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ÜBER DEN AUTOR

Yukio Mishima wurde 1925 in Tokyo geboren und war Autor zahlreicher Romane, Dramen, Kurzgeschichten, Essays und Gedichte. Sein Werk überschreitet bis heute inhaltliche und stilistische Grenzen und macht ihn zu einem der wichtigsten japanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Als politisch umstrittene Persönlichkeit beging Mishima 1970 rituellen Selbstmord. Bei Kein & Aber erschienen bereits Neuübersetzungen seiner Romane Bekenntnisse einer Maske und Leben zu verkaufen.

ÜBER DAS BUCH

Unfähig, sich seiner Umwelt verständlich zu machen, wird der stotternde Mizoguchi von den anderen Kindern ausgegrenzt. Je elender er sich fühlt, desto stärker wächst seine Sehnsucht nach dem Wahren und Schönen. Die Pracht des Goldenen Pavillons, von dem ihm sein Vater seit seiner Kindheit erzählt, wird für ihn immer mehr zur qualvollen Obsession: Sie allein scheint vollkommen und gleichzeitig unerreichbar. Das Bild des Pavillons lässt ihn nicht mehr los und verfolgt ihn bis in seine Begegnungen mit Frauen. Verzweifelt sieht er nur noch einen Ausweg: das zu zerstören, was er am meisten verehrt.

Kein & Aber

1

Schon als ich ein kleiner Junge war, hatte mein Vater mir immer wieder vom Goldenen Pavillon erzählt.

Geboren bin ich auf einer einsamen Landzunge, die nordöstlich der Stadt Maizuru ins Japanische Meer ragte. Allerdings stammte mein Vater nicht von dort, sondern aus Shiraku, einem Vorort im Osten von Maizuru. Auf Drängen seiner Familie trat er in den geistlichen Stand, worauf er eine Stelle als Hauptpriester in einem entlegenen Tempel auf dem Kap Nariu erhielt. Dort heiratete er und bekam einen Sohn, nämlich mich.

Im näheren Umkreis des Tempels befand sich keine geeignete Mittelschule. Also schickte man mich von zu Hause fort und übergab mich im Heimatort meines Vaters der Obhut eines Onkels. Dort besuchte ich Tag für Tag die Mittelschule Maizuru Ost.

Das Dorf meines Vaters lag in einer hellen sonnigen Gegend. Doch im November und Dezember gingen, auch wenn der Himmel noch so klar und wolkenlos schien, bis zu fünf Regenschauer am Tag hernieder. Mitunter frage ich mich, ob mein unstetes Gemüt sich nicht vielleicht dort herausgebildet hat.

Wenn ich an schönen Abenden im Mai aus der Schule kam, betrachtete ich aus meinem Studierzimmer im ersten Stock die gegenüberliegenden Hügel. Der Widerschein der sinkenden Sonne auf dem frischen Grün der Hänge erweckte in mir den Eindruck eines goldenen Wandschirms in den Feldern.

Dieser Anblick rief mir stets den Goldenen Pavillon vor Augen.

Obwohl ich mir hin und wieder Fotos und Schulbuchabbildungen des echten Goldenen Pavillons – des Kinkaku – ansah, überwog in mir das Bild, das ich mir aus den Erzählungen meines Vaters gemacht hatte. Auch wenn er, glaube ich, nie vom goldenen Glanz des Pavillons gesprochen hatte, so gab es ihm zufolge jedoch nichts Schöneres auf Erden, und allein beim Anblick der Schriftzeichen –  – und beim Klang des Wortes Kinkaku malte ich mir etwas ganz Unerhörtes aus.

Die in der Ferne im Sonnenschein leuchtenden Felder erschienen mir wie ein Abglanz des Goldenen Pavillons, den ich in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte. Im Osten des Dorfes markierte der Yoshizaka-Pass die Grenze zwischen den Präfekturen Fukui und Kyoto. Und obwohl die Stadt Kyoto ja eigentlich in entgegengesetzter Richtung lag, sah ich, wenn über dem Pass die Sonne aufging, dort den Goldenen Pavillon in den Morgenhimmel ragen.

So erschien mir der Kinkaku überall. Doch da er ja nicht wirklich zu sehen war, bestand für mich außerdem eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Meer. Denn obgleich die Bucht von Maizuru kaum fünf Kilometer westlich von Shiraku lag, verdeckten die Berge die Sicht auf die See, von der dennoch stets eine Ahnung in der Luft lag. Bisweilen trug der Wind ihren Geruch zu uns herüber, und bei Sturm suchten Scharen von Möwen in den Feldern Schutz.

Ich war ein schwächliches Kind und den anderen Jungen nicht nur im Wettlauf oder am Reck unterlegen, auch stotterte ich, seit ich denken konnte, wodurch meine Hemmungen beständig wuchsen. Außerdem wussten alle, dass ich aus einem Tempelhaushalt stammte, und die besonders Boshaften verhöhnten mich, indem sie einen rezitierenden Mönch nachäfften, der Sutren hervorstotterte. Außerdem gab es in unserem Lesebuch eine Geschichte über einen stotternden Polizeispitzel aus der Edo-Zeit, und auch hier bot es sich an, mir diese Stellen immer wieder mutwillig laut vorzulesen.

Unnötig zu erwähnen, dass mein Stottern eine Barriere zwischen mir und meiner Außenwelt darstellte. Es war der erste Laut, den ich nie richtig herausbrachte. Dieser erste Laut war wie das Schloss an der Tür zwischen meinem Inneren und dem Außen, und nie ließ es sich reibungslos öffnen. Die meisten Menschen geboten frei über ihre Rede, wodurch die Tür zwischen Innen- und Außenwelt stets angelehnt blieb und ein ständiger Luftzug hindurchstrich, aber bei mir war das partout nicht möglich. Das Schloss an meiner Tür war verrostet.

Das Gestotter, mit dem ich verzweifelt versuchte, mich vom zähen Leim meiner inneren Welt zu lösen, um den ersten Laut hervorzubringen, glich dem Flattern eines gefangenen Singvogels. Und hatte ich ihn endlich hervorgestoßen, diesen Laut, war es zu spät. Oftmals stellte ich mir vor, wie die äußere Wirklichkeit, die Hände in den Schoß gelegt, wartete, während ich mich abzappelte. Doch eine Wirklichkeit, die allzu lange warten musste, war nicht mehr frisch. Kaum war ich mühsam in ihr angekommen, war sie bereits verblichen oder hatte sich verschoben, war nur noch ein Abklatsch, der jeder Unmittelbarkeit entbehrte und einen ranzigen Geruch ausdünstete, gerade so, wie es zu mir passte.

Man kann sich leicht vorstellen, dass ein Junge wie ich einem zwiespältigen Machtwillen frönte. Ich liebte Darstellungen von historischen Tyrannen. Wäre ich ein stotternder, stummer Tyrann, würden meine Untertanen furchtsam jede Regung in meinem Gesicht verfolgen und von morgens bis abends in Angst und Schrecken vor mir leben. Ich hätte es nicht nötig, meine Grausamkeit in flüssigen geschliffenen Worten zu verteidigen. Jede Brutalität war gerechtfertigt, ohne dass ich etwas sagen musste. So ergötzte ich mich an Fantasien von der Hinrichtung meiner Lehrer und Mitschüler, die mich tagtäglich verhöhnten. Zugleich jedoch träumte ich davon, ein genialer, von friedvollen Visionen erfüllter Künstler zu sein, der über tiefe innere Einsichten verfügte. Mochte meine äußere Erscheinung noch so armselig sein, meine innere Welt war reicher als die aller anderen. War es ein Wunder, dass ein mit diesem unauslöschlichen Makel behafteter Junge sich insgeheim für auserwählt hielt? Irgendwo auf der Welt wartete eine unbekannte Mission auf mich, das spürte ich.

Folgende Episode ist mir im Gedächtnis geblieben.

Die neuen hellen Gebäude der Mittelschule Maizuru Ost lagen auf einem weitläufigen Gelände inmitten schöner Hügel. An einem Tag im Mai stattete ein ehemaliger Schüler, inzwischen Student an der Ingenieurschule der Kriegsmarine, uns in seinem Urlaub einen Besuch ab.

Er war sonnengebräunt, und unter seiner tief ins Gesicht gezogenen Mütze ragte eine markante Nase hervor. Überhaupt entsprach er von Kopf bis Fuß dem Bild eines jungen Helden. Er baute sich vor den Jüngeren auf, um ihnen von seinem harten, strengen Vorschriften unterworfenen Leben zu berichten. Allerdings schilderte er dieses vermeintlich karge Dasein in einem Ton, als sei es der reine Luxus und er lebe in Saus und Braus. Jede seiner Gesten war großspurig, aber er verstand es auch, eine gewisse jugendliche Bescheidenheit zu seinen Gunsten in die Waagschale zu werfen. In der mit Litzen verzierten Uniform und mit seiner herausgestreckten Brust wirkte er schneidig wie eine Galionsfigur im Sturm auf hoher See.

Er saß auf einer der Stufen der kurzen Kalktufftreppe, die zum Sportplatz hinunterführte, umringt von ein paar ihm begeistert lauschenden Schülern. Über ihnen schwankten die üppigen weißen Blüten einer Magnolie, und auf den Beeten an der Böschung blühten Tulpen, Wicken, Anemonen und Mohnblumen.

Ich, dem Erzähler und Zuhörer reglos wie Statuen erschienen, saß etwa zwei Meter entfernt allein auf einer Bank am Sportplatz. Dies war meine Art der Achtung. Der Achtung vor den Blumen, der stolzgeschwellten uniformierten Brust und dem hellen Gelächter.

Inzwischen schenkte der junge Held mir größere Aufmerksamkeit als seinen Bewunderern. Offenbar war ich der Einzige, der sich seiner Herrlichkeit nicht beugte, und dieser Gedanke verletzte seinen Stolz. Er fragte die anderen nach meinem Namen.

»He, du, Mizoguchi, komm rüber«, rief er gleich darauf, obwohl er mich ja gar nicht kannte. Schweigend starrte ich ihn an. Die Art, in der er mir zulachte, hatte etwas von der Gefallsucht eines Mächtigen.

»He, gib Antwort! Bist wohl stumm, du Wicht?«

»Er st… st…stottert«, antwortete einer der Bewunderer an meiner Stelle, und alle brachen in Hohngelächter aus, das immer etwas Grelles hat. Das grausame Lachen meiner Schulkameraden, so typisch für ihr Alter, blendete mich wie in gleißender Sonne flirrendes Laub.

»Soso, du stotterst also. Dann geh doch auf die Marineschule. Dort prügeln sie dir die Stotterei in einem Tag aus dem Leib.«

Ich weiß nicht, wie, aber ich antwortete prompt und zudem verständlich. Ungehindert und ohne Willensanstrengung flossen die Worte aus meinem Mund.

»Nein, das mache ich nicht. Ich werde Mönch.«

Alle verstummten. Der junge Held bückte sich, pflückte einen Grashalm und steckte sich ihn in den Mund.

»Aha. Dann gebe ich dir in ein paar Jahren bestimmt was zu tun.«

Der Pazifikkrieg hatte damals bereits begonnen.

In diesem Moment erwachte so etwas wie eine Selbsterkenntnis in mir. Mir wurde bewusst, dass ich mit ausgebreiteten Armen in einer dunklen Welt stand und wartete. Wartete, dass irgendwann die Blumen, die Uniform und meine boshaften Schulkameraden in meinen offenen Armen landen würden. Dass ich mit meiner Erkenntnis die Welt zu packen und aus den Angeln zu reißen vermochte. Doch sie machte mich nicht stolz, diese Erkenntnis, dazu war sie zu gewichtig.

Etwas, das mich stolz machen würde, musste leichter, heller, sichtbarer und strahlender sein. Es sollte allen deutlich ins Auge fallen. So etwas wie das Schwert an der Seite des Helden wäre genau das Richtige.

Dieses von sämtlichen Mittelschülern begehrte Schwert war wirklich eine Zierde. Es hieß, die Kadetten auf der Marineschule würden ihre Schwerter heimlich zum Bleistiftspitzen benutzen. Was konnte schneidiger sein, als ein so erhabenes Symbol für eine derart alltägliche Verrichtung zu verwenden!

Unversehens hatte der junge Held sich seiner Uniform entledigt und sie über den weiß gestrichenen Lattenzaun gehängt. Sogar die Hose und das weiße Hemd. So nahe den Blumen verströmten sie den Geruch der schweißfeuchten Haut des jungen Mannes, dass eine Biene irrtümlich auf dem strahlend weißen Hemd landete. Die mit Goldlitzen verzierte Mütze hing auf einem Pfosten, ordnungsgemäß tief sitzend wie auf seinem Kopf. Die Schüler hatten den jungen Mann zu einem Ringkampf herausgefordert, und alle gingen nun zu dem etwas entfernten Kampfplatz hinüber.

Die abgelegten Kleidungsstücke wirkten auf mich wie ein Ehrengrab, ein Eindruck, den die üppige Blumenpracht noch verstärkte. Darüber hinaus strahlten die Mütze mit ihrem glänzend schwarzen Schild und der Ledergurt mit dem Schwert, eben noch an seiner Seite und just abgelegt, eine gewisse lyrische Schönheit aus und waren ebenso vollkommen, wie er selbst es in meiner Erinnerung ist – sie waren die eines jungen Helden würdige Hinterlassenschaft.

Ich vergewisserte mich, dass niemand in der Nähe war. Während vom Kampfplatz anfeuernde Rufe herübertönten, zog ich das rostige Messerchen, mit dem ich meine Bleistifte spitzte, aus der Tasche, schlich zu dem bewunderten Schwert und schnitt ein paar hässliche Kerben in die Rückseite der schönen schwarzen Scheide.

Aus der vorangegangenen Schilderung mag der ein oder andere den voreiligen Schluss ziehen, ich sei ein poetisch veranlagter Jüngling gewesen. Dennoch habe ich bis zum heutigen Tag nichts niedergeschrieben, keine Aufzeichnungen, geschweige denn ein einziges Gedicht. Mir fehlte jeglicher Antrieb, meine Unterlegenheit gegenüber anderen durch eine besondere Fähigkeit wettzumachen und sie so zu übertrumpfen. Anders ausgedrückt, ich war zu anmaßend, um Künstler zu werden. Meine Träume, ein Tyrann oder ein großer Künstler zu sein, reichten nie über Fantastereien hinaus, und ich verspürte niemals die Lust, tatsächlich Hand anzulegen, um etwas zu leisten.

Da es mein einziger Stolz war, nicht verstanden zu werden, drängte es mich auch nie zu besonderem Ausdruck, um mich verständlich zu machen. Ich glaubte, Dinge, die für andere sichtbar waren, seien vom Schicksal nicht für mich bestimmt. So wurde meine Einsamkeit immer fetter, und ich mästete sie wie ein Schwein.

Plötzlich stoße ich in meiner Erinnerung auf einen tragischen Zwischenfall, der sich in unserem Dorf ereignete. Obwohl mir keinerlei Nachteil daraus erwuchs, werde ich das Gefühl nicht los, unmittelbar davon betroffen gewesen zu sein.

Dieses Ereignis konfrontierte mich auf einen Schlag mit allem – Leben, Sinnlichkeit, Verrat, Hass und Liebe, mit allem eben. Doch in meinem Gedächtnis verdrängte und leugnete ich absichtlich das Element des Erhabenen, das sich in alldem verbarg.

Zwei Häuser weiter vom Haus meines Onkels wohnte ein schönes Mädchen. Sie hieß Uiko und hatte große klare Augen. Ihre Familie war wohlhabend, und Uiko hatte ein gebieterisches Auftreten. Von allen verwöhnt, war sie gleichwohl einzelgängerisch, und man wusste nie, was sie dachte. Obwohl sie nicht einmal verheiratet war, tratschten eifersüchtige Geschlechtsgenossinnen, sie sei bestimmt unfruchtbar.

Gleich nach ihrem Abschluss an einer Mädchenschule meldete Uiko sich als freiwillige Krankenschwester im Marinehospital in Maizuru. Es war nicht sonderlich weit, sodass sie mit dem Fahrrad dorthin fahren konnte. Dennoch pflegte sie schon im Morgengrauen, etwa zwei Stunden, bevor mein Unterricht begann, zu ihrem Dienst aufzubrechen.

Eines Nachts lag ich in schwermütige Gedanken an Uikos Körper versunken in meinem Bett und konnte nicht schlafen, weshalb ich noch in der Dunkelheit aufstand, meine Turnschuhe anzog und in die Sommernacht hinauslief.

Es war nicht die erste Nacht, in der ich mich solchen Vorstellungen von Uiko hingab. Ihr Körper, an den ich so oft dachte, dass diese Gedanken sich allmählich als zähe Masse in mir absetzten, hatte sich in meiner Fantasie zu einer weißen, geschmeidigen, in halbdunkle Schatten getauchten, duftenden Gestalt verdichtet. Ich glaubte, sie berühren zu können, und spürte ihre Wärme an meinen Fingern. Sogar die Elastizität ihrer Haut und ihren Blütenduft nahm ich wahr.

Ich rannte also geradeaus den dunklen Weg entlang. Die Steine ließen mich nicht stolpern, und die Dunkelheit teilte sich und gab mir den Weg frei.

Ab einer gewissen Stelle wurde er breiter, und ich gelangte nach Yasuoka, einer Siedlung am Rande von Shiraku. An ihrem Eingang stand ein großer Keyakibaum, dessen Stamm feucht war vom Morgentau. Ich versteckte mich dahinter und wartete, dass Uiko auf ihrem Fahrrad vorbeikäme.

Ich wartete ohne bestimmten Vorsatz. Völlig außer Puste war ich angekommen, und nun, unter dem Keyakibaum, als mein Atem sich beruhigte, wusste ich nicht, was ich eigentlich hier wollte. Da ich lange ohne Verbindung zur Außenwelt gelebt hatte, bildete ich mir womöglich ein, ich bräuchte nur mit einem Sprung in sie einzutauchen, und alles wäre ganz leicht.

Mücken zerstachen mir die Beine. Hier und dort krähte ein Hahn. Als ich den Weg entlangblickte, sah ich etwas Helles in der Ferne schimmern, das ich anfangs für den ersten Schein der Dämmerung hielt, aber es war Uiko.

Uiko auf ihrem Fahrrad. Das Vorderlicht brannte. Lautlos glitt sie auf mich zu. Ich sprang hinter dem Baum hervor und vertrat ihr den Weg. Sie kam sofort zum Stehen.

In diesem Moment hatte ich das Gefühl, mich in einen Stein zu verwandeln. Mein Wille, mein Verlangen, alles wurde zu Stein. Wieder existierte die Außenwelt als ein starr Unverrückbares um mich herum, ohne jede Beziehung zu meinem Inneren. Mein atemloser Lauf in den weißen Turnschuhen vom Haus meines Onkels den dunklen Weg entlang bis zum Keyakibaum war nicht mehr als ein inneres Rennen gewesen. Den Dächern, deren Umrisse aus der Dämmerung ragten, den dunklen Baumgruppen, dem schwarzen Gipfel des Aobayama und sogar Uiko, die unmittelbar vor mir stand, fehlte es so vollständig an Sinn, dass ich erschrak. Alles um mich herum besaß eine Realität, an der ich jedoch keinerlei Anteil hatte. Zudem wurde diese bedeutungslose, gewaltige, nackte Wirklichkeit mir mit einer nie gekannten Schwere auferlegt, ja, aufgezwungen.

Wie üblich glaubte ich, Worte seien die einzige Rettung aus dieser Lage. Ein typischer Fehler von mir. Immer wenn ich handeln sollte, wurde ich von einem Drang nach Worten abgelenkt. Was gewiss daran lag, dass ich sie so schwer nur hervorbringen konnte und so das Handeln vergaß. Für mich sollten glanzvolle Taten stets von glanzvollen Worten begleitet sein.

Ich war wie blind. Aber ich glaube, Uiko blickte nur, furchtsam zunächst, aber sobald sie mich erkannt hatte, furchtlos auf meinen Mund. Sie sah wohl ein schäbiges dunkles kleines Loch, das sich unnütz im Finstern bewegte, ein kleines formloses Loch, schmutzig wie der Bau eines Feldnagers – nämlich meinen Mund. Sie wusste genau, dass er nicht die Kraft hatte, mich mit der Außenwelt zu verbinden, und fühlte sich sicher.

»Was soll der Blödsinn, Stotterer? Ganz schön frech!« Uikos Stimme klang frisch und kühl wie die Morgenbrise. Sie klingelte, trat in die Pedale und fuhr um mich herum wie um einen Stein, der ihr im Weg lag. Um diese Zeit war kein Mensch unterwegs, doch hörte ich sie lange spöttisch klingeln, während sie durch die Felder davonfuhr.

Am folgenden Abend suchte Uikos Mutter, der sie alles gepetzt hatte, meinen Onkel auf. Und er, der sonst so Sanftmütige, hielt mir eine strenge Strafpredigt. Ich verfluchte Uiko und wünschte ihr den Tod, ein Fluch, der einige Monate später in Erfüllung gehen sollte. Seither glaubte ich an die Wirksamkeit von Flüchen.

Tag und Nacht sehnte ich nun Uikos Tod herbei. Die Mitwisserin meiner Schande sollte verschwinden. Gäbe es keine Zeugen, wäre auch meine Schande von der Erde getilgt. Überhaupt waren alle anderen Menschen Zeugen. Wenn es also keine anderen Menschen gäbe, könnte so etwas wie Schande gar nicht erst entstehen. In Uikos Gesicht, in ihren Augen, die in der Dämmerung wie Wasser schimmerten und auf meinen Mund starrten, hatte ich die Welt der anderen gesehen, der anderen, die mich nie in Ruhe ließen und sich bereitwillig zu Komplizen und Zeugen machten. Sie alle mussten vernichtet werden. Die Welt musste vernichtet werden, damit ich aufrecht der Sonne entgegenblicken konnte.

Zwei Monate, nachdem sie mich verraten hatte, hörte Uiko im Marinehospital auf und ging nicht mehr aus dem Haus. Natürlich zerrissen sich die Leute im Dorf die Mäuler. Und im Spätherbst kam es dann zu dem bewussten Zwischenfall.

Niemand hätte auch nur im Traum vermutet, dass sich ein Deserteur von der Marine in unser Dorf geflüchtet hatte. Eines Tages betrat um die Mittagszeit ein Militärpolizist das Gemeindehaus. Das war keine Seltenheit, und niemand dachte sich etwas dabei.

Es war Ende Oktober und schönes Wetter. Ich war wie üblich in der Schule gewesen, hatte abends meine Hausaufgaben gemacht, und nun war es Zeit zu schlafen. Ich wollte gerade das Licht löschen, als ich unten auf der Dorfstraße eine Menge Leute keuchend wie eine Rotte Hunde herumrennen hörte. Ich lief die Treppe hinunter und traf im Flur auf einen aus meiner Klasse. »Die Militärpolizei hat Uiko verhaftet. Kommt alle mit!«, schrie er uns mit aufgerissenen Augen zu – mein Onkel und meine Tante waren ebenfalls aufgestanden.

Ich schlüpfte in meine Geta und rannte ins Freie. Es war eine schöne mondhelle Nacht, und die Gestelle, auf denen die Reisgarben trockneten, warfen scharf umrissene Schatten auf die abgeernteten Felder.

In einem Hain bewegten sich schwarze Gestalten. Auf dem Boden saß Uiko in einem dunklen Kleid. Ihr Gesicht war sehr weiß. Um sie herum standen vier oder fünf Militärpolizisten und ihre Eltern. Einer von ihnen hielt so etwas wie ein Bento in der Hand und schrie auf sie ein. Ihr Vater drehte den Kopf hierhin und dorthin, bald entschuldigte er sich bei den Polizisten, dann wieder beschimpfte er seine Tochter. Ihre Mutter kauerte schluchzend auf der Erde.

Wir sahen von der anderen Seite des Reisfeldes zu. Die Zahl der Schaulustigen wuchs, bis die Dorfbewohner stumm und dicht gedrängt Schulter an Schulter standen. Klein, wie geschrumpft, leuchtete der Mond über unseren Köpfen.

Mein Schulkamerad flüsterte mir zu, was sich zugetragen hatte. Uiko, die sich mit etwas zu essen aus dem Haus gestohlen habe, sei auf dem Weg in die Nachbarsiedlung von der Militärpolizei verhaftet worden, die ihr schon aufgelauert hatte. Das Essen habe sie zweifellos dem Deserteur bringen wollen, mit dem sie im Marinehospital etwas gehabt hatte. Als sie schwanger wurde, hatte man sie davongejagt. Die Militärpolizei verhöre sie nun, damit sie das Versteck des Deserteurs verrate, aber Uiko sitze bisher nur reglos da und schweige hartnäckig.

Ich starrte Uiko an, ohne zu blinzeln. Sie sah aus wie eine gefangene Wahnsinnige. Ihre vom Mond beschienenen Züge zeigten keine Regung.

Noch nie hatte ich ein so von Abwehr erfülltes Gesicht gesehen. Bei mir war es genau umgekehrt, mein Gesicht wurde von der Welt abgelehnt. Doch Uikos Gesicht wies die Welt zurück. Schonungslos ergoss der Mond sein Licht über ihre Wangen, Augen, Nase und Stirn, die jedoch so reglos waren, dass sie einfach davon überspült wurden. Ein Blinzeln, ein Zucken der Mundwinkel nur wären für die Welt, die Uiko von sich fernzuhalten versuchte, ein Zeichen gewesen, über sie hereinzubrechen.

Mit angehaltenem Atem betrachtete ich dieses Gesicht, dessen Geschichte an dieser Stelle abbrach und das nichts mehr über seine Vergangenheit, nichts über seine Zukunft aussagte. Ein seltsames Gesicht, wie wir es mitunter im Stumpf eines frisch gefällten Baumes erkennen. Auch wenn er noch eine gesunde lebendige Farbe hat, so ist doch sein Wachstum unterbrochen, er ist dem Wind und der Sonne ausgesetzt, denen er nicht ausgesetzt sein sollte, und wir erkennen in seiner schön gemaserten Schnittfläche, plötzlich erbleicht in einer Welt, die nicht ihre ist, dieses wundersame Gesicht. Ein Gesicht, das sich der Welt darbot, um sich ihr zu widersetzen.

Unwillkürlich kam mir der Gedanke, dass Uikos Gesicht nie mehr in ihrem Leben und auch nicht in dem seines Betrachters so schön sein würde wie in diesem Augenblick. Doch war dieser Moment kürzer als vermutet. Abrupt zeichnete sich ein Wandel auf ihren schönen Zügen ab.

Uiko stand auf. Mir war, als sähe ich sie lachen. Als sähe ich ihre weißen Zähne im Mondlicht aufblitzen. Mehr kann ich über diesen Wandel nicht berichten. Denn als Uiko stand, floh ihr Gesicht das Mondlicht und verlor sich im Schatten der Bäume.

Ich bedauere, dass ich die Veränderung in Uikos Zügen in dem Moment, als sie sich zum Verrat entschloss, nicht sehen konnte. Hätte ich diesen Moment nicht versäumt, hätte er vielleicht in meinem Herzen den Keim der Vergebung gepflanzt und mir geholfen, den Menschen all ihre Abscheulichkeiten zu verzeihen.

Uiko deutete mit dem Finger auf den Hügel hinter der benachbarten Siedlung Kahara.

»Der Kongo-Tempel!«, schrie einer der Polizisten.

In mir wuchs eine Art kindlicher Übermut, und ich geriet in eine fast festliche Hochstimmung. Die Militärpolizisten beschlossen, sich aufzuteilen und den Kongo-Tempel von allen Seiten einzukreisen. Die Dorfbewohner wurden um Mithilfe gebeten. Aus Sensationsgier schloss ich mich mit fünf oder sechs anderen Jungen dem ersten Suchtrupp unter Uikos Führung an. Die Sicherheit, mit der sie, flankiert von zwei Polizisten, den mondbeschienenen Pfad entlangschritt, erstaunte mich.

Der Kongo-Tempel war eine Sehenswürdigkeit. Er lag etwa fünfzehn Minuten zu Fuß von Yasuoka entfernt. Er war berühmt für die Nusseiben, die Prinz Takaoka angeblich eigenhändig gepflanzt hatte, und die Jingoro Hidari zugeschriebene elegante dreistöckige Pagode. Im Sommer tummelten wir uns gern unter dem Wasserfall hinter dem Tempel.

Die Einfriedung des Hauptgebäudes lag zum Flussufer hin. Auf der verfallenen Lehmmauer wucherte Pampasgras, dessen weiße Spitzen auch im Dunkeln hell schimmerten. Am Tor zum Hauptgebäude blühten die Kamelien. Unsere Gruppe lief stumm am Fluss entlang.

Der Tempel befand sich oberhalb. Wenn man den aus einem Baumstamm bestehenden Steg überquerte, lagen zur Rechten die dreistöckige Pagode und zur Linken das für sein Herbstlaub bekannte Ahornwäldchen. Dahinter führten einhundertfünf bemooste Steinstufen steil bergauf. Sie waren aus Kalkstein, und man konnte leicht darauf ausgleiten.

Bevor wir den Steg überquerten, wandten sich die Polizisten um und bedeuteten uns, stehen zu bleiben. In alten Zeiten sollte hier ein von Tankei und Unkei geschaffenes Tor mit zwei Wächterfiguren gestanden haben. Ab hier waren das Kujuku-Tal und die umgebenden Hügel in Tempelbesitz.

Wir hielten den Atem an.

Die Militärpolizisten drängten Uiko vorwärts. Sie überquerte allein den Steg, wir folgten ihr. Der untere Teil der Treppe lag im Dunkeln. Doch ab ungefähr der Hälfte war sie vom Mond beleuchtet. Wir hielten uns im Schatten der Bäume. Ihr Laub, das sich schon zu verfärben begann, wirkte schwarz im Licht des Mondes.

Oberhalb der Steintreppe lag das Allerheiligste des Tempels, links davon führte ein überdachter Korridor zu einer offenen Halle, die als Bühne für die Aufführung von heiligen Kagura-Tänzen gedacht schien. Sie war der Terrasse des Kiyomizu-Tempels in Kyoto nachempfunden, und zahlreiche Balken und Träger stützten die Konstruktion von unten, damit sie über den Abgrund ragen konnte. Sämtliche Balken des Korridors und des Hauptschreins waren von Wind und Regen so hell und sauber gewaschen, dass sie an ein Skelett erinnerten. Wenn das Herbstlaub in seinen prächtigsten Farben leuchtete, harmonierte es wunderschön mit den gebleichten Knochen der Gebäude, doch nun wirkte das vom fahlen Mondlicht gesprenkelte Holzgerüst geheimnisvoll und wie verzaubert.

Der Deserteur hielt sich offenbar in der terrassenartigen Halle versteckt. Uiko sollte den Polizisten als Lockvogel dienen.

Wir, die im Schatten verborgenen Zeugen, wagten kaum zu atmen. Selbst in der Kühle der Oktobernacht brannten mir die Wangen.

Allein stieg Uiko die einhundertfünf Kalksteinstufen hinauf, augenscheinlich von wahnwitzigem Stolz besessen. Zwischen ihrem schwarzen Kleid und ihrem schwarzen Haar war nur ihr schönes weißes Profil zu erkennen.

Umgeben von Mond und Sternen, nächtlichen Wolken, den Hügeln, die den Himmel mit den Zacken ihrer spitzen Zedern streiften, den Sprenkeln des Mondlichts und dem fahl schimmernden Gebäude, berauschte mich die klare Schönheit von Uikos Verrat. Sie war dazu berufen, allein und mit stolzgeschwellter Brust die hellen Steinstufen emporzusteigen. Ihr Verrat war Sternen, Mond und Zedern ebenbürtig. Dennoch lebte sie mit uns, den Zeugen, auf dieser Welt und stieg als unsere Stellvertreterin dort hinauf.

Atemlos durchfuhr mich ein Gedanke.

»Durch ihren Verrat hat sie endlich auch mich angenommen. Jetzt gehört sie mir.«

Sogenannte bedeutsame Ereignisse schwinden ab einem gewissen Zeitpunkt aus unserem Gedächtnis. Dennoch habe ich noch genau vor Augen, wie Uiko die einhundertfünf moosüberwachsenen Stufen hinaufstieg. Und mir ist, als würde sie sie für alle Ewigkeit hinaufsteigen.

Doch inzwischen sah ich sie ganz anders. Vielleicht hatte Uiko, als sie die Stufen hinaufstieg, mich – uns – ein weiteres Mal betrogen. Dann hätte sie vorher weder die ganze Welt abgelehnt noch angenommen. Sie hätte sich dem Gebot bloßer Leidenschaft unterworfen und sich für einen Mann zu dessen Frau erniedrigt.

Deshalb kann ich mich an die folgende Szene nur wie an eine alte Lithografie erinnern. Uiko durchquerte den Korridor und rief ins Dunkel der Halle hinein. Die Silhouette eines Mannes erschien. Uiko sagte etwas zu ihm. Der Mann richtete eine Waffe auf die Steintreppe und schoss. Die Polizisten im Gebüsch an der Treppe erwiderten das Feuer. Der Mann legte an und schoss Uiko, die in Richtung Korridor zu entkommen suchte, mehrmals in den Rücken. Sie brach zusammen. Der Mann hielt sich die Mündung der Waffe an die Schläfe und drückte ab.

Alle, die Polizisten voran, rannten die Treppe hinauf und eilten zu den beiden Leichen, während ich ruhig im Schatten des sich verfärbenden Ahorns blieb. Ein Gewirr von hellem Gebälk ragte über mir empor. Sacht prasselte das Getrappel der Schuhe auf den Dielen des Korridors auf mich herab. Sich kreuzende Lichtkegel von Taschenlampen streiften über das Geländer bis in die Spitzen des Ahorns.

Alles, was geschehen war, erschien mir auf einmal sehr fern. Stumpfe Menschen empfinden kein Entsetzen, solange kein Blut fließt. Doch ist einmal Blut geflossen, ist die Tragödie schon geschehen.

Ich musste eingenickt sein. Als ich erwachte, war ich allein. Offenbar hatte man mich vergessen. Um mich herum zwitscherten die Vögel, und die Morgensonne drang durch die Ahornzweige. Das weiße, von ihr beschienene Gebein der Gebäude wirkte wie auferstanden. Still und stolz ragte die Halle in das Tal aus farbigem Laub.

Ich stand auf und rieb mir fröstelnd die Gliedmaßen. Die Kälte war mir bis ins Mark gedrungen. In mir war nur noch Kälte.

***

In den Ferien im nächsten Frühjahr besuchte mein Vater mich bei meinem Onkel. Über der damals üblichen Kriegsuniform für Zivilisten trug er den Kesa, die Robe des buddhistischen Priesters. Er sagte, er wolle für einige Tage mit mir nach Kyoto fahren. Sein Lungenleiden war weit fortgeschritten, und ich erschrak über seinen Verfall. Wenngleich nicht nur ich, sondern auch mein Onkel und meine Tante ihn von der Reise abzuhalten versuchten, hörte er nicht auf uns. Später dachte ich, dass mein Vater mich, solange er noch am Leben war, dem Abt des Tempels vom Goldenen Pavillon vorstellen wollte.

Natürlich träumte ich seit Jahren davon, den Goldenen Pavillon zu besuchen, doch hatte ich keine Lust, mit meinem Vater auf Reisen zu gehen, der wie für jeden ersichtlich ein schwer kranker Mann war, auch wenn er sich noch so beherzt und tapfer gab. Außerdem ergriff mich Kleinmut bei der Aussicht, endlich dem noch unbekannten Kleinod gegenüberzustehen. Vor allem musste der Goldene Pavillon schön sein, ich setzte also mehr auf meine Fähigkeit, das Bild seiner Schönheit in mir zu beschwören, als auf die Schönheit des Kinkaku selbst.

Ich wusste bestens über den Goldenen Pavillon Bescheid, zumindest soweit es der Verstand eines Jungen in meinem Alter zuließ. Folgendes hatte ich in einem Kunstbuch über die Geschichte des Tempels gelesen.

»Shogun Yoshimitsu Ashikaga übernahm das Anwesen der Familie Saionji in Kitayama und baute es zu einem großzügig angelegten Sommersitz um. Die Gebäude hatten hauptsächlich buddhistische Funktion. Zu ihnen gehörte die Reliquienhalle, eine Halle für das Heilige Feuer, der Sutrenspeicher, die Halle des Dharmawassers, weiterhin Wohn- und Schlafquartiere, Unterkünfte für die Hofadligen, eine Versammlungshalle, die Himmelsspiegelpagode, die Polarsternwarte, der Quellenpavillon und der Schneepavillon. Besondere Sorgfalt verwendete man beim Bau der Shariden, der Reliquienhalle, die später der Goldene Pavillon genannt wurde. Es ist nicht eindeutig zu bestimmen, ab wann sie diesen Namen erhielt, aber man vermutet, es geschah nach dem Onin-Krieg (1467–1477). In der Bunmei-Zeit (1469–1487) scheint er bereits allgemein gebräuchlich gewesen zu sein.

Der Goldene Pavillon ist ein zweistöckiges Gebäude mit Blick auf einen großen Teich, den sogenannten ›Spiegelsee‹. Fertiggestellt wurde er vermutlich 1398, Erdgeschoss und erste Etage wurden im Shinden-Stil gebaut, verfügen demnach über großzügige, helle, auf den Garten ausgerichtete Räumlichkeiten mit Gitterläden, die Licht hereinlassen, aber Wind und Regen abhalten. Der zweite Stock ist ein Raum von fünf mal sechs Metern und im reinen Zen-Stil konzipiert mit für diese Architektur typischen Paneeltüren und Kadomado, also glockenförmigen Fenstern mit einer Spitze, an allen vier Seiten. Das Dach im pyramidenförmigen Hokei-Stil ist aus Zypressenrinde und von einem Phönix aus vergoldeter Bronze gekrönt. Überdies gibt es den Sosei, den kleinen ›Angel‹- oder Seitenpavillon, dessen Giebeldach über den Teich ragt und damit die Monotonie des Ensembles durchbricht. Alle Dächer sind sanft geschwungen, die Vordächer nicht übertrieben verziert, ihr Holz ist leicht, hell und elegant. Der Kinkaku ist ein harmonisches Meisterwerk aus Elementen buddhistischer Garten- und Palastarchitektur. Yoshimitsus die höfische Kultur repräsentierender Geschmack vermittelt uns ein hervorragendes Bild von der Atmosphäre der damaligen Epoche.

Nach Yoshimitsus Ableben wurde das Anwesen zu Kitayama seinem Letzten Willen entsprechend in ein Zenkloster umgewandelt und Rokuonji – Hirschgartentempel – genannt, sodass der Tempel allgemein unter den beiden Namen – Kinkakuji oder Rokuonji – bekannt ist. Zahlreiche Gebäude wurden verlegt oder verfielen. Allein der Goldene Pavillon blieb glücklicherweise vollständig erhalten.«

Geschaffen als ein Symbol des Lichts in dunklen Zeiten, glich der Goldene Pavillon dem Mond am nächtlichen Himmel. So benötigte er in meiner Fantasie einen ihn dicht umschließenden dunklen Hintergrund, vor dem das schöne Gebäude sanft von innen heraus leuchtend und still auf seinen schlanken Pfeilern stand. Wie auch immer die Menschen seine Architektur beschrieben, der schöne Goldene Pavillon musste, stumm sein zartes Gefüge preisgebend, der ihn umgebenden Finsternis trotzen.

Ich dachte auch an den vergoldeten Phönix auf seiner Spitze, der Jahr für Jahr Wind und Wetter ausgesetzt war. Der mythische goldene Vogel, der niemals die Zeit ankündigte und niemals mit den Flügeln schlug, hatte zweifelsohne vergessen, dass er ein Vogel war. Doch es wäre falsch zu glauben, dass er nicht flog. Während andere Vögel sich in die Lüfte erhoben, glitt der goldene Phönix auf seinen glänzenden Schwingen in Ewigkeit durch die Zeit. Die Zeit bewegte seine Flügel. Sie floss rückwärts, indem sie mit ihnen schlug. Um zu fliegen, brauchte der Phönix nur reglos und zornig dreinblickend, mit ausgebreiteten Flügeln und gespreizten Schwanzfedern, fest auf seinen stattlichen goldenen Beinen zu stehen.

Bei diesen Überlegungen erschien mir der Goldene Pavillon selbst wie ein schönes Schiff, das den Ozean der Zeit überquerte. Das »luftige Gebäude mit seiner geringen Anzahl an Wänden«, wie es in dem Kunstband hieß, erweckte in mir die Vorstellung von einem Schiff. Den Spiegelsee, den dieses filigrane zweistöckige Hausboot überblickte, empfand ich als Symbol des Meeres. Der Goldene Pavillon durchquerte eine unermessliche Nacht, befand sich auf einer Überfahrt, von der niemand wusste, wann sie enden würde. Tagsüber lag dieses wundersame Schiff vor Anker, als wisse es von nichts, und ließ sich von den Massen begaffen, doch sobald es Nacht wurde, zog es Kraft aus der umgebenden Dunkelheit und stach seine Dächer blähend wie Segel in See.

Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, die erste wahre Schwierigkeit, auf die ich in meinem Leben stieß, war die Schönheit. Mein Vater war nur ein einfacher Priester vom Land, seine Sprache war begrenzt, und er hatte mir lediglich beigebracht, dass es »auf der ganzen Welt nichts Schöneres« gab als den Goldenen Pavillon. Bei dem Gedanken, dass diese Schönheit an einem mir unbekannten Ort existierte, konnte ich mich der Unzufriedenheit und Unruhe nicht erwehren. Wenn die Schönheit sich wirklich dort befand, war mein ganzes Sein von ihr ausgeschlossen.

Dennoch war der Goldene Pavillon für mich niemals nur eine Idee. Auch wenn die Berge mir den Blick auf ihn versperrten, war er doch ein Gegenstand, zu dem ich, wenn ich wollte, fahren konnte, um ihn mir anzusehen. Seine Schönheit war ein Ding, das sich deutlich auf der Netzhaut abbildete und das man mit den Fingern zu berühren vermochte. Ich glaubte daran, ja, ich wusste, dass der Goldene Pavillon in all dem Wandel unwandelbar existierte.

Mitunter stellte ich mir den Goldenen Pavillon als ein zierliches, fein gearbeitetes Modell vor, das Platz in meiner Hand hatte, dann wieder erschien er mir als ein gewaltiger geheimnisvoller Tempelkomplex, der endlos in den Himmel ragte. Für einen Jungen wie mich kam es nicht infrage, dass Schönheit weder winzig klein noch riesengroß war, sondern auch eine angemessene Größe haben konnte. Von glitzerndem Tau benetzte kleine Sommerblumen waren für mich schön wie der Goldene Pavillon. Genauso erinnerten mich gewaltige, hinter den Bergen aufziehende dunkle Gewitterwolken mit goldschimmernden Rändern an ihn. Schließlich ging es so weit, dass ich jedes schöne Gesicht, dem ich begegnete, im Geist als »schön wie der Kinkaku« titulierte.

Es wurde eine trübsinnige Reise. Wir fuhren mit der Maizuru-Bahn vom Westbahnhof über Ayabe mit Halt an allen möglichen kleinen Stationen wie Magura oder Uesugi nach Kyoto. Der Zug war nicht nur schmutzig, sondern in den zahlreichen Tunneln entlang der Hozu-Schlucht drang erbarmungslos rußiger Rauch ins Abteil, weshalb mein Vater immer wieder von Hustenanfällen geschüttelt wurde.

Die meisten anderen Fahrgäste hatten mehr oder weniger etwas mit der Marine zu tun. Die dritte Klasse war voll von Angehörigen auf dem Rückweg von ihren Besuchen bei Unteroffizieren, Matrosen, Arbeitern und an Land stationierten Soldaten der Marine.

Ich sah aus dem Fenster auf den von dunklen Frühlingswolken verhangenen Himmel. Dann blickte ich auf die Robe, die mein Vater über der Volksuniform trug, und dann auf einen jungen Unteroffizier, dessen kräftige Brust die goldenen Knöpfe seiner Uniform zu sprengen schien. Mir war, als stünde ich dazwischen. Bald war ich volljährig und würde eingezogen. Aber würde ich als Soldat meine Aufgabe so hingebungsvoll erfüllen können wie dieser Unteroffizier? Jedenfalls stand ich mit jeweils einem Fuß in einer der beiden Welten, die sich mir hier präsentierten. Ungeachtet meiner Jugend, spürte ich unter meiner hässlichen, bornierten Stirn, dass die Welt des Todes, in der mein Vater herrschte, und die Welt des Lebens dieses jungen Mannes durch den Krieg als Mittler verbunden waren. Ich stand am Knotenpunkt. Und würde ich fallen, würde es sich letzten Endes als gleichgültig erweisen, welchen der vor mir liegenden Wege ich einschlug.

Zwielicht trübte meine Jugend. Die Welt der dunklen Schatten machte mir Angst, aber auch ein Leben im hellen Licht des Tages entsprach mir nicht.

Während ich mich um meinen unentwegt hustenden Vater kümmerte, blickte ich hin und wieder hinaus auf den Hozu. Er war von einem intensiven Ultramarinblau wie Kupfersulfat, das man für chemische Experimente verwendet. Sooft wir einen Tunnel verließen, war er entweder weiter von den Schienen entfernt oder unerwartet nah und schoss wirbelnd wie ein blauer Schleifstein die glatten Felsen entlang.

Mein Vater genierte sich, als er seine Proviantschachtel mit Klößen aus weißem Reis im Zug vor aller Augen öffnete. »Der Reis stammt nicht vom Schwarzmarkt«, erklärte er laut, sodass es alle hören konnten. »Meine Gemeindemitglieder waren so freundlich, ihn mir zu schenken. Ich kann sie guten Gewissens verzehren.« Aber dann schaffte er gerade mal eins von den mickrigen Klößchen.

Es erschien mir fast unvorstellbar, dass dieser verrußte alte Zug die kaiserliche Hauptstadt zum Ziel hatte. Mir kam es eher vor, als wäre er unterwegs zum Hauptbahnhof des Todes. Der Rauch, der in jedem Tunnel den Waggon erfüllte, roch auf einmal nach Krematorium.

Als wir vor dem Haupttor des Rokuonji – des Hirschgartentempels – standen, schlug mir das Herz bis zum Hals. Gleich würde ich das Schönste sehen, das es auf der Welt gab.

Die Sonne sank bereits, und die Hügel waren in Dunst gehüllt. Vor und hinter uns durchschritten Besucher das Tor. Links davon stand in einem Hain aus noch blühenden Pflaumenbäumen ein Glockenturm.

Mein Vater erkundigte sich am Eingang zur Haupthalle, vor dem eine große Spitzeiche stand. Der Abt habe einen Gast, so teilte man uns mit, und wir müssten uns noch etwa eine halbe Stunde gedulden.