannes wollte es ihm unbedingt sagen, aber ich hatte solche Sorge, dass er einen Rückfall erleiden würde, und habe darauf bestanden, ihn erst zu Hause damit zu konfrontieren. Ein paar letzte unbeschwerte Tage wollte ich ihm gönnen, und nun habe ich sein Vertrauen verloren, und sogar auf Johannes ist er wütend, obwohl der nun ja gar nichts dafür kann.« Bedrückt starrte Marlene durch die riesigen Fenster ihrem davontrabenden Mops nach.

»Nanu? Was macht er denn jetzt?« Jackie trat neugierig neben sie an die Fensterfront. »Was will er denn unter der Plane? Er verhält sich schon mehr als merkwürdig. Ich kenne da eine gute Tierpsychologin, vielleicht solltest du mal mit ihm dorthin gehen. Hast du ihm eigentlich mal gesagt, dass Johannes es ihm bereits in Frankreich mitteilen wollte? Vielleicht wäre das eine Möglichkeit, damit wenigstens die beiden sich wieder näherkommen.«

Marlene starrte ihre Freundin an. »Das gibt’s doch nicht. Das habe ich tatsächlich nicht gemacht. Ich bin immer davon ausgegangen, dass er das weiß. Mensch, bin ich froh, wenn diese Hochzeit vorbei ist und ich wieder ein normales Leben führen kann.«

Jackie lachte herzhaft. »Du und ein normales Leben? Niemals! Also sprich mal mit Holmes und versuche ihm klarzumachen, dass Johannes nichts dafür kann. Wenn er wieder Vertrauen zu ihm fassen könnte, wäre es schon einmal ein großer Schritt in die richtige Richtung.«

»Kannst du kurz auf Josefine aufpassen? Ich geh gleich mal zu ihm und erledige das. Nicht, dass es wieder im Trubel untergeht. Ich muss nachher noch das Brautkleid abholen und danach zu Hanna, um die endgültige Sitzordnung zu besprechen. Es haben schon wieder ein paar Leute nachträglich zugesagt, obwohl sie sich erst eigentlich nicht gemeldet haben, aber das geht dir bei deiner Gästeliste sicher genauso. Außerdem möchte ich sowieso gerne wissen, was er unter der Torabdeckung macht.«

»Natürlich, geh nur.« Jackie streckte die Hände nach Marlenes kleiner Tochter aus, die sich vertrauensvoll in ihre Arme warf.

»Sie mag dich wirklich«, lächelte Marlene und lief schnell in die Garderobe, um sich ihre Jacke zu holen, bevor es sich Josefine wieder anders überlegen konnte.

Die kalte Luft, die ihr entgegenschwappte, als sie die Tür nach draußen öffnete, raubte ihr kurz den Atem. Es roh eindeutig nach Schnee. Wieder lächelte sie. Sie liebte Schnee. Hochzeitsfotos mit einem prachtvoll glitzernden weißen Hintergrund würden ihr besser gefallen, als mit grau-braunem Matsch und Nebel.

Wie ein Versprechen auf diese Aussicht fielen in diesem Moment die ersten Schneeflocken vom Himmel. Sie reckte ihr Gesicht in den Himmel und spürte, wie die Flocken auf ihrer Haut schmolzen. Für einen kurzen Moment fielen Stress und Anspannung von ihr ab, und sie spürte endlich eine warme Vorfreude auf das große Fest in sich aufsteigen.

Miro war der Richtige, der Mann, mit dem sie alt werden wollte. Vor allem seit der Geschichte mit der Sabotage beim Bau des Hotels, bei dem Miro bereit gewesen war, seine Freiheit für Emmas Gesundheit zu opfern, war ihr das bewusst geworden. Richtigen Mist hatte er da gebaut, indem er Verbrecher als Schutztruppe für seine Baustelle engagiert hatte, die dann den Beauftragten vom Denkmalschutzamt, Herrn Neuhaus, umgebracht hatten. Miro war Augenzeuge gewesen, und die Typen hatten ihn erpresst, indem sie gedroht hatten, Emma etwas anzutun, wenn er sie verraten würde. Aber er war bereit gewesen, für ihre Tochter alles aufzugeben. Dabei waren Emma und Hanna nicht einmal seine leiblichen Kinder. Was für ein toller Mann, dachte sie, und wieder durchströmte sie das warme Gefühl, als sie das Tor erreichte, unter dem sich Holmes schon eine ganze Weile aufhielt. Sie rief seinen Namen, schob die Plane zur Seite, und plötzlich war ihr eiskalt.

-3-

Theodor Brunsle hieß er, soweit ich mich erinnerte. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, mich einfach davonzuschleichen und Leiche Leiche sein zu lassen. Sollte er doch dort baumeln, wenn er sein Leben nicht mehr leben wollte. Ein Selbstmörder hatte seine Wahl getroffen. Doch dann rührte sich mein detektivischer Verstand. Selbstmord, danach sah es ja aus, aber warum denn ausgerechnet hier? Was war denn das für eine Idee? Hatten die in Gutthau denn keine eigenen Tore? Wie war er denn überhaupt dort hochgekommen? Ich erschrak, als plötzlich die Plane hinter mir raschelte. Marlene steckte ihren Kopf durch den Spalt und stieß dann zischend den Atem aus, als sie den Toten sah. »Oh nein, nicht schon wieder!« Sie taumelte ein paar Schritte rückwärts aus dem Zelt und hielt sich mit einer Hand am Torpfosten fest.

Ich warf noch einen kurzen Blick auf Brunsle und folgte ihr dann nach draußen. Sie war kreidebleich, hielt sich aber aufrecht. »Gut, dass ich nicht gefrühstückt habe. Holmes, alles okay bei dir?«

Ich kläffte einmal kurz zustimmend und schaute zu ihr auf. Mit zitternden Händen fischte sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte den Notruf. Sie schilderte kurz die Situation »Nein, einen Krankenwagen brauchen sie nicht mehr zu schicken. Der Herr dort ist definitiv tot … Ja gut, ich warte hier und weise die Kollegen ein … Und ich werde niemanden in die Nähe lassen, das ist doch selbstverständlich … Nein, mir geht es gut, ich brauche keinen Arzt. Ja, ich bin sicher, Danke schön!« Sie beendete das Gespräch und seufzte kurz, dann rief sie Jackie an. »Kannst du noch ein bisschen auf die Josy aufpassen? Hier hängt eine Leiche in dem Fußballtor. Ich muss auf den Leichenwagen und die Polizei warten. Nein, bitte bleib drin, ich erzähle dir alles später. Es geht mir gut, Holmes ist doch bei mir. Ja, ich kann dich auch sehen.« Sie winkte Jackie ein wenig halbherzig zu, die an dem großen Fenster der Festhalle stand, nur ein Fußballfeld entfernt.

»Josy ist wohl gleich eingeschlafen, nachdem ich hinter dir hergelaufen bin. Jackie bleibt drin bei den Kindern, bis wir hier gehen können«, wandte sie sich wieder mir zu. »Ist dir irgendetwas aufgefallen? Sieht ja alles sehr nach Selbstmord aus, aber irgendetwas stört mich gewaltig. Schau dich doch noch ein wenig um, bevor sie uns von hier verjagen. Wäre nicht das erste Mal, dass du eine Spur findest, die andere einfach übersehen. Also los, du Detektiv, zeig was du kannst! Und beeil dich, bevor die Polizei hier deine Hinweise zertrampelt!«

In diesem Moment spürte ich das erste Mal seit Langem wieder etwas anderes als Zorn. Ich war stolz darauf, dass mein Frauchen so ein Vertrauen in meine Fähigkeiten hatte, und begann zu wedeln. Marlene beugte sich zu mir herunter und strich mir zärtlich über den Kopf.

»Komm zu uns zurück, kleiner Mann. Du fehlst mir so. Ich kann es nicht ertragen, euch beide zu verlieren.«

Ich schaute zu ihr auf. Nie war mir bisher in den Sinn gekommen, dass sie auch um Marquez trauerte. Zu sehr war ich in meinem Schmerz gefangen gewesen, und mein Frauchen erlebte ich nur als Wirbelwind im Trubel der Hochzeitsvorbereitungen. Erst die Leiche an der Torlatte hinter mir hatte mich ein wenig aufgerüttelt. Ich hatte einen Job zu erledigen!

Ich kläffte einmal zustimmend und drückte ihr kurz meinen Kopf gegen die Hand. Dann machte ich mich ans Werk und senkte die Nase auf den Boden, begann alles abzuschnüffeln. Ich arbeitete mich durch die mannigfaltige Geruchswelt eines Fußballrasens. Dabei sortierte ich die älteren Düfte nach verschwitzten Socken und matschigen Schuhen aus. Schritt für Schritt näherte ich mich auf diese Weise wieder dem Tor und seiner baumelnden Last, doch außer den wabernden Gerüchen um mich herum, nahm ich nichts mehr wahr. Die reale Welt um mich herum verschwamm in Undeutlichkeit, bestand nur noch aus dem, was meine feine Nase einsog. Es waren viele frische Spuren da, und es forderte meine ganze Konzentration, sie auseinanderhalten zu können und voneinander zu trennen.

Nach einer ganzen Weile hatte ich zwölf leuchtende Geruchsfäden isoliert, die neueren Datums waren. Diese prägte ich mir, so gut ich konnte, ein, allerdings waren es ganz schön viele. Mir qualmte schon der Kopf vor Anstrengung. Der scharfe Uringestank unter der Leiche und der Zeitdruck machten meine Arbeit nicht gerade leichter. Einer dieser Fäden gehörte zu dem armen Herrn Brunsle. Diesem folgte ich dann aus dem Tor wieder heraus. Nach wenigen Metern verlor ich jedoch seine Spur. Hektisch versuchte ich sie wiederzufinden, doch es blieb dabei: Entweder war Brunsle hierher geflogen, oder er war hierher getragen worden. Die anderen elf Spuren konnte ich mühelos verfolgen, doch mir blieb keine Zeit mehr, ich hörte bereits die Sirenen der Einsatzkräfte näher kommen. Ich seufzte frustriert, denn erfahrungsgemäß wurde ich dann erst einmal verscheucht.

-4-

»Wenn das nicht mal wieder der junge Mr Holmes ist.« Wie immer unpassend gut gelaunt entstieg Gerhard Schulmann dem Polizeiauto. Für ihn war jeder Fall ein spannendes Puzzle, und er besaß die beneidenswerte Fähigkeit, die traurigen Schicksale, die sich hinter den Leichen verbargen, auszublenden. »Wo du bist, ist Verbrechen. Aber dieses Mal sieht es eher nach Selbstmord aus. Schauen wir mal …« Er tätschelte mir den Kopf und stieg dann in seinen komischen weißen Anzug.

Ich war froh, dass Schulmann den Fall übernommen hatte. Er erkannte mich und meine Fähigkeiten an und ließ sich nicht von meinem Äußeren täuschen. Seine Mitarbeiter beäugten mich eher misstrauisch, und irgendwie konnte ich sie sogar verstehen. Vor ihnen stand ein kleiner beiger Mops mit einer schwarzen Maske und krummen Hinterbeinen. Ich sah einfach zu niedlich und freundlich aus, und nur wer mich näher kannte, wusste, was für ein wacher Geist und Verstand sich hinter meiner faltigen Stirn verbarg.

Prompt kam einer der Mitarbeiter von Schulmann auf Marlene und mich zu. »Bitte entfernen Sie den Mops, oder nehmen Sie ihn zumindest an die Leine. Wir können keine Verunreinigung durch Hundehaare hier brauchen. Womöglich pinkelt er noch irgendwohin. Also halten Sie ihn fest!« Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen und bevor Marlene etwas erwidern konnte, drehte ich mich um und schlenderte davon.

»Jetzt hast du ihn beleidigt«, hörte ich Schulmann seinem Kollegen zurufen, und er hatte absolut recht. Sollten sie doch selbst herausfinden, was geschehen war. Mein kurzes Interesse an dem Fall war bereits wieder erloschen. Als ob ich auf einem Tatort pinkeln würde. So eine Frechheit musste ich mir nicht bieten lassen. Doch eine andere Stimme ließ mich innehalten.

»Holmes! Wie schön, dich zu sehen, Kollege. Wie lange ist das her?«

Ich drehte mich um, und ungeachtet meiner soeben noch schlechten Laune begann mein Schwänzchen zu wedeln, bevor ich mich bremsen konnte. Erfreut sah ich meinen Freund Ludwig Gerlach über den Rasen auf mich zueilen. Der unverschämte Typ von der Spurensicherung holte Luft, um weitere Einwände gegen meine Anwesenheit zu erheben: »Aber …«

Doch Gerlach brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Papperlapapp. Nix Aber. Der kleine Kerl hier hat damals die Loipenmorde aufgeklärt, ohne ihn hätten wir den Fall wohl nie gelöst, also halt dich zurück. Holmes ist ein Genie im Auffinden von Spuren, und nie würde er welche verderben.« Mittlerweile hatte er mich erreicht und beugte sich zu mir herunter. Höflich streckte ich ihm meine rechte Pfote entgegen, die er sogleich herzlich schüttelte. »Na, wie sieht’s aus. Ist das hier ein Selbstmord und wir können alle schnell nach Hause?«

»Du fragst jetzt nicht im Ernst einen Mops nach seiner Meinung zu einem Todesfall?« Ungläubig schüttelte der junge Mann von der Spusi seinen Kopf und trollte sich dann endlich über den Rasen zu seinen Kollegen.

Gerlach ließ meine Pfote los und grinste mich an. »Keine Ahnung hat der. Aber egal, zurück zu meiner Frage: Selbstmord?«

Ich legte meine Stirn in Falten und dachte nach. Brunsle war nicht auf seinen eigenen Füßen hierhergekommen. Jemand hatte ihn zu dem Tor getragen. Natürlich wäre es auch denkbar, dass er lebend dort angekommen war und aus irgendeinem Grund beschlossen hatte, sich dort aufzuhängen. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Gerlach wartete immer noch auf eine Antwort, und ich sah ihn ein wenig hilflos an. Wie gerne würde ich ihm meinen Gedankengang erläutern, aber wie?

Doch bevor ich mir darüber im Klaren war, wie ich darauf reagieren sollte, brüllte Schulmann zu uns herüber: »Das sieht ganz nach Selbstmord aus, bis auf die Tatsache, dass ich noch keine Ahnung habe, wie er es geschafft hat, da hochzukommen.« Er winkte uns herüber, zumindest ging ich mal davon aus, dass er uns beide meinte, und trabte hinter Gerlach her. Schulmann schien keine Einwände gegen meine Anwesenheit zu haben. Als wir ihn erreichten, deutete er auf den immer noch dort hängenden Brunsle.

Die Sanitäter mit der Trage warteten ungeduldig auf ihren Einsatz. Sie traten von einem Fuß auf den anderen und bliesen mit dampfendem Atem auf ihre Hände. Der Schneefall hatte zugenommen, und inzwischen bedeckte eine feine weiße Schicht die Szenerie. »Dauert das noch lange? Wir holen uns hier noch den Tod, und die Straßenverhältnisse werden auch nicht besser«, murrte der größere der beiden Sanitäter.

Schulmann ignorierte die beiden und wandte sich uns zu. »Seht ihr, was ich meine?« Er deutete auf die Schlinge, in der der Schiedsrichter seinen Tod gefunden hatte. »Wie hat er es geschafft, dort hochzukommen? Er ist sehr klein und muss daher das Netz hochgeklettert sein, sich dann oben auf die Latte gesetzt haben und sich fallen gelassen haben. Aber das geht nicht so einfach, wenn die Plane über das Tor gespannt ist.« Er runzelte für einen Moment die Stirn, doch dann kehrte seine unverwüstliche gute Laune zurück. Er klopfte Gerlach auf die Schulter und grinste ihn an. »Das ist ja nicht mein Problem, sondern eures. Viel Erfolg beim Knacken dieser Nuss!« Er nickte den frierenden Sanitätern zu. »Ihr könnt ihn jetzt mitnehmen.«

Erleichtert gingen die beiden Männer an ihre traurige Aufgabe und luden den Toten in den mittlerweile eingetroffenen Leichenwagen. Kurze Zeit später hing nur noch die einsame Schlinge im Tor. Schulmann scheuchte uns wieder auf den Rasen hinaus, um die Schlinge von allen Seiten zu fotografieren, bevor er sie schließlich abnehmen und mit ins Labor nehmen würde.

Ich war zufrieden, denn die Saat des Zweifels am Selbstmord war auch ohne meine Hilfe gesät worden.

Gerlach schlug den Kragen seiner schwarzen Lederjacke hoch, um den eisigen Wind abzuhalten. Ich gebe zu, auch ich wäre mittlerweile gerne in unserer warmen Küche mit dem prasselnden Holzofen gewesen. Als ich hinter Gerlach auf Marlene zulief, sah ich eine weitere, sehr vertraute Gestalt auf uns zukommen. Watersons dunkler Haarschopf wurde vom Wind zerzaust und gab ihm ein verwegenes Aussehen. Auch er hatte den Kragen seines warmen Mantels hochgeschlagen und die Hände tief in den Taschen vergraben.

Herzlich begrüßte er seinen Kollegen und nickte mir dann ein wenig unsicher zu. »Auch mit von der Partie?« Unser Verhältnis kann man getrost als angespannt betrachten, daher trabte ich einfach an ihm vorbei, zumindest war das mein Plan, denn er stellte sich mir in den Weg und ging in die Hocke, sodass ich stehen bleiben musste »Holmes, bitte. Auf ein Wort.« Ich schüttelte meinen Kopf, zu tief saß der Stachel des Verrats an unserer Freundschaft.

»Nanu, was ist denn bei euch beiden los?« Gerlach sah verwundert zwischen uns hin und her.

»Ich glaube, ich muss da mal endlich etwas klarstellen«, schaltete sich nun auch noch mein Frauchen ein. Warum konnten sie mich nicht einfach alle in Ruhe lassen? Genervt rollte ich mit den Augen, konnte aber nicht so einfach entwischen, denn mein Frauchen hatte mich an meinem Geschirr gefasst. »Jetzt wirst du einfach mal kurz zuhören. Johannes wollte es dir in Frankreich gleich sagen. Wir haben furchtbar gestritten deswegen, weil er es nicht richtig fand, es dir erst hier zu sagen. Es ist allein meine Schuld. Ich hatte solche Angst, dass du wieder einen Rückfall in dein Trauma erleidest, und kalte Füße gekriegt. Deswegen habe ich es ihm verboten, und schließlich hat er sich gefügt, weil du mein Hund bist und nicht seiner. Also, wenn du zornig bist, dann auf mich allein.« Endlich ließ sie mein Geschirr los, und ich schoss sofort davon.

In meinem Kopf purzelte alles durcheinander. Waterson konnte nichts dafür? Frauchen hatte es nur gut gemeint? Sie hatte kalte Füße? Keuchend blieb ich nach ein paar Metern stehen. Wie eine Sturmflut überfielen mich meine lang zurückgedrängten Gefühle und brachen sich in einem lauten Heulen ihre Bahn. Ich streckte meinen Kopf in die Luft und heulte, wie es einst meine Vorfahren getan hatten, wieder und wieder. Erschöpft drehte ich mich schließlich zu den drei Menschen um, die mich erschrocken anstarrten. Mein Herz schlug hart gegen meine Rippen, und plötzlich war mir, als ob ich die Stimme meines Vaters hörte.

Denk an den Mopskodex, mein Sohn. Die Menschen brauchen uns und unsere Fürsorge. Wir sind hier, um uns um sie zu kümmern, denn wir machen ihr Leben erst lebenswert. Und natürlich müssen wir dafür sorgen, dass sie immer warme Füße haben.

Mein Vater wäre wohl im Moment nicht stolz auf mich gewesen, aber das konnte ich ändern. So schnell mich meine Beine trugen, sprintete ich auf das kleine Grüppchen zu und sprang in Frauchens Arme. Noch während ich mich in ihre Arme schmiegte, meinte ich das zufriedene Moppern meines Vaters zu hören.

-5-

»Kann mir mal jemand erklären, was hier gerade passiert ist?« Gerlach sah immer noch verblüfft von einem zum anderen und auf den kleinen Mops, der völlig außer Rand und Band zu sein schien. Mittlerweile hatte ich alle Zurückhaltung fallen lassen und mich nun über meinen Freund hergemacht. Waterson wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, das nicht nur nass von den überschwänglichen Freudensbekundungen meiner Mopszunge war. »Erklär ich dir mal bei einem Feierabendbier. Ich glaube, wir haben hier einen ungeklärten Todesfall?«

Gerlach nickte. »Ja, der Theo, also, ich meine, der Herr Theodor Brunsle ist von Holmes tot aufgefunden worden, erhängt im Tor dort drüben. Sieht nach Selbstmord aus, aber Schulmann ist sich nicht sicher, wie es der Tote geschafft haben soll, sich aufzuhängen. Merkwürdige Geschichte. Wo warst du eigentlich so lange?«

»Hochzeitsvorbereitungen, ich war gerade bei der Anzuganprobe mit Miro. Wir sehen hinreißend aus«, sagte er grinsend. »Und außerdem, werter Kollege: Ich habe eigentlich heute frei.«

»Ach, du hast frei?« Von allen unbemerkt war Jackie hinzugetreten. »Mir hast du erzählt, dass du arbeiten musst und daher leider nicht beim Dekorieren helfen kannst.« Bevor Waterson noch etwas erwidern konnte, wandte sie sich an Marlene. »Deine Schwiegermutter Anne ist gekommen und passt auf unsere Mädels auf. Wenn wir Gas geben, sind wir vor dem Abendessen fertig. Kannst du hier weg? Ich denke, dir wird die Ablenkung guttun.«

Marlene nickte und rappelte sich von dem nassen Rasen auf. »Ja, ich denke schon. Ihr wisst ja, wo ihr mich finden könnt.« Sie wandte sich im Gehen noch an mich. »Ich schätze mal, du bleibst bei Waterson?« Ich bellte einmal zustimmend und schaute dann den beiden Frauen hinterher, die sich wieder auf den Weg in die Festhalle machten. Mein Frauchen war wirklich tapfer. Ich konnte noch hören, wie sie Jackie anbrummte. »Ich weiß genau, wer Anne angerufen und herbestellt hat … Das kriegst du bei nächster Gelegenheit zurück!«

Freundschaftlich legte Jackie den Arm um ihre Freundin, und da Marlene ihn nicht abschüttelte, war keine Unstimmigkeit zwischen den beiden zu befürchten. Ich drehte mich um und musste grinsen. Waterson hatte da wohl mehr Bedenken, was seine kleine Notlüge anging, denn er hatte ganz offensichtlich ein schlechtes Gewissen.

»Ich fürchte, heute Abend werde ich noch was zu hören kriegen, so ein Mist! Ich hasse solchen Dekokram und hab mich gedrückt. Immerhin muss ich jetzt wirklich arbeiten. Also, ich glaube, wir können uns dann mal den Ort des Geschehens anschauen. Die Kollegen scheinen vor dem Schnee zu kapitulieren.«

Schulmanns Mitarbeiter verschmolzen mittlerweile mit ihrer Umgebung. Der erste Schneesturm des Winters hatte inzwischen Fahrt aufgenommen, und die weißen Overalls der Spurensicherer waren eine hervorragende Tarnung. Schulmann selbst stand noch grübelnd unter dem Torzelt, als wir wieder zu ihm stießen. »Ich überlege, ob ich das Tor mit ins Labor nehmen kann. Hier habe ich bei diesem Wetter keine Chance mehr, was zu finden.« Er zuckte zusammen, als Gerlach einen erschrockenen Laut ausstieß. »Was ist jetzt mit dir los, Ludwig?«

»Es ist doch noch das Spiel am Sonntag, wenn ihr uns jetzt das Tor wegnehmt …«

»Ernsthaft jetzt? Ihr werdet doch ein Ersatztor auftreiben können, oder eins leihen.«

»Ist doch nicht wegen dem Tor, aber wenn ihr da jetzt mit dem großen Laster über den Rasen fahrt, ist der doch hinüber.«

Schulmann schüttelte den Kopf. »Seit wann bist du denn so rücksichtsvoll?«

»Ist nur wegen meines Sohnes, des Thomas. Der kickt hier in der Mannschaft, und das Spiel am Sonntag ist wichtig. Wir kämpfen um den Aufstieg von der Kreisliga A in die Bezirksliga, und das ist das letzte Spiel vor der Winterpause. Da geht’s schon um was.«

Der Chef der Spurensicherung verdrehte genervt die Augen. »Du weißt aber schon, dass es hier womöglich um ein Kapitalverbrechen geht? Und da kommst du mir mit so einem Dorfkick?«

Sofort bekam Gerlach einen roten Kopf und stemmte wütend die Arme in die Seiten. »Was heißt hier Dorfkick? Da steckt die harte Trainingsarbeit und der Schweiß von jahrelanger Arbeit drin! Du hast ja keine Ahnung, wie wichtig das für uns ist, und das lassen wir uns nicht von einem Lastwagen kaputt machen!«

Noch nie hatte ich Gerlach derart echauffiert erlebt. Für gewöhnlich war er die Ruhe selbst. Auch Waterson schaute verblüfft zwischen seinen beiden Kollegen hin und her. »Wie wäre es, wenn wir das Tor einfach über das Spielfeld auf den Parkplatz tragen? Es sind doch genug Leute hier, und das Ding wiegt ja nicht viel.«

»Ähm, ja, das geht natürlich auch«, grummelte Gerlach etwas verlegen. »Hätte ich auch selbst draufkommen können.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen und trollte sich in Richtung der anderen Kollegen, um sie um diesen Gefallen zu bitten.

Während Schulmann telefonisch den Laster anforderte, beugte sich Waterson zu mir herunter. »Ich habe so das Gefühl, dass da ganz schön Zündstoff drinsteckt. Bei Fußball hört der Spaß auf, sogar bei unserem sonst so gelassenen Gerlach gehen da gleich die Gäule durch. Aber jetzt mal unter uns Ermittlern: Mord oder Selbstmord? Was meinst du?«

Ich legte den Kopf schräg und schaute zu Waterson auf. Offensichtlich war er durch unsere vorübergehende Entfremdung aus der Übung gekommen, was unsere Kommunikation anging. Ich konnte ja nur auf Ja-nein-Fragen antworten. Offensichtlich wurde es auch meinem Freund in diesem Moment klar, denn er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.

»Wo habe ich nur meinen Kopf? Also gut, jetzt richtig. Hast du einen Hinweis darauf gefunden, mit was wir es hier zu tun haben?« Ich kläffte einmal. Waterson nickte zufrieden. »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte er. »War es Selbstmord?« erneut legte ich den Kopf schräg, doch ich blieb still. »War es Mord?« Ich gab wieder keine Antwort. Wie sollte ich ihm nur erklären, dass ich es nicht mit letzter Gewissheit sagen konnte. Waterson kratzte sich am Kopf. »Okay, das heißt wohl, du bist dir auch nicht sicher.« Das konnte ich aus voller Überzeugung bestätigen und gab dies mit einem Kläffer kund. »Nun, das ist doch schon mal was. Wir werden es also nicht einfach als Selbstmord zu den Akten legen, auch wenn es das auf den ersten Blick zu sein scheint.« Er wollte sich schon abwenden, aber ich wollte ihm noch meine Schnüffelergebnisse mitteilen. Ich legte ihm eine Pfote auf den Fuß und stoppte ihn so.

»Du willst mir noch was sagen?«

Kläff!

»Du hast noch etwas herausgefunden?«

Kläff!

Es funktionierte. Wir waren auf einem guten Weg, das spürte ich. Er würde nicht mehr lange brauchen, um die richtige Frage zu stellen. Doch bevor Waterson weiterfragen konnte, brüllte Gerlach über den ganzen Platz nach ihm. Offensichtlich fehlte noch ein Mann, um das Tor aus seiner Verankerung zu heben. Waterson winkte den anderen zu und machte sich auf den Weg. Enttäuscht blickte ich ihm hinterher, doch da drehte er sich noch einmal um und zwinkerte mir zu. »Wir arbeiten nachher weiter, Kollege. Jetzt musst du aber, glaube ich, langsam mal ins Warme. Du bibberst ja schon.«

Tatsächlich zitterte ich vor Kälte, das war mir bisher gar nicht aufgefallen. Zu viel war an diesem Nachmittag auf mich eingestürmt, und langsam spürte ich, wie erschöpft ich tatsächlich war. Ich ergab mich also den äußeren Umständen und trabte auf die Festhalle zu.