Wilhelm Schmid

Von der Kraft der Berührung

Insel Verlag

Inhalt

Vorwort

1. Von der Bedeutung der Berührung für das Leben

2. Den Boden berühren: Jetzt mal tief durchatmen

3. Sich selbst berühren: Die Sinnlichkeit des Selbst

4. Einander berühren: Der immer neue Anfang der Liebe

5. Gefühlte Berührung: Vom Lachen und Lächeln

6. Zutiefst berührt: Vom Schweigen

7. Gedankliche Berührung: Von der Kunst des Lesens

Vorwort

Welche Bedeutung Berührung für Menschen haben kann, wurde mir erst so richtig bewusst, als ich zeitweilig als Philosoph in einem Krankenhaus arbeitete und viele Gespräche führte. Dabei fiel mir auf, dass beispielsweise ältere Menschen, an deren Bett ich saß, meine Hand, die ich ihnen reichte, nicht mehr loslassen wollten. Oder ich bemerkte, dass Ärzte mehr Vertrautheit mit Patienten gewannen, wenn sie ihnen die Hand auf den Oberarm legten. Und bei vielen alltäglichen Begegnungen war die Nähe oder Distanz zwischen Menschen daran erkennbar, in welchem Maße sie zur Berührung bereit waren, sei es in Form eines Handschlags oder einer Umarmung zur Begrüßung. Alle diese Erfahrungen ließen die Idee in mir reifen, das Phänomen der Berührung einmal eingehender zu betrachten.

Menschen sehen, hören, riechen, schmecken mit einiger Selbstverständlichkeit. Aber was ist mit dem Tastsinn, was ist mit der Berührung? Als Berührungskulturen sind nördliche Länder bisher nicht hervorgetreten, solche Kulturen sind eher unter südlicher Sonne zu finden. Welche Folgen der Entzug hat, lässt sich erahnen, wenn willkommene Berührungen zur kraftvollen Erfahrung werden: Das habe ich mir bisher entgehen lassen? Ja, Berührung kann sehr lustvoll sein. Umso schmerzlicher, wenn sie vermisst wird. Ist denn zu erwarten, dass sich daran kulturell etwas ändert? Gemessen an der Berührungsfeindlichkeit früherer Zeiten ist bereits viel geschehen. Aber eine neue Abstinenz scheint sich mit dem Gebrauch neuer Techniken auszubreiten. In Beziehungen ist manche und mancher versucht, dem Anderen beim unablässigen Blick auf den Touchscreen zuzurufen: »Schau mich an! Touch mich mal!«

Auf überraschende Weise rückt die Berührung damit mehr als je zuvor in den Fokus. Gerade in einer Zeit, in der Dinge und Beziehungen forciert digitalisiert werden, wird das Analoge, Anfassbare wieder interessant. Die digitale Entsinnlichung führt zur Wiederentdeckung der Sinnlichkeit abseits der Geräte. Das Tupfen und Wischen auf leblosen Bildschirmen weckt das Bedürfnis nach dem Berühren und Streicheln lebhafter Anderer. Eine wachsende Zahl von Menschen lernt erneut oder beginnt erstmals, ein sinnenfrohes Leben zu führen. Kaum eine Strategie ist besser geeignet, Probleme im Umgang mit der Digitalisierung im eigenen Leben aufzufangen: Wer analogen Lüsten frönt, braucht kein digitales Detox mehr.

Jede und jeder kann diese Erfahrung machen: Die Kraft der Berührung ist federleicht und zugleich äußerst wirksam, denn sie verleiht neuen Lebensmut. Sie ist unsichtbar und dennoch gut wahrnehmbar, sobald die Augen vor Freude aufleuchten. Mehr Gelassenheit ist mit ihr zu erlangen. Was schwer auf einem lastet, wird erträglicher. In einer berührungsstarken Beziehung fühlen zwei sich anhaltend miteinander verbunden. Mit erwünschten Berührungen werden Energien frei, die sich so produktiv auswirken, dass sie unverzichtbar für ein erfülltes Leben sind. Daher ist die Sehnsucht nach Berührung bei vielen so groß.

Konterkariert wird diese Seite der Erfahrung von einer ebenso deutlichen Scheu oder gar Abscheu vor unerwünschten Berührungen. Sie blockieren Kräfte und rauben einem Menschen Energien, die nicht so ohne weiteres wiederzugewinnen sind. Wenn von der Kraft der Berührung die Rede ist, kann es daher nicht nur um positive Aspekte wie Anregung, Ermutigung, Bestärkung und Verbindung mit Anderen gehen. Die Kraft der Berührung kann auch eine negative sein, die Menschen bedrückt, niederdrückt und demütigt. Die Nötigung zur Berührung ist ein Akt der Gewalt. Welches Ausmaß unerwünschte, übergriffige und gewaltsame Berührungen haben, führte die 2018 weltweit einsetzende Debatte über MeToo drastisch vor Augen, bei der vor allem Frauen bekannten: Auch mir ist das widerfahren. Auch aus diesem Grund wird Berührung nun zu einem Thema, das unter den Nägeln brennt.

Es wäre jedoch fatal, aufgrund der Möglichkeit unerwünschter Berührung jegliche Berührung unter Verdacht zu stellen. Vielversprechender erscheint, mehr Sensibilität für Berührungen zu entwickeln. Hilfreich auf diesem Weg ist es, sich selbst zu beobachten: Wie fühle ich mich, wenn ich einen Anderen berühren kann, der mir sympathisch ist oder den ich liebe? Wie geht es mir, wenn ich selbst berührt werde? Und wie, wenn mir die Berührung nicht willkommen ist? Oder wenn sie mir ganz im Gegenteil fehlt? Mit dem genaueren Hinsehen und Hinfühlen wird mehr Bewusstheit beim eigenen Umgang mit Berührung möglich.

Berührungen können Beziehungen begründen und bewahren. Sie können einen hinreißen und geradezu überwältigen: Es tut so gut, mehr davon! Es handelt sich um eine subtile Macht, die so angenehm ist, dass sie kaum als solche wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite haben Berührungen die Macht, Beziehungen zu zersetzen und schließlich zu zerstören, wenn sie nicht willkommen sind oder unmäßig ausfallen – oder wenn ihr Ausbleiben Verbitterung hervorruft. Eine Ausübung von Macht ist auch die Verweigerung von Berührung, die nicht nur absichtsvoll, sondern auch absichtslos geschieht. Berührung im richtigen Maß kann Beziehungen erfüllen, ein Zuviel oder Zuwenig aber entleert sie. Um das rechte Maß zu finden, wären Fragen zu beantworten wie: Wann ist welche Berührung angebracht, bei wem, von wem, mit welchen Entbehrungen, wenn es zu wenig ist, mit welchen Grenzen, wenn es zu viel wird?

Um der Bedeutung der Berührung gerecht zu werden, bedürfte es einer Kunst der Berührung im Leben jedes Einzelnen. Die Lebenskunst besteht aus vielen Einzelkünsten, die jeweils ihren Teil zu einem schönen, bejahenswerten Leben beisteuern. Dazu zählen sinnliche Künste wie die des Schauens, Hörens, Riechens, Schmeckens und eben auch des Berührens sowie soziale Künste wie die des Gesprächs, des Schenkens, der Pflege von Liebe, Freundschaft und Kollegialität. Jede Kunst entsteht am Schnittpunkt von Praxis und ihrer Reflexion und ist angewiesen auf ein Wissen und Können. Das Können lässt sich mit einem geduldigen Sichüben und praktischen Erfahrungen erwerben. Das Wissen resultiert aus den gemachten Erfahrungen, dem Austausch mit Anderen, der Aufnahme von Informationen und dem immer neuen Nachdenken darüber, wie die Praxis zu verbessern und zu verfeinern ist. Jede und jeder kann auf diese Weise zur Künstlerin und zum Künstler werden.[1]

Die Wiederentdeckung der Berührung und das wechselseitige Berührungsspiel mit Anderen geben dem Leben bereits auf der sinnlichen Ebene viel Sinn. Aber die Berührung geht über den körperlichen Aspekt noch weit hinaus. Von einem berührenden Moment ist die Rede, wenn die Seele von Gefühlen berührt wird, und in besonderem Maße ist diese seelische Berührung zwischen Freunden und Liebenden erfahrbar. Auch geistig geschieht Berührung, wenn Menschen sich im Gespräch oder in Büchern von Gedanken berühren lassen und Andere mit ihren Gedanken berühren. Darüber hinaus können sie transzendente Berührungen erleben, die mit einer Religiosität oder Spiritualität einhergehen. Auf die unterschiedlichen Arten von Berührung aufmerksam zu sein und sich auf jede Weise an der Einübung einer Kunst der Berührung zu versuchen: Dazu will dieses kleine Buch anregen, damit in der Epoche vieler Empfindlichkeiten wieder ein wenig Empfindsamkeit entsteht, eine Empfänglichkeit für Berührungen.