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Hunter S. Thompson

Die Odyssee eines

Outlaw-Journalisten

 

»Es war ein brutales Leben,

und ich habe es geliebt«

 

Gonzo-Briefe 1958-1976

Herausgegeben von

Douglas Brinkley

 

Aus dem Englischen von

Wolfgang Farkas

 

 

 

 

 

FUEGO

- Über dieses Buch -

In diesem Band erweist sich Hunter S. Thompson als großer Briefeschreiber, dessen Prosa, wie The New Republic einmal schrieb, getränkt war von »einer Art Rimbaud‘schen Delirium«, wie es nur »wenigen Genies« eigen ist. Und große amerikanische Autoren wie Tom Wolfe, William Kennedy oder James Salter erkannten, dass Thompson ein meisterhafter Stilist war und ein außergewöhnliches Gespür für abgründige Komik hatte. Vom Ende der fünfziger Jahre bis in die Zeit, als er mit seinem Hell‘s Angels Buch und mit »Angst und Schrecken in Las Vegas« berühmt wurde, als er für das Amt des Sheriffs in Pitkin County kandidierte und die Wahlkämpfe 68 und 72 begleitete, reicht die Zeitspanne, in der er trotz hektischer Aktivitäten, großer Artikel, ausgedehnter Reisen und trotz des ausgiebigen Konsums vieler Drogen und Alkohol Zeit fand für eine ausführliche Korrespondenz mit Leuten wie Tom Wolfe, Kurt Vonnegut, Warren Hinckle, Oscar Acosta, Jann Wenner, aber auch mit Redakteuren, Lektoren, seiner Mutter, Freunden u.a. Hinzukommen Memos und Artikel, die noch nie veröffentlicht wurden.
Am 20. Februar 2005 hat sich Hunter S. Thompson das Leben genommen.

 

 

»Er war ein großer amerikanischer Wahnsinniger, also der einzig Vernünftige in einer Welt der Paranoia, so sah er das – und in seinen Briefen kann man diesen großen Schriftsteller dabei zusehen, wie er sich in den Schlachten mit anderen Schreibern, in Feindbildern und Angstträumen (…) weniger selbst findet als erfindet: Hunter der Anarchist, Hunter der Patriot, Hunter der Freiheitsfanatiker.« (Der SPIEGEL)

 

»Endlich ist nun ein großer Teil der Briefe von Hunter S. Thompson auf Deutsch erschienen, und zwar in einem Doppelband, der eine gute Auswahl aus den beiden ersten “Gonzo Letters”-Bänden von 1998 und 2000 trifft. Diese von Douglas Brinkley herausgegebenen Bände hatte der Autor noch selbst und quasi als Autobiographie-Ersatz autorisiert. Dass Thompsons Draufgängerstil in der Übersetzung nicht albern oder aufgesetzt wirkt, ist das Verdienst des Übersetzers (und “Blumenbar”-Gründers) Wolfgang Farkas, der sich um harte Vokabeln nicht drückt, wo sie nötig sind. […] Und doch war Thompson im Herzen ein Moralist und der Ostküsten-Gegenkultur bei allem Waffengefuchtel näher, als er tat.« (Oliver Jungen, FAZ)

 

»Charmant und anrührend, weil hinter aller Großmäuligkeit ein sensibler, nachdenklicher und selbstzweiflerischer Poet zum Vorschein kommt.«

(Gisa Funck, Tagesspiegel)

 

Die Briefe sind nicht nur ein explosives Sammelsurium, sondern ein Archiv der offenen Konfrontation im kollektiven Wahnsinn mit dem havarierten American Dream.« (Peter V. Brinkemper, Glanz&Elend)

 

»Ein äußerst wertvolles Zeitdokument. Es zeugt von Thompsons anhaltender Bedeutung.« (The Village Voice)

 

 

 

»Diese Frage sollte sich der Leser selbst beantworten: Wer ist am Ende glücklicher: derjenige, der gelebt und den Stürmen des Lebens getrotzt hat – oder derjenige, der nur existiert hat und an Land geblieben ist?«

Hunter S. Thompson, im Alter von 17 Jahren

 

 

Waffen, sie seien mein einziger Schmuck – und der Rest ist Kämpfen.

Cervantes, Don Quijote

Gonzo-Briefe

1958-1967

I

Briefe aus:

»The Proud Highway

Saga of a desperate southern gentleman«

Der Fluch der Bronzetafel

Vorwort

 

Von William J. Kennedy

 

 

»Eine Institution, die jederzeit für Fortschritt und Veränderung kämpfen, nie Ungerechtigkeit oder Korruption hinnehmen, jederzeit Demagogen sämtlicher Parteien bekämpfen, nie irgendeiner Partei angehören, sich jederzeit privilegierten Klassen und öffentlichen Plünderern entgegenstellen, es nie an Sympathie für die Armen fehlen lassen, sich jederzeit dem Allgemeinwohl verpflichtet fühlen, sich nie mit dem bloßen Abdrucken von Nachrichten zufrieden geben, jederzeit radikale Unabhängigkeit bewahren, nie Angst davor haben sollte, gegen ein Übel vorzugehen, sei es rücksichtslose Geldherrschaft oder rücksichtslose Armut.«

Joseph Pulitzer in der New York World vom 10. Mai 1883 in seinem Editorial als zukünftiger Verleger (eingraviert auf einer Bronzetafel am Times Tower, New York City)

 

 

Es war im Spätsommer 1959. Hunter Thompson hatte den Süßigkeitenautomaten beim Daily Record in Middletown (New York) eingetreten, war daraufhin gefeuert worden, weil er »zu sehr neben der Spur« sei, und machte sich auf die Suche nach einem neuen Job. Auf eine Anzeige in Editor & Publisher hin bewarb er sich um eine Stelle als Sportredakteur bei der neugegründeten Tageszeitung San Juan Star. Er war zweiundzwanzig, behauptete aber, er sei vierundzwanzig. Und er schrieb, die Stelle interessiere ihn wegen Puerto Rico – weit weg von der »großen rotarischen Demokratie« auf dem Festland.

Die Scherereien, die er in Middletown gehabt hatte, ließ er nicht unerwähnt, und er sprach auch davon, dass er Vor­träge über die Bedeutung der Beat Generation halten wür­de. »Mit dem amerikanischen Journalismus bin ich durch«, schrieb er. »Der Niedergang der amerikanischen Pres­se war schon lange abzusehen, und mir ist meine Zeit zu schade, um sie mit Anstrengungen zu vergeuden, die auf den ›Mann auf der Straße‹ abzielen, mit dem täglichen Quantum an Klischees … Doch es gibt da noch eine andere Art von Journalismus … eingraviert auf einer Bronzetafel an der südöstlichen Ecke des Times Tower in New York.« Er fügte hinzu, dass er jetzt weiter an seinem Roman arbeiten müsse, der in Auszügen bereits bei Viking Press, New York, zur Prüfung liegen würde.

Als Redaktionsleiter des frisch aus der Taufe gehobenen Star schrieb ich ihm zurück: Unser Herausgeber1 sei Mitglied im Rotary Club; unsere Redaktion bestehe aus Reportern (und Redakteuren), die neben der Spur seien und, genau wie er, an literarischen Projekten arbeiteten; es sei also am besten, er würde sich wieder um seinen Roman kümmern oder vielleicht gleich mit einem neuen beginnen, und dessen Handlung könne sich ja um die bronzene Tafel am Times Tower drehen. »Man sollte immer über das schreiben, was einem besonders vertraut ist«, schrieb ich und schloss mit der Bemerkung, ich würde mich bei ihm wieder melden, sobald wir einen Süßigkeitenautomaten in der Redaktion hätten und jemand bräuchten, der ihn eintritt.

Mein Brief ging an seine Privatadresse in Louisville, und er muss zeitgleich mit der Post von Viking eingetroffen sein; sein Roman wurde abgelehnt. Er setzte sich auf den Hosenboden und schrieb:

»Ihr Brief war niedlich, mein Freund, und Ihre Interpretation meines Briefs wiederum ist bezeichnend für einen jener intellektuellen Kretins, die für den Niedergang der amerikanischen Presse verantwortlich sind. Glauben Sie aber bloß nicht, dass mich Ihre Absage daran hindern wird zu kommen, und wenn ich da bin, erinnern Sie mich daran, dass ich Ihnen die Zähne einschlagen und Ihnen dann eine Bronzetafel tief in Ihren kleinen Darm rammen werde.«

In meiner Antwort schrieb ich, da er ein umtriebiger Experte in Sachen Niedergang des Journalismus sei, würden wir ihm ein Zeilenhonorar anbieten; er solle die Hintergründe dieses Niedergangs doch auf drei zweispaltigen Seiten beleuchten. Wir würden das gleich in unserer ersten Ausgabe bringen, und unseren Briefwechsel mit dazu. Ich schrieb, ich wüsste von keiner anderen Publikation, die ihm diese einzigartige Gelegenheit geben würde, und unterzeichnete »Mit därmlichen Grüßen«.

Seine Replik: »Alter! Sie wollen also sagen, die Sache mit der Bronzetafel hat Sie provoziert? … Ich muss zugeben, Freund Kennedy, dass ich Ihren Brief genossen habe. Das ist eine verrückte kleine Korrespondenz, die wir hier am Laufen haben, mein Lieber.« Er meinte außerdem, ich sei ein hoffnungsloser Optimist, wenn ich mir einbilden würde, es sei möglich, diesen Niedergang auf drei Seiten abzuhandeln, und er vermutete, mein Angebot sei nur dazu da, einen »plappernden Beatnik … nach allen Regeln der Kunst vorzuführen«. Doch selbst dann, meinte er, würde er es auf einen Versuch ankommen lassen – was er auch tat.

»Lieber Schreiberling«, so begann er und fügte seinem Brief einen Einakter bei: »ein grobschlächtiges Drama der nie­deren Art … natürlich eine Farce – wenn auch eine, die es in sich hat«. Er meinte, dass ihn mein letzter Brief überrascht habe, »und auf lange Sicht mag es sein, dass Sie eine Entschuldigung bei mir gut haben – für all meine Beschimpfungen.«

Sein Theaterstück wies ich zurück, da es voller »überkommener Klischees sei und ihm ein Stallgeruch anhafte«. Für sein Buch wünschte ich ihm alles Gute und merkte an, wenn es ihm mit dem Roman ernst sei, solle er sich vom Journalismus besser fernhalten. Ich schlug ihm vor, auf einen Drink vorbeizukommen, wenn er in der Nähe sei.

Die Antwort war seine Art von Rache, die er auf einer ganzen Seite ausbreitete: »Erwarten Sie von mir nicht, dass ich Ihnen einen Packen Plattitüden schicke, um Ihre stinkende Leiche von Zeitung zu dekorieren, als wär’s die amerikanische Flagge, die einen Sarg voller Müll einhüllt.« Und er fügte hinzu: »Ich stelle mir vor, dass Sie ziemlich in Ordnung sind, und dies auf Ihre ganz eigene Weise. Umso beschämender, dass Sie sich als Sprachrohr des internationalen Rotariertums verdingen.«

Keine zwei Monate später hatte er sich bei Sportivo beworben, einem neuen Bowling-Magazin in San Juan. »Vielleicht gelingt es mir, den Herausgeber zu übertölpeln und ihn glauben zu lassen, ich sei normal«, schrieb er seinem Freund Bob Bone, einem Reporter des Star. Er bekam den Job. Aber Normalität vortäuschen zu wollen war fehl am Platz. Der Herausgeber des Sportivo entpuppte sich Hunter zufolge als »Lügner, Betrüger, Aussteller ungedeckter Schecks, rechtsbrüchiger Wortverdreher« und stellte sich auch sonst als »verkommen« heraus, und so war der Job nur eine weitere Pleite.

Immerhin war Hunter jetzt in San Juan, und schon bald tauchte er im Büro des Star auf. Fred Harmon, unser Wirtschaftsredakteur, begrüßte ihn mit den Worten: »Mit einem Süßigkeitenautomaten können wir nicht dienen, aber dort an der Ecke steht ein Zigarettenautomat.« Einige von uns zogen los, um den versprochenen Drink einzunehmen, und wir unterhielten uns über Bronzetafeln und Romane; Hunter stellte sich auf einen mehrmonatigen Aufenthalt in Puerto Rico ein.

Er war aus zwei Wohnungen herausgeflogen, fand aber schließlich ein Haus an einem einsamen Strand, lud Sandy, seine zukünftige Frau, ein herzukommen (»Ich kann mich selbst kaum finanzieren, umso weniger eine Ehefrau«, schrieb er ihr, »deshalb gehe ich davon aus, dass Du zumindest ein bisschen Geld für Essen dabei hast«), arbeitete an irgendwelchen literarischen Texten, verdingte sich als freier Journalist, und wir redeten nächtelang über Literatur und darüber, wie und warum man schreibt.

Im Juni war Hunter absolut pleite, er war von der Polizei verprügelt und wegen Störung der öffentlichen Ordnung und Widerstand gegen die Staatsgewalt ins Gefängnis gesteckt worden, wo sich seine Getränke auf Regenwasser beschränkten und er von Bartmücken halb aufgefressen wurde; als er das Gefühl nicht los wurde, dass er womöglich ein ganzes Jahr in einem puerto-ricanischen Knast verbringen müsste, entfloh er der Karibik in einem Segelboot.

Folgendes schrieb er mir von den Bermudas: »Lieber Redakteur: Mein Name ist HS Thompson, und ich würde gerne für den San Juan Star arbeiten … Wenn ich das richtig sehe, ist Puerto Rico ein phantastischer Ort, um es dort eine Weile auszuhalten … Drei Typen, die ich in einem Wohnheim in Upstate New York traf, haben mir dies berichtet … Gute Leute waren das, und das Meiste von dem, was sie erzählten, leuchtete mir sofort ein.«

Es war dies der kaum vorhersehbare Beginn einer Freundschaft und einer Korrespondenz, die seit nunmehr siebenunddreißig Jahren anhält. Es geschehen seltsame Dinge, wenn einem Hunter Thompson über den Weg läuft. Seine Art, das Leben auf sich zukommen zu lassen, ist den meis­ten Sterblichen fremd. In den oben zitierten Briefwechseln steckt eine prophetische Kraft – was Hunters Zukunft als stilistisch glänzender amerikanischer Prosaautor und als journalistischer Literat angeht, aber hinsichtlich seines Lebensstils, der ihm dabei gute Dienste erwies: Chaos verbreiten – um seine eigenen hochtrabenden Pläne zu untergraben; Selbstzerstörung kultivieren – als Schlüssel zum Erfolg; Kontakte auf Augenhöhe pflegen – mit der Komik eines Verzweifelten; mit Bronzetafeleien genauso zurechtkommen wie mit Zurückweisungen aller Art – denen er gerne mit einer Superhelden-Rhetorik begegnete, so etwa 1965 in einem Brief an einen sich windenden Herausgeber: »Ich werde auf einem frisierten Motorrad nach New York kommen und Ihnen eine Leuchtkugel aus explodierendem Dreck in den Bauch jagen«; oder 1967 über seine Vorstellung, wie er einen Literaturagenten fertig machen würde: »ihm die Zähne mit einem Holzstock einschlagen und ihm jeden seiner Knochen brechen und jedes seiner Organe zerreißen, dem ich habhaft werden kann, in der kurzen Zeit, die mir mit ihm beschieden sein wird.«

Das Instrumentarium, auf dem Hunter in den Folgejahren spielen sollte, war in seinen unausgereiften Phantasien in San Juan bereits angelegt – bizarrer Witz, grenzenloser Spott, Exzess bis zum Abwinken, absolutes Selbstvertrauen, das Narrativ eines gekränkten, um Anerkennung ringenden Ego, der unaufhörliche Zorn eines sich moralisch überlegen fühlenden Outlaws. Damals, in jenen Tagen, setzte er all dies ein, um Schriftsteller zu werden. Als wir uns das erste Mal über Literatur unterhielten, war Prince Jellyfish sein Dauerprojekt, und bald darauf begann er mit der Arbeit an dem Roman The Rum Diary, der ihn in den kommenden Jahren beschäftigte.

»Prince Jellyfish schon wieder durchgefallen, zum dritten und letzten Mal«, schrieb er mir im August 1960 aus New York. »Wirklich, es ist kein sehr gutes Buch … Dieses Jahr hake ich ab, es steht unter dem Zeichen ›Erfahrungen machen‹, und ich fange jetzt mit dem ›Großen Puerto-ricanischen Roman‹ an, den ich schon erwähnt habe … Ich habe mich so oft bloßgestellt, dass ich mich nicht mehr guten Gewissens als Märtyrer bezeichnen kann. … Ich schätze, als Opportunist, der über ein großes unausgereiftes Talent verfügt, bin ich besser dran.«

Er wusste, dass auch einige meiner Manuskripte abgelehnt worden waren, und das schien ihn sogar noch mehr zu bekümmern, als es bei seinen eigenen der Fall gewesen war. »Ein Märtyrer sind Sie nicht«, wie er treffend beobachtet hatte, »und dennoch glaube ich, Sie machen sich ernsthafter ans Schreiben als ich. Ich bin viel zu sehr auf meinem eigenen Trip, um Ihnen viel Glück zu wünschen, und doch, wenn Ihnen der Durchbruch gelingt, ohne dass Sie dann auf mich herabschauen, hoffe ich, dass Sie es schaffen.«

Das klang in meinen Ohren ungewöhnlich ehrenwert, doch seine Rede von Märtyrertum und Selbstentblößung hatte etwas von einer romantischen Idee ohne besonderen Wert – außer dem, dass sich hier ein Autor selbst von seiner eigenen Bedeutung überzeugen will. Immer wieder zählten wir die Beispiele auf – die Nachlässigkeit von Faulkner, das Pech von Nathanael West oder die Tragik von Fitzgerald, dessen Werk nicht mehr gedruckt wurde und der allmählich verblasste. Was nun Hunters Selbstentblößung angeht, bestand diese vor allem darin, zu viel zu trinken und anspruchslose journalistische Arbeiten abzuliefern, um irgend­wie zu überleben. Doch sein eigentliches Problem war die Unzulänglichkeit seiner literarischen Texte, genau wie bei mir auch. Das sollte uns in den kommenden Jahren beiden klar werden.

Die vorliegende Kollektion von Hunters Briefen ist eine authentische Quelle, um diese Zeit seines Lebens nachzuvollziehen: wie er sich zu dem unverwechselbaren literarischen Autor formte, der er später wurde.

1960: »Wenn ich mir meiner Bestimmung nicht so sicher wäre, würde ich vielleicht zu dem Schluss kommen, dass ich deprimiert bin. Bin ich aber nicht. Es gibt immer die Post des nächsten Tages.« … »Noch verkauft sich meine Literatur nicht … Habe mit dem Großen Puerto-ricanischen Roman angefangen (The Rum Diary) & ich gehe davon aus, das wird’s.«

1961: Mit dem Roman lief es schlecht, wie er mir schrieb, da war wieder ein Agent, der ihn nicht wollte. »So kämpfen wir weiter, die Boote gegen den Strom«, notierte er und zi­tier­te damit Gatsby, die Oriflamme seines anhaltenden Mar­tyriums, Auge in Auge mit dem Amerikanischen Traum.

1963: Meine Reaktion auf The Rum Diary fällt negativ aus, ich sage ihm, er solle es bleiben lassen. »Der Entschluss steht, ich schreibe es um«, antwortet er.

1964: Sein Geld mit Journalismus zu verdienen erfüllt ihn nicht. »Wenn ich ein bisschen Glück habe, treibt es mich zurück in die Literatur.«

1965: Er ist pleite und ohne Arbeit und gerade dabei, »mit einem Roman zu ringen … Literatur deprimiert mich nicht so wie Journalismus. Literatur ist härter, aber auch eine sehr viel menschlichere Arbeit.«

1965: Seine Geschichte über Motorradbanden für The Nation zieht sechs Buchangebote von Verlegern nach sich: »Ich bin ganz hysterisch angesichts der Aussicht auf Geld … Das große Ding scheint mir momentan The Rum Diary zu sein. Wenn ich das Buch jetzt schon in Form gebracht hätte, könnte ich morgen 1.500 Dollar Vorschuss herausholen. Aber es ist leider noch nicht gut genug, um es schon zu verschicken.«

1965: »Ich hätte den Journalismus aufgeben … mich mit allem, was ich bin, der Literatur hingeben sollen. Und wenn ich jemals zu etwas gut sein werde, glaube ich ernsthaft da­ran, dass es mit Literatur zu tun haben wird; es ist der einzi­ge Weg, bei dem ich meine Phantasie ausleben kann, meine Ansichten, Instinkte und all die ungreifbaren Dinge, die in meiner Art von Journalismus die Leute nervös machen.«

Vermutlich markiert der vorangegangene Absatz einen Wendepunkt in Hunters Denken oder bedeutet sogar sein Eingeständnis, dass das, was er da versuchsweise und so energisch betrieb, alles andere als Journalismus war. Es war im Jahr 1970, als mit der Veröffentlichung von »Das Kentucky Derby ist dekadent und degeneriert« in Scanlan’s Monthly sein Gonzo-Journalismus vollständig hervortrat. War das noch Journalismus? Na gut, der Text erschien in einer Zeitung. Aber war das nicht eindeutig Literatur? Es war nicht Hemingway, der in seiner Lieblingsstadt den Stieren hinterherläuft – aber es war Hunter, der in seinem ganz eigenen Ton die Pferde zum Laufen brachte. Es ist eine Short Story – und das beste Stück Literatur, das er je geschrieben hat.

Bei unseren ersten Marathon-Sitzungen ging es immer wieder um Schriftsteller, die eine unverwechselbare Stimme haben: Wie die Energie ihrer Sprache sie von anderen absetzte; wie es ihnen gelang, dass ihre Story – nicht die Idee – über allem stand. Mit den Ideen verhielt es sich so: Entweder nahmen sie Gestalt an, indem sie Erzählung wurden, oder sie waren wertlos.

Gespräche dieser Art gehören für jeden Schriftsteller zur Grundausbildung; wenn auch die wirkliche Herausforderung darin besteht, die gewonnenen Erkenntnisse umzusetzen. Hunter identifizierte sich mit literarischen Außenseitern, mit Salingers Holden Caulfield oder mit Donleavys Ginger Man. Von Mencken schaute er sich ab, bissig zu sein, gleichzeitig verehrte er aber auch Algren, Fitzgerald und West; Dylan Thomas und Faulkner lernte er auswendig. Ich erinnere mich, wie er in den späten Sechzigern meinte, das Wichtigste, was er mit dem Schreiben erreichen wolle, sei es, »neue Formen« von Literatur hervorzubringen.

Die Derby-Story war es nun, die ihm den Weg zur großen Goldader aufgezeigt hatte. Es folgten Aufträge von Playboy, The New York Times Magazine, Sports Illustrated, Rolling Stone, Esquire usw. Hunter hatte entdeckt, dass man mit der Art des Schreibens, die man Journalismus nennt, erstaunlich viel Geld verdienen konnte, wo es doch zugleich ein eigenes literarisches Werk war, das dabei entstand.

1971 lagerte das Manuskript von The Rum Diary noch im Keller, und Hunter schrieb eines der komischsten und originellsten Bücher der letzten drei Jahrzehnte, Angst und Schrecken in Las Vegas; es war sein Tribut an den Drogenwahnsinn, der seinen wachsenden Ruhm begründete und einen verrückten Drogentypen in eine ikonische Comicfigur verwandelte – einen Gonzo-Journalisten mit der Strahlkraft eines Rockstars.

Sein Buch mit dem Titel Angst und Schrecken im Wahlkampf über den Präsidentschaftswahlkampf, das im Rolling Stone vorab als Serie erschienen war, veränderte sein Image: giftig und scharfzüngig, bösartig und mit Witz, politisch und klug. Auch dieses Buch ging weit über Journalismus hinaus: Es verdankte sich der Kraft der Imagination genauso wie politischem Durchblick. Damit fiel es, zumindest in Teilen, in die gleiche Kategorie wie das Derby-Stück und die Las-Vegas-Geschichte: Fiktion.

Dass Hunter sich weiterhin als Journalist bezeichnen ließ, ist einer der großen Tiefstapeleien unserer Epoche. Er selbst unternahm einen halbherzigen Versuch, sich zu dem Trick zu bekennen, als er in Die Große Haifischjagd Anmerkungen zur Entstehung des Las-Vegas-Buchs machte. Gonzo, schrieb er, »ist eine Form der ›Reportage‹ und baut auf dem Gedanken William Faulkners auf, dass die beste Fiktion sehr viel wahrer ist als jede Art von Journalismus – und die besten Journalisten haben das immer gewusst.« Weiter führte er aus, dass es sich bei Las Vegas um gescheiterten Gonzo handele, »in seinem Scheitern so komplex, dass ich das Gefühl habe, das Risiko auf mich nehmen und es so bezeichnen zu können: als ersten vorläufigen Versuch in jene Richtung, mit der der New Journalism, wie Tom Wolfe es nannte, seit fast einem Jahrzehnt flirtet.«

Hunters Erklärung, warum das Las-Vegas-Buch ein gescheiterter Versuch gewesen sei, würde zu weit führen und soll hier keine Rolle spielen. Wichtiger ist, wenn er über das Buch sagt: »Als echter Gonzo-Journalismus funktioniert es kein bisschen – und selbst wenn, würde ich das kaum zugeben. Nur ein verdammter Wahnsinniger würde eine Geschichte wie diese schreiben – und dann behaupten, sie sei wahr.«

Das Buch war weniger dokumentierter, sondern vielmehr imaginierter Wahnsinn: kurz gesagt – ein Roman.

Aber wer sollte ihm das glauben?

Zeitungen und Buchverlage haben sein Werk einer leichtgläubigen Öffentlichkeit seit jeher als Journalismus ausgegeben, wo es doch in Wahrheit nichts als ein Haufen Lügen ist – die klassische Definition also von Fiktion.

Ich hoffe, wir alle haben unsere Lektion gelernt.

 

Als wir uns zuletzt in der Tosca Bar in San Francisco unterhielten, checkte Hunter, der zu dem Zeitpunkt jeder Arbeit aus dem Weg ging, unter dem Namen Ben Franklin in einem Hotel ein. Mir fiel gleich auf, dass er sehr viel rauchte und trank. Ich riet ihm, seine Süchte zu mäßigen und seinem sechzigsten Lebensjahr möglichst entspannt entgegenzugehen – nur so würde er mit seinem Werk vorankommen.

»Ich für meinen Teil trinke höchstens mal ein Glas Rotwein«, sagte ich.

Er gestand ein, dass ich wohl recht hätte und drückte seine Zigarette aus.

»Gott wird gut zu uns sein«, sagte er und saugte mit einem Röhrchen eine ominöse Substanz ein.

»Das einzige, was zählt, ist das Werk«, sagte ich.

»Ich weiß«, sagte er. »Das ist der Grund, warum ich einen Roman schreibe. Vielleicht sogar zwei.«

»Oh, ja, zwei Romane«, sagte ich. »War es nicht das, wovon Du mir damals in San Juan schon erzählt hast?«

 

Averill Park, New York

23. Oktober 1996

Vorwort des Herausgebers

Von Douglas Brinkley

 

Du kannst auf die Inspiration nicht

einfach warten. Du musst ihr mit

der Keule hinterherjagen.

Jack London

 

Am 22. November 1963, in der Mittagszeit, hörte Hunter S. Thompson die Nachricht von der Ermordung des Präsidenten John F. Kennedy; seine erste Reaktion bestand darin, sich vor seine Schreibmaschine zu setzen. In einem Brief an seinen Freund William Kennedy (der für den Roman Ironweed zwanzig Jahre später den Pulitzer-Preis bekommen sollte) machte er seinem Ärger Luft. »Es gibt kein menschliches Wesen im Umkreis von fünfhundert Meilen, mit dem ich irgendetwas besprechen könnte – am wenigsten die Angst und den Schrecken, der nach dem heutigen Mord über mich gekommen ist«, schrieb Thompson zuhause in Woody Creek, Colorado. »Von jetzt an gelten nur noch miese Tricks. Diese wild gewordenen Irren haben den großen Mythos von der amerikanischen Anständigkeit zerschmettert.«

Die Phrase »Angst und Schrecken« wurde bald – ohne Verweis auf Søren Kirkegaard – zum Markenzeichen von Thompson: sein Kürzel für einen berechtigten Angriff auf eine maßlose, kaputte Konsumgesellschaft. Ob im Zusammenhang mit den Hell’s Angels, mit Richard Nixon oder Südostasien – »Angst und Schrecken« war für Thompson eine vielfältig einsetzbare Paraphrase, die den Tod des amerikanischen Traums wie eine Kapsel einschloss. Angst und Schrecken in Las Vegas (1971), ein Meisterwerk der Komik und längst ein Kultbuch, wurde 1996 von der Modern Library auf die berühmte Liste anschaffungswürdiger Ausgaben von Klassikern der Weltliteratur gesetzt, eingereiht zwischen Thackeray und Tolstoi. Auch das andere bekannte Werk von Thompson mit dem Kürzel im Titel – Angst und Schrecken im Wahlkampf (1973), wird zum angesehenen Kanon der Modern Library gehören; die New York Times hat es als »bisher beste Beschreibung des Gefühls, sich mitten im politischen Geschehen Amerikas wiederzufinden« gewürdigt. Und jetzt, im Jahre 1997, kommt The Proud Highway: Saga of a Desperate Southern Gentleman, die erste Folge einer auf drei Bände angelegten »Angst-und-Schrecken«-Briefsammlung. Unter den mehr als zweihundert Briefen befindet sich auch der eingangs erwähnte historische Brief an William Kennedy von 1963.

Die Briefe in vorliegendem Band machen nur einen Bruchteil der insgesamt etwa zwanzigtausend Briefe aus, die Thompson geschrieben hat, seit er ein kleiner Junge war. Ob in seiner Kinderstube in der Randsdall Avenue in Louisville, in einer Dachkammer in Greenwich Village oder auf einem mit Bier beladenen Frachtkahn, der über den Magdalena-Fluss in Kolumbien schippert – Thompson hat wie ein Besessener Post verschickt und fast jedes Mal einen Durchschlag auf Kohlepapier gemacht; in der Hoffnung, dass seine Briefe eines Tages als Dokument seiner eigenen Geschichte, aber auch als Zeitzeugnis veröffentlicht werden würden. »Das war noch vor dem Zeitalter des Xerox-Kopie­rers«, so hat Thompson seine vielleicht überraschend erscheinende Sammelwut kommentiert. »Mein Wunsch, alles aufzubewahren, hatte etwas von einer analen Fixierung.«

Die frühesten Briefe, die in Thompsons Owl Farm archiviert waren, stammen von 1947, als er als frühreifer Zehnjähriger damit anfing, über Sportereignisse aus der Nachbarschaft zu berichten und für seine eigene, vier Cent teure, aus zwei Seiten bestehende und von ihm selbst vervielfältigte Zeitung The Southern Star Abonnenten zu gewinnen. Mit zwölf bombardierte er den Herausgeber des Courier-Jour­nal in Louisville mit Leserbriefen, in denen er sich über die Ausrichtung der Zeitung beschwerte, die über alles Erdenkliche berichtete und von Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen bis zur Geschichte des Amerikanischen Bürgerkriegs wahllos jedes Thema aufzugreifen schien. Thompson bewahrte auch die meisten seiner Schulhefte auf und selbst ein unregelmäßig geführtes Tagebuch, das naive Überlegungen und Lebensregeln eines Heranwachsenden enthält. Am Neujahrstag 1951 zum Beispiel notierte Thompson zehn Vorsätze, die er im kommenden Jahr umzusetzen hoff­te; auf Nummer eins der Liste hieß es: »Ruhiger werden!«, Nummer zwei lautete: »Bis März eine gute Frau finden«, und unter Nummer drei hieß es: »Immer schick angezogen sein.«

Der größte Teil der frühen Korrespondenz von Thompson – von der aufgrund des jugendlichen und persönlichen Charakters nichts in dieser Ausgabe enthalten ist – enthält Briefe, die er an seine Mutter Virginia schrieb, eine Bibliothekarin aus Louisville. Er schrieb ihr täglich, als er von Mai bis Juli 1955 im Jefferson County Jail wegen eines Diebstahls einsaß, den er nicht begangen hatte. »Die Polizei lügt«, schrieb er aus seiner Zelle. »Die Ungerechtigkeit greift um sich.« Nachdem er auf Bewährung freigekommen war, marschierte er in ein Rekrutierungsbüro der Luftwaffe und ließ sich auf die Warteliste setzen. Nach einigen Monaten Basis­training in San Antonio kam er in die Scott Air Force Base in Belleville, Illinois, wo er eine Ausbildung als Radiotechniker absolvierte und wo er bis September 1956 blieb. Daraufhin wurde er Sportredakteur des Command Courier, der Zeitung der Eglin Air Force Base (Pensacola, Florida); und erst von da an schrieb er regelmäßig wohldurchdachte Briefe, vor allem an seine alten Kumpane der angesehenen Athenaeum Literary Association. Durch Thompson wurde der Sportteil zu einem der besten des nördlichen Florida, und er machte sich in der Zeit mit allen handwerklichen Aspekten des Zeitungsmachens vertraut, von Layout, Fotografie und Nachrichtenschreiben bis zum Verfassen von Schlagzeilen und dem Bedienen einer Schreibmaschine. Auf seiner vertrauten Underwood schrieb er Artikel und Geschäftsbriefe und hielt die Korrespondenz mit seinem weitläufigen Freundeskreis aufrecht; nächtliches Briefeschreiben wurde zu einem Ritual, das er sich bis heute bewahrt hat. »Mit einer kleinen Reiseschreibmaschine sorge ich für mehr Wirbel als andere mit einem kompletten Fernschreibernetz«, schrieb er 1958 seinem Freund David Ethridge aus Louisville. »Und ja, Mann, nichts geht über einen ordentlichen Schlagabtausch.«

Die Persönlichkeit, die aus den frühen Briefen dieser Kollektion hervorscheint, ist die eines begabten selbstbewussten Einzelgängers, der dazu neigt, ein Außenseiter zu sein und sich in der schnell getakteten irrationalen Welt des Kalten Kriegs auf die Suche nach dem begibt, was sich hinter der Fassade befindet. »So wie sich manche Sinnsucher einer Religion zuwenden, verlässt sich ein Schreibender auf sein Handwerk und ist darum bemüht, selbst Sinn zu erzeugen, oder aber: er sucht im Chaos nach dem, was bedeutsam ist, um es zu ordnen«, schrieb Thompson einem Freund 1958. Für Thompson war Briefeschreiben seine eigene Art, die Dinge zu ordnen, und er kultivierte dabei eine Mischung aus literarischem Lebensstil und ungezügelter Reiselust, so wie es einst der Dichter Vachel Lindsay vorgemacht hat, der ganz Amerika durchquerte und Gedichtzeilen für gerade einmal einen Penny verfasste. »Ich glaube«, schrieb Thompson einer Freundin während seiner Zeit in der Air Force, »die bloße Tatsache, dass ich diesen Brief hier geschrieben habe und das Bedürfnis danach hatte, zeigt den Wert an, den es für mich hat, Wörter auf einem Stück Papier in die richtige Reihenfolge zu bringen.« Und weiter: »Und ich schätze, genau das ist der Grund, warum ich so viele Briefe schreibe, wie ich es tue, weil es – abgesehen von meiner täglichen Brotarbeit und abgesehen von literarischen Stories – die einzige Möglichkeit für mich ist, mit klarem Blick auf das Leben zu schauen. Andernfalls bin ich so sehr mittendrin im Geschehen, dass der Rest der Welt bloß noch zu einem Bühnenbild für mein Leben verkommt.«

Manchmal aber – nachdem er zum Beispiel im Oktober 1958 seine ehrwürdige Entlassung von der Air Force erhalten hatte – schrieb Thompson Briefe einfach zu seinem Vergnügen; um sich an Wörtern zu berauschen, um im sprachlichen Umgang locker zu bleiben und Schreibblockaden zu vermeiden. Versessen darauf, als Romancier ganz vorne dabei zu sein, bearbeitete er seine Underwood wie einen Steinway-Flügel und tippte ganze Passagen aus Der große Gatsby und Wem die Stunde schlägt ab – in dem Versuch, den Klang jener Prosa einzufangen, die er so sehr verehrte. Einige der frühen Briefe sind unübersehbar ehrgeizige Übungen, die darin bestehen, Schriftsteller von John Dos Passos bis Lord Buckley oder William Styron zu imitieren. Mit zwanzig war Thompson davon überzeugt, der F. Scott Fitzgerald seiner Generation zu werden; er trug seine ausufernde Kollektion von Briefen in Koffern mit sich herum, in dem Glauben, sie seien eine finanzielle Rücklage für schlechte Zeiten. »Eben habe ich zwei von den Briefen noch einmal gelesen, die ich Dir nach Island geschickt habe«, schrieb er 1959 seinem Air-Force-Kumpel Larry Callen 1959. »Vielleicht bringe ich meine Sammlung heraus, bevor ich berühmt werde – nicht erst hinterher.«

Zusammengenommen zeigen die frühen Briefe einen hand­werklich vortrefflichen Autor; und einen jugendlichen Outlaw mit einer nonkonformistischen Haltung, inspiriert von seinen Lieblingsfiguren in Der ewige Quell von Ayn Rand, Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger, Siddharta von Hermann Hesse oder Auf Messers Schneide von Somerset Maugham. Dabei folgte Thompson stets kompromisslos seinem eigenen Rhythmus und seiner eigenen Stimme. »Ich habe vor nichts Angst und lege es auf nichts an«, schrieb er 1958 einer Freundin. »Ich bin wie ein Psychopath in einem Völkerballspiel, der abwartet; mein Atem geht schnell, während die Idioten überlegen, wer als nächster auf mich werfen soll, und dann springen sie alle zur Seite, nur aus dem Grund, weil ich es bin, der in der Mitte steht.« Die Briefe machen klar, das sich Thompson bewusst zu einem amerikanischen Adam stilisiert hat, einer Figur, die der Kritiker R.W.B. Lewis so definiert hat: ein »auf sich selbst gestelltes und aus sich selbst heraus agierendes Individuum, bereit, sich mit allem und jedem auseinanderzusetzen kraft der eigenen, ganz speziellen und nur ihm selbst innewohnenden Ressourcen«. Die Autoren, die Thompson in seinen Zwanzigern am meisten bewunderte – Ernest Hemingway, Jack London, Henry Miller – waren nicht Teil einer literarischen Bewegung oder eines elitären Clubs, sie waren so etwas wie ihre eigenen rollenden Salons. »Ein guter Autor steht über jeder Bewegung«, schrieb Thompson, »und ist weder Anführer noch Mitläufer. Ein guter Autor ist – ein glänzender weißer Golfball auf einem Feld voller windgeschüttelter Gänseblümchen.« Dass Thompson dann 1960 nach Big Sur zog, war kein Zufall. Er wollte in der Nähe von Henry Miller sein, dessen radikale Offenheit er mehr als alles andere bewunderte.

 

Ein Dauerthema in diesem Band seiner Gonzo-Briefe sind Thompsons Angriffe auf die Mainstreampresse; er betrachtete ihre Vertreter als unterwürfige Sprachrohre des Rotary Clubs, der US-Regierung und des Establishments der Ostküste. Den unter dem Dach der New York Times versammelten angeblichen objektiven Journalisten zog er den subjektiven Journalismus von Autoren wie H. L. Mencken, Ambrose Bierce, John Reed oder I. F. Stone vor. Nachdem er 1959 vom Daily Record in Middletown (New York) gefeuert worden war, weil er einen Süßigkeitenautomaten eingetreten hatte, schrieb Thompson jene Zeilen, die womöglich so etwas wie sein Lebensmotto sind: »Ich versuche so gut wie möglich genau das Leben zu führen, an das ich glaube.« Und in derselben Notiz stellte er zwei Grundregeln für angehende Autoren auf: »Erstens: Zögere niemals, Gewalt anzuwenden, und zweitens: Missbrauche deine Vertrauenswürdigkeit, wo immer es die Sache wert ist. Wenn du dich daran hältst, und wenn es dir gelingt, einen kühlen Kopf zu behalten, hast du eine Chance, es zu schaffen.«

Es ist schwer zu sagen, wann genau es mit dem sogenannten New Journalism losging. Sicher zeigen die Jahre 1965 und 1966, wie sie im ersten Band The Proud Highway beschrieben werden, dass der New Journalism von einer Reihe wagemutiger Autoren eingeläutet und von einem breiten Publikum dankbar aufgenommen wurde. Während für Gay Talese, Jimmy Breslin, Truman Capote, Tom Wolfe, Norman Mailer, Terry Southern – prominente Bekannte von Thompson – das Magazin Esquire und die Herald Tribune aus New York den Nährboden für New Journalism bildeten, lehnte Thompson dieses in seinen Augen banale Schlagwort ab. Er fand den Begriff »impressionistischer Journalismus« treffender. Lange bevor sich George Plimp­ton einen Fußball schnappte und The Paper Lion schrieb, bewunderte Thompson es, wie Ernest Hemingway, Stephen Crane oder Mark Twain literarische Techniken mit Reportageelementen kombinierten und bei der Beschreibung von Ereignissen mit Nachrichtenwert die Bedeutung einer persönlichen Beteiligung des Autors hervorhoben.

Als ich die Korrespondenzen von Thompson las und seine Notizbücher durchging, wurde mir klar, dass George Orwells Mein Katalonien – sein Bericht aus erster Hand über den Spanischen Bürgerkrieg – und Erledigt in Paris und London – sein Bericht über die Notgemeinschaft mit aus der Welt gefallenen Obdachlosen – die wohl wichtigsten Einflüsse für Thompsons Technik und Stil waren. Wenn es Orwell gelungen war, mit heruntergekommenen Säufern im absoluten Dreck zu leben und darüber zu schreiben, dann würde Thompson das auch können – und sich unter Schmugglerbanden in Aruba mischen, Bordelle in Brasilien aufsuchen oder sich Motorradgangs in Kalifornien anschließen; selbst wenn es mit dem Risiko verbunden war, verprügelt oder eingesperrt zu werden. Damit Journalismus gegen Literatur bestehen könne, glaubte er, müsse eine Story die Zeit überdauern. »Literatur ist eine Brücke zur Wahrheit, die für den Journalismus unerreichbar bleibt«, schrieb Thompson 1965 an den Herausgeber Angus Cameron. »Fakten sind Lügen, wenn sie nur aneinandergereiht werden.«

Es gab einige, die in den fünfziger und sechziger Jahren impressionistischen Journalismus praktizierten und die er dafür bewunderte: A. J. Liebling, der über Medien, Grantland Rice, der über Sport, James Baldwin, der über Rassismus und Norman Mailer, der über existenzielle Ängs­te schrieb. Doch keiner von ihnen, so fand er, fing die explosive sinnliche Kraft von journalistischen Abenteurern wie Orwell, Hemingway oder London ein, die unmittelbar ihre persönlichen Erlebnisse schilderten.

In jungen Jahren gab es bei Thompson immer wieder diese sardonischen Spielchen, die darin bestanden, andere über­trumpfen zu wollen: William Faulkner lud er in seine eiskalte Hütte im Tal des Hudson River ein, um »Hühner zu stehlen«; Nelson Algren warf er vor, bösartig wie Nixon zu sein; Norman Mailer riet er, bloß gut aufzupassen, was hinter seinem Rücken passiere, denn »HST« sei gerade dabei, den »Großen Puerto-ricanischen Roman« zu schreiben. Und jagte Hemingway mit einem Gewehr in der Hand Großwild am Kilimandscharo, dann schlich Thompson mit einem Bowie-Messer einem Wildschwein in Big Sur hinterher. Bestellte der Ginger Man von J. P. Donleavy fünf Gläser Whiskey auf einmal, waren es bei Thompson fünf Flaschen. Er wollte unbedingt mit einer Story rüberkommen, die so krass war und einem dermaßen die Augen verdrehen würde, dass Das Herz der Finsternis im Vergleich dazu wie eine Gute­nachtgeschichte aussehen würde – allerdings gehörten für ihn auch Humor und ein Augenzwinkern dazu.

Kein neuerer amerikanischer Autor ist so umstritten wie Hunter S. Thompson. Sein von Mythen umranktes öffentliches Bild erregt bisweilen mehr Aufmerksamkeit als seine acht publizierten Bücher. Nicht weniger als vier Biographen wurden in den letzten sechs Jahren über ihn geschrieben, mehrere Dokumentarfilme erzählen seine Lebensgeschichte. Garry Trudeau hat in den letzten zwanzig Jahren in seinem Comic Doonesbury mit der an Thompson angelehnten Figur Uncle Duke seinen Lebensunterhalt bestritten. Neben Batman und Green Hornet2 ist Thompsons Konterfei – ohne seine Zustimmung – als Actionfigur vermarktet worden, ganz zu schweigen von den Angst-und-Schrecken-in-Las-Vegas-T-Shirts, die an der Ecke Haight and Ashbury mit Jerry Garcia, Mick Jagger und Kurt Cobain konkurrieren. In seinem Buch On Writing Well von 1980 bezeichnet William Zinsser Thompson als Amerikas »acidgetriebenen Men­cken«; NBC-Nachrichtensprecher John Chancellor nannte ihn »Billy the Kid auf Speed«; und in der Boulevardpresse ist Thompson so populär wie in den Hörsälen der Universitäten – wenn auch das Interesse an seinem Alkohol- und Marihuanakonsum in beiden Fällen größer zu sein scheint als an seinem Werk. Wie aber diese Briefe hier zeigen – vor allem, wenn er an Freundinnen oder an seine Mutter schreibt –, verbirgt sich hinter der öffentlichen Person ein oftmals nachdenklicher Mensch. »Ich habe noch keine Droge gefunden, die auch nur annähernd so high macht wie am Tisch zu sitzen und zu schreiben«, bemerkte Thompson 1989 bei einem der Gespräche für ein Buch über sich.

Wie in The Proud Highway dokumentiert, scheiterte der traditionelle Journalismus in Thompsons Augen gerade dann, wenn es um eine angemessene Berichterstattung der wirklich großen Themen gegangen wäre: die Nixon-Ken­ne­dy-Debatte, die Ermordung von JFK, die forcierte Vietnam-Politik von LBJ, das politische Comeback Nixons. »Die Presse kann mir Johnson nicht schmackhaft machen«, schrieb er im Februar 1964 einem Freund. »Man riecht es, dass mit ihm etwas nicht stimmt.« Wie sein Held Bob Dylan im spöttischen Refrain von »Ballad of a Thin Man« nahelegte (»Irgendwas geht hier vor / Aber du weißt nicht, was es soll / oder, Mister Jones?«), war die etablierte Presse hilflos, wenn es darum ging, über Kundgebungen des Black Panther, Grateful-Dead-Konzerte oder LSD-Kool-Aid-Par­tys zu berichten. Hunter S. Thompson tat es. »Zuletzt handelten meine Artikel von Oben-ohne-Tänzerinnen, Müll im Hafenbecken, Marihuana, Karate und einer im allgemeinen zur Veröffentlichung ungeeigneten Mischung aller möglichen unvorhersehbaren Sujets«, schrieb er 1965 einem Freund. Thompson war ein Interpret der Gegenwartskultur. Mit einem Bein stand er im journalistischen Mainstream –wenn er etwa für das Unternehmen Dow Jones schrieb –, mit dem anderen steckte er tief im psychedelischen Underground. »Ich bin hier draußen unterwegs, um herauszufinden, welche Art von epidemischem Stillstand den amerikanischen Traum befallen hat«, notierte er in einem Brief an einen New Yorker Redakteur.

 

Gonzo-Journalismus ist der Begriff, der am häufigsten mit Hunter S. Thompson in Verbindung gebracht wird und der erst 1970 in das amerikanische Wörterbuch aufgenommen wurde. Es war Bill Cardoso, ein Reporter des Boston Sunday Globe, der nach der Lektüre von Thompsons »Das Kentucky Derby ist dekadent und degeneriert« in Scanlan’s Monthly ausgerufen hatte: »Das war Gonzo pur!« Einige behaupten, der Begriff stamme aus dem Italienischen und bedeute Verrückter, doch Cardoso besteht darauf, dass das Wort seinen Ursprung bei den Iren im Süden Bostons habe und denjenigen bezeichne, der nach einem nächtlichen Trinkmarathon als Letzter noch stehen könne. Als rein literarische Kunstform betrachtet ist für Gonzo die Unmittelbarkeit des Textes entscheidend – der Reporter und seine Recherche stehen im Zentrum des Geschehens. Hingekritzelte Notizen, transkribierte Interviews, Auszüge aus Zeitungsartikeln, Bewusstseinsstrom, wörtlich wiedergegebene Telefongespräche und Faxseiten – all das sind Bestandteile eines radikal-subjektiven Gonzo-Journalismus. »Es ist eine Form der Reportage, der eine Idee von William Faulkner zugrunde liegt: die beste Fiktion ist sehr viel wahrer als jede Art von Journalismus«, so Thompson. Herbert Mitgang, Kritiker der New York Times, beschrieb Gonzo ganz einfach als alles, was Hunter S. Thompson eben veröffentlichte: »Gonzo ist sein eigenes journalistisches Markenzeichen und hat sich seinen Weg sogar ins neue Lexikon von Random House gebahnt, in dem es mit Begriffen wie bizarr, verrückt, exzentrisch umschrieben wird. Er ist der einzige in dem Lexikon, der in Verbindung mit Gonzo-Journalismus genannt wird.«

Obwohl sich Thompson eisern den Ruf erarbeitet hat, Herausgeber einzuschüchtern und Agenten zu feuern – die bei ihm »blutsaugende Zehnprozenter der amerikanischen Gesellschaft« heißen –, ist ein großer Teil der Korrespondenz in The Proud Highway an Redakteure und Herausgeber gerichtet, die hellsichtig genug waren, um Thompson zahlreiche Chancen zu geben; insbesondere Clifford Ridley vom National Observer und Dwight Martin von The Reporter. Beide schrieben Thompson, dass sie seine Briefe sogar noch besser als seine Stories fänden und er auf dem besten Weg sei, der nächste Lincoln Steffens zu werden. Doch in seiner langen literarischen Laufbahn gab es allen voran einen Redakteur, den Thompson bedingungslos bewunderte: Carey McWilliams von The Nation.

McWilliams wurde auf Thompson erstmals im August 1962 aufmerksam. Der legendäre Redakteur las jene Serie außergewöhnlicher Berichte, die ein trinkfester Autor von Lateinamerika aus an den National Observer geschickt hatte, einer erst kurz zuvor von dem Unternehmen Dow Jones gegründeten Wochenzeitung. McWilliams hatte einen Riecher für neue Talente und war von Thompsons Draufgängertum beeindruckt; von seiner Fähigkeit, »tief in eine Geschichte einzudringen«, wie er das in der Reportage »Ein leichtsinniger Amerikaner in einer Schmugglerhöhle« vorgeführt hatte. Einige Jahre später, nachdem Thompson den National Observer verlassen hatte, weil sich die Redaktion seiner euphorischen Besprechung von Tom Wolfes Das bonbonfarbene tangerinrot-gespritzte Stromlinienbaby verweigert hatte, beauftragte ihn McWilliams, für The Nation über das von Mario Savio gegründete Free Speech Movement in Berkely zu schreiben.

Thompson nahm das Angebot an. Es war zugleich der Anfang einer außergewöhnlichen Korrespondenz, die sich in diesem Band wiederfindet. Von Mitte der sechziger Jahre an schrieb Thompson beinahe wöchentlich Briefe an McWilliams, die von allem Möglichem handelten: von Ken Keseys Verhaftung wegen Besitzes von Marihuana bis zur Ermordung von Malcolm X, von Flüchtlingslagern im Salinas Valley bis zur »verflüssigten Gitarre« von Jimi Hendrix, vom Aufstieg Ronald Reagans bis zum Niedergang Lyndon Johnsons. »Die Zerstörung Kaliforniens ist ein logischer Höhepunkt der Ausbreitung Richtung Westen«, schrieb Thompson in seinem Apartment in Haight-Ashbury, 318, Parnassus Street, an McWilliams. »Der Redwood-National­park, die Autobahnen, die Drogengesetzgebung, Rassenunruhen, Was­serverschmutzung, Smog, das Free Speech Movement und jetzt Reagan als Gouverneur – das alles ereignet sich mit einer mathematischen Logik. Kalifornien markiert in jeder Hinsicht das Ende der Idee Lincolns, Amerika sei ›die größte und letzte Hoffnung des Menschen‹.«

McWilliams war es auch, der Thompson beauftragte, über die Hell’s Angels zu schreiben. Ergebnis: »Motorcycle Gangs: Losers and Outsiders«, eine Titelgeschichte, die am 17. Mai 1965 erschien und einem freien Journalisten Ruhm und einen lukrativen Buchvertrag einbrachte. »Carey war mehr als jeder andere für den Erfolg von Hell’s Angels mitverantwortlich«, schrieb Thompson. »Er ermutigte mich in jeder Hinsicht.« Oder wie er einem befreundeten Reporter 1966 sagte: »Für Carey McWilliams schreiben zu dürfen ist eine Ehre … Er zahlt nicht viel, aber was soll’s … Wenn deine Geschichte in The Nation erscheint, fühlst du dich gereinigt.«

Die erste Auflage von Hell’s Angels war schon vor der offiziellen Veröffentlichung ausverkauft. Als das Buch 1967 auf die Bestsellerliste kam, blieb es dort über Wochen und hielt sich bis zum Ende des Summer of Love. »Jeder Biker des Landes muss sich ein Exemplar gekauft haben«, mutmaßte Thompson über seinen Erfolg, der scheinbar über Nacht gekommen war. Das Buch bekam in zahlreichen großen Zeitungen begeisterte Kritiken. Richard Elman notierte in The New Republic, dass Hell’s Angels »einen Geist nahe eines Rimbaud’schen Deliriums ausstrahlt … dem sich zu nähern nur wenigen Genies vorbehalten ist … Es dürfte sich lohnen, die zukünftige Entwicklung des Autors Hunter S. Thompson genau im Blick zu behalten.« Studs Terkel bezeichnete das Buch in der Chicago Tribune als »großartig und furchteinflößend«, während Eliot Fremont-Smith Thomp­son in der New York Times einen »geistreichen, wachen und originellen Autor« nannte. Sogar Thompsons Heimatblatt, das Courier-Journal in Louisville – das 1955 eine Lügengeschichte über seinen polizeilichen Arrest veröffentlicht hatte – sparte nicht mit Lob: »Soziologisch interessant, und das in einem Stil, der nur den wenigsten Soziologen gelingt. Ein erfahrener, anspruchsvoller Autor, der noch jung ist. Thompson durchdringt sein Thema, er versteht etwas von den sozialen und psychologischen Motiven dieser bunt zusammengewürfelten Truppe von Außenseitern.«

 

Bei der Zusammenstellung der Briefe für The Proud Highway