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Originalcopyright © 2018 Südpol Verlag, Grevenbroich

Autor: Ina Krabbe

Illustrationen: Ina Krabbe

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-943086-85-0

Alle Rechte vorbehalten.

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1. Kapitel

Etwas stupste Malu in den Rücken.

»Ich beeil mich ja schon, wie kann man nur so ungeduldig sein«, murmelte das Mädchen, während es Heu in die Netze verteilte. Aber das dunkelbraune Pferd hinter ihm hatte keine Lust zu warten. Papilopulus bohrte sein weiches Maul in Malus Jackentasche und hangelte mit seiner langen Zunge die letzten Leckerchen heraus. Sanft schob sie den großen Pferdekopf zurück und strich über seine grau werdenden Stirnhaare. Die dunklen Augen blickten Malu er­­wartungsvoll an.

»Aber wirklich nur noch eins.« Sie fasste in ihre Jacke, um noch einen der bröseligen Leckerbissen hervorzuholen. »Bah! Was ist das?« An ihrer Hand klebte nur sabbeliger Matsch. »Pferdesabber mit Krümel, lecker! Da hast du dich wohl schon selbst bedient, was Papi?«

Der Wallach schnaubte leise. Malu musste lachen und drückte ihr Gesicht in das weiche Fell, das immer so unvergleichlich schön roch. Ein warmes Gefühl zog durch ihren Bauch. Ach, sie liebte dieses Pferd einfach! Was hatte sie für ein Glück, sie konnte es manchmal gar nicht fassen und hoffte, dass Papilopulus noch lange bei ihr bleiben würde.

Ja, er war grauer geworden im letzten halben Jahr und seine Augen müder. Reiten konnte sie nicht mehr auf ihm, aber das machte nichts. Sie spazierten einfach zusammen durch den Schlosspark und am See entlang.

Und seit vergangenem Herbst hatte Papilopulus auch mächtig Abwechslung auf seiner Pferdewiese. Malu blickte über seinen Rücken auf die Pferde, die im Offenstall dösten. Neben Rocco und Alibaba lebten jetzt auch die beiden Isländer Ping und Pong (die dämlichen Namen hatte ihr Bruder Edgar ausgesucht) und die Ponys Zimt und Vanille (die beiden Namen waren natürlich von ihr!) auf Schloss Funkelfeld, seit sie und Edgar ihren ehemaligen Besitzer, Ruben Stumpe, vor seiner skrupellosen und geldgierigen Tochter gerettet hatten. Die hatte nämlich vorgehabt, ihren Vater entmündigen zu lassen und ins Altersheim zu verfrachten.

Dann gab es noch Schneechen, ihre wunderschöne ein­äugige Schimmelstute, die sie zuerst für ein Geisterpferd gehalten hatte. Malu musste grinsen, als sie daran dachte. Stumpe hatte ihr das Pferd nach der Rettungsaktion geschenkt, sozusagen als kleines Dankeschön. Dabei war sie eher ein großes Dankeschön, Schneechen war nämlich riesig. Und sie war das wundervollste Reitpferd, das Malu sich wünschen konnte – nach Papilopulus selbstverständlich, aber der befand sich ja jetzt im Ruhestand.

So war es ganz schön voll geworden auf der Wiese vor Schloss Funkelfeld, eine richtige Pferdeherde zog über die Weiden. Edgar und Malu hatten mit Hilfe ihrer Großtante Gesine den Offenstall um ein paar Stellplätze erweitern müssen. Und in ein paar Tagen würde es noch einen kleinen Bewohner mehr geben. Ein freudiger Schauer lief über Malus Arme, als sie daran dachte. Die Geburt von Alibabas Fohlen stand unmittelbar bevor! Darauf freute Malu sich schon seit Monaten.

Die Pintostute Alibaba hatte Edgar schon gehört, bevor sie erfahren hatte, dass er ihr Bruder ist und zu ihnen nach Schloss Funkelfeld gezogen war. Das war tatsächlich alles erst letzten Sommer passiert, aber Malu kam es wie eine Ewigkeit vor. In dem Sommer hatte sie nicht nur einen Bruder gewonnen, sondern Edgar hatte auch erfahren, dass er der Erbe von Schloss Funkelfeld war und – das Wichtigste überhaupt – Malu hatte Papilopulus vor der fiesen Lenka (die inzwischen leider! im Pförtnerhäuschen des Schlosses lebte) gerettet und ihn am Ende behalten dürfen.

Malu seufzte, was hatte sie doch für ein aufregendes Leben! Na ja, jedenfalls gehabt! Denn das letzte halbe Jahr war ziemlich ruhig verlaufen. Vielleicht bis auf die Reitstunden, die sie Jaron gegeben hatte. Sie grinste, der Arme hatte sich wirklich bemüht, aber man konnte ihm ansehen, wie unwohl er sich auf dem Pferderücken fühlte. Irgendwann hatte er dann das Handtuch geschmissen und Malu musste einsehen, dass es mit den gemeinsamen Ausritten unter blühenden Bäumen nichts werden würde (von diesem geheimen Traum hatte sie Jaron aber natürlich nichts gesagt!).

Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Gleich acht. Sie musste sich beeilen und noch die Wasserbottiche auf der Wie­­se säubern. Meistens erledigte Edgar das, der war ein ziemlicher Frühaufsteher. Aber heute hatte Malu erst zur zweiten Stunde Unterricht und deswegen hatte sie die morgendliche Arbeit bei den Pferden übernommen.

Sie klopfte Papilopulus liebevoll aufs Hinterteil und eine kleine Staubwolke stieg auf. »Da ist wohl mal wieder Putzen fällig«, lachte sie. »Bis nachher, Papi.«

Dann stapfte sie durch das hohe, morgenfeuchte Gras zu Schneechen hinüber, die etwas müde die ersten Gras­halme rupfte. Inzwischen hatte Malu sich an den Anblick der leeren Augenhöhle gewöhnt und auch daran, dass sie sich ihr möglichst nur von rechts näherte, wo die Schimmelstute noch etwas sehen konnte.

»Morgen, Süße«, flüsterte Malu. »Leckerchen sind leider aus, die hat dein Kollege alle weggemampft.« Schneechen schien das nicht weiter zu stören, sie schüttelte kurz den Kopf, sodass die Mähnenhaare Malu im Gesicht kitzelten und widmete sich dann wieder ihrem Frühstück.

Schnell fischte Malu Grashalme und Äste aus dem Wasserbottich. Wechseln würde sie das Wasser erst heute Nachmittag. Auf dem Rückweg zum Zaun machte sie noch einen kurzen Abstecher zu Alibaba, die sich im Offenstall schon über das Heu hergemacht hatte. Ihr Bauch war kugelrund und stand nach beiden Seiten weit ab. Malu legte ihre Hand auf das seidige Fell der Pintostute. Sie musste nicht lange warten, da konnte sie die kleinen Hufe spüren, die sich im Bauch der Mutter bewegten. Oder war es der Kopf? Es war einfach ein Wunder! Dort in Alibaba, abgeschirmt von der Welt, wuchs ein neues Leben heran. Und in ein paar Tagen schon würde das Fohlen auf die Welt kommen. Sie freute sich unglaublich darauf!

»Malu!« Die Stimme ihrer Mutter schallte über den Schloss­­platz.

Malu blickte auf. Rebecca Baumgarten stand am Zaun, ihre dunklen Locken hatte sie mit einem Band zurückgebunden. Hinter ihr ragte das zweistöckige Hauptgebäude von Schloss Funkelfeld auf, von dem allerdings gerade nicht viel zu sehen war. Es war rundum eingehüllt von einem Baugerüst, auf dem schon zwei Arbeiter herumturnten. Seit die Kredite für die Renovierungsarbeiten am Schloss bewilligt worden waren, war das Gebäude die reinste Baustelle. Ihre Mutter und Gesine hatten beschlossen, Funkelfeld zu einem Reiterhotel umzubauen. Dann würde es bald vorbei sein mit dem geruhsamen Leben am Funkelsee (war es ja eigentlich jetzt schon) und das marode Schloss, so wie Malu es kennengelernt hatte, würde es nicht mehr geben. Sie wusste noch nicht, wie sie das finden sollte.

Jetzt winkte Rebecca ungeduldig in ihre Richtung. »Malu, beeil dich! Die Schule fängt in einer halben Stunde an.«

»Komme schon.« Die Schule würde ja wohl auch einen Moment ohne sie zurechtkommen, dachte sie. Aber das sagte sie natürlich nicht laut. In zwei Tagen fingen ohnehin die Osterferien an und dann war erst mal Schluss mit Schule. Alibabas Fohlen würde auf die Welt kommen, sie würde mit Papi die herrlichsten Spaziergänge machen und mit Schneechen über die Wiesen galoppieren!

Als Malu vor ihrer Mutter stand, zupfte diese wortlos ein paar Strohhalme aus den braunen Locken ihrer Tochter. »Du, hör mal«, begann sie dann und räusperte sich. »Wenn du und Edgar, also, wenn ihr nachher aus der Schule zurück seid, dann muss ich mal mit euch reden.«

Malu sah ihre Mutter erstaunt an. »Was ist denn passiert?« Rebecca sah müde aus. Sie war in letzter Zeit ziemlich angespannt gewesen. Malu hatte gedacht, dass es an dem Stress mit den Renovierungsarbeiten lag. »Ist etwas mit dem Schloss?«

Ihre Mutter holte tief Luft. »So kann man das nicht sagen. Ich erklär es euch nachher. Und jetzt mach, dass du in die Schule kommst, Schätzchen.« Sie drehte sich abrupt um und ließ ihre Tochter verdutzt hinter dem Zaun stehen.

Malu verdrehte die Augen, das war echt typisch für ihre Mutter. Jetzt würde sie den ganzen Tag darüber grübeln, was die ihr sagen wollte und am Ende hatte sie nur be­schlossen, die Wände in der Halle lila zu streichen oder so was in der Art. (Was keine schlechte Idee wäre, aber Edgar würde toben!)

Als Malu gerade über die alten Zaunbohlen kletterte, kam Paul, der Chef der Handwerkertruppe, wild winkend aus der Flügeltür des Hauptgebäudes gelaufen. Er fegte die Stufen der breiten Steintreppe hinunter, die immer noch von den bröckelnden Steinlöwen gesäumt wurde, und machte vor Rebecca eine Vollbremsung.

»Wir haben was gefunden«, keuchte der blonde junge Mann. »Das müssen Sie sich ansehen. Kommen Sie!«

Am liebsten hätte er ihre Mutter wohl am Ärmel hinter sich hergezogen, dachte Malu. Sie sprang vom Zaun und lief zu den beiden hinüber. Was hatten die Arbeiter wohl im Schloss entdeckt? Das wollte sie auf keinen Fall verpassen. Den Schatz vielleicht? Den Schatz vom Funkelsee, den sie über ein halbes Jahr lang mit ihrem Bruder zusammen gesucht hatte? Einer Legende nach hatte der alte Baron von Funkelfeld das Familienvermögen kurz vor Kriegsende versteckt, nachdem er über den Tod seiner jüngsten Tochter etwas seltsam geworden war. Aber eigentlich glaubte inzwischen niemand mehr an diesen Schatz – niemand, bis auf Malu. Sie hatte als Einzige die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben.

Rebecca warf ihrer Tochter einen Du-musst-aber-doch-eigentlich-zur-Schule-Blick zu. Malu lächelte nur und rannte dem Mann hinterher, der bereits wieder im Schloss ver­­schwunden war. Rebecca folgte ihr kopfschüttelnd.

Malu und Paul warteten ungeduldig in der Eingangshalle. Auch hier drinnen säumte ein Gerüst die Wände und die geschwungene Holztreppe. Die alten Gemälde waren abgehangen und im Anbau verstaut worden. Überall standen Eimer, Werkzeuge und Putzsäcke herum. Nur die Arbeiter, die hier sonst beschäftigt waren, fehlten.

»Hier lang.« Der Handwerker-Chef führte Mutter und Tochter durch eine Tür unter der Treppe in die angrenzenden Hauswirtschaftsräume. Hier war früher eine riesige Küche untergebracht gewesen, in der für alle Bewohner der Ländereien gekocht wurde. Und wenn es nach Rebecca ging, dann sollte es hier auch wieder eine geben, mit der die Hotel­gäste bewirtet werden konnten.

Auch diesen Raum durchquerte der Mann mit schnellen Schritten und öffnete die Tür zu einem Flur. Die Bau­arbeiter standen hier alle dichtgedrängt beieinander und schienen etwas zu betrachten.

»Frau Baumgarten ist da, jetzt macht mal Platz.«

»Is ja jut, Paul«, brummte ein dicker Mann in Unterhemd und blauer Arbeitshose und rückte zur Seite, sodass Malu und ihre Mutter das Loch in der Wand sehen konnten, das sich hinter ihm auftat. Es war gerade so groß, dass ein Mensch hindurchkrabbeln konnte.

»Was ist denn hier passiert?«, fragte Rebecca die umstehenden Männer.

»Det Loch war schon vorher da«, erklärte der Dicke. »Hinter der alten Klamotte da.« Er zeigte auf ein Ungetüm von Schrank, das ein Stück weiter im Flur stand, etwas ab­gerückt von der Wand.

»Und kickense ma ...« Er stapfte zu dem alten Möbelstück hinüber und drückte gegen den unteren Teil der Rückwand. Mit einem leisen KLACK sprang ein Stück des Holzbrettes nach innen. Der dicke Arbeiter grinste übers ganze Gesicht, als hätte er den Mechanismus selbst erfunden. »Det is der Hammer, wa?!«

Rebecca Baumgarten sah erst den Schrank an und dann das Loch in der Wand. »Das ist ja merkwürdig. Ein Ge­­heimgang? Aber wo geht es denn durch das Loch hin? Haben Sie mal nachgesehen, was hinter der Mauer ist?«

Der Dicke schüttelte den Kopf. »Nee, wir ham auf Se je­war­tet. Is ja Ihr Schloss, wa.«

Die anderen Männer lachten. »Nur ein bisschen ge­spinkst, oder Kalle?«

Grinsend wischte der Dicke die Hände an seinem ehemals weißen Unterhemd ab. »Konnte aber nix erkennen. Und dadurch pass ik nich.« Er klopfte sich auf seine stattliche Wampe.

Malu hatte genug von diesem Palaver. Sie wollte jetzt wis­­sen, was hinter der Mauer war. Ein Geheimgang in Schloss Funkelfeld, wie aufregend! Sie holte ihr Handy aus der Tasche und schaltete die Taschenlampen-App an. Dann schob sie sich an ihrer Mutter und den Männern vorbei und kniete sich vor die Öffnung. »Ich werd mal nachgucken, wo es hier hingeht«, verkündete sie und leuchtete in das Loch. Aber die Mauer war ziemlich dick, bestimmt einen Meter, und bis auf Dreck und Staub auf dem Boden konnte Malu nichts erkennen. Doch, da schimmerte etwas durch die Dun­­­kel­­heit! Das musste sie sich sofort genauer ansehen. Sie klemmte sich ihr Handy in den Mund und krabbelte los, be­vor ihre Mutter noch auf den Gedanken kam, sie auf­zu­halten.

Hoffentlich ham se da keenen einjemauert und da liegt jetz dat Skelett, hörte sie noch einen der Männer sagen. Und dann ein Oh Gott, Malu warte! – das kam von ihrer Mutter. Aber Warten kam natürlich nicht infrage.

Malu richtete sich auf der anderen Seite der Wand auf und ließ den Lichtkegel des Handys durch den Raum gleiten. Muffig roch es hier drin, als hätte jahrelang keiner gelüftet (hatte ja wahrscheinlich auch niemand). Sie befand sich in einer kleinen Kapelle, das war Malu gleich klar. In der Mitte des Raumes standen fünf Holzbänke hintereinander, davor ein kleiner Tisch, wahrscheinlich eine Art Altar. Und dahinter eine Marienstatue mit dem kleinen Jesus auf dem Arm. Über allem lag eine dicke Staubschicht. Sogar drei Fenster gab es – oder besser gesagt hatte es mal gegeben, denn hinter der Verglasung konnte man Mau­er­­werk erkennen. Malu versuchte sich vorzustellen, an welcher Stelle des Schlosses die Kapelle lag. Von außen waren ihr die zugemauerten Fenster noch nie aufgefallen. Die Kapelle musste im hinteren Teil des Gebäudes liegen, an die Pferde­­wiese angrenzend. Dort gab es auch eine Scheu­ne, die später angebaut worden war. Vielleicht verdeckte diese die ehemaligen Fenster der Kapelle.

Malu war so in Gedanken versunken, dass sie ihre Mut­ter erst hörte, als die sich aus dem schmalen Gang zwängte.

»Malu, alles ok?« Obwohl sie flüsterte, hallte ihre Frage dumpf von den steinernen Wänden wider.

Malu nickte nur sprachlos. Gerade glitt der Lichtkegel ihres Handys über ein riesiges Wandgemälde, das die ge­samte Rückseite der Kapelle einnahm. Es war ein naturge­treues Abbild des Schlosses, so wie es wohl vor hundert Jahren ausgesehen hatte. Prachtvolle Pferde standen auf dem Schlossplatz, gehalten von altertümlich gekleideten Stall­knechten. Damen in bauschigen Kleidern und Herren in Anzügen posierten auf der Treppe, mit stolzen Löwen­statuen zu beiden Seiten.

»Das ist ja wunderschön«, staunte Rebecca und ging ehr­­fürchtig auf das Wandbild zu. Malu folgte ihrer Mutter.

Zu spät nahmen beide das Knacken der Holzdielen wahr. Es krachte, dann sackte der Boden unter ihren Füßen weg. Malus Handy rutschte ihr aus der Hand, das Licht wirbelte herum und strahlte das schreckensverzerrte Gesicht ihrer Mutter an. Ein gellender Schrei schallte durch die Kapelle – war es ihr eigener oder der ihrer Mutter? Gemeinsam rauschten sie in die Tiefe und schlugen hart auf. Holzstücke und Dreck rieselten auf sie herab, dann wurde es still. Um sie herum war es stockdunkel.

»Mama?« Malu konnte die Panik in ihrer Stimme hören. »Mama, wo bist du?« Sie tastete mit beiden Händen vor sich den Boden ab. »Sag doch was!«

Ein Stöhnen und dann ein Husten von links. Malu atmete erleichtert auf. »Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte sie in die Dunkelheit.

Ein erneutes Stöhnen. »Geht so, ich kann mein rechtes Bein nicht mehr bewegen. Was ist mit dir, Malu?«

»Ich bin ok.« Sie war auf der Seite gelandet und hatte wahrscheinlich einen schönen blauen Fleck auf der Hüfte. Aber das war unter diesen Umständen wohl mehr als ok. Wie lange würden die Arbeiter wohl vor dem Loch auf sie warten, ohne sich Gedanken zu machen? Ob sie den Schrei gehört hatten? Sie musste unbedingt ihr Handy finden und Hilfe rufen. Das Ding konnte ja nicht allzu weit gefallen sein. Wenn Malu Glück hatte, dann war es bei dem Sturz nur ausgegangen und funktionierte noch. Wofür hatte sie schließlich so viel Geld für diese Panzerfolie ausgegeben? Vorsichtig suchte sie den Bereich um sich herum ab. Ihre Finger konnten Steine und Bretter ertasten, aus manchen ragten Nägel.

Da ertönte plötzlich ein Hey Honey! neben ihr und ein Leuchten drang aus dem Schutt hervor. Eine Nachricht von Lea! Ausnahmsweise mal genau zum richtigen Zeitpunkt! Malu schob die Trümmer beiseite und fischte ihr Handy heraus. Es schien noch völlig in Ordnung zu sein. Gut, dass sie auf Edgars Panzerfolien-Tipp gehört hatte. (Das würde sie ihm natürlich nicht sagen!).

Sie schaltete das Licht wieder an und leuchtete zu ihrer Mutter hinüber, die etwas gequält ins Helle blinzelte. Malu zuckte erschrocken zusammen. Das Bein ihrer Mutter stand in einem unnatürlichen Winkel ab und die Hose war rot vor Blut.

»Ich rufe Hilfe, Mama«, stammelte sie und tippte hektisch die Notruf-Nummer ein. Sie hatte nur einen halben Balken – kein Empfang. So ein Mist!

»Keine Panik da unten«, erklang zum Glück in diesem Moment eine Stimme über ihnen. Malu leuchtete nach oben, direkt in das bleiche Gesicht des jungen Chefs, das sich über die Einbruchstelle geschoben hatte. Paul.

»Am besten bleibt ihr genau da unter der Einsturzstelle, ich weiß nicht, wie stabil der Rest des Bodens hier oben ist. Nicht, dass euch noch etwas auf den Kopf kracht«, sagte er. »Feuerwehr und Rettungswagen sind unterwegs, die holen euch gleich da raus.«

Malu nickte erleichtert und winkte Paul kurz, der seinen Kopf zurückzog, um wieder auf sicheren Boden zurückzurobben. Rebecca drehte sich zu ihrer Tochter und sog dabei vor Schmerz scharf die Luft ein. Malu kroch schnell zu ihr herüber und nahm ihre Hand. »Beweg dich nicht, Mama. Dein Bein ist bestimmt gebrochen.« Sie warf einen kurzen Blick auf das verdrehte Bein, Übelkeit stieg in ihr hoch. Schnell guckte sie wieder weg.

»Was schreibt Lea denn?«, fragte ihre Mutter mit brüchiger Stimme. Das sollte wohl ein kleines Ablenkungsmanö­ver sein. Malu war es nur recht.

Sie wischte durch ihre Nachrichten.

»Wo bleibst du – vier Fragezeichen. Ich warte seit Stunden – fünf Ausrufezeichen«, las Malu vor. »Da muss sie jetzt noch ein bisschen länger warten. Ich schreib schnell zurück.«

Bin mit meiner Mum durch den Boden gekracht. Sie hat sich das Bein gebrochen. Wir warten auf den Rettungs­wagen. See you, tippte Malu.

Hey Honey! - Lea:

Du bist was???? Wo denn??? Deine arme Mum.

Was MACHST du????

Malu:

Ich MACHE gar nichts. Ich sitze hier im Stockdunkeln und warte auf Rettung. Und damit mir dabei nicht langweilig wird, schreibe ich dummes Zeug

Hey Honey! - Lea:

Dir passieren immer soooooo komische Sachen. Man kracht doch nicht einfach durch den Boden. Das war eindeutig zu viel Schokolade in letzter Zeit.

Malu:

Oder zu viel Eis im Muffins. Da säße ich jetzt auch lieber als hier im staubigen Keller zu hocken

Rebecca stöhnte leise. Sie war ganz bleich im Gesicht. Vielleicht lag es aber auch an dem bläulichen Licht des Handydisplays, dass ihre Mutter so elend aussah, hoffte Malu. Schnell schrieb sie weiter: Sag Edgar Bescheid, er soll ins Krankenhaus kommen, wenn du ihn in der Schule siehst. Der hat bestimmt sein Handy ausgeschaltet.

Hey Honey! - Lea:

Immer brav, unser Edgar. Mach ich. Seid tapfer!!

»Ich träume noch von diesem Hey Honey«, stöhnte ihre Mutter. »Vielleicht solltest du mal deinen Nachrichtenton ändern, wenn wir hier raus sind – was hoffentlich bald der Fall sein wird.«

»Hey Honey ist doch super«, lachte Malu. »Das hat eine Stunde gedauert, bis Lea und ich das eingesprochen hatten.«

»Wow, eine Stunde für zwei Worte.« Ihre Mutter versuchte auch zu lachen, aber es klang eher wie ein hohles Husten. »Wo sind wir hier eigentlich?«

Gute Frage. Malu leuchtete mit dem Handy einmal rundherum. Der Raum war nicht besonders groß, vielleicht drei mal drei Meter. Na ja, Raum war vielleicht auch das falsche Wort, es sah eher wie ein Verlies aus. In die grob gemauerten Wände waren Eisenringe eingelassen, ansonsten gab es hier unten nichts – wenn man mal von dem Schutt und den heruntergekrachten Holzdielen absah. Die Decke über ihnen war kaum mehr als zwei Meter hoch – zum Glück! Malu betrachtete das Loch, das über ihnen klaffte. Es war auffällig eckig. Und jetzt entdeckte sie auch die Eisenstufen, die aus der Wand herausragten und nach oben führten. Malu konnte wetten, dass dort oben eine Falltür gewesen war, deren Holz mit der Zeit morsch geworden war.

Sie ließ den Lichtkegel weiterwandern. Was war das? In der Wand gegenüber gähnte ein dunkles Loch. Ein Gang! Er führte geradewegs in die Dunkelheit. Malu schauderte. Wohin mochte er einen bringen? Es gab also tatsächlich einen Geheimgang in Schloss Funkelfeld!

Rebecca lag auf dem Rücken und hatte deswegen nur die Öffnung über sich im Blick. »Und? Wie sieht es aus?«, fragte sie.

Malu hörte, dass sie dabei die Zähne zusammenbiss. Hoffentlich kam dieser verdammte Rettungswagen bald! Sie wischte sich ein paar Tränen weg, die sich aus ihren Augenwinkeln gestohlen hatten. »Gemütlich«, sagte sie. »Ich glaube, ich will mein Zim­mer nach hier unten verlegen. Man hat seine Ruhe und im Sommer ist es immer schön kühl.«

Ihre Mutter schnaubte.

Malu leuchtete in den Gang hi­nein, aber es gab nicht viel zu sehen, nur Mauerwände, die ins Dunkle verliefen und – ein Glitzern ... Was war das? Wie ein Fremdkörper leuchtete das goldfarbene Etwas auf dem staubigen grauen Boden. Malu stand auf, um sich ihren Fund näher anzusehen.

»Du rührst dich nicht vom Fleck«, zischte es neben ihr. »Was wenn der Rest der Decke auch noch runterkommt!«

Malu nickte ergeben, jetzt war wohl nicht der richtige Zeitpunkt, mit ihrer Mutter zu streiten. Aber während sie auf Hilfe warteten, wanderten ihre Augen immer wieder zu dem glitzernden Ding auf dem Boden des Geheim­­­­gangs.

Nach einer gefühlten Ewigkeit waren endlich von oben Geräusche zu hören und dann ging alles ganz schnell. Zwei Rettungskräfte wurden mit einer Bahre abgeseilt, auf der ihre Mutter festgeschnallt wurde. Während die Männer und Frauen damit beschäftigt waren, Rebecca nach oben zu bugsieren, machte Malu schnell ein paar Schritte nach hinten, drehte sich um und hastete in den Gang.

»He, hiergeblieben!« Eine Hand packte sie an der Jacke und zog sie zurück. Blitzschnell bückte sie sich und schon schlossen sich ihre Finger um das goldene Ding. Der Mann, der eben noch so mitfühlend ausgesehen hatte, blickte sie genervt an. »Du bist jetzt dran.«

Malu zuckte entschuldigend mit den Schultern. Sie musste sich auf einen Tragesitz setzen und wurde dann wie auf einer Schaukel nach oben gezogen. Durch das Loch in der Wand konnte sie selber krabbeln und als sie im Flur herauskam, wurde sie direkt von einer Sanitäterin in Empfang genommen, die sie auf den Schlosshof und dort zu einem Krankenwagen brachte.

Malu beteuerte, dass sie nicht verletzt war, aber die Frau bestand darauf, dass sie sich untersuchen lassen musste. Die Bahre mit ihrer Mutter wurde gerade in einen anderen Rettungswagen geschoben. Gesine und Arno von Funkelfeld, der Vater ihrer Großcousine Lenka (Würg!) standen daneben und redeten beruhigend auf Rebecca ein.

»Ich muss zu meiner Mutter«, stieß Malu hervor und rannte zu den anderen.

»Ach, mein armes Schätzchen«, rief Gesine und drückte Malu an sich. Ausnahmsweise durfte sie das auch, eigentlich war Malu natürlich schon zu alt für solche öffent­­lichen Liebesbekundungen – immerhin wurde sie in ein paar Tagen 14. Aber heute war wohl eine Ausnahme.

»Malu, ich muss dir noch was sagen«, rief Rebecca heiser aus dem Krankenwagen.

Mit einem Kopfnicken erlaubte der Arzt Malu, zu ihr zu kommen. »Aber nur kurz.«

Sie setzte sich neben ihre Mutter und drückte ihre Hand. Um sie herum schlossen zwei Sanitäter irgendwelche Schläuche an Arme und Kopf an. So kam sie Malu noch viel zerbrechlicher vor, als vorhin im Verlies.

»Es ist wichtig! Du und Edgar, ihr müsst wissen ...« Ein Hustenanfall schüttelte sie.

»Das ist der Schock«, beruhigte der junge Arzt Malu. »Du musst jetzt gehen. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.«

Malu stand auf und strich ihrer Mutter über den Arm. »Wir sehen uns gleich im Krankenhaus«, sagte sie leise.

Ihre Mutter blickte sie durchdringend an. »Es ist wichtig, Malu, ihr müsst Bescheid wissen. Schau in meiner Tasche nach ...« Dann dämmerte Rebecca Baumgarten weg.