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Regina Schleheck

Mörderisches Bergisches Land

11 Krimis und 125 Freizeittipps

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Zum Buch

Abgründig Bergisch Wer beim Bergischen Land Wanderschuhe assoziiert, mag auf die falsche Fährte geraten: Nicht der gebirgigen Landschaft verdankt die Region ihren Namen, sondern dem Adelsgeschlecht derer von Berg, das sie zu politischer Blüte brachte. Bodenschätze, Wasserreichtum und protestantisches Ethos sorgten für wirtschaftlichen Boom. Natur und Kultur zeichnen es als (Nah-)Erholungsgebiet aus, das per Pedes, auf Rädern, Schienen, auch schwebend, erobert werden kann. Dass in Schluchten und Schlachten gelegentlich jemand auf der Strecke geblieben sein dürfte, führt Regina Schleheck in 11 spannenden Kurzkrimis mit verschiedenen Protagonisten an unterschiedlichsten Schauplätzen auf bitterböse, schwarzhumorige und zu Herzen gehende Weise aus. Trotz der historischen Namensherkunft: Eines können Land, Leute und Lektüre nicht: platt.

Regina Schlehecks Biografie hat in ihrer Bibliografie Niederschlag gefunden. In der Bergischen Metropole Wuppertal geboren, in Köln aufgewachsen, lebt die hauptberufliche Oberstudienrätin, freiberufliche Autorin, Herausgeberin und Referentin sowie fünffache Mutter heute in Leverkusen an der Grenze von Rheinland und Bergischem Land. Seit 2002 veröffentlicht sie Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane, Hörspiele und mehr, wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Phantastik Preis sowie dem Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Kurzkrimi. Mit dem „Mörderischen Bergischen Land“ legt sie nun den vierten Krimi-Band im Gmeiner Verlag vor, jeder davon mit eigenem biografisch begründeten regionalen Schwerpunkt.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Mörderisches Leverkusen und Umgebung (2018)

Der Kirmesmörder - Jürgen Bartsch (2016)

Wer mordet schon in Köln? (2016)

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © sehbaer_nrw / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6174-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Fieberkurve

 

Vibrieren auf Glas. Sie schreckte aus wirren Träumen hoch. Corega-Tabs und Power-Sprühflaschen wirbelten im Schleudergang durch ihr Hirn, verblassten, die Drehzahl verlangsamte sich. Der Schwindel blieb. Verfluchte Frittierkörbe! Horst war in dem Punkt seit einigen Wochen überpenibel. Der »Wütenden Wanze«  war das Gesundheitsamt auf den Panzer gerückt. Manchmal schaffte sie es einfach nicht. An Sonn- und Feiertagen bei entsprechendem Wetter brummte die Bude. Aus Hückeswagen 2, Wipperfürth 3, Radevormwald  und Wermelskirchen  kamen sie zur Bever-Talsperre  gefahren, geknattert und geradelt. Marga konnte gar nicht so schnell Fritten nachbrutzeln, wie sie ihr aus den Händen gerissen wurden. Wer mochte da nach Feierabend noch zur Bürste greifen? Klar, wenn sie es zu lange vor sich herschob, hatte sie ein Problem. Aber auch Tricks parat. Manuell. Maschinell. Im Eimer einweichen. Kochendes Wasser, konzentriertes Spülmittel, Essig, Grill- oder Gebissreiniger. In einen Kopfkissenbezug stopfen und im Kochgang in der Waschmaschine. Mit Natronlauge oder WC-Reiniger in der Wanne. Rückstände mussten eliminiert, Fett aufgefangen, gesammelt und entsorgt werden. Dennoch: Sollte nicht jeder seins wegkriegen?

Ihr Kopf dröhnte. Doch der letzte Gedanke gab ihr Kraft. Sie rollte auf die Seite und griff nach dem Smartphone auf dem Nachttisch. Dabei fegte sie ihren Ring von der Glasplatte. Jürgens Foto im Aufstellrähmchen guckte streng. Sie drehte es zur Wand und tastete ächzend auf dem Boden nach dem Ring. Er musste unters Bett gerollt sein. Der Ring. Jürgen war seit gestern nicht wieder in die gemeinsame Schlafstätte geplumpst. Wie sollte man diesen Vorgang auch anders bezeichnen? Sein aktueller Leibeszustand hatte mit dem im Rähmchen nicht mehr viel gemein. Die Sprungfedern ächzten, wenn er sich auf der Matratze niederließ. Wenn er sie – hieß es »zunehmend selten« oder »abnehmend häufig«? – bestieg, wusste sie oft nicht, was ihr größere Sorge bescherte: dass der Rahmen nachgeben oder seine Oberarmkraft nachlassen könnte. Sobald er kam, wand sie sich blitzschnell unter ihm hervor, um nicht unter drei zuckenden Zentnern begraben zu werden. Atemberaubende Körperfülle!

Erschwerend kam hinzu, dass ihr BMI auch nicht mehr dem im Bilderrähmchen links neben dem Bett entsprach. Dass Jürgen ihr die BMW überlassen hatte, lag nicht nur daran, dass er sich etwas Besseres leisten wollte. Er hatte Ballast loswerden wollen. No more Sozia. Seitdem fuhr er solo.

Mühsam stemmte sie sich hoch, rollte auf den Rücken. »Get up!«, sang es in ihrem Kopf. »Like a sexmachine!« Entsperrte das Smartphone. 7 Uhr! Wie lange hatte sie geschlafen? Eine Nachricht. Die Buchstaben auf dem Display tanzten vor ihren Augen. »Geilomat«, entzifferte sie, war gleichzeitig sauer und fühlte sich ertappt. Konnte er Gedanken lesen? Nach zwei Jahrzehnten hatte sich ein gewisser Gleichklang eingestellt. Neben dem, was ihr zunehmend zu schaffen machte. Die Augen tränten. Sie legte das Handy weg. Wo war das Fieberthermometer? Tastete das Laken ab. Erst als sie das Kopfkissen mit einem Ruck wegzog, war das blöde Teil wieder da. Der Schleudergang auch. Was half: Hochlage, Kissen unter den Kopf stopfen, Schrankknauf fixieren, Temperaturmesser unter die Zunge, Nasenatmung, Konzentration.

Nicht einmal angerufen von unterwegs! Gefragt, wie es ihr ging. Nur eine Messenger-Nachricht am zweiten Tag. Geilomat!

Ping! Als sie das Thermometer herausziehen wollte, klebte es an der Zunge. Ein Himmelreich für einen Tee! Wenigstens ein Wasser! Anzeige fixieren. Blinzeln. 39 noch was.

Die Tour war ihm wichtiger gewesen. 39 noch was und Jürgen jottwedee. Kawa, Kumpels, Campen. Skihütte Egen ! Ein Witz! Es ging nur ums Saufen! Zwei Stunden im großen Bogen um die Kerspetalsperre 8, Abstecher in den Märkischen Kreis, über Großfastenrath  zurück, in der Hütte aufschlagen, Jungskram machen. Am nächsten Tag schliefen sie bis abends den Rausch aus, ehe sie wieder halbwegs auf den Maschinen sitzen konnten, um die paar Kilometer bis nach Hause zu schaffen.

»Eine Männertour, komm, Marga!«, hatte er gesagt. Gemeint: »Geh! Bleib weg!« Ergänzte: »Dir geht’s doch eh nicht gut. Dann hast du deine Ruhe. Morgen Abend bin ich zurück. Versprochen! Heike, Moni und Beate bleiben auch zu Hause.«

Okay. Aber die lagen jetzt nicht mit 39 noch was im Bett. Sie hatte an ihn gedacht! Obwohl es ihr selbst richtig scheiße ging! Eine Tüte Pommes und Würstchen eingepackt für ihn, Frittenfett abgefüllt. Horst um eins gesagt, es ginge nicht mehr. Erst auf dem Heimweg hatte sie gemerkt, wie sehr es sie erwischt hatte. Jede Streife hätte sie angehalten, so war sie geschlingert.

Als sie die Lider schloss, tanzten rote Pünktchen darunter. Hinter der Stirn rumorte es. War da nicht noch was gewesen? Auf dem Display! Der rote Punkt auf dem Telefonsymbol. Hatte er doch angerufen und sie es schlicht verpennt? Was hatte sie noch deliriert? Irgendwas mit den Frittenkörben, die sie nicht mehr gereinigt hatte. Erneut tränten die Augen, als sie das Smartphone entsperrte. Auf der Anrufliste Horsts Name. Klar! Wenn es nach ihm ginge, stände sie heute Abend wieder in der Küche. Ätzende Tipperei mit glühenden Fingern. Buchstabe für Buchstabe. Groß: »BIN KRANK!« Den Zusatz »LMAA« sparte sie sich. Ließ das Telefon fallen. Die Zunge klebte am Gaumen. Was half’s? Abwarten und Tee trinken war nicht. Aufstehen und Tee machen!

Der Weg zur Küche: hochstemmen, torkeln, festklammern. Wie viel Kraft es kostete, den Wasserkocher zu füllen und zurückzustellen! Fritten und Würstchen standen da wie bestellt und nicht weggeräumt. Sie stopfte sie in den Kühlschrank. Wer weiß, wie spät es werden würde. Sein Essen konnte er sich diesmal selbst machen. Das Fett! – Lag die Flasche noch im Fahrradkorb? Sie erinnerte sich nicht, sie ins Haus getragen zu haben. Da war nur Watte im Kopf. Egal! Nicht ihr Problem. Wo hatte Jürgen bloß den Kamillentee verräumt, verdammt? Wahrscheinlich weggeschmissen. Das sah ihm ähnlich. Als er das letzte Mal von seiner Männertour zurückgekommen war – wer hatte ihm Kotzkübel, Waschlappen und Tee gereicht?

Arschloch! Sie würde es ihm zeigen!

*

Doktor Kluthen war Kummer gewöhnt. Wer an der Bevertalstraße ein Häuschen hatte, musste die Menschen ertragen, die es zur Talsperre zog. Trotzdem. Das mit den Motorrädern ging ihm über die Hutschnur. Er hatte den Verkehrsausschuss des Kreises ultimativ aufgefordert, an den Wochenenden bei solchen Wetterlagen eine Straßensperre einzurichten. Also nicht die, die de facto vorlag, wenn die Biker sich an den Imbisswagen versammelten und schwere Maschinen im dreistelligen Bereich rechts abstellten. Links hockten die schwergewichtigen Besitzer breitbeinig auf der Leitplanke, Frittenschale, Bier oder Eistüte in der Hand, mit ledrigen Kumpels fachsimpelnd, die mit Bierdosen davorstanden, die Fahrrinne gefährlich verengend und nur widerwillig zurückweichend, wenn er, Doktor Kluthen, sich mit seinem Cabrio hupend einen Weg zu bahnen versuchte. Ein Parkplatz musste her. Irgendwo unten, schön weit weg. Hinter dem Beverteich. Ein Kilometer Fußmarsch bergauf. Die sollten was tun für ihr Vergnügen! So wie er, Doktor Kluthen, sein Leben lang geschuftet hatte für sein Häuschen in idyllischer Seenähelage. Für einen wohlverdienten Ruhestand, der diesen Namen verdiente: Ruhe. Eine Straßensperre, die ihren Namen verdiente, trug ein Durchfahrt-Verboten-Schild mit dem Zusatz »Anlieger frei«. Okay. Vermutlich würde man noch hinzufügen müssen: »Es ist kein Anliegen, bis an die Bever-Talsperre zu fahren, sein Motorrad am Straßenrand zu parken und sich ebenda an einer der beiden Imbissbuden zu stärken.« Er dachte an die Strecke nach Odenthal 10. Holzkreuze markierten den Weg zum Altenberger Dom. Sie waren den Idioten genauso egal wie das Durchfahrt-Verboten-Schild an der L 101. Nur Linienbusse und Anlieger! Tja. Direkt an der Abzweigung auf die L 310 stand ein Kiosk. Klar kamen die Bullen auf ihren Bikes von Zeit zu Zeit vorbei. Um Broschüren zum Thema Fahrsicherheit zu verteilen. Dann gab’s Polizei-Kaffee gratis und dumme Witze. Die steckten doch alle unter einer Decke! Bei gutem Wetter ging gar nichts mehr. Hupen war keine Lösung. Zumal es den Lärmpegel nur noch erhöhte. Die Krawallos, die meinten, sie müssten den Anwohnern so richtig zeigen, wie viel PS sie unter den Klöten hatten, indem sie ihre Maschinen im kleinsten Gang röhren ließen, erreichte man damit ohnehin nicht. Da war jedes Entgegenkommen für die Tonne. Müll! Noch so ein Thema. Wieso kriegten diese riesigen Kerle in Lederstramplern es nicht hin, ihre Hinterlassenschaften ordnungsgemäß zu entsorgen? Wer die Natur nicht schätzte, hatte ihr gefälligst fernzubleiben. Sollten die sich gleich auf der Deponie treffen! Gut, die in Großenscheidt war eine Erddeponie für Bodenaushub, nicht für Flaschen und Frittengäbelchen. Aber die landeten doch ohnehin alle auf dem Boden!

Fairerweise musste man ergänzen: Es waren auch Frauen dabei. Obwohl. Wie sollte man die unterscheiden, wenn alle Ganzkörperkondome und Helme trugen? Dass darunter gelegentlich Pferdeschwänze hervorlugten, hatte nichts zu sagen. Von Friseurbesuchen hielten die meisten der Herren wenig. Der Körperbau war schon gar kein Indikator. Pferdehintern überwogen bei den Vertretern beiderlei Geschlechts. Allenfalls die Rauschebärte, die beim Hocken auf der Leitplanke entblößt wurden. Manche davon derartige Dickichte, dass man sich wundern musste, wie die Kartoffelstäbchen überhaupt ihren Weg in die Futterluke fanden.

Nein, es gab nicht viel, was Doktor Kluthen den Bikern abgewinnen konnte. Genau genommen nichts. Seit er sich zur Ruhe gesetzt hatte, war kein Tag verstrichen, an dem er nicht darüber nachgedacht hatte, wie er es ihnen zeigen konnte.

Auf einer Fachtagung war er mit einem Dermatologen aus Denklingen 11  zusammengekommen, einem Harley-Davidson-Fan, der auf seiner nächsten Chopper-Tages-Tour bei ihm reingeschneit war. Sie hatten eine kleine Spritztour zum Café Hubraum 12  gemacht und ein Selters genossen. Mit unschöner Regelmäßigkeit, hatte der Kollege geklagt, werde er auf seinen Ausflügen von Motorradfahrern genötigt, dem hippokratischen Eid Folge zu leisten. Ja, es gab neben den Krawallbolzen auch besonnene Biker. Akademiker. Die genauso unter den Chaoten litten.

Der Verkehrsausschuss hatte nicht die Bohne reagiert. Erst Wochen später kriegte Doktor Kluthen den Vorsitzenden ans Telefon. Der Kerl machte seinem Namen alle Ehre. Ausschuss halt! Eine Sperrung käme auf der Strecke überhaupt nicht infrage. Allenfalls könnte man darüber nachdenken, ob man den Imbisswagen die Genehmigung entzöge. Er könnte ja einen entsprechenden Antrag stellen.

»Das ist Ihr Job!«, hatte Doktor Kluthen gebrüllt, dem in dem Moment leider die Contenance flöten gegangen war. Wie kam dieser Idiot dazu, ihn derart abzuwimmeln? Er war Steuerzahler und Wähler. Ohne ihn wäre der andere ein Nichts! Das vermeintliche Nichts hatte sich freundlich verabschiedet und ihm viel Erfolg gewünscht. Doktor Klu­then hatte drei Tage geschäumt, schließlich zähneknirschend einen neuen Antrag geschrieben. Und nichts mehr gehört.

Heute lockte die Sonne den letzten Vandalen hinterm Ofen hervor. Ein heißer Ofen nach dem anderen knatterte an seinem Häuschen vorbei. Aus reiner Notwehr griff Doktor Kluthen schließlich zum Rasenmäher, um den Krach zu überdröhnen. Besser wurde es dadurch nicht. Aber der Rasen machte wieder etwas her. Dafür spannte die Kopfhaut. Der spärliche Haarwuchs! Er hätte sich schützen müssen! Doktor Kluthen verstaute den Rasenmäher im Schuppen, wo auch das Sonnenöl stand, nahm die Flasche mit zur Bank auf der Terrasse, wo er Kopf, Gesicht und Arme einrieb.

ROOOOAAAARRRHHHHHHH!

Doktor Kluthen zuckte zusammen. Jähe Wut packte ihn. Ehe er wusste, was er tat, flog die Sonnenölflasche im hohen Bogen über den Zaun hinweg Richtung Bevertal­straße. Platsch! Dem Geräusch nach hatte er den Hooligan nicht erwischt. Schade um das gute Öl! Doktor Klu­then beschloss, den Rest des Abends vor dem Fernseher zu verbringen.

Arschlöcher! Er würde es ihnen noch zeigen!

*

Horst fixierte die beiden Wagen 324 Meter Luftlinie jenseits des Wassers. Weiß und schwarz. Eine goldene Nase verdienten die sich an den Motorradfahrern. Dem Enzo war das doch in den Schoß gefallen! Der hatte seinen Imbissstand von seinem Onkel geerbt. Während andere um ihre Existenz kämpften! Um das Lokal übernehmen zu können, hatte er, Horst, sich fett verschulden müssen. Und kämpfte seitdem ums Überleben. Dabei war seine Terrasse mit Seeblick diesen Schießbuden am anderen Ufer weit überlegen! Sitzplätze drinnen und draußen, überdacht, umfangreiche Speisekarte, riesiger Parkplatz hinterm Haus. Genau das war aber für diese Mopedmopperer das Problem! Sie hatten während des Essens ihre Augensterne nicht im Blick! Was wiederum nur zeigte, was für Asis das waren. Sportsleute! Sich gegenseitig beklauen oder die Maschinen demolieren! Offensichtlich ging es doch immer nur darum, wer den Größten hatte. Und heimlich pinkelte man sich gegenseitig ans Bein. Zum Glück machten es die Wanderer und Badegäste halbwegs wett. Aber solange jede Tageseinnahmenabrechnung für Horst einen Offenbarungseid bedeuten konnte, gönnte er denen da drüben keinen Cent. Heute war endlich mal wieder richtig was los. Ausgerechnet da musste Marga sich krankmelden! Und war nicht mehr zu erreichen. Klar hatte er ihr gesagt, sie sollte sich hinlegen. Mittagsnickerchen. Bewirkt ja gelegentlich Wunder. Aber für den Abend hatte er fest mit ihr gerechnet. Eine Vertretung würde er so kurzfristig nicht finden. Bis gerade eben hatte er sich die Finger wund telefoniert. Wer weiß. Vielleicht war ihr Akku ja leer. Oder sie hatte das Ding auf lautlos gestellt. Logisch. Im Betrieb verlangte er das von ihr. Aber in ihrer Freizeit konnte er schließlich erwarten, dass sie erreichbar war! Er seufzte. Aufregen half nichts. Er würde nach ihr gucken. Den besorgten Chef markieren.

Fünf Minuten später stand er an der Ecke Beverdamm/Bevertalstraße. Kein Durchkommen. Hunderte Biker rangierten ihre Maschinen hin und her oder standen in Grüppchen rum. Horst fuhr rechts ran, schmiss die Autotür hinter sich zu und marschierte Richtung Enzos Frittenbude. Das wollte er doch mal sehen!

Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis er zurück war, die Pappschale auf dem Schoß platzierte und Gas geben konnte. Was für ein Scheißservice! Vorsichtig stocherte er im Fahren mit dem Gäbelchen in der Mayo-Ketchup-Masse, um die Konsistenz der Kartoffelprodukte darunter zu begutachten. Viel zu weiß! Bereits im Begriff mit dem breiigen Belag eine Symbiose einzugehen, die geeignet war, den Verdauungskanal nachhaltig zu verkleistern! Sicherheitshalber schob er sich trotzdem eins der Stäbchen vorsichtig zwischen die Zähne, nachdem er endlich die Kurve gekriegt hatte und bergab Gas geben konnte. Schüttelte sich. Würgte und kurbelte das Seitenfenster runter. Ab in die Pampa mit dieser Pampe! Im Rückspiegel registrierte er befriedigt den satten Matschfleck auf dem Asphalt.

Sein Smartphone piepste. »BIN KRANK!«, las er.

Mit quietschenden Reifen wendete er in voller Fahrt. Ein entgegenkommender Biker wich aus, drohte mit der Faust.

Arschloch! Denen würde er es noch zeigen!

*

Als Doktor Kluthen den ohrenbetäubenden Crash hörte, fiel er fast vom Sofa. Dröhnen, Quietschen, Schliddern von Reifen auf Straßenbelag, Motorjaulen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall, überlagert von helleren Geräuschen, berstendem Metall, Scheppern, Kullern. Plötzlich eintretende Stille. Das Einzige, was fehlte: ein Schrei. Logisch. Der Kerl musste einen Helm aufgehabt haben. Doktor Kluthen schlüpfte in die Slipper, schnappte die Arzttasche und rannte nach draußen. Sah auf einen Blick, dass es keinen Sinn mehr machte, bei einem Menschen mit derartig abgewinkeltem Kopf und zerschmettertem Helm nach Lebenszeichen zu suchen. Eilte dennoch über die Straße zu dem Verunfallten und hätte sich fast langgelegt. Was für eine Sauerei! Eine zerschmetterte Glasflasche in einer Lache von hellem … – War das Frittierfett? Großflächig verteilte zermatschte Überbleibsel einer Schale Pommes mit Mayo und Ketchup. Und – sein Herz setzte für einen kurzen Moment aus – eine zerbrochene Sonnenölflasche! Doktor Kluthen bückte sich blitzschnell, klaubte die schmierigen Plastikteile auf und stopfte sie ins Außenfach seiner Tasche. Als er wieder aufblickte, knatterte ein Motorrad bergauf um die Kurve, näherte sich langsam, stoppte. Eine behandschuhte Pranke klappte das Visier hoch. Weit aufgerissene Augen. Im braunen Bartgestrüpp tat sich ein Abgrund auf, aus dem ein waidwunder Hirsch röhrte: »Neeein! Jürgen!«