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Originalcopyright © 2016 Südpol Verlag, Grevenbroich

Autorin: Judith Le Huray

Illustrationen: Ina Krabbe

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-943086-67-6

Alle Rechte vorbehalten.

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www.suedpol-verlag.de

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

1. Kapitel

Lebe ich noch? Ich komme mir vor, wie von einem Vier­zig­tonner überrollt. Oder als wären hundert Biker über mich drübergebrettert. Alles fühlt sich falsch an, mein Körper scheint nicht mir zu gehören. Und er schmerzt. Höllisch.

Tote haben keine Schmerzen. Also bin ich am Leben.

Ich rieche Erde. Und Holz. Und grün. Wie das? Kann man grün riechen? Es riecht nicht wie Spinat. Igitt, Spinat! Auch nicht wie Mas Zimmerpflanzen. Eher wie ... Ich kenne den Geruch, nur nicht so intensiv. Mein wirres Hirn kommt nicht drauf.

Überall raschelt es. Und knarrt. Ich höre Vögel zwitschern, unzählige. Wo kommen die plötzlich her?

Ein Lichtstrahl trifft direkt auf mein linkes Auge. Von oben. Hab ich gestern Abend vergessen, meine Zimmer­lampe auszuschalten?

Schlaftrunken öffne ich die Augen, blinzle. Was ist denn nun los?! Erschrocken schließe ich sie wieder. Ich hole tief Luft, versuche, ruhig zu bleiben. Zweiter Versuch. Dieselben Bilder. Weiß, gelb, bläulich-grau sind sie. Kaum grün, meine Nase hat mich angelogen. Alles ist unscharf und verschwommen, als würde ich die Welt durch ein Marmeladenglas be­trachten.

Verdammt noch mal, was ist passiert? Was habe ich ges­tern gemacht? War ich bei einer Fete? Hat mir irgendein Hohlkopf was in die Cola gemixt?

Ich kann mich an keine Party erinnern. Nach der Schule habe ich Hausaufgaben gemacht. Dann kurz die Mails unserer Band gecheckt. Nur Spam, sonst nichts.

Danach war ich mit Felipe unterwegs. Wir sind mit den Mountainbikes durch den Wald geheizt. Ich weiß noch, wie wir uns einen steilen Weg raufgekämpft haben. Und danach?

Für einen Moment blitzt eine Hütte in meinem Gedächt­nis auf. Doch nur kurz, zu kurz. Ich kann das Bild nicht greifen, nicht festhalten, um es genauer zu betrachten.

Ich muss mich besser konzentrieren. Felipe, der Wald, der Berg, was war dann?

„Hey Marvin, wer zuerst bei der Grillstelle ist!“, hat Felipe gerufen. Und schon ist er den Hang hinuntergeprescht. Ich hinterher. Aber mein Freund war verdammt schnell.

Die Kurve! Auf der Strecke ist eine ewig lange Linkskurve. Felipe den Weg abzuschneiden war meine einzige Chance, also geradeaus. Zwischen Bäumen und Gestrüpp holperte ich über den Waldboden. Da bewegte sich was. Ein Reh! Es flüchtete, ich schaute ihm nach, strauchelte, erkannte zu spät den Baumstumpf, flog. Dann nichts mehr. Totalabsturz. Filmriss. Blackout.

Noch einmal klaube ich alle Erinnerungen zusammen, versuche, mir einen Reim darauf zu machen. Na klar! Ich hatte eine Bruchlandung und bin noch im Wald! Wahr­scheinlich bin ich mit dem Kopf aufgeknallt, bewusstlos geworden und hab eine Gehirnerschütterung. Deshalb kann ich nur verschwommen sehen.

Ich schlage wieder die Augen auf, hebe den Kopf und versuche, mich ein wenig aufzurichten. Bäume kann ich eindeutig erkennen, obwohl die Blätter eher gelb als grün aussehen – mitten im Hochsommer. Auf dem Boden ist Moos, selbst das erscheint mir gelb.

Nicht nur meine Augen spielen verrückt, auch mein Körper will mir nicht so ganz gehorchen. Er fühlt sich ir­gend­wie fremd an, als würde ich erst seit heute in ihm ste­cken. Ich bin total gerädert. Bei dem Sturz hat’s mich echt übel erwischt!

Wo liegt eigentlich mein Bike? Angestrengt schaue ich mich um. Das muss ein Weitstreckenflug gewesen sein. Die Stelle im Wald ist mir völlig unbekannt.

Stöhnend rapple ich mich auf. Merkwürdige Töne dringen aus meiner Kehle. Ich will mich auf die Beine stellen, kann mich aber nicht halten. Unbeholfen plumpse ich wieder auf die Hände.

Felipe, er muss mir helfen. Vielleicht ist er noch in der Nähe. Felipe!, will ich rufen. „Jauuul!“, höre ich eine Stimme durch den Wald heulen. Auch das noch! Es ist zum Ver­zweifeln. Da hocke ich nun, auf allen vieren, mit benebeltem Hirn, verschwommener Sicht und bin nicht in der Lage, meinen Freund zu rufen.

Was mich noch dazu ganz kirre macht, sind die vielen Gerüche und Geräusche. Es kommt mir vor, als könnte ich jeden Regenwurm riechen, der sich im Umkreis von zehn Metern unter der Erde verkrochen hat. Sogar Schmetter­linge meine ich, fliegen zu hören. So ein Schwachsinn! Aber ich höre keinen Fahrradfahrer. Überhaupt keinen Men­schen. Nur Blätter, knarzende Bäume, buddelnde Mäuse, surrende Mücken, zwitschernde Vögel und huschende Eichhörnchen. Unglaublich, ich höre sie, bevor ich siesehe!

Kein Mensch in der Nähe. Was tun? Mein Handy. Genau, ich muss Hilfe holen. Mit der linken Hand suche ich in meiner Hosentasche. Handy? Hosentasche? Hand? Ich fühle keine Finger. Und keine Hose. Schon gar kein Handy.

Aufgeregt atme ich durch den Mund, hechelnd, sabbernd, die Zunge hängt mir aus dem Maul, sie kommt mir verdammt lang vor. Verstört halte ich meine Hand vor die Au­gen. Neeeiiin!! Der Schock nimmt mir den Atem. Fassungs­los glotze ich an mir herunter. „Jauuul!“, hallt mein Heulen durch den Wald.

Die Knie knicken mir weg, mir wird schwindlig, ich knalle auf den Boden. Das alles ist ein böser Traum. Oder es kommt vom Sturz. Eine Sinnestäuschung. Oder ... Bei dem schockierenden Gedanken wird mir schlecht. Als ich den Kopf schüttle, spüre ich meine Ohren schlackern.

Ich bin ein Hund. Ich. Ein Köter.

2. Kapitel

Der abartige Schreck benebelt mein ohnehin schon matschiges Gehirn. Das kann doch nicht wahr sein! Aber mich quälen nicht nur verknotete Gedanken, Schmerzen und Verzweiflung. Ich habe Hunger. Und Durst. Und muss dringend pinkeln. Und ich will nach Hause – falls ich nicht schon daheim bin und mit einem Albtraum im Bett liege. Dann kann ich nur hoffen, rechtzeitig aufzuwachen, um nicht mit knapp dreizehn Jahren wieder zum Bettnässer zu werden. Mein Harndrang fühlt sich nämlich verdammt echt an.

Stöhnend richte ich mich auf, strecke die haarigen Glie­der und versuche, die ungewohnten Körperteile zu koordinieren. Wie geht ein Hund? Zuerst die Vorderpfoten und dann die hinteren? Oder erst beide rechten, dann die linken? Ich eiere herum wie ein kleiner Hosenscheißer, der seine ersten Gehversuche macht. Mit Erleichterung stelle ich fest, dass meine Beine das Richtige tun, sobald ich sie einfach machen lasse.

Jetzt erst mal pinkeln. Ich suche einen Baum, um mich dahinter zu verstecken – obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen ist. Als ich den Reißverschluss aufziehen will, wird mir wieder bewusst, dass da keine Hose zu öffnen ist und hebe instinktiv ein Bein. Aha, ich bin ein Rüde, das Ge­schlecht stimmt. Immerhin.

Nun muss ich Flüssigkeit nachfüllen. Ein gutes Stück entfernt höre ich ein Plätschern. Das Gehör ist der Hammer! Ich kann genau voraussagen, wo ich den Bach finden werde. Auch riechen kann ich ihn schon hundert Meter gegen den Wind.

Der Abhang zum Wasser ist steil, wie soll ich da runter kommen? Und wieder hoch? Wie eine alte Oma am Krückstock mache ich vorsichtig einen Schritt nach dem anderen. Schnell stelle ich fest, dass vier Beine zum Klettern echt praktisch sind. Jeder normale Hund würde sich trotzdem einen Ast lachen, wie ich mich anstelle, aber zum Glück ist keiner in der Nähe.

Das Wasser im Bach ist klar, es sieht sauber und trinkbar aus und riecht nach Erde und Steinen. Trotzdem grüble ich: Wie trinken ohne Glas, Becher oder Flasche? Mann, was für eine bescheuerte Frage! Ich stelle mich mitten in die Strö­mung, strecke meine ellenlange Zunge in das kühle Nass und beginne zu schlabbern.

Für einen Vierbeiner viel zu lahm und tollpatschig kraxle ich die Böschung wieder hinauf. Ich schüttle mich, Wasser spritzt aus dem nassen Fell.

Und jetzt? Ich merke, wie ich hechle. Nicht wegen der Hitze, sondern aus Panik. Marvin, bleib cool, sage ich mir in Ge­­danken. Du gehst jetzt nach Hause, dann sieht man weiter. Das Chaos in meinem Hirn und anderen Körperteilen versuche ich so gut es geht zu ignorieren. Allerdings ist die Sache mit dem Heimgehen nicht so locker zu erledigen. Unsicher schaue ich mich um. Ich habe absolut null Ahnung, wo ich bin.

Das Waldgebiet in unserer Gegend ist groß, es erstreckt sich über mehrere Ortschaften. Diese Stelle ist mir vollkommen fremd. Zum Glück kann ich noch menschlich denken. Was würde ich als Junge Marvin in der Situation tun? Wegweiser suchen. Vielleicht kann ich noch lesen.

Ich trotte den Weg entlang, halte Ausschau nach Ori­entie­r­ungs­punkten und spähe zwischen den Bäumen zum Himmel.

Wie spät mag es sein? Gegen halb fünf am Nachmittag war ich mit Felipe im Wald. Wie lang bin ich wohl bewusst­los gewesen? Eine Minute? Zehn Minuten? Eine Stunde? Auf jeden Fall muss ich mich beeilen, um vor Einbruch der Dun­kel­heit nach Hause zu kommen. Obwohl es mir so vorkommt, als stünde die Sonne jetzt höher am Himmel als vorhin, als ich aufgewacht bin. Doch durch die Bäume kann man das schwer erkennen und meine Augen spielen ohnehin verrückt.

An einem Baum entdecke ich eine Markierung, eine gelbe Raute. Ich folge ihr. Nach ein paar hundert Metern finde ich ein Schild. Zwar muss ich genau hinsehen und exakt den richtigen Abstand wählen, aber dann kann ich es tatsächlich entziffern: Hinterforstberg 2,2 km.

Was? Hinterforstberg? Das ist mehr als zehn Kilometer von unserem Ort entfernt! Da hab ich noch ein gutes Stück Weg vor mir. Wie bin ich hier gelandet? So weit kann ich nicht vom Bike geflogen sein.

Nein, in dem Kaff Hinterforstberg habe ich nichts verloren. Ich schlage die entgegengesetzte Richtung ein. Gute Entscheidung, denn der nächste Wegweiser verrät mir, dass es hier nach Braunstein geht.

Beinahe lautlos trabe ich den Weg entlang. Inzwischen klappt es schon gut mit den vier Beinen, ich komme damit wesentlich flotter voran als erwartet.

Warum muss ich plötzlich an den Metzger denken? Aufgeregt recke ich die Nase in die Luft. Blut! Ich rieche frisches Blut! Fleisch! Hunger! Fressen! Wie benommen verlasse ich den Weg, folge der Spur. Meine Beine tragen mich von allein in die Richtung. Die Witterung wird immer intensiver, ich bin auf der richtigen Fährte, beschleunige das Tempo. Hunger! Fressen!

Da liegt es, mitten im Wald, ein Reh, tot, zerfetzt. Ich will mich drauf stürzen, öffne das Maul, um ein Stück Fleisch herauszureißen, schrecke zurück. Hunger. Fressen. Ekel. Blut. Mücken. Tausend Mücken.

In meinem Kopf wirbelt ein wirres Karussell. Der Hund in mir will sich auf das Festmahl stürzen, der Mensch wendet sich angewidert ab. Ein Kampf, ein erbitterter Kampf findet in mir statt. Panisch drehe ich mich im Kreis, würde am liebs­­ten davonlaufen – vor mir selbst.

Fort. Zum Reh. Hunger. Fressen. Fort von hier, weit fort. Nach Hause.

„Da vorn ist es.“ Beinahe hätte ich sie überhört. Men­schen. „Schon das zweite Reh, das er diesen Monat gerissen hat.“ Eine Männerstimme, heiser klingt sie, nur wenige Meter entfernt. Nichts wie weg!

„Da ist er!“, brüllt plötzlich ein anderer Typ. „Den kriegen wir!“

Ich renne los, zwischen die Bäume, auf und davon.

Ein Schuss! Direkt neben mir pfeift eine Kugel vorbei, knallt in einen Baumstamm. Sie schießen! Auf mich! Gefahr! Rennen! Ich muss sie abhängen, schnell, sonst bin ich verloren. Dort, durch das Unterholz, da können sie mir nicht so gut folgen.

„Hast du ihn?“

„Nein, war daneben. Er ist in die Richtung abgehauen. Such du dort drüben, ich geh da lang.“

Sie sind mir dicht auf den Fersen. Als Hund bin ich schnell, aber gegen Gewehrkugeln hab ich keine Chance. Und mir fehlt die Übung mit den vier Beinen.

Ich muss meinen Verstand einschalten. Was würde ich als Junge tun? Mich verstecken. Ja, das ist besser als rennen. Aber wo? Hektisch schaue ich mich um.

Da! Hinter dem Gestrüpp! Eine Höhle! Ich quetsche mich durch die enge Felsspalte in das kleine Loch. Hechle. Höre Schritte in der Nähe. Ich darf nicht hecheln. Ganz ruhig. Nicht hecheln. Nicht zittern. Am besten nicht atmen.

Schuhe knarzen. Stiefel. Direkt vor mir. Gummi. Leder. Schweiß. Menschenschweiß. Vor meiner Nase. Entdeckt. Ich bin verloren. Mir wird schwarz vor den Augen.

„Er ist mir entwischt“, höre ich eine der Männerstimmen direkt hinter dem kleinen Strauch, der den Höhleneingang nur dürftig verdeckt. Kurz darauf sind die Stiefel weg. Schritte entfernen sich. Ich warte. Ich zittere. Ich hechle. Ich hab es geschafft. Ich lebe.

Nach einer halben Ewigkeit krieche ich aus meinem Un­ter­schlupf. Der Schreck sitzt tief in meinen schmerzenden Gliedern. Verstört sehe ich mich um. Ich habe die Orien­tierung verloren. Wie soll ich nun zurückfinden?

Ohne nachzudenken, schnüffle ich am Boden. Gummi, Leder und Schweiß steigen mir in die Nase. Ich verfolge die Spur, spitze immer wieder die Ohren. Bald rieche ich das Blut. Um das gerissene Reh mache ich einen großen Bogen. Endlich bin ich wieder auf dem Weg.

Angespannt gehe ich weiter. Noch immer kann ich die Jäger riechen, die Gefahr ist nicht gebannt. Dann kommt mir der Geruch von Diesel in die Nase, von Autoreifen und Auspuffgasen. Sie müssen kürzlich abgefahren sein. Endlich, sie sind fort. Meine Schritte werden leichter.

Ich trotte den Weg entlang, horche, schnuppere. Bald höre ich Autos, immer deutlicher, kurz darauf eine Kir­chen­glocke. Sie klingt wie die unserer kleinen Stadt. Ich lausche, zähle mit. Zwölf Mal. Was? Zwölf Uhr? Und noch nicht dunkel? Oder ... soll das heißen, ich habe die ganze Nacht im Wald ver­pennt? Ma, Pa und Luisa sind garantiert außer sich vor Sor­ge! Es wird allerhöchste Zeit, dass ich nach Hause komme.

Die Wege sind mir nicht mehr fremd, hier war ich schon hundertmal. Wenig später kommt der Waldrand in Sicht, dahinter rieche ich die Felder. Ich lege einen Zahn zu. Meine Eltern, meine Schwester, mein Zimmer, mein Bett, mein Computer und natürlich auch meine Freunde – die Gedanken an sie, an ihre Nähe geben mir Power, aus dem Trab wird ein Galopp. Bald bin ich zu Hause. Allerdings als vierbeiniger Köter. Verfluchte Hundekacke!

Eine Idee schießt mir durch den Kopf: Vielleicht muss ich nur im Traum den Weg zu meinem Bett finden und werde dann unter meiner kuscheligen Decke als Marvin aufwachen, beinahe dreizehn Jahre alt, Schüler der siebten Klasse und Sänger bei den RockaRaps. Ja, das könnte sein. Nur merkwürdig, dass sich alles so echt anfühlt, so intensiv riecht.

Gleich bin ich in Braunstein. Aufgeregt trete ich aus dem Wald. Von da aus sind es nur wenige Minuten bis nach Hause.

Ich höre Fahrräder, Stimmen, Mädchenstimmen. Die eine kenne ich, sie gehört zu Karo, Luisas Freundin. Mist, sie hat mich entdeckt. „Schau mal, ein Hund“, ruft sie. „Komisch, er ist allein. Und hat kein Halsband.“

„Vielleicht ist er ausgebüxt“, überlegt das andere Mädchen. „Meinst du, wir sollten die Polizei rufen?“

Das würde mir gerade noch fehlen! Nichts wie weg, bevor die Mädels auf dumme Gedanken kommen. Mein Bedarf an Schockerlebnissen ist für heute mehr als gedeckt!

Da vorn die erste Straße rechts, die zweite links, wieder rechts, bald bin ich da. Unser Städtchen Braunstein wirkt anders auf mich als gewohnt, verschwommen sieht es aus und manche Farben fehlen, vor allem die Rottöne.

Ich erinnere mich an den Biologieunterricht. Hunde sehen weniger Farben, bei Tag nicht so scharf, dafür in der Dämmerung besser und haben seitlich ein größeres Blickfeld. Tatsächlich, die Bücher und unser Bio-Lehrer haben recht. Außerdem sehe ich alles aus einer anderen Perspektive, so etwa einen Meter tiefer als üblich. Wenn ich eine Straße überqueren will, kann ich nicht über die parkenden Autos hinweg den Verkehr beobachten. Fußgängern schaue ich nicht in die Augen, sondern eher auf die Oberschenkel. Ein alter Diesel schleudert mir seine Auspuffschwaden direkt in die Schnauze.

Noch nie ist mir aufgefallen, wie viel es in unserem Ort zu hören und zu riechen gibt. Nicht nur hupende Autos und lachende Kinder, sondern auch das rasselnde Asthma eines alten Mannes und die hungrigen Rufe der kleinen Schwal­ben unter einem Hausdach nehme ich auf einmal deutlich wahr. Einige Gerüche kann ich wiedererkennen: den beißenden Gestank vom Friseursalon, das Brötchenaroma der Bäckerei und den Duft von Hähnchen aus der Kneipe. Ich habe abartigen Kohldampf und beim Gedanken an einen leckeren Gockel trieft mir der Speichel aus dem Maul. Spaghetti Bolognese, gebratener Fisch, Dampfnudeln mit Vanillesoße – aus unzähligen Küchenfenstern kriechen herrliche Aromen von Mittagessen. Doch kein Mensch scheint das dringende Bedürfnis zu haben, einen armen, einsamen Straßenköter zu füttern. Diese Tierquäler!

An jeder Ecke haben Hunde ihre Reviere markiert. Irre! Ich kann sogar ihre Duftmarken unterscheiden. Jede Menge neuer Geruchsinfos machen sich in meinem hammermäßigen Riechorgan breit, aber die interessieren mich im Moment nicht. Ich will nur heim. Ich beachte weder die streitlustige Katze, noch den kleinen, parfümierten Sofa­köter, der anscheinend Minderwertigkeitskomplexe hat und sich deshalb aufspielen muss. Als er mich hysterisch an­kläfft, fällt mir auf, dass ich ihn nicht verstehe. Hündisch ist für mich immer noch eine Fremdsprache. Vielleicht, weil mein Gehirn noch ziemlich menschlich ist. Oder weil mir die Übung fehlt. Auf jeden Fall halte ich mal lieber die Klappe.

Als ich in freudiger Erwartung auf mein Zuhause um die nächste Ecke biege, steigt mir eine Witterung in die Nase, die ich nicht sofort zuordnen kann. Wie auch, als Mensch mit dem minderwertig entwickelten Riechkolben habe ich keine Erfahrungen sammeln können. Ein gefährliches Knurren und gleich darauf wütendes Bellen machen mir schnell klar, wen ich gerochen habe: Es ist Rex, der riesige Schäferhund. Wenn Menschen am Zaun vorbeigehen, ist er immer lammfromm, aber jeden Hund kläfft er bedrohlich an und hat, wie ich gehört habe, auch schon einige gebissen und schwer verletzt.

Ich spüre, wie sich mir die Nackenhaare aufstellen – nicht nur sprichwörtlich, sondern ganz real. Doch meine Droh­gebärde ist nur Show, mir ist total mulmig zumute. Ist der Zaun wirklich hoch genug für das enorme Vieh? Mit den Reißzähnen dieses Monsters will ich keine nähere Bekanntschaft machen. Ohne auf den Verkehr zu achten, hetze ich auf die andere Straßenseite, kümmere mich nicht um die quietschenden Bremsen und den zeternden Glatz­kopf hinter dem Steuer, sondern sehe zu, dass ich Land gewinne.

Nur noch wenige Meter bis daheim. Ich spüre mein Herz klopfen und bemerke, wie ich hechle. Vorfreude, Aufregung, Angst – alles in einem. Wie wird meine Familie auf mich reagieren?

Endlich, angekommen. Da sitze ich nun also vor unserem Zuhause, einem Dreifamilienhaus in der Kleinstadt Braun­stein. Ich will klingeln, will sagen, dass ich wieder da bin, will mich freuen, will alle in den Arm nehmen, obwohl das für einen knapp dreizehnjährigen Jungen ziemlich uncool ist. Und nun hockt da ein Hund. Ein Köter.

Verzweifelt lege ich mich auf den staubigen Boden und starre die Haustür an. Ich schließe die Augen, warte darauf, dass etwas geschieht. Dass jemand die Tür öffnet. Oder noch besser, dass ich endlich aufwache aus diesem üblen Traum und wieder ich selbst bin, mit zwei Beinen, straßenköterblondem Haar und einem Muttermal am rechten Unterarm. Als ich ein Auge leicht öffne und den rechten Vorderlauf anschaue, zucke ich zusammen. Ich muss noch mal hinsehen. Das Muttermal! Ich habe es noch immer, sozusagen an derselben Stelle, nun allerdings zwischen straßenköterblondem struppigem Fell.

Entfernt höre ich die Stimme meiner Mutter. Ma! Mein Hinterteil bewegt sich, als hätte es ein Eigenleben. Ich öffne die Augen, wende mich um. Mein Schwanz. Ich wedle mit dem Schwanz.